II.3 Performanz

In: Quadraturen des Staunens
Author:
Tim Hofmann
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Ich glaube, daß es heute ein Theater geben könnte, wo mit Masken gespielt würde. Die Figuren wären eben stilisierte Menschen-Typen.

(DB S. 44)

Denken wir uns ein Theater, der Vorhang ginge auf und wir sähen einen Menschen alleine in seinem Zimmer auf und ab gehen, sich eine Zigarette anzünden, sich niedersetzen, u.s.f., so, daß wir plötzlich von außen einen Menschen sähen, wie man sich sonst nie sehen kann; wenn wir quasi ein Kapitel einer Biographie mit eigenen Augen sähen, – das müßte unheimlich und wunderbar zugleich sein. Wunderbarer als irgend etwas, was ein Dichter auf der Bühne spielen oder sprechen lassen könnte, wir würden das Leben selbst sehen. – Aber das sehen wir ja alle Tage, und es macht uns nicht den mindesten Eindruck! Ja, aber wir sehen es nicht in der Perspektive.

(VB S. 456)

Unsystematisch und verstreut über die Werkabteilungen findet sich eine Vielzahl an Überlegungen, in denen Wittgenstein das Theater bzw. die schauspielerische Bühnenpraxis thematisiert. So spricht er unter anderem vom »Zuschauer«, der von einem »Schauspiel, überzeugt von etwas« (BGM 308), nach Hause geht. Es finden sich didaktische Einleitungen wie: »Denke dir, der Beweis wäre eine Dichtung, ja ein Theaterstück. Kann mich das Ansehen eines solchen nicht zu etwas bringen?« (BGM 241), und Beispiele wie: »z.B. daß er auf der Bühne steht und einen Kranken darstellen muß« (PES 90), oder: »Wie eine einzelne Kulisse aus der Aufführung eines Theaterstücks, die allein stehengeblieben ist. Sie hatte Leben nur im Stück.« (PG 150) Das Theater dient Wittgenstein in unterschiedlichen Zusammenhängen als Bildspeicher. Seine Auseinandersetzungen weisen auf eine Sensibilität für Perspektiven und Praktiken der Inszenierung hin.

Dieses Bewusstsein bleibt bei Wittgenstein beim Bühnenraum und den darin stattfindenden Ereignissen keineswegs stehen. Gesichtspunkte wie Darstellungsform, Rollenverständnis und Zuschauer:innen betreffen auch die eigene Person – der Bühnenraum ragt ins Leben hinein:

Wenn ich sage, ich möchte die Eitelkeit ablegen, so ist es fraglich, ob ich das nicht wieder nur aus einer Eitelkeit heraus will. Ich bin eitel & soweit ich eitel bin, sind auch meine Besserungswünsche eitel. Ich möchte dann gern wie der & der sein der nicht eitel war & der mir gefällt, & ich überschlage schon im Geiste den Nutzen, den ich vom ›Ablegen‹ der Eitelkeit haben würde. Solange man auf der Bühne ist, ist man eben Schauspieler, was immer man auch macht. (DB S. 64)

Was Wittgenstein in den einleitenden Beispielen zu seinen Perspektiven und Praktiken der Inszenierung und an dieser Stelle anhand der eigenen Eitelkeit und der öffentlichen Bühne in einer der theatralen Bühnenpraxis entlehnten Metaphorik zur Sprache bringt, lässt sich mit Erving Goffman und seinem sozialpsychologischen Klassiker Wir alle spielen Theater [orig. The Presentation of Self in Everyday Life]738 (1959) zuspitzen. Goffman geht nämlich davon aus, dass »[d]ie Fragen, mit denen sich Schauspielkunst und Bühnentechnik befassen, […] allgemeingültig [sind]; sie treten offenbar überall im sozialen Leben auf«.739 Dabei definiert er die Darstellung bzw. ›Performanz‹740 auf der sozialen Bühne wie folgt: »Eine ›Darstellung‹ (performance) kann als die Gesamttätigkeit eines bestimmten Teilnehmers an einer bestimmten Situation definiert werden, die dazu dient, die anderen Teilnehmer in irgendeiner Weise zu beeinflussen.«741 Die Positionen dieser Darstellung auf der sozialen Bühne fasst er wie folgt:

Wenn wir einen bestimmten Teilnehmer und seine Darstellung als Ausgangspunkt nehmen, können wir diejenigen, die die anderen Darstellungen beisteuern, als Publikum, Zuschauer oder Partner bezeichnen. Das vorherbestimmte Handlungsmuster, das sich während einer Darstellung entfaltet und auch bei anderen Gelegenheiten vorgeführt oder durchgespielt werden kann, können wir ›Rolle‹ (part) nennen. Diese, die Situation bezeichnenden Termini können leicht auf konventionelle strukturbezeichnende Termini übertragen werden. Wenn ein Einzelner oder ein Darsteller bei verschiedenen Gelegenheiten die gleiche Rolle vor dem gleichen Publikum spielt, entsteht mit großer Wahrscheinlichkeit eine Sozialbeziehung. Wenn wir soziale Rolle als die Ausübung von Rechten und Pflichten definieren, die mit einem bestimmten Status verknüpft sind, dann können wir sagen, daß eine soziale Rolle eine oder mehrere Teilrollen umfaßt und daß jede dieser verschiedenen Rollen von dem Darsteller bei einer Reihe von Gelegenheiten vor gleichartigem Publikum oder vor dem gleichen Publikum dargestellt werden kann.742

Die in der Definition von Performanz angesprochene Beeinflussung des »Publikums, Zuschauer[s] oder Partner[s]« durch den Rollenträger erfolgt mit Goffman durch Techniken der Eindrucksmanipulation, durch ›Impression-Management‹: Abhängig von Zielsetzung und beabsichtigter Rolle des ›Darstellers‹ besteht das Interesse seiner Darstellungspraktik darin,

das Verhalten der anderen [des Publikums, TH], insbesondere ihr Verhalten ihm gegenüber, zu kontrollieren. Diese Kontrolle wird weitgehend dadurch bewirkt, daß er die Deutung der Situation beeinflußt, und zwar kann er das dadurch, daß er sich in einer Art und Weise ausdrückt, die bei den anderen einen Eindruck hervorruft, der sie veranlaßt, freiwillig mit seinen Plänen übereinzustimmen. So hat der Einzelne im allgemeinen allen Grund, sich anderen gegenüber so zu verhalten, daß er bei ihnen den Eindruck hervorruft, den er hervorrufen will.743

Mittels des mit Goffman eingeführten Begriffs von Performanz, der mit intentionaler Beeinflussung operiert und auf zielgerichtete öffentliche Darstellung ausgerichtet ist, wird im Folgenden die Person Ludwig Wittgenstein auf Praktiken der Selbstdarstellung befragt. Meine These: Der theoretisch-philosophische Erfolg und die fortwährende Auseinandersetzung mit Wittgensteins Schriften sind nicht nur durch seine Theoriearchitekturen und seine Rhetorik des Staunens744, sondern auch durch sein Impression-Management im Kontext performativer Praktiken zu erklären. Das von ihm für die öffentliche Bühne gewählte Rollenprofil: der bewunderte, kultisch verehrte Held. Angesichts von Wittgensteins Bewusstsein für performative Praktiken steht die Frage im Raum, inwieweit seine Darstellungsformen auf der Bühne der (philosophischen) Öffentlichkeit – die Darstellung seiner Form zu leben, die Darstellung seiner eigenen Lebensform745 – bewusst eingesetzten Strategien der Bewunderungserzeugung folgen und inwiefern sein »Marketing of Philosophy«746 (s. o.) nicht nur über die Rhetorik, sondern auch über die Performanz des historischen Akteurs Ludwig Wittgenstein und über die von ihm provozierte Bewunderung zu betrachten ist.

Dieser These und dem mit ihr verbundenen Fragehorizont wird im folgenden Kapitel anhand zweier Gliederungseinheiten nachgegangen: Zunächst wird (1) eine auf den Begriff ›Bewunderung‹ zulaufende theoretische Perspektive entwickelt, welche die performativen Gesichtspunkte meines Untersuchungsschwerpunkts vertieft und den weiteren (Unter-)Kapiteln als Heuristik dient. Diesbezüglich öffne ich meinen über epistemische und rhetorische Formationen ausgeführten Begriff von Staunen für denjenigen der Bewunderung. Die wechselseitige semantische Inkorporation der Begriffe lässt sich etymologisch bereits sehr früh feststellen und ist lexikografisch ausführlich belegt.747 Bei der Quadratur des Staunens ist die Variable ›Bewunderung‹ eingerechnet. Hierbei entwickle ich, ausgehend von einer Aktualisierung der bereits dargelegten Konzepte von Aufmerksamkeitsökonomie und Antiphilosophie, Semantiken der Bewunderung und kontextualisiere sie mit Aspekten der Heroisierung. Auf der Grundlage dieses analytischen Fundaments folgt (2) eine eingehende Betrachtung von Wittgensteins Selbstzeugnissen, der sich um ihn gruppierenden anekdotischen Erzählungen sowie den nach seinem Tod veröffentlichten Erinnerungsskizzen. Anhand textueller (Erinnerungs-)Spuren wird die Person Ludwig Wittgenstein auf ihre Strategien der Bewunderungserzeugung hin befragt. Diese auf Bewunderung und Inszenierung zulaufenden Lektüren werden abschließend durch einen weiteren Aspekt ergänzt, indem Wittgensteins öffentlicher Performanz seine Selbstzweifel und Unsicherheiten entgegengestellt werden. Was, ›wenn der Vorhang fällt‹?

738

Die theatrale Metaphorik darf bei Goffman nicht als strenge Analogie zur ›wirklichen‹ sozialen Interaktion gedacht werden. Sie steht für ihn lediglich in einer explikativen Funktion und dient der durchgängigen Illustration seines sozial- bzw. kultursoziologischen Modells. Hierzu Goffman: »Das Begriffssystem für den vorliegenden Bericht wurde zum Teil der Theaterwelt entlehnt; ich habe von Darstellern und Zuschauern gesprochen, von Rollen und Routine, von gelungenen und mißlungenen Vorstellungen; von Stichworten, Bühnenbildern und Hinterbühnen, von dramaturgischen Notwendigkeiten, dramaturgischen Techniken und dramaturgischen Schlichen. Jetzt muß ich zugeben, daß der Versuch, die begriffliche Analogie so weit zu treiben, zum Teil ein rhetorisches Manöver war. Die Behauptung, die ganze Welt sei eine Bühne, ist so abgegriffen, daß die Leser ihre Gültigkeit richtig einschätzen und ihrer Darstellung gegenüber tolerant sein werden, weil sie wissen, daß sie nicht zu ernst genommen werden darf.« (Goffman 2003: 232)

739

Goffman 2003: 18.

740

Wie nur wenige andere Begriffe hat ›Performanz‹ bzw. ›Performativität‹ in den vergangenen Jahrzehnten eine beeindruckende Karriere hingelegt. Wesentlich von Wittgenstein vorgeprägt (vgl. PU 250, 252) und von John L. Austin (How to do things with Words, 1955) ausformuliert, arbeitete sich das ganze Who’s who der Geistesgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts an ihm ab. Ob Searle, Barthes, Foucault, Derrida, de Man, Habermas, Iser, Eco oder Butler – ›Performanz‹ hat sich »zu einem umbrella term der Kulturwissenschaften verwandelt« (S. 10). »Während die sprachphilosophische Fragerichtung die kommunikative Funktion der Sprechakte thematisierte und insofern die funktionalen Bedingungen der Möglichkeit des kommunikativen Gelingens problematisiert, untersuchen die kulturwissenschaftlichen Performanzkonzepte die Wirklichkeit der medialen Verkörperungsbedingungen.« (Wirth, Uwe, »Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität«, in: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, hg. v. dems., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, S. 9–60, hier S. 42) Mit meiner Bezugnahme auf Goffman reihe ich mich entsprechend in das Feld der kulturwissenschaftlichen Performanzkonzepte ein, wohl wissend, dass dies eine Verkürzung darstellt. Mein eng umgrenztes Interesse bezüglich ›Performanz‹ bezieht sich auf den Funktionalisierungszusammenhang hinsichtlich der Techniken der Inszenierung und Bewunderungserzeugung bei Ludwig Wittgenstein.

741

Goffman 2003: 18.

742

Ebd.

743

Goffman 2003: 7 f.

744

Vgl. Kap. II.1 Rhetorik.

745

Mit Majetschak habe ich ›Lebensform‹ in Kap. 6 Lebensform – Philosophie als Praxis als eine mit Spielräumen und Variationen versehene, wiederkehrende und wiedererkennbare Ordnung von Handlungs-, Situations- und sprachlichen Äußerungsmerkmalen definiert, die ein an eine Sprachgemeinschaft gebundener Mensch im Laufe seines Lebens internalisiert und die sein Handeln, Sprechen und Denken vorstrukturiert (vgl. Majetschak 2010: 279, s. o.). Wenn daran anschließend in Kap. II.1 Episteme und II.2 Rhetorik Lebensform als epistemische-poetische Kategorie mit theoretischem Anspruch gebraucht wurde, erfährt der Begriff im Zusammenhang mit Wittgensteins Formen der performativen Darstellung an dieser Stelle eine reflexive Wendung: Nicht mehr Wittgensteins ›Lebensform‹ (theoretisch), sondern Wittgensteins Lebensform (performativ) steht im Fokus.

746

Trawny 2018: 152.

747

Vgl. Gess 2019: 18–23.

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Quadraturen des Staunens

Episteme, Rhetorik und Performanz bei Ludwig Wittgenstein

Series:  Poetik und Ästhetik des Staunens, Volume: 12