Kapitel 18 Bewunderung und heroische Inszenierung bei Wittgenstein

In: Quadraturen des Staunens
Author:
Tim Hofmann
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Ich stelle Dir ein Leben dar & nun sieh, wie Du Dich dazu verhältst, ob es Dich reizt (drängt) auch so zu leben, oder welches andere Verhältnis Du dazu gewinnst. Ich möchte quasi gleichsam durch diese Darstellung dein Leben auflockern.

(MS 183, 75)

Es ist merkwürdig, wie schwer es fällt, zu glauben, was wir nicht selbst einsehen. Wenn ich z.B. bewundernde Äußerungen der bedeutenden Männer mehrerer Jahrhunderte über Shakespeare höre, so kann ich mich eines Mißtrauens nie erwehren, es sei eine Konvention gewesen, ihn zu preisen; obwohl ich mir doch sagen muß, daß es so nicht ist.

(VB S. 518)

Aus der historischen Auseinandersetzung mit Wittgenstein ergibt sich ein methodisches Problem: Die Zahl der Briefwechsel,818 der auf Deutsch und auf Englisch verfassten Erinnerungsskizzen mit biografischem Einschlag819 und der sich zum Teil auch widersprechenden Biografien820 zur Person Ludwig Wittgenstein ist nahezu unüberschaubar. Aufgrund dieser den Rahmen meiner Arbeit übersteigenden Quellenlage erhebe ich bei der folgenden Bearbeitung meines Fragehorizonts keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern greife auf ausgewählte biografische Spuren, Versatzstücke und Miniaturen zurück. Meine Analyse von Wittgensteins mit Bewunderungsgeschehen verbundener Performanz und seiner Praktiken der Inszenierung als Held erfolgt daher exemplarisch, nicht mittels flächendeckender Sichtung sämtlicher biografischer Quellen. Als weitere Vorbemerkung ist mit Bröckling nochmals ausdrücklich zu betonen, dass die Sozialfigur ›der Held‹ als ein Konzept mit offenen Rändern zu verstehen ist. Nochmals: »Wenig trennscharf ist die Abgrenzung [des Helden] zu verwandten Gestalten wie dem Genie, dem grand homme, dem Star sowie dem Abenteurer, Führer, Herrscher, Heiligen oder Märtyrer.«821 Wenn ich im weiteren Verlauf meiner Argumentation etwa vom Genie, vom Heiligen oder vom Priester spreche, so rekurriere ich jeweils implizit auch auf die übergeordnete Klasse des Heroentums und hieran anschließend auf Aspekte der von Bröckling vorgenommenen Charakterisierung aus den ›Bausteinen einer Theorie des Heroischen‹ (s. o.).

18.1 Wittgenstein, Karl Popper und der Schürhaken

Sei es bei der ›Davoser Disputation‹ zwischen Martin Heidegger und Ernst Cassirer von 1929,822 der im niederländischen Fernsehen ausgestrahlten Debatte zwischen Noam Chomsky und Michel Foucault von 1971823 oder der 2019 vor 3000 Zuschauer:innen im Sony Center in Toronto geführten Diskussion zwischen Slavoj Žižek und Jordan Peterson824 : Philosophische Kontroversen mit physischer Präsenz der Akteur:innen wecken die öffentliche Aufmerksamkeit. ›Event-Philosophie‹ zieht ein großes Publikum an; sie löst Debatten über Taktik, Sieg und Niederlage der Kontrahent:innen aus, die mehr an Sportberichterstattung denn an nüchterne, sich in akademische Objektivität kleidende Reflexion erinnern. Vor allem aber löst sie eine Legendenbildung aus, innerhalb welcher Dichtung und Wahrheit oftmals nahe beieinander liegen.

In dieses illustre Spektrum von philosophischen Duellen reiht sich auch Wittgenstein und mit ihm Karl Popper. Das sagenumwobene, in die ›Schürhakenepisode‹ mündende Aufeinandertreffen der beiden Philosophen ereignete sich am 25. Oktober 1946 im Moral Science Club in Cambridge. Über die Streitfrage ›Gibt es philosophische Probleme?‹ entspann sich eine Auseinandersetzung, die hinsichtlich Ablauf, Requisite und Rollenverteilung an ein klassisches Drama erinnert. Wiederholt greift hier der in meinen theoretischen Ausführungen etablierte Metaphernraum des Theaters:825 Wittgenstein ist der vom Publikum bewunderte Held, der in seinem eigenen ›Königreich‹ Cambridge vom Antihelden Popper provoziert wird, der ihm den Fehdehandschuh hinwirft, den Wittgenstein aufnimmt, ehe er, nach verbalen Nickligkeiten und Einwürfen, einen Schürhaken in die Hand nimmt und aus undurchsichtigen Gründen das ›Schlachtfeld‹ verlässt. Der Vorhang fällt.

Das performative Geschehen jener Zusammenkunft im Moral Science Club ist insofern aufschlussreich, als es nicht nur Auskunft über das Bewunderungsgeschehen und die von Wittgenstein dargebotene Singularitätsperformanz gibt, sondern sich darin auch sämtliche der mit Bröckling aufgeführten Facetten des Heroentums nachzeichnen lassen.

Zunächst ist hierbei auf die Quellenlage zum Geschehen im Moral Science Club am 25. Oktober 1946 einzugehen. Bei der Sichtung der Augenzeugenberichte und der historischen Rekonstruktionen fällt auf, dass sich etliche Schilderungen widersprechen, ungenügend oder schlicht falsch sind. So berichtet ein Augenzeuge, dass es bei der Zusammenkunft »nichts [gab], was in der Rückschau die Bezeichnung ›Zwischenfall‹ verdiente«826 ; ein anderer sieht Wittgenstein lediglich mit dem Schürhaken »herumspiel[en]«, während wieder ein anderer davon spricht, wie Wittgenstein »den Schürhaken – rotglühend – aus dem Feuer [nimmt] und damit zornig vor Poppers Gesicht herumfuchtel[t]«827. In der von Monk vorgelegten, bis heute ausführlichsten Wittgenstein-Biografie wird wiederum über zwei Schürhaken gemutmaßt (»Wittgenstein und Popper, je mit einem Schürhaken bewaffnet«828 ), obschon alle Augenzeugenberichte übereinstimmend berichten, dass es am Ort der Zusammenkunft nur einen Schürhaken gegeben habe. Uneindeutig ist auch, ob sich die letzte Stufe der Eskalation, der von Popper geschilderte Dialog: »Geben Sie ein Beispiel für eine moralische Regel!« (Wittgenstein), »Man soll einen Gastredner nicht mit einem Schürhaken bedrohen«829 (Popper), wirklich stattgefunden und Wittgenstein daraufhin tatsächlich den Raum verlassen hat. Ist der Dialog nur eine wohl gesetzte Pointe, die Peripetie im Schürhakendrama? Ohnehin scheinen Poppers Erinnerungen an den Abend lückenhaft zu sein. In seiner autobiografischen Schrift Ausgangspunkte gibt er neben einem sich selbst erhöhenden Bericht für das Zusammentreffen ein falsches Datum an, den 26. statt den 25. Oktober 1946 (»[Mein] Vortrag […] gehalten am 26. Oktober 1946«830 ). Die teils mit nebensächlichen und ungesicherten Details gefüllte Liste rund um die ›dramatischen‹ Ereignisse jenes Abends im Moral Science Club ließe sich ohne Weiteres ergänzen.831

Was sich am 25. Oktober 1946 beim Duell ›Wittgenstein vs. Popper‹ im Gibbs’ Building des King’s College in Cambridge genau zugetragen hat, ist nicht abschließend zu ermitteln. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, aber keine Eindeutigkeit. Die vielen angeführten Berichte und Schilderungen rund um jenen Abend sind Ausdruck von Legendenbildung, die gemäß Poppers eigenen Erinnerungen an den Vorfall in unmittelbarem Anschluss an seinen Gastvortrag im Moral Science Club einsetzte und eine Eigendynamik entwickelte. In Ausgangspunkte heißt es hierzu:

Die Sitzung des Moral Science Club wurde bald zum Gegenstand wilder Gerüchte. Nach erstaunlich kurzer Zeit erhielt ich einen Brief aus Neuseeland mit der Anfrage, ob es wahr sei, daß Wittgenstein und ich uns gegenseitig mit Feuerhaken geschlagen hätten. Näher am Kampfplatz waren die Geschichten etwas weniger übertrieben, aber nicht viel weniger.832

Die an dieser Stelle von Popper angesprochenen, zwischen den Kontinenten kursierenden »wilde[n] Gerüchte« ebbten jedoch nicht ab. Im Gegenteil: Nach Edmonds und Eidinow und ihrer den Vorfall rekonstruierenden Ermittlung werden die Gerüchte, werden Legende und Mythos des Aufeinandertreffens von Wittgenstein und Popper immer noch fortgeschrieben:

Die Geschichte hat inzwischen das Format wenn auch nicht gerade eines ausgewachsenen Mythos, so doch zumindest das einer Fabel aus dem Elfenbeinturm der Gelehrtenwelt erreicht, deren ›Wahrheitsgehalt‹ überdies als verbürgt gilt, weil der jeweilige Erzähler sie von jemandem hat, der sie von jemandem hatte, der sie von einem Augenzeugen hatte. Kein Bericht über Popper oder Wittgenstein scheint vollständig zu sein ohne eine Variante dieser Episode.833

Die bis zu dieser Stelle aufgeführten Schilderungen und Gesichtspunkte rund um das Duell ›Wittgenstein vs. Popper‹ berühren letztlich das, was Bröckling im Zusammenhang der Heroisierungen als Narrativierung bezeichnet hat. Zum Heldentum »braucht [es] einen Poeten, der ihn [den Helden, TH] besingt, oder einen YouTube-Clip, der ihn in Aktion zeigt. Sein Glanz ist […] auch ein Effekt von Beleuchtungstechniken.«834 Im vorliegenden Fall gab und gibt es viele Poet:innen, Autor:innen und historische Rekonstruktionen, die mit unterschiedlichsten ›Beleuchtungstechniken‹ die Ereignisse im Moral Science Club in zum Teil grellen Farben ausgeleuchtet haben – und immer noch ausleuchten. Durch die jeweilige Darstellung von Wittgensteins an diesem Abend dargebotener Singularitätsperformanz wird das Ereignis in das kulturelle Gedächtnis eingespeist, aktualisiert und kontextgebunden reformuliert. Im vorliegenden Zusammenhang geht dies so weit, dass sich die Schürhakenepisode nicht nur in der eher auf Anzeigen und bürgerliche Frühstücksunterhaltung ausgerichteten NZZ am Sonntag in einer seichten Schilderung mit dem Titel »Ein Denker greift zum Schürhaken«835, sondern im Philosophie-Magazin Hohe Luft auch als Comicstrip wiederfindet.

Comicstrip zur Schürhakenepisode zwischen Wittgenstein und Popper aus Hohe Luft.
Abb. 2

Comicstrip zur Schürhakenepisode zwischen Wittgenstein und Popper aus Hohe Luft.

Die Grundlage für diese Narrativierungen, nämlich die Tatsache, dass die Begegnung von Wittgenstein und Popper überhaupt als ›erzählenswert‹ gilt, liegt, um nun Bröckling zu wiederholen, an der Exzeptionalität der beiden Kontrahenten – hier insbesondere an derjenigen von Wittgenstein. »Heroische Narrationen kreisen um reale oder fiktionale menschliche […] Gestalten, die ihre Umgebung in irgendeiner Weise überragen. Wenn etwas Helden auszeichnet, dann ist es ihre Exzeptionalität. Als Ausnahme […] heben sie sich ab von der Masse, von den Gewöhnlichen.«836 Hieraus, so meine Ausführungen mit Bröckling weiter, ergibt sich ein Hierarchiephänomen, wobei der ›überragende‹ Held von besagter Masse bewundert wird.

Dass Wittgenstein seine Umgebung sprichwörtlich überragte und als überragend wahrgenommen wurde, lag vor allem an seinem epochemachenden Tractatus von 1921 und den darin formulierten sprachphilosophischen Überlegungen. Während seiner Abwesenheit in Cambridge (1913–1929) und seiner Zeit als Volksschullehrer, Architekt und Gärtner avancierte Wittgenstein Monk zufolge dadurch »zu einer Kultfigur der Elite Cambridges […]: Der Tractatus stand im Zentrum der modischen intellektuellen Salongespräche.«837 1929 kehrte er als ›Star‹ zurück, als jemand, zu dem sein Umfeld aufschaute.838 Wittgenstein, um hier einen weiteren Begriff Bröcklings aufzunehmen, wurde auf einen »Feldherrenhügel«839 im Kampf um eine neue Art des Philosophierens gestellt; zu seinen Füßen versammelte sich eine Gruppe junger Männer, eine treue Gefolgschaft, die seine Ausführungen und Sichtweisen ergebungsvoll und fanatisch aufnahm und einen regelrechten Wittgenstein-Kultus betrieb. Dieses aus philosophischer Exzeptionalität begründete Bewunderungsgeschehen, die »Heldenbewunderung«840 einiger seiner Studenten, nahm nach Edmonds und Eidinow im Nachahmungseifer zum Teil groteske Züge an:

Wittgensteins Schüler [fielen] auf, [waren] sofort erkennbar daran, daß sie den Meister imitier[t]en: salopp bis schlampig in Hemden mit offenem Kragen. […] Sie schliefen in schmalen Betten, trugen Turnschuhe, brachten ihr Gemüse in Einkaufsnetzen nach Hause (damit es atmen konnte) und stellten den Stangensellerie in Wasser, wenn sie ihn zum Essen servierten. […] In der Tat konnten sie Wittgensteinischer als Wittgenstein sein […].841

Mit Wittgensteins Freund Georg Henrik von Wright lässt sich die Beschreibung des Wittgenstein-Kultus jener Jahre noch weiterführen. Die studentische Affirmation des Meisters und seiner Lebensform, die Nachahmung von Wittgensteins Exzeptionalität ging bei manchen sogar so weit, dass sie seine Art des sprachlichen Ausdrucks und sogar Mimik und Gestik übernahmen:

[T]he magic of his personality and style was most inviting and persuasive. To learn from Wittgenstein without coming to adopt his forms of expression and catchwords and even to imitate his tone of voice, his mien and gestures, was almost impossible.

Es spricht von einem ungesunden Sektierertum: »[T]here grew up much unsound sectarianism among his pupils […].«842

Diese Gruppierung der Bewunderer Wittgensteins versammelte sich allwöchentlich in den Sitzungen des Moral Science Club. Gilbert Ryle – selbst renommierter Philosophieprofessor in Oxford, gelegentlicher Besucher und Wittgenstein auch in theoretischer Hinsicht nahestehend – schildert die Zusammenkünfte, diese philosophische Institution Cambridges, als eine Art Fanclub, der Wittgenstein in treuer Ergebenheit nicht nur in lebenspraktischen Dingen nacheiferte, sondern bei den Treffen und Vorträgen je auch Stimmung für seinen Helden und gegen den Gastredner bzw. Antihelden machte: »The veneration for Wittgenstein was so incontinent that mentions, for example my mentions, of any other philosopher were greeted with jeers.«843

Den Quellen zufolge war dies am Abend des 25. Oktobers 1946 nicht anders als gewohnt. Auch wenn Popper in den Ausgangspunkten andeutet, dass er das ›Duell‹ gewonnen und einen Sieg gegen Wittgenstein in dessen eigenem ›Königreich‹ errungen habe, da dieser inmitten der Auseinandersetzung den Raum verlassen habe844 (»Darauf warf Wittgenstein ärgerlich den Schürhaken hin, stürmte aus dem Raum und schlug die Türe hinter sich zu. Mir tat [er] wirklich sehr leid.«845 ) – der »Feldherrenhügel«846 im Moral Science Club war und blieb besetzt, auf diesem philosophischen Schlachtfeld gab es für Popper nichts zu gewinnen. Die von ihm abfällig als »Wittgensteinianer«847 oder schlicht als »Bewunderer Wittgensteins«848 bezeichneten Besucher:innen an jenem Abend waren nur wenig interessiert an seinen Argumenten. Ob er im Disput über die Frage ›Gibt es philosophische Probleme?‹ die besseren Antworten hatte oder nicht, war einerlei. Denn die ›Wittgensteinianer‹ akzeptierten in Cambridge nur eine Exzeptionalität: die ihres bewunderten Heroen Wittgenstein.849

Popper musste sich seine eigene, ihm in Cambridge zugemessene Durchschnittlichkeit spätestens auf dem Rückweg nach London eingestehen. Die Erinnerungen an die Schürhakenepisode beenden, heißt es in seinen Ausgangspunkten:

Am nächsten Tag im Zug nach London saßen in meinem Abteil zwei junge Leute, ein Student, der in einem Buch las, und ihm gegenüber eine Studentin, die eine linksradikale Zeitschrift las. Plötzlich fragte sie: »Wer ist denn dieser Karl Popper?« Er antwortete: »Nie von ihm gehört.« So geht es mit der Berühmtheit. (Wie ich später herausfand, enthielt die Zeitschrift einen Angriff auf […] Open Society [sein Buch, TH].)850

In den Narrativierungen des Aufeinandertreffens von Wittgenstein und Popper dominiert ein an Kampf und Krieg ausgerichtetes Vokabular. Was im Protokoll zur Sitzung im Moral Science Club, das sich formaler Nüchternheit und objektiver Schilderung verschreibt, noch mit »Ungewöhnl. Kontrov. Diskuss. Einige sehr laut«851 vermerkt wird, heißt bei Popper »Streit«852 und »Kampfplatz«853. In den Augenzeugenberichten ist schließlich von einem »brüllend[en] Löwe[n], ein[em] Racheengel«854, von Erbostsein, spannungsgeladener Atmosphäre, Drohung, von Zur-Tat-Schreiten, Feindseligkeit855 und »Schlachtfeld«856 die Rede. Die Versatzstücke sind nicht nur Ausdruck von Wittgensteins grundsätzlicher Haltung zu jedweder Form philosophischer Auseinandersetzung (»Ein Philosoph, der sich nicht auf Diskussionen einläßt, ist wie ein Boxer, der nie in den Ring steigt«857 ). Sie sind auch Ausdruck dessen, was Bröckling im Kontext seiner Ausführungen zum Heroentum unter Agonalität zusammenfasst. Ein Held zeichnet sich ihm zufolge dadurch aus, dass ihm alles, was er tut, zum Kampf gerät. Dies gilt ebenso für die Wissenschaft: »Auch […] Wissenschaftsheroen operieren letzlich im Kriegsmodus. Stets müssen äußere und innere Feinde bezwungen und übermenschliche Kräfte mobilisiert werden.«858

Wittgensteins Wechsel in den ›Kriegsmodus‹, die Identifikation Poppers als Feind, hatte inhaltliche Gründe. Die Agonalität bestand in der unterschiedlichen Beantwortung von Poppers bereits im Vortragstitel prangender Frage: ›Gibt es philosophische Probleme?‹ Wittgenstein verneint diese Frage. Für ihn gibt es keine philosophischen Probleme, für ihn sind sämtliche als ›philosophisch‹ deklarierten Probleme, ob nun in den Teilbereichen Ontologie (z. B. ›Was ist das Sein?‹), Metaphysik (z. B. ›Gibt es eine Letztbegründung?‹) oder Ethik (z. B. ›Was ist das Gute?‹), letztlich sprachliche Probleme bzw. sprachliche Rätsel, die es zu lösen gilt. Für Wittgenstein begehen Philosoph:innen, die sich die sogenannten ›philosophischen Probleme‹ vorlegen, einen »törichten Fehler«: »Sie suchen nach einer Erklärung, einer allgemeinen Antwort, einer Theorie, die alle erdenklichen Fälle abdeckt, sie starren auf Gegenstände, wiederholen sich und glauben, irgendwie die Phänomene durchdringen und zu einem immateriellen Wesenskern vorstoßen zu können.«859 Einen solchen Wesenskern gibt es laut Wittgenstein nicht. Ein Phänomen lasse sich ausschließlich über seine Verwendung in der Sprache fassen, in einem grammatikalisch-kommunikativen Zusammenhang860 – »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.« (PU S. 262) Wie und in welchem Zusammenhang wird zum Beispiel das Wort ›Sein‹, ›Gott‹ oder das ›Gute‹ gebraucht? Allein so, über die Betrachtung des Gebrauchszusammenhangs, über die Analyse des Wortes in seinen verschiedenen »Sprachspielen« (vgl. hierzu insb. PU S. 241, 277 f.) und nicht über eine wie auch immer geartete metaphysische Abhandlung, lässt sich der Kern eines Phänomens greifen.

Popper, liest man in den Ausgangspunkten, war diese von Wittgenstein hervorgebrachte »These von Herzen zuwider«861. Für ihn ist die Existenz »einige[r] dieser Probleme […] unbestreitbar«.862 Bereits in seinen erkenntnistheoretischen Überlegungen in der Logik der Forschung von 1935 räumt er der Metaphysik und damit implizit auch den Wittgensteins Ansichten zuwiderlaufenden philosophischen Problemen eine hohe Bedeutung ein.863 Ohne diese Probleme wäre Popper kein Philosoph geworden; für ihn sind sie sogar »die einzige Rechtfertigung dafür, Philosoph zu sein«864. Im Vortrag verdeutlicht Popper seinen Punkt mit den philosophischen Fragen bzw. Problemen: »Erkennen wir die Dinge durch unsere Sinne? Erlangen wir unsere Erkenntnis durch Induktion?«865 Allein durch eine Analyse von diese Fragen betreffenden Sprachspielen sind diese Probleme laut Popper nicht zu lösen; hierfür brauche es mehr als eine eingehende Betrachtung des Gebrauchszusammenhangs.

Wie und in welcher Form sich der Dialog und die Argumentationslinien am Abend des 25. Oktobers 1946 über die Ausgangsfrage, ob es philosophische Probleme gebe, entwickelten, ist aufgrund der nur wenig belastbaren und diesbezüglich rudimentären Quellenlage nicht möglich, im Detail jedoch auch unerheblich. Für die dem Heroismus eigene Zielgröße Agonalität, Wittgensteins Kampf gegen den »Feind«866 Popper, gilt es den Kern der Auseinandersetzung, die inhaltlich stark divergierenden philosophischen Positionen zwischen den Duellanten festzuhalten: Für Popper gibt es philosophische Probleme, Wittgenstein bestreitet deren Existenz. Wann, wie und ob Wittgenstein Popper tatsächlich mit dem Schürhaken bedroht hat, ob der Dialog: »Geben Sie ein Beispiel für eine moralische Regel!« (Wittgenstein), »Man soll einen Gastredner nicht mit dem Schürhaken bedrohen« (Popper), wirklich stattgefunden und ob Wittgenstein daraufhin oder bereits davor den Raum verlassen hat, fällt dabei nicht ins Gewicht. Der Held Wittgenstein, hierin stimmen die Augenzeugenberichte zum 25. Oktober 1946 überein, befand sich an jenem Abend im heroischen »Kriegsmodus«867.

Mit Transgression lässt sich in der Schürhakenepisode ein weiteres Charakteristikum von Wittgensteins Heroentum benennen. Bröckling, dies zur Wiederholung, sieht die Transgression vor allem beim ›Helden als Outlaw‹. Dieser maße sich an, »sich über die Ordnung zu stellen, und [bestreitet] so ihre Geltung«868. Der »Normbruch«869 ist für sein Handeln bezeichnend. »Das Charisma des rebellischen Helden speist sich insbesondere […] aus seiner Opposition gegen die etablierte Ordnung […]. Er ist […] Antiinstitutionalist […] [mit] Herrschaftsambitionen […].«870

Die Opposition gegen die etablierte Ordnung, die Grenzüberschreitung, lässt sich an Wittgensteins Singularitätsperformanz am Abend des 25. Oktobers 1946 angesichts der akademischen Gepflogenheiten, den unausgesprochenen Konventionen des universitären Austauschs und Auftretens, vor allem über das Register des Normbruchs beschreiben;871 jene besaßen im altehrwürdigen, traditionsreichen Cambridge der 1940er-Jahre hohen Stellenwert. So zeichneten sich zum Beispiel die neben Wittgenstein ebenfalls am 25. Oktober 1946 im Moral Science Club anwesenden Cambridger Philosophie-Professoren Richard Bevan Braithwaite, John Wisdom und Alfred Cyril Ewing nach Edmonds und Eidinow dadurch aus, dass sie in der Öffentlichkeit »ein mustergültiges Beispiel für Umgangsformen und Haltungsformen des englischen Gentleman« boten: »Sie achteten und befolgten das Prinzip der Toleranz; in der Diskussion legten sie wert darauf, die Dinge auch vom Standpunkt des anderen aus zu betrachten. Sie sprachen in höflichem, gemäßigtem Ton und erhoben, selbst wenn aufgebracht, kaum jemals die Stimme.«872 Der Gastredner Popper durfte bei seinem Besuch im Trinity College 1946 demnach durchaus zuvorkommende, wertschätzende und respektvolle Umgangsformen erwarten.873 Wittgenstein hingegen war dafür bekannt, Gastredner nicht als Gäste zu empfangen, sondern als Feinde. Er beherrschte den Moral Science Club nach Belieben und nahm sich sowohl in inhaltlicher als auch sozialer Hinsicht seine Freiheiten. »Wittgenstein schüchterte zweifellos die Studenten ein, und die Mitglieder des Lehrkörpers klagten, seine Gewohnheit, die Vortragenden zu unterbechen, stelle gegenüber den Gastrednern eine große Unhöflichkeit dar.«874

Für gewöhnlich war Wittgenstein bei Diskussionen also gentlemanunlike. So auch bei Popper. Wiederholt finden sich in den Ausgangspunkten Schilderungen wie: »an dieser Stelle sprang Wittgenstein auf und sagte laut und […] sehr ärgerlich«, oder: »Wittgenstein sprang wieder auf, unterbrach mich und sprach lange«.875 Popper, so viel lässt sich aus den Berichten der Augenzeugen festhalten, musste wohl ein hohes Maß an Konzentration aufbringen, um sich nicht mundtot machen zu lassen, seine Punkte zu setzen und eine stimmige Argumentationskette aufzubauen.

Wären an diesem Abend hinsichtlich Wittgensteins transgressivem Handeln nur jene Unterbrechungen geschehen, das Aufeinandertreffen von Wittgenstein und Popper wäre wohl biografische Fußnote geblieben. Die maßgebliche Form der Transgression bestand neben dem Bruch der Gesprächskonventionen offensichtlich in Wittgensteins Gebrauch des Schürhakens. Ob Wittgenstein dieses Gerät nun zur Illustration eines philosophischen Beispiels (Peter Geach) oder als Werkzeug für seine Argumentation (Stephen Toulmin) verwendete, ob er den Schürhaken nur locker in der Hand hielt, damit herumspielte (Michael Wolff) oder vor Poppers Gesicht herumfuchtelte (Peter Munz), ob er ihn als Ausdruck des Zorns herumschwenkte (Peter Gray-Lucas), Feindseligkeit bekundend durch die Luft zog (Hiram McLendon)876 oder ob Wittgenstein den Schürhaken vor Popper und Publikum schlichtweg als »Dirigentenstab«877, als taktangebendes Instrument gebrauchte – eine Eisenstange mit Haken und spitzem Ende baut eine unmissverständliche Gewalt- und Drohkulisse auf, die auch außerhalb der akademischen Institution Cambridge einem eklatanten Normbruch gleichkäme; sie steht symbolisch für die mit Bröckling als Transgression fassbaren Herrschaftsambitionen des Heroen Wittgenstein.

Als letzter Punkt meiner sich an Bröcklings Heroentum orientierenden Lektüre der Schürhakenepisode ist die Affektion auszuführen. Darin laufen viele der bisher rund um das Duell ›Wittgenstein vs. Popper‹ benannten Stränge zusammen. »Helden«, so Bröckling, »bewegen«.878 Sie lösen ein soziales Resonanzgeschehen aus; ein Resonanzgeschehen, das, ausgehend von den Ereignissen des 25. Oktobers 1946, Grundlage für die verschiedenen Narrativierungen, die bewunderte Exzeptionalität, die Faszination über die Agonalität und die Dramatik der Auseinandersetzung ist und auch in der Bewertung von Wittgensteins transgressiver Singularitätsperformanz Widerhall findet. Ohne Affekte lassen sich keine Helden machen.

Bröckling, um seine zentralen Gesichtspunkte in Erinnerung zu rufen, fasst Affektion wie folgt: »Man mag [den] [heroischen] Protagonisten verehren oder hassen – nur gleichgültig kann man [ihm] gegenüber nicht sein. Heroische Narrative erzeugen energetische Felder, die alle, die in ihre Reichweite gelangen, auf den Heldenpol auszurichten versuchen.«879 Und weiter: »In psychologischer Perspektive verkörpern Heldenfiguren ein widersprüchliches Ideal-Ich. Wie alle Ideale fungieren sie gleichermaßen als Attraktoren wie Abstandhalter. Ihre Bindungskraft entfaltet sich zwischen den Polen von Ansteckung und Immunisierung.«880

Folgt man den Berichten und Schilderungen, umgab auch den Helden der Schürhakenepisode ein ›energetisches Feld‹. Desmond Lee, Schüler, vor allem aber Freund seit Wittgensteins Rückkehr nach Cambridge, spricht diesbezüglich von einem »personal magnetism«:

This hypnotic influence was accounted for, largely, no doubt, by Wittgenstein’s extraordinary force of character and intellect, which had to be experienced to be appreciated. He had also that more elusive capacity for attraction, which men of genius often have, and which we describe in a metaphor as personal magnetism.881

Welche Rolle der von Lee skizzierte »personal magnetism« Wittgensteins am Abend des 25. Oktobers 1946 auf der Seite des ›Pluspols‹ spielte, habe ich bereits in meinen Ausführungen zu seiner Exzeptionalität erwähnt. Die affirmativen Auswüchse seiner Verehrer, des ›Wittgenstein-Fanclubs‹, und die Adaptionen seiner Lebensform sind dafür beispielhaft. Die Gruppe jener Studierenden fühlte sich von seinen Attraktoren angezogen, ›angesteckt‹. Gleichgültig, um nun die andere Seite des von Bröckling beschriebenen Spektrums der Affektion anzusprechen, war Wittgenstein auch seinen Kritikern nicht.882 Auf der Seite des ›Minuspols‹ standen auch sie im Einfluss seines »energetische[n] Felde[s]«883. Seine »Attraktoren« waren für sie »Abstandhalter«884. Ein Beweis hierfür – auch dies eine heroische Narrativierung – liefert unter anderem das satirische Langgedicht »An Epistle on the Subject of the Ethical and Aesthetic Beliefs of Herr Ludwig Wittgenstein (Doctor of Philosophy)« von Julian Bell, 1930 in Cambridge im studentischen Avantgarde-Journal The Venture erschienen. Die hier nur auszugsweise angeführten Sequenzen verdeutlichen, nun in Gestalt des negativ bewerteten Helden, welches Maß an Affizierung Wittgenstein eben auch auslösen konnte:885

Ungeachtet Bells über das ganze Gedicht angelegten, hier nicht aufgeführten Angriffs auf Wittgensteins Absage an die Metaphysik und der damit verbundenen Unmöglichkeit, über das Wahre, Schöne und Gute zu dichten (vgl. bspw. TLP 5.6–7), veranschaulichen die Zeilen in satirischer Überzeichnung, wie Wittgenstein auf seine Studierenden abgesehen von der Verehrung auch wirken konnte: Von Bell wird der Philosoph als »Behemoth«, als biblisches Ungeheuer, beschrieben, das allein das Gesetz verkündet, das seine Studierenden rechthaberisch, schreiend, voller Wut und Zorn unterbricht und keine Widerworte duldet – die Transgression klingt hier an –; als jemand, der sich im Gestus der Allwissenheit gefällt (»Ludwig’s omniscient«, »He sees the Universe before him lie«), sich als Papst (»pope«), als Gottes Ebenbild (»But is he God almighty«) inszeniert. Für Bell ist Wittgenstein ein Mystiker (»A mystic in the end«), der Gehorsam gegenüber seiner Doxa einfordert. Auch die öffentliche Zurschaustellung des Asketentums (»In that ascetic life, intent to shun / The common pleasures known to everyone«) – ich habe es bereits über die Affirmation seiner Verehrer an seine Lebensform angesprochen – und die damit verbundene Innerlichkeit (»Both good and evil, ecstasy and sin, / He does not seek without, but finds within«) werden von Bell nicht ausgespart. Insgesamt zeichnet sich das Langedicht durch ein hohes Maß an Antipathie und Missachtung gegenüber der Person Wittgenstein aus; und dennoch lässt sich daran die Affizierung eines Studenten ablesen, der sich im ›energetischen Feld‹ eines Heroen bewegt. Sich als »puny Jonah«, als mickriger Jona, bezeichnend, lässt sich Bell vom Cambridger »Behemoth« Wittgenstein verschlingen,886 ist von ihm und seiner Größe, seiner Exzeptionalität fasziniert bzw. affiziert. Allein die Tatsache, dass Bell ihm ein mehrseitiges Gedicht widmet, poetischen Arbeitsaufwand betreibt, sich lyrisch an Wittgenstein abarbeitet, ist Ausweis dafür, dass auch er unter dem Bann des Cambridger Heroen stand.

Mit dieser Sichtweise auf Wittgenstein war Bell im Cambridge jener Jahre keinesfalls allein. Anhänger des ›Minuspols‹ waren auch am Abend des 25. Oktobers 1946 anwesend. Unter anderem bezeichnet der Augenzeuge des Duells ›Wittgenstein vs. Popper‹ Peter Gray-Lucas Wittgenstein weit über die Schürhakenepisode hinaus als »Scharlatan« und »Komiker«, gleichzeitig aber auch als jemanden, der »Zauberkraft« besaß – was seine affizierende Wirkung, die von Wittgenstein ausgehende Resonanzwirkung, unterstreicht:

Er war ein absolut phantastischer Mime. Er hatte seinen Beruf verfehlt, er hätte eigentlich Komiker werden sollen. In seinem drolligen Österreichisch konnte er alle möglichen Akzente, Sprechmanierismen, Redegewohnheiten nachahmen. Er sprach ständig von dem unterschiedlichen Tonfall, in dem man Dinge ausdrücken kann, und das war ungeheuer fesselnd. Ich entsinne mich, daß er sich eines Abends von seinem Stuhl erhob und, mit sonderbarer Stimme, so etwas äußerte wie »Was sagen wir, wenn ich durch diese Wand gehe?« Und ich erinnere mich, daß ich plötzlich merkte, wie ich die Armstützen meines Stuhls umklammerte und meine Fingerknöchel ganz weiß wurden. Ich glaubte wirklich, er würde durch die Wand gehen und das Dach würde einstürzen. Das muss Teil seiner Zauberkraft gewesen sein, daß er nahezu alles heraufbeschwören konnte.887

Als Grund für das Zustandekommen eines sich zwischen Verehrung und Antipathie aufspannenden Resonanzgeschehens nennt Bröckling im Kontext der Affizierung den Einsatz des Helden für ein höheres Ziel: »[Z]um Helden wird der Bewunderte erst, wenn die außerordentliche Leistung sich mit selbstlosem Einsatz für ein höheres Ziel verbindet.«888 Hieran anschließend gilt es zu fragen: Was war Wittgensteins »höheres Ziel«, sein hehres Ideal, für das er auch am Abend des 25. Oktobers 1946 einstand? Im Abschnitt zur Agonalität habe ich dieses bereits angesprochen: Wittgensteins sich durch sein Gesamtwerk ziehende Motivation liegt in der radikalen Hinwendung zur Sprache. Hierin bestand sein ›antiphilosophischer Bruch‹ gegenüber »Jahrtausende[n] von Philosophie«889, hierin nobilitierte er sich als Erlöser.890 Der Satz aus dem Frühwerk: »Alle Philosophie ist ›Sprachkritik‹« (TLP 4.0031), gilt auch für das Spätwerk. Als thematischer, zwischen Abbild-891 und Gebrauchstheorie892 changierender,893 aus wechselnden Perspektiven betrachteter Leitstern führt ihn diese Sprachkritik mit den Tagebüchern von 1914 und dem Tractatus zu den Philosophischen Untersuchungen und schließlich bis zu Über Gewissheit von 1951, seinem letzten Werkkomplex.

In welchem Maß sich Wittgenstein für seine sprachkritischen Positionen einsetzen konnte, habe ich beispielhaft über den Punkt der Agonalität und der poetischen Zuspitzung durch Bell, die Figuration Wittgensteins als »Behemoth«894, ausgeführt. Dem in der Öffentlichkeit zur Schau gestellten »selbstlose[n] Einsatz für ein höheres Ziel«895 entsprach auch die Performanz in den Vorlesungen. Für seine Hörer:innen führte Wittgenstein dabei einen körperlich ausgetragenen heroischen Kampf mit sich selbst auf, bei dem er sich jeden Gedanken und jeden Satz unter großer körperlicher Belastung abringen musste. Norman Malcolm, Schüler ab 1938 und langjähriger Gesprächspartner Wittgensteins, schildert jene Vorlesungen wie folgt:

Wittgensteins Vorlesungen haben seine Hörer nachhaltig beeindruckt. Er pflegte sich keine Aufzeichnungen zu machen und bereitete sich nicht vor. Die Einfälle kamen ihm nicht leicht; er hatte sichtlich mit seinen Gedanken zu kämpfen. Manchmal kam es zu langen Pausen, in denen sein Blick sich auf irgend etwas konzentrierte, sein Gesicht sich belebte, sein Ausdruck streng wurde und seine Handbewegungen die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Seine Hörer sahen sich tiefstem Ernst, äußerster Versunkenheit und geistiger Konzentration gegenüber. Er sprach nicht flüssig, aber mit Nachdruck und Überzeugungskraft. Sein Gesicht war beim Sprechen bemerkenswert lebendig und ausdrucksvoll. Sein Blick wurde oft brennend, seine ganze Erscheinung herrisch. […] Wittgenstein ging mit Energie, ja mit Leidenschaft an die philosophischen Probleme heran. Anders als viele andere Philosophen, die ihre Probleme in Wirklichkeit lieber behalten als lösen möchten, wollte Wittgenstein sie aufklären, sie loswerden.896

Der in diesem Auszug beschriebene selbstlos an der Sache interessierte Einsatz war auch für Wittgensteins private Gedankengänge und seine Verschriftlichungsstrategie charakteristisch. Beides zeichnete sich durch psychische Labilität, wenig Schonung, viel Entsagung und Besessenheit aus. So berichtet unter anderem David Pinsent, Freund und Assistent Wittgensteins, anlässlich eines gemeinsamen Urlaubs in Norwegen 1913 Folgendes über ihn:

Ihn ängstigt der Gedanke zu sterben, ohne die Typenlehre richtiggestellt und seine übrigen Ideen für die Welt verständlich und zum Nutzen der Wissenschaft formuliert zu haben. […] Immer wieder äußert er seine Angst, innerhalb der nächsten vier Jahre zu sterben – heute gab er sich sogar nur noch zwei Monate.897

Pinsent spricht weiterhin von einem »neurotischen Zustand«, der Wittgenstein bei seiner Arbeit begleitet, sowie von dessen aufkommendem Wunsch, »allein und für sich leben« zu wollen, »um nur über Logik nachdenken«898 zu können. Dieses Vorhaben setzte Wittgenstein wenig später in die Tat um und errichtete sich, ebenfalls in Norwegen, in Skjolden, eine Klause, in der er als Eremit seinen sprachphilosophischen Überlegungen und Zielen nachging. Wittgensteins Protegé Russell schildert folgenden, mit stilisierter Exzeptionalität aufgeladenen Dialog im Vorfeld der Abreise:

Ich sagte, es werde dunkel sein, & er sagte, er hasse das Tageslicht. Ich sagte, er werde einsam, sein, & er sagte, er prostituiere seinen Geist, wenn er mit intelligenten Menschen spreche. Ich sagte, er sei verrückt, & er sagte, Gott behüte ihn vor der Normalität.899

Aber auch während seines Einsatzes an und hinter der Front des Ersten Weltkriegs, in den Schützengräben900 sowie im Kriegsgefangenenlager im italienischen Cassino, verfolgt Wittgenstein seine letztlich im Tractatus zusammenlaufenden Ziele.901 Unaufhörlich schrieb und arbeitete er an den in Skjolden begonnenen Gedankengängen weiter; die Tagebücher 1914–1916 (TB) sind hierfür ein eindrückliches Zeugnis. Vor dem Hintergrund seines ruhmbegründenden Frühwerks liest sich dann auch der im Vorwort902 des Tractatus angeführte Satz: »Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endültig gelöst zu haben« (TLP S. 10), als ein selbst ausgestelltes Zeugnis der Zielerfüllung.

Spuren der selbstlosen Hingabe an die Sache und das dauerhafte Ringen mit einem »höhere[n] Ziel«903, die hierum kreisenden, teils selbstzerstörerisch empfundenen Gedanken finden sich auch in Zeugnissen zu Wittgensteins Spätwerk. So heißt es unter anderem in den Denkbewegungen, seinen Tagebüchern der 1930er-Jahre:904

Ein Ideal haben ist recht. Aber wie schwer, sein Ideal nicht spielen zu wollen! Sondern es in dem Abstand von sich zu sehen, in dem es ist! Ja, ist das auch nur möglich, – oder müßte man darüber entweder gut oder wahnsinnig werden? Müßte diese Spannung, wenn sie ganz erfaßt würde, den Menschen nicht entweder zu Allem bringen, oder ihn zerstören. (DB S. 73)

Und weiter: »Ich fühle mich als wäre mein Verstand in einem sehr labilen Gleichgewichtszustand; so als würde ein verhältnismäßig geringer Stoß ihn zum umschnappen bringen. Es ist so wie man sich manchmal dem Weinen nahe fühlt, den herannahenden Weinkrampf fühlt.« (DB S. 75) Oder: »Kann aus irgend einem Grunde nicht arbeiten. Meine Gedanken kommen nicht vom Fleck & ich bin ratlos, weiß nicht was ich in dieser Lage anfangen soll. Ich scheine hier die Zeit in unnützer Weise zu vergeuden.« (DB S. 76) Diese Züge der Verzweiflung gehen mitunter sogar in Stoßgebete über. Gott wird als Instanz angerufen, die ihn von seinem selbstlosen Einsatz, seinem Streben nach dem höheren Ziel befreien kann: »Gott! lass mich zu dir in ein Verhältnis kommen, in dem ich fröhlich sein kann in meiner Arbeit!« (DB S. 80)

Narrativierung, Exzeptionalität, Agonalität, Transgression und die verschiedenen Facetten der Affektion: Die Schürhakenepisode, das Duell ›Wittgenstein vs. Popper‹, so die Summe meiner auf Bröckling aufbauenden Lektüre, besitzen alles, was es für eine Heldengeschichte braucht. Die Ereignisse vom Abend des 25. Oktobers 1946 im Moral Science Club bündeln die Facetten eines Bewunderungsgeschehens905, bei dem letztlich unbeantwortet bleiben muss, ob Wittgensteins Singularitätsperformanz einer (un-)bewussten Strategie folgte oder bezeichnender Ausdruck seines Naturells war. In jenem sich um einen Schürhaken drehenden ›Drama‹ war Wittgenstein in der Rolle des bewunderten Helden jedenfalls eine Idealbesetzung.

18.2 »I know you’ll never understand it«

Neben der ausführlichen Beschreibung von Wittgensteins heroischer Inszenierung im Kontext der Schürhakenepisode lassen sich vergleichbare Praktiken auch bei seinem Rigorosum bei George Edward Moore und Bertrand Russell feststellen. Mit beiden verband ihn eine langjährige und infolge einer umgekehrten Lehrer-Schüler-Beziehung sehr wechselvolle Beziehung. Sowohl Moore als auch Russell stehen für den Beginn der sprachanalytischen Philosophie906 und waren zum Zeitpunkt der Einreichung des Tractatus als Doktorarbeit – sieben Jahre nach der Erstveröffentlichung 1922 – in ihrem Fach international hochangesehene Kapazitäten.907 Ihr Renommee stelle ich deshalb voran, weil es die Dimension von Wittgensteins Performanz im Kontext der Verteidigung des Tractatus unterstreicht: Die beiden überragenden Köpfe der sprachanalytischen Philosophie erkannten Wittgensteins Exzeptionalität nicht einfach nur an – Wittgenstein gab ihnen unmissverständlich zu erkennen, dass sie im intellektuellen Hierarchiegefälle weit unter ihm stünden, er die ›Überragenden‹ auch nach seinem Selbstverständnis weit überragte.

Welche Bewunderung und Hochachtung Moore und Russell ihrem ehemaligen Schüler Wittgenstein im Allgemeinen entgegenbrachten, lässt sich den beiden folgenden Erinnerungsskizzen deutlich entnehmen. Zunächst Moore:

I did not see him again, after 1914, until he returned to Cambridge in 1929; but when his Tractatus Logico-Philosophicus came out, I read it again and again, trying to learn from it. It is a book which I admired and do admire extremely. There is, of course, a great deal in it which I was not able to understand; but many things I thought I did understand, and found them very enlightening.908

Bei Moore löste der lernbegierig gelesene und nur in Teilen verstandene Tractatus seines ehemaligen Schülers Wittgenstein Bewunderung aus – eine Haltung, die sich, wenngleich mit weniger Unterordnung und einer Betonung des Dissenses, auch bei Russell findet:

Quite at first I was in doubt as to whether he was a man of genius or crank […]. Getting to know Wittgenstein was one of the most exciting intellectual adventures of my life. In later years there was a lack of intellectual sympathy between us, but in early years I was willing to learn from him as he from me. His thought had an almost incredible degree of passionately intense penetration, to which I gave wholehearted admiration.909

Gegenüber diesen beiden Bewunderern, Moore und Russell, hatte Wittgenstein seinen Tractatus am 6. Juni 1929 zu verteidigen. Glaubt man der aus dem näheren Umfeld von Wittgenstein stammenden Narrativierung von Rush Rhees, soll sich schon zu Beginn des Rigorosums Folgendes ereignet haben: »Als er zu seiner ›Prüfung‹ durch Russell und Moore in das Zimmer kam, sagte Russell lächelnd: ›I have never known anything so absurd in my life.‹«910 Zunächst ist interessant, dass Rhees in seiner Schilderung die Prüfung in ironisierende Anführungszeichen setzt. Das für gewöhnlich bestehende Hierarchiegefälle zwischen Prüfenden und Geprüften scheint ihm in seinem Bericht unangemessen zu sein, was er durch den Russell wörtlich zugeschriebenen Ausspruch: »I have never known anything so absurd in my life«, bestätigt sieht. Die das Rigorosum umfassende Prüfungssituation bestand also von Anbeginn nur auf der Wortebene; die Zusammenkunft war für alle Beteiligten »absurd«, Moore spricht von »amusing«.911

Wie absurd und amüsant diese ›Prüfung‹ letztlich gewesen sein dürfte, beschreibt der Russell-Biograf Ronald Clark wie folgt:

Moore and Russell first chatted informally to Wittgenstein as old friends rather than as examiners and examinee. Then Russell turned to Moore. »Go on«, he said, »you’ve got to ask him some questions – you’re the Professor.« There was a short discussion. Russell made a brief attempt to argue that Wittgenstein was inconsistent in stating that little could be said about philosophy and that it was possible to reach unassailable truth. Then the Viva ended unexpectedly with Wittgenstein clapping each of his examiners on the shoulder and exclaiming, »Don’t worry, I know you’ll never understand it.«912

Schenkt man Clarks Schilderung Glauben, ist der Ablauf jener ›Prüfung‹ für die Analyse von Wittgensteins heroischer Performanz aufschlussreich: Zunächst unterminieren sowohl Moore als auch Russell die institutionellen Vorgaben des Rigorosums, indem sie den Gesprächsrahmen für informellen Austausch symmetrisch öffnen. Nach dem Motto ›Es gibt hier nichts zu examinieren‹ nivellieren sie das in Prüfungen vorherrschende Hierarchiegefälle und begegnen Wittgenstein als »old friend[]« – Ausdruck dafür, welchen Status sie ihm beimessen. Die Aussage: »you’ve got to ask him some questions – you’re the Professor«, liest sich schließlich wie ein Aufruf zur Rückkehr zum institutionellen Rahmen, der durch die Diskussion und Russells Ausführungen dann auch erfüllt wird. In Wittgensteins Reaktion zeigt sich nun ein Verhalten, das in konzentrierter Form heroische Transgression, vor allem aber Exzeptionalität vorführt: Er, der Geprüfte, bricht die Diskussion abrupt ab, klopft den Professoren in jovialer Herablassung auf die Schultern und verlässt den Raum mit dem Verdikt: »[…] I know you’ll never understand it.« Ein Satz, der die intellektuelle Durchschnittlichkeit der beiden Prüfenden betont und die sich selbst zugeschriebene Exzeptionalität überbelichtet. Gleichgültig gegenüber Moore und Russell, schien die Diskussion für ihn beendet gewesen zu sein und jedes weitere Wort Zeitverschwendung. Dass dieses von Wittgenstein geäußerte Urteil und der damit einhergehende eklatante Normbruch kein Einzelfall, sondern Programm seiner Selbstwahrnehmung und Selbstinszenierung waren, zeigt ein in unmittelbarer Nähe zum Rigorosum stehender Eintrag aus den Vermischten Bemerkungen von 1930: »Ob ich von einem typischen westlichen Wissenschaftler verstanden oder geschätzt werde, ist mir gleichgültig, weil er den Geist, in dem ich schreibe, doch nicht versteht.« (VB S. 459)

In Moores Gutachten über Wittgensteins Rigorosum heißt es: »It’s my personal opinion that Mr. Wittgenstein’s thesis is a work of genius; but, be that as it may, it is certainly well to the standard required for the Cambridge degree of Doctor of Philosophy.«913 Am 18. Juni 1929 erhielt Wittgenstein von der Universität Cambridge den Doktortitel. Der Tractatus wurde von der Philosophischen Fakultät als Dissertation angenommen.914

18.3 Hermine Wittgensteins ›Familienerinnerungen‹

In Hermine Wittgensteins Familienerinnerungen tritt Ludwig Wittgenstein in der dem Helden »verwandt[en] Gestalt[] […] [des] Genies«915 auf. Die in den Jahren 1944 bis 1948 verfasste Chronik der ältesten Schwester dokumentiert die Geschichte der Familie über vier Generationen hinweg und zeigt ausführlich deren kulturelle Beziehungen, aber auch die Schicksale in »der Zeit der beiden Weltkriege sowie im Nationalsozialismus«916.

Mit Nicole L. Immler ist zur Einordnung der Familienerinnerungen zu sagen, dass sie »als ein zentraler Text in der Wittgenstein-Forschung« gelten:

[S]ie gehören zu den am häufigsten zitierten Quellen zur […] Biografie des Bruders, dem Philosophen Ludwig Wittgenstein. Die Erinnerungen der ältesten Schwester an ihren jüngsten Bruder gehören zu den wenigen Memoiren, die noch zu seinen Lebzeiten geschrieben wurden. Damit war Hermine Wittgenstein die erste Biografin ihres Bruders […].917

In der Geste der Traditionsstifterin und -bewahrerin präsentiert Hermine Wittgenstein in ihren Erinnerungen ein äußerst problematisches, aus subjektiver Perspektive gezeichnetes und geglättetes Bild einer harmonischen Familie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.918 Ihre nostalgischen Färbungen sind dabei geprägt von Auslassungen, von Aussparungen und schließlich auch von Verklärung.

Diese Verklärung lässt sich gleich zu Beginn von Hermine Wittgensteins Kapitel über ihren Bruder feststellen, der ihr »doch der interessanteste und wertvollste […] scheint«919. Ludwigs Lebenslauf rekapitulierend, setzt sie mit folgender Erinnerung ein: »Die Konstruktion einer Nähmaschine war ihm z. B. schon mit zehn Jahren so klar, dass er aus Holzstäbchen, Draht usw. ein kleines Modell herstellen konnte, das tatsächlich einige Stiche nähte.«920 Bereits dem Kind Ludwig Wittgenstein wird von seiner Schwester eine außerordentliche Begabung zugeschrieben. Die Betonung »schon mit zehn Jahren« zieht eine Altersrelation, in der Hermine Wittgenstein ihren Bruder hinsichtlich entwicklungsspezifischer Fähigkeiten weit vor seinen Altersgenossen positioniert. Folgt man hingegen dem Wittgenstein-Biografen Monk, trifft diese auf kindliche Hochbegabung zulaufende Aussage von Hermine keinesfalls zu. Nach Monks biografischer Rekonstruktion war Ludwig Wittgenstein als Kind eher dem Durchschnitt zuzuordnen, besaß er keine Exzeptionalität: »Bis spät in seine Kindheit galt er als das unbegabteste von allen Geschwistern, ließ keine frühreifen […] Talente erkennen – begann sogar erst mit vier Jahren zu sprechen.«921 Monks Aussage deckt sich mit Ludwig Wittgensteins Maturazeugnis von der Oberrealschule Linz aus dem Jahr 1906. Mit Ausnahme von »Sittliches Betragen«, »Religionslehre« und »Englische Sprache«, je mit »lobenswert« benotet, finden sich in allen anderen Fächern des Zeugnisses ausschließlich die Prädikate »genügend« und »befriedigend«922 – von Hochbegabung offenbar auch hier keine Spur.

Der von Hermine Wittgenstein in ihrem Bericht über die Nähmaschine angeschlagene Ton setzt sich fort. Genialische Verklärung klingt in ihrer Familienerinnerung auch in der darauffolgenden Episode an: Während seiner Zeit an der Technischen Hochschule in Berlin habe ihren Bruder die Eingebung überkommen, der Ingenieurswissenschaft den Rücken zu kehren und sich stattdessen der Philosophie zuwenden zu müssen:

Zu dieser Zeit […] ergriff ihn plötzlich die Philosophie, d. h. das Nachdenken über philosophische Probleme, so stark und so völlig gegen seinen Willen, dass er schwer unter der doppelten und widerstreitenden inneren Berufung litt und sich wie zerspalten vorkam. Es war eine […] Wandlung[] […] über ihn gekommen und durchschüttelte sein ganzes Wesen.923

Hermine Wittgenstein berichtet nicht von einer bloßen Interessenverschiebung von technischer zu philosophischer Tätigkeit, sondern beschreibt Ludwig Wittgensteins Sinneswandel mit dem Vokabular von numinoser Eingebung und Epiphanie: Nicht er habe sich die Philosophie ausgesucht; eine höhere Instanz habe ihn dazu auserwählt und berufen.

Die von Hermine Wittgenstein erzählte ›Coming of Age‹-Geschichte über den Genius des Bruders setzt sich in einer Erinnerung aus Ludwig Wittgensteins Anfangszeit in Cambridge fort. Nicht nur auf dem Gebiet des Nähmaschinen-Modellbaus begabt, habe er auch auf dem neuen, ihm durch Eingebung zugewiesenen Feld der Philosophie geglänzt. In der wiederholten Stilisierung Ludwig Wittensteins als Wunderkind schildert die Schwester eine gemeinsame Begegnung mit Bertrand Russell im Jahr 1912 wie folgt:

Plötzlich sagte Russell zu mir: »We expect the next big step in philosophy to be taken by your brother.« Das zu hören war für mich etwas so Unerhörtes, Unglaubliches, dass mir’s einen Augenblick tatsächlich schwarz vor den Augen wurde. Ludwig, der um fünfzehn Jahre jüngere als ich, kam mir trotz seiner dreiundzwanzig Jahre immer noch als ein ganz junger Mensch, als ein Lernender vor. Kein Wunder, dass mir dieser Augenblick unvergesslich blieb.924

In den darauffolgenden, nun nur noch kursorisch angeführten Abschnitten zieht sich dieses mit der Nähmaschine anhebende Bild fort. Hermine Wittgenstein skizziert den Lebenslauf ihres Bruders unter der Überschrift von Außerordentlichkeit. So heißt es zu seiner Zeit als Lehrer in der niederösterreichischen Provinz: »In vielerlei Beziehung ist Ludwig der geborene Lehrer […]; das Interesse, das er [bei den Schüler:innen] erweckte, war ungeheuer. Selbst die Unbegabten […] gaben erstaunlich gute Antworten und sie krochen förmlich übereinander in ihrem Wunsch, zu Antworten«;925 zu seiner Arbeit als Architekt beim Hausbau der Schwester Margarethe Stonborough-Wittgenstein: »und so konnte bei diesem Bau etwas in seiner Art Vollendetes geschaffen werden«926 ; zu seiner Bildhauerei: »Er brachte […] wirklich etwas sehr Reizvolles zustande«927, und zu seinem im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Rigorosum: »[D]ie Prüfung [wurde] in vornehmster Weise dahin abgeändert […], dass die Professoren Ludwig baten, ihnen Stellen aus seinem Buch [dem Tractatus, TH] zu erklären.«928

Im letzten Abschnitt des Kapitels über ihren Bruder geht Hermine Wittgenstein schließlich auf seine Genialität ein. Was in den episodischen Schilderungen der vorangegangenen Seiten der Familienerinnerungen zwischen den Zeilen vermittelt wurde, findet an dieser Stelle des Texts eine explizite Ansprache. Ihr genialer Bruder litt laut Hermine Wittgenstein seit seiner Kindheit an einer »ihm unkongenialen Umgebung«, die mit seiner Außerordentlichkeit nicht mithalten konnte; der Überdurchschnittliche fühlte sich im Durchschnittlichen nicht wohl. Eher beiläufig, wie bei einer bereits bekannten Tatsache, heißt es hierzu: »Freilich fügt sich seine Persönlichkeit von solcher Stärke nicht wie ein harmloses, glattes Steinchen in jede Gemeinschaft ein – Ludwig fügte sich sogar besonders schwer ein, da er schon von Kindheit auf fast krankhaft schmerzlich unter jeder ihm unkongenialen Umgebung litt […].«929

Die Familienerinnerungen lassen ausgehend von meinem Definitionsvorschlag in Kap. 17.5 Zum Begriff ›Bewunderung‹ II ein Bewunderungsgeschehen erkennen, da Hermine Wittgenstein ihrem Bruder Ludwig eine Exzeptionalität zuschreibt, die sich nicht nur auf dem Feld der Philosophie, sondern auch an allen anderen biografischen Wegmarken und bei den damit verbundenen Tätigkeiten wiederfindet. Die Schilderungen über ihren Bruder lesen sich wie eine stringente Abhandlung über ein Wunderkind, dessen geniale Züge sich auf dem weiteren Lebensweg folgerichtig und kontextunabhängig entfalteten.

Über ihren Status als Schwester, die damit verbundene bzw. suggerierte Authentizität ihres Zeugnisses, setzt Hermine Wittgenstein als »erste Biografin«930 mit den Familienereinnerungen, einem »zentrale[n] Text in der Wittgenstein-Forschung«, einen Anfangspunkt für genialische Verklärung und gibt eine Leitperspektive für ihren Bruder Ludwig vor, die sich bis in die Gegenwart hinein tradiert und eine Eigendynamik angenommen hat. So übernimmt beispielsweise von Wright in einer Erinnerungsskizze über Ludwig Wittgenstein von 1954 unmarkiert und ohne Quellennachweis die Nähmaschinen-Anekdote (»Er war noch ein kleiner Junge, als er eine Nähmaschine konstruierte, die viel Bewunderung auslöste«931 ), Monks immer noch maßegebende Wittgenstein-Biografie trägt im englischen Orginal den Titel The Duty of Genius932 (1990), im Deutschen Das Handwerk des Genies933 (1992), und auch die gegenwärtige Forschung greift mit Kapitelbezeichnungen wie »Das Drama des genialen Kindes«934 (2020) oder dem Sammelbandtitel »Ludwig Wittgenstein. Universalgenie, Genie oder Generalist?«935 (2022) auf den Genie-Topos zurück.

18.4 Priestertum, Gott und Wunderheiler

Ein Apostel sein ist ein Leben. Es äußert sich wohl zum Teil in dem was er sagt, aber nicht darin daß es wahr ist, sondern darin daß er es sagt. Für die Idee leiden macht ihn aus, aber auch hier gilt es, daß der Sinn des Satzes ›[…] dieser ist ein Apostel‹ die Art seiner Verifikation ist. Einen Apostel beschreiben heißt ein Leben beschreiben. Den Eindruck den diese Beschreibung auf Andere macht muß man Diesen überlassen. An einen Apostel glauben heißt, sich zu ihm so und so zu verhalten – tätig zu verhalten.

(MS 183, 73 f.)

Mehrere Facetten der in den vorangegangenen Kapiteln aufgeführten Gesichtspunkte zu Wittgensteins Heroentum und dem damit verbundenen Bewunderungsgeschehen lassen sich in einer Hinwendung zum Priestertum und den damit verbundenen Semantiken weiterführen. Wittgensteins performative Praktiken reflektieren sich nicht nur in der Sozialfigur des Helden, sondern auch in den sich um das Heroentum gruppierenden Figuren des Priesters, des gottgleichen Führers, des Hirten und Wunderheilers.936

18.4.1 Der Wiener Kreis und sein Priester Wittgenstein

Wittgensteins Priestertum937 lässt sich vor allem anhand seiner Beziehung zum Wiener Kreis nachzeichnen. Dieser elitäre, aus Naturwissenschaftlern, Mathematikern, Logikern und Philosophen bestehende Diskussionszirkel, der sich ab 1924 in Wien um Moritz Schlick versammelte und den Logischen Empirismus938 begründen sollte, verehrte und bewunderte Wittgenstein in einer Form, die bisweilen kultische Züge annahm. Bedingt durch die gemeinsame Lektüre des Tractatus, wurde Wittgenstein binnen kürzester Zeit zum Spiritus Rector, dessen Worte auf die Mitglieder wie eine Offenbarung wirkten. Hierzu Edmonds in seiner Studie Der Wiener Kreis und die dunklen Jahre der Philosophie: »Innerhalb des Kreises erlangte der Tractatus nahezu den Stellenwert einer Bibel. […] Zwischen 1925 und 1927 analysierten sie [die Mitglieder des Wiener Kreises, TH] den Tractatus Satz für Satz, wie Jeschiwa-Schüler, die versuchen, die Geheimnisse des Talmud zu entschlüsseln.«939

Dass es bei einer bloßen Lektüre der ›Heiligen Schrift‹ nicht bleiben konnte und man Wittgenstein, ebenfalls Wiener und zu dieser Zeit, so viel war in Erfahrung zu bringen, in der niederösterreichischen Provinz als Dorfschullehrer tätig, auch persönlich kennenlernen wollte, liegt nahe. Schon die erste Kontaktaufnahme ist durchzogen von unterwürfiger Ergebenheit und Bewunderung. In einem Brief Schlicks an Wittgenstein vom ersten Weihnachtsfeiertag 1924 heißt es:

Als Bewunderer Ihres tractatus logico-philosophicus hatte ich schon lange die Absicht, mit Ihnen in Verbindung zu treten. […] Im Philosophischen Institut pflege ich jedes Wintersemester regelmäßig Zusammenkünfte von Kollegen und begabten Studenten abzuhalten, die sich für die Grundlagen der Logik und Mathematik interessieren, und in diesem Kreis ist Ihr Name oft erwähnt worden, besonders seit mein Kollege, der Mathematiker Prof. Reidemeister über Ihre Arbeit einen referierenden Vortrag hielt, der auf uns alle einen großen Eindruck machte. Es existiert hier also eine Reihe von Leuten – ich selbst rechne mich dazu – die von der Wichtigkeit und Richtigkeit Ihrer Grundgedanken überzeugt sind, und wir haben den lebhaften Wunsch, an der Verbreitung Ihrer Ansichten mitzuwirken. […] Eine besondere Freude würde es mir sein, Sie persönlich kennen zu lernen, und ich würde mir gestatten, Sie gelegentlich einmal […] aufzusuchen, es sei denn, daß Sie mich wissen laßen sollten, daß Ihnen eine Störung Ihrer ländlichen Ruhe nicht erwünscht ist.940

Zur Einordnung jener Briefzeilen: Hier schreibt nicht irgendein Student oder beliebiger Bewunderer des Tractatus, sondern Moritz Schlick, selbst renommierter Professor und durch seine Allgemeine Erkenntnislehre von 1918 maßgeblicher Begründer des erkenntniskritischen Realismus.941 Professor Schlick bittet in der angeführten Sequenz um Audienz. Im hierarchischen Gefälle der Exzeptionalität ordnet er sich weit unterhalb von Wittgenstein ein; durch Selbstverkleinerung und Ausklammerung seines eigenen Status erhöht er denjenigen von Wittgensteins umso mehr.

Das Gesuch Schlicks wurde von Wittgenstein positiv aufgenommen, sodass er einem Treffen zustimmte. Folgt man einem Brief von Schlicks amerikanischer Gattin Blanche an einen Bekannten, so war ihr Mann im Vorfeld des ersten Kennenlernens über die Maßen aufgeregt und angespannt, wie in der persönlichen Begegnung mit einem Idol: »It was as if he was preparing to go on a holy pilgrimage, while he explained to me, almost with awesome reverence, that Wittgenstein was one of the greatest geniuses on earth.«942

Die Wallfahrt, die »holy pilgrimage«, war jedoch nicht von Erfolg gekrönt. Wittgenstein war nicht da. Ohne weitere Korrespondenz hatte er eine neue Anstellung in einer benachbarten Schulgemeinde angetreten.943 Durch Wittgensteins Schwester Margaret Stonborough vermittelt, kam es geraume Zeit später dennoch zu einem weiteren Austausch. In der Anfangszeit fungierte sie als eine Art Sekretärin, die Schlick die Wünsche und Anliegen ihres Bruders mitteilte. Wittgenstein wolle sich zwar weiterhin mit ihm treffen, freilich nur mit ihm, ohne weitere Mitglieder des Wiener Kreises. In einem Brief Stonboroughs an Schlick vom 19. Februar 1927 heißt es:

Er bittet mich nun, Ihnen mit seinen Grüßen und wärmsten Entschuldigungen zu sagen, daß er glaubt immer noch nicht im Stande zu sein, sich […] auf die logischen Probleme conzentrieren zu können. Auf keinen Fall möchte er mit mehreren Personen konferieren. Mit ihnen, verehrter Herr Professor, alleine diese Dinge zu besprechen, hielte er für möglich.944

Durch ihre Vermittlung kam die von Wittgenstein eingeräumte Privataudienz letztlich zustande. Blanche Schlick erinnert sich im Nachgang zu diesem ersten Treffen ihres Mannes mit Wittgenstein wiederholt im Bild des Pilgers:

Die Einladung von Frau Stonborough brachte große Freude und Erwartung mit sich, und diesmal wurden M.’s Hoffnungen nicht vereitelt. Wiederum konnte ich mit Interesse die ehrerbietige Haltung des Pilgers beobachten. Er kehrte in einem hingerissenen Zustand zurück, sprach wenig und ich fühlte, daß ich keine Fragen stellen durfte.945

Auf dieses erste Treffen 1927 folgten mehrere Begegnungen, in deren Folge Wittgenstein die Privataudienz mit Schlick auch für die anderen Mitglieder des Wiener Kreises öffnete. Folgt man den Aussagen Rudolf Carnaps, war Schlick vor der ersten größeren Zusammenkunft mit dem Zirkel sehr bemüht, den von allen verehrten Gast nicht zu verstören, sondern seinen Ausführungen untergeben zu folgen. In einer Predigt hat es keine Zwischenrufe zu geben:

Before the first meeting, Schlick admonished us urgently not to start a discussion of the kind to which we were accustomed in the Circle, because Wittgenstein did not want such a thing under any circumstances. We should even be cautious in asking questions, because Wittgenstein was very sensitive and easily disturbed by a direct question. The best approach, Schlick said, would be to let Wittgenstein talk and then ask only very cautiously for the necessary elucidations.946

Die hierauf folgenden Treffen mit Wittgenstein schildert Carnap als Gottesdienste, in denen der Prophet nicht nur bestätigte, was in der ›Bibel‹ des Gesprächszirkels, dem Tractatus, ausformuliert war, sondern in denen er vor aller Augen göttliche Inspiration empfing:

Whatever he said was always interesting and stimulating, and the way in which he expressed it was often fascinating. His point of view and his attitude toward people and problems […] [were] similar to those of a religious prophet or a seer. When he started to formulate his view on some specific philosophical problem, we often felt the internal struggle that occurred in him at that very moment, a struggle by which he tried to penetrate from darkness to light under an intense and painful strain, which was even visible on his most expressive face. When finally, sometimes after a prolonged arduous effort, his answer came forth, his statement stood before us like a newly created piece of art or a divine revelation. […] [T]he impression he made on us was as if insight came to him as through a divine inspiration, so that we could not help feeling that any sober rational comment or analysis of it would be a profanation.947

Zeugnisse dieser zumindest von Carnap als Epiphanien beschriebenen ›Heimsuchungen‹, bei denen Wittgenstein gleichsam göttliche Inspiration empfangen haben soll, finden sich in den Aufzeichnungen und Mitschriften der Jahre 1929 bis 1932 von Friedrich Waismann (vgl. WWK).948 Wo in den dort aufgeführten Themenfeldern wie bspw. ›Reelle Zahlen‹, ›Elementarsätze‹, ›Widerspruchsfreiheit‹, ›Geometrie‹, ›Arithmetik‹ und ›Überlegungen zum Begriff des Kalküls‹ Spuren von »divine revelation«949 zu finden sind, vermag ich selbst mit viel Fantasie nicht zu beantworten. Letztlich ist Carnaps Erinnerungsskizze jedoch Ausweis dafür, dass es bei den Treffen wohl weniger um thematische Inhalte, sondern vielmehr um Wittgensteins prophetische Performance ging, welche die in nüchternem Denken geschulten Teilnehmer des Wiener Kreises in hohem Maß affizierte.

Dieser Gesichtspunkt ist zu vertiefen. Aufbauend auf den Aussagen einzelner Teilnehmer heißt es bei McGuinness: »Wittgenstein […] war nicht immer bereit, über Philosophie zu sprechen. Manchmal zog er es vor, Gedichte vorzulesen – besonders die von Rabindranath Tagore – für gewöhnlich den Zuhörern den Rücken kehrend.«950 Für gewöhnlich den Zuhörern den Rücken kehrend? Was zunächst wie ein Kuriosum anmutet, ist auf den zweiten Blick Ausdruck von Wittgensteins priesterlichen Ambitionen und der dazugehörigen Inszenierungspraktik. Die katholische Liturgie kennt zwei Formen der Predigt: die Hinwendung des Priesters zur Gemeinde (›versus populum‹) und die Abkehr des Priesters von der Gemeinde (›ad orientem‹). Bei ersterer halten Priester und Gemeinde vergemeinschaftenden Blickkontakt, bei letzterer predigt der Priester mit abgewandtem Rücken, emporschauend zum Chor und den göttlichen Insignien. Der Unterschied besteht in einer deutlichen Markierung des Hierarchiegefälles. ›Versus populum‹ verringert die Distanz zwischen Priester und Gemeinde durch den Ausdruck von Zugewandtheit, ›ad orientem‹ erhöht die Distanz zur Gemeinde, da der Priester den liturgischen Dialog allein mit Gott bzw. ›in Richtung der aufgehenden Sonne‹ (Osten) führt.951 Rezitierte Wittgenstein im Wiener Kreis Rabindranath Tagore ›ad orientem‹, also »den Zuhörern den Rücken kehrend«952, so gab er demnach zweierlei zu erkennen: Durch die Übernahme einer aus der liturgischen Praxis stammenden Form der Ansprache markiert er zum einen den von ihm im Wiener Kreis angestrebten Priesterstatus. Zum anderen ist, da diese Ansprache ›ad orientem‹ und nicht ›versus populum‹ erfolgte, davon auszugehen, dass Wittgenstein mit seiner priesterlichen Performanz darüber hinaus ein Hierarchiegefälle markieren wollte, das den ohnehin schon erhabenen Status weiter erhöht. Ihm ging es also nicht um Dialog auf Augenhöhe, sondern um Verkündung aus exponierter Stellung. Auch wenn nicht zu ermitteln ist, welchen Eindruck die Tagore-Performances auf die einzelnen Teilnehmer machten – allein dass er es »für gewöhnlich«953 machen konnte, ist Ausdruck der Autorität, der Wittgenstein im Wiener Kreis zukam. Ob zur Logik oder zur Lyrik, für die Jünger des Wiener Kreises zählte jedes Wort.

Die ergebensten Jünger des Kreises waren Schlick und Waismann. Wittgensteins Worte wurden ihnen zum Gesetz. Schlick, so der Eindruck Carnaps, gab mit Andauern der Treffen sein kritisches Denken zunehmend auf und sich widerspruchslos dem Bann Wittgensteins hin: »During the subsequent years, I had the impression that he sometimes abandoned his usually cool and critical attitude and accepted certain views and positions of Wittgenstein’s without being able to defend them by rational arguments in the discussion of our Circle.«954 Schlicks Affirmation ging nach Edmonds mitunter so weit, dass er »einige seiner ureigensten Ideen Wittgenstein zu[schrieb], auch wenn er sie schon formuliert hatte, bevor er den Tractatus überhaupt erst gelesen hatte«955. Auf der anderen Seite findet sich Edmonds zufolge bei Waismann das, was ich bereits als Motiv im Zusammenhang mit den affirmativen, in Bewunderung gründenden Auswüchsen der Jünger im Moral Science Club bei Wittgensteins Heroentum in der Schürhakenepisode aufgeführt habe:956 Er »begann unterbewusst Wittgensteins Sprachverhalten nachzuahmen«.957

18.4.2 »God has arrived«

Spuren der anhand des Wiener Kreises beschriebenen sakralen Verklärung finden sich auch unmittelbar nach Wittgensteins Rückkehr nach Cambridge. In Wien als Priester aufgebrochen, wurde er in Cambridge als »God«958 empfangen. Nach einer zufälligen Begegnung mit Wittgenstein im Zug schreibt John Maynard Keynes – der Wittgenstein bereits aus dessen Zeit in Cambridge vor dem Ersten Weltkrieg kannte, ihn über viele Jahre nicht gesehen hatte und mit ihm nur in sporadischem brieflichen Austausch stand –959 seiner Frau Lydia Lopokova nach der gemeinsamen Ankunft am 18. Januar 1929:

My dearest sweet, well, God has arrived. I met him on the 5.15 train. He has a plan to stay in Cambridge permanently. Meanwhile we have had tea and now I retire to my study to write to you. I see that the fatigue is going to be crushing. But I must not let him talk to me for more than two or three hours a day.960

Mit »God has arrived« wird im Auszug nach der Anredefloskel zunächst das Motiv der Rückkehr, die aus dem religiösen Bildspeicher stammende Wiederankunft eines Gottes vorangestellt. Das wissenschaftliche Bibellexikon hält hierzu fest: »[Der] Anwesenheit [eines Gottes] wird eine heilvolle, die Stadt und von ihr ausgehend auch das Umland beschützende Wirkung zugeschrieben. Umgekehrt gilt die […] Abwendung einer Gottheit von ihrem Wohnort als Ursache von Not- und Krisensituationen.« Und weiter: »Die Rückkehr Gottes an seinen Wohn- bzw. Thronort ist somit ein Ausdruck des göttlichen Erbarmens und Willens zur Restitution nach einer Zeit der durch die Abwesenheit Gottes verursachten Not.«961 Auch wenn Keynes Wendung »God has arrived« und die Bezeichnung Wittgensteins als »God«962 gewiss als hyperbolische Rhetorik Keynes’ gegenüber seiner Frau zu bewerten ist, so illustriert die Metaphorik dennoch, welche Bedeutung er der Rückkehr Wittgensteins nach Cambridge zumaß: Der seit 1914 verwaiste Thron – um das von Keynes herangezogene religiöse Metaphernfeld fortzusetzen – wurde 1929 mit der Hoffnung auf Linderung der philosophischen Nöte wieder besetzt. Von der Rückkehr Wittgensteins versprach er sich die Wiederkunft eines ›Goldenen Zeitalters‹ für Cambridge und die an diesem Ort betriebene Philosophie. Die darauffolgenden Zeilen: »I see that the fatigue is going to be crushing. But I must not let him talk to me for more than two or three hours a day«963, illustrieren, was ich bereits im Kontext der heroischen Affektion mit den »energetischen Feldern«964 und Wittgensteins »personal magnetism«965 angesprochen habe: Keynes fühlte sich von Wittgensteins »Heldenpol«966 so stark angezogen, dass er sich außerstande fühlte, sich mit Wittgenstein mehr als zwei bis drei Stunden am Tag zu unterhalten. Was er gegenüber seiner Gattin äußert, liest sich wie das notwendige Vorhaben, einen Schutzwall gegenüber Wittgenstein errichten zu müssen, um von seinem Bannkreis nicht gänzlich aufgezehrt zu werden.

Dass Formen dieser sakralen Verklärung sich mit Wittgensteins sakraler Selbstverklärung decken konnten, habe ich bereits in meiner Auseinandersetzung mit Wittgensteins prophetischer Singularitätsperformanz im Kontext des Wiener Kreises illustriert. Nicht anders war dies in Cambridge. Auch hier wurde er nicht nur als »God«967 wahrgenommen, er argumentierte und inszenierte sich auch als ein solcher. Bezeichnend hierfür ist die folgende, auf das Jahr 1931 datierte Schilderung von Wittgensteins Schüler und langjährigem Freund Maurice O’Connor Drury:

Ich suchte Wittgenstein auf und berichtete ihm von meinem Beschluss, aus dem College für Theologie auszuscheiden. Er sagte: »Nun hat in ihrem Leben eine Trennung stattgefunden.« Wir sprachen darüber, was ich jetzt anschließend unternehmen sollte. Wittgenstein: Entscheidend ist, daß Sie sofort Cambridge verlassen. In Cambridge gibt es für Sie keinen Sauerstoff. Mir macht das nichts aus, denn ich produziere meinen eigenen Sauerstoff. Was Sie brauchen, ist, daß Sie normale Menschen brauchen, von denen Sie bis jetzt noch gar nichts wissen. Einer meiner Schüler ist auf meinen Rat hin zu Woolworth gegangen und arbeitet dort; so etwas sollten Sie ebenfalls tun.968

Drurys Erinnerungsskizze hat zwei Ebenen: Auf einer ersten positioniert Drury sich als Ratsuchender gegenüber dem Ratgeber Wittgenstein – eine hierarchische Verteilung, bei der sich eine Position vom Mehrwissen der anderen eine Antwort, Hilfestellung oder Entscheidungsvorgabe erhofft. In einem Lehrer-Schüler-Verhältnis und einer Freundschaft ist dies nicht weiter ungewöhnlich. Dass Drury nach Abbruch seines Theologiestudiums nicht wie von Wittgenstein vorgeschlagen bei Woolworth zu arbeiten begann, sondern Medizin in Dublin studierte und schließlich erfolgreicher Psychiater wurde, ändert nichts daran.969 Ungewöhnlich ist jedoch die zweite Ebene der Anekdote, die von Wittgenstein geäußerte Satzfolge: »Entscheidend ist, daß Sie sofort Cambridge verlassen. In Cambridge gibt es für Sie keinen Sauerstoff. Mir macht das nichts aus, denn ich produziere meinen eigenen Sauerstoff.«970 Ob und wie ernst oder unernst er diesen Satz gegenüber Drury geäußert hat, ist natürlich nicht abschließend zu ermitteln. Die damit verbundene Pointe fügt sich jedoch in ein Bild, das bereits aus meiner Auseinandersetzung mit Wittgensteins Priestertum im Wiener Kreis bekannt ist: Durch die Vorstellung einer Eigen-Fotosynthese stilisiert sich Wittgenstein zu einer sakralen Instanz und hebt sich zugleich von allen anderen Lebewesen ab. Erhaben über die menschlichen, irdischen Belange der Sauerstoffaufnahme, inszeniert er sich als autarkes System, das auf seine Umgebung nicht weiter angewiesen ist. Weiterhin ist zu fragen, aus welchen Gründen Wittgenstein Cambridge als lebensfeindlichen Ort darstellt. Bezieht er sich dabei nur auf Drury und dessen Situation, oder kommt hier seine allgemeine Meinung zum Ausdruck? Da sich vergleichbare Versatzstücke in mehreren biografischen Quellen finden,971 ist von Letzterem auszugehen. Dies wirft jedoch die Frage auf, warum Wittgenstein dann von 1929 bis zu seinem Tod 1951 in Cambridge gelebt hat. Es ist sicherlich nicht zu weit gegriffen, Wittgenstein auch hierin eine Pose zu unterstellen – eine Pose, in der er durch öffentliches Kokettieren mit Fremdheit seinen exklusiven Status gegenüber allen anderen intellektuellen Kapazitäten Cambridges markiert.

18.4.3 Der Wunderheiler und die ›kranke‹ Maschine

Obschon auf den ersten Blick weniger ersichtlich, lassen sich Motive der sakralen Verklärung Wittgensteins in einer weiteren Episode finden, die sich in einer Garnfabrik abspielt. Sie entstammt der Erinnerung einer Dorfbewohnerin von Trattenbach, Wittgensteins erster Station als Volksschullehrer in der niederösterreichischen Provinz (1920–1922), deren Mann in derselben Schule wie Wittgenstein unterrichtete:

Ja, ich war im Büro, und da ist die Maschine kaputt geworden, und ist nicht mehr gegangen, der Betrieb hat müssen stehen bleiben. Ja, sie haben dann nur mit Wasser gearbeitet. Und dann sind ein ganzer Haufen Ingenieure gekommen, die haben das nicht machen können. Jetzt bin ich zuhaus und sagte meinem Mann, daß das passiert ist mit der Dampfmaschine, und mein Mann hat das dann in der Schulkanzlei erzählt, und der Herr Lehrer Wittgenstein hat gesagt, Du, kann ich das sehen, kannst du mir das verschaffen daß ich das seh’? Da sagt mein Mann – Ohne weiteres, Sie werden mit dem Herrn Direktor sprechen, und dann werden wir hinunter gehen und Herr Direktor hat gesagt – Ja, ja, er kann schon kommen … na und dann ist er gekommen mit meinem Mann, gleich hinunter ins Maschinenhaus, und da ist er so herumgegangen und hat sich das so angeschaut, und nichts gesprochen, nur so geschaut, und dann hat er auf einmal gesagt, kann ich vier Männer haben? Und der Direktor sagt: ja, die können Sie haben, und sind vier gekommen mit zwei Schlossern und zwei andere, jeder musste einen Hammer halten, und die hat er aufgestellt. Der eine hat eins gehabt, der andere hat zwei, der andere drei, und der andere vier. Und so wie ich rufe müssen sie auf den Platz hin, ich kann nicht sagen, wo der Platz war, hinschlagen. Na und jetzt ist es losgegangen: eins, der hat hingehauen, zwei hat auch hingehauen, auf einmal gehts … die haben die Maschine befreit von ihrer Krankheit …972

Zur Einordnung ist zunächst zu erwähnen, dass Wittgenstein schon bald nach seiner Ankunft in Trattenbach 1920 als Sonderling wahrgenommen wurde. Obwohl die Dorfbewohner:innen von seiner aristokratischen Abkunft und seinem philosophischen Renommee zunächst nichts wussten, war er ein Fremdling, »dessen seltsames Verhalten sie teils amüsierte, teils verärgerte«. Monk zufolge gab er »Anlaß zu immer neuen Anekdoten, bis er eine Art Dorflegende wurde«.973 Trattenbachs ländliche Lebensform wurde durch Wittgensteins Lebensform provoziert. Die angeführte, heroischer Narrativierung entsprechende Sequenz über eine defekte Maschine der Garnfabrik in Trattenbach ist als Ausdruck dieser Legendenbildung zu bewerten.

Das für meinen Fokus Interessante an dieser Episode ist die Erzählstruktur der Schilderung, die, soziolektal gefärbt und linear fortschreitend, ein biblisches Narrativ aufgreift. Die Anekdote weist Strukturen auf, die den katholischen Dorfbewohner:innen Trattenbachs der 1920er-Jahre durch die Wundergeschichten Jesu974 – etwa den Lahmen, der zum Gehenden975, oder den Blinden, der zum Sehenden976 wird – bekannt gewesen sein dürfte. Nach Ruben Zimmermann und seinem umfassenden Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen zeichnen sich jene durch folgende Strukturmerkmale aus:

Eine Wundergeschichte ist eine faktuale mehrgliedrige Erzählung […] von der Handlung eines Wundertätigen an Menschen, Sachen oder Natur […], die eine sinnlich wahrnehmbare, aber zunächst unerklärbare Veränderung auslöst […], textimmanent […] und/oder kontextuell […] auf das Einwirken göttlicher Kraft zurückgeführt wird und die Absicht verfolgt, den Rezipienten/die Rezipientin in Staunen und Irritation zu versetzen […].977

Die Erzählung der Dorfbewohnerin greift dieses Schema wie folgt auf: Zunächst lässt sie sich in Einleitung (Situationsschilderung zur defekten Maschine, Auftreten der Beteiligten), Exposition (Spannungsaufbau durch die Schilderung von Wittgensteins Vorgehensweise, Einteilung der Arbeiter und ihrer Tätigkeit) und Schluss (Reparatur und wiederhergestellte Funktion der Maschine) sequenzieren – eine Gliederung, die sich in vielen Wundergeschichten Jesu wiederfindet.978 Sie handelt weiterhin von einem ›Wundertätigen‹, in diesem Fall Wittgenstein, der die Maschine für die Dorfbewohnerin zwar sinnlich wahrnehmbar, aber dennoch unerklärbar und mit Irritation verbunden wieder instand setzt, sie »befreit von ihrer Krankheit«. Ihr Ausruf: »auf einmal geht’s«979, Ausdruck dieser Unerklärbarkeit, ist als Wahrnehmung einer äußerlich einwirkenden Kraft und als Ausdruck von Staunen zu bewerten.

Gewiss lässt sich das von Zimmermann vorgeschlagene Schema nicht gänzlich auf die Schilderung der Dorfbewohnerin anwenden. Hierzu fehlt vor allem eine explizit angesprochene religiöse Dimension – etwas, was ihr Bericht auch mit viel interpretativem Bemühen nicht hergäbe. Mit Blick auf Zimmermanns Indikatoren wird jedoch ersichtlich, in welche Richtung die Dorfbewohnerin Wittgensteins Handlungen stellt: Durch die versatzstückhafte Übernahme von Narrativierungsstrategien aus den Wundergeschichten Jesu wird Wittgenstein in ihrem Bericht über die Reparaturhandlung an der Maschine zu einem ›Heilsbringer‹, zu jemandem, der »die Maschine befreit von ihrer Krankheit«980. Ungewöhnlich muss ihr diese ›Heilung‹ auch dadurch vorgekommen sein, dass nur er, Wittgenstein, vermochte, was »ein ganzer Haufen Ingenieure«981 vor ihm nicht geschafft hatte. Ob sie über Wittgensteins ›Heilung‹ der Maschine, der Befreiung von ihrer ›Krankheit‹, ebenso verwundert gewesen wäre, wenn sie gewusst hätte, dass jener in Berlin und Manchester (1908–1911) einschlägig Ingenieurswesen und Maschinenbau studiert hatte, die ›Heilung‹ für ihn lediglich Reparatur war, bleibt natürlich zu fragen.982

Die aus der Maschinenepisode hervorgehende Tendenz sakraler Verklärung ist nicht nur ein Phänomen der Fremdwahrnehmung; performativ lässt sich im Nachgang der Episode auch ein christologisches Motiv ausmachen: Als Dank für die Reparatur wurde Wittgenstein vom Direktor der Fabrik mit Leinen beschenkt, das er nach anfänglichem Zögern annahm und an die Bedürftigsten unter seinen Schüler:innen weitergab. Hierzu Monk: »Für dieses ›Wunder‹ wurde Wittgenstein mit Leinen belohnt, das er erst ablehnte, schließlich aber für die ärmeren Kinder an seiner Schule entgegennahm.«983 Diese an die ›Wunderheilung‹ unmittelbar anschließende Weitergabe des Leinens ist für zwei Perspektiven zu öffnen: Zum einen lässt sich die Annahme des Geschenks als dem Drängen des Direktors nachgebende Höflichkeit verstehen – Wittgenstein schien keinen Bedarf gehabt zu haben, was letztlich seinen Schüler:innen zugutekam. Zum anderen klingt hier eine karitative Geste an, die zum narrativen Kernbestand des Neuen Testaments gehört. Hinwendung zu den Bedürftigen und Armenspende ziehen sich als Praktik Jesu durch die Evangelien.984 Wittgenstein diesbezüglich eine bewusste Inszenierung zu unterstellen, ginge zu weit. Doch die Weitergabe des Leinens stand im katholischen, ehemals habsburgischen Trattenbach der 1920er-Jahre in einem sozialen Resonanzraum, in welchem Wittgensteins Sachspende an seine bedürftigen Schüler:innen als christologisches Zitat gewirkt haben könnte.

18.5 ›Wenn der Vorhang fällt‹: Selbstzweifel und Unsicherheit

Eingangs von Kap. II.3 Performanz ging es darum, welche Bedeutung die performative Bühnenpraxis, die theatrale Performanz für Wittgenstein hatte. In den vorangegangenen Unterkapiteln wurde nun ersichtlich, dass Wittgenstein in der Rolle des Helden bzw. in den davon abgeleiteten Sozialfiguren des Genies und Priesters auf der öffentlichen Bühne und im Umgang mit anderen Personen zu überzeugen wusste: Ob in der Schürhakenepisode, bei seinem Rigorosum oder beim Wiener Kreis – die Lebensform, die Person Ludwig Wittgensteins löste ein Bewunderungsgeschehen aus und in seinen heroischen Inszenierungen deckten sich Fremdwahrnehmung und Selbststilisierung.

So aussagekräftig dieses von mir entworfene Bild sein mag, es verschweigt bislang einen anderen, gegenläufigen Charakterzug des Helden Wittgenstein. Im folgenden, das Kap. II.3 Performanz abschließenden Teil möchte ich auf Wittgensteins Selbstzweifel und Unsicherheiten eingehen und exemplarisch danach fragen, was passiert, wenn der Vorhang der öffentlichen Bühne fällt.

Bei der Beantwortung dieser Frage beziehe ich mich ausschließlich auf die Denkbewegungen, Wittgensteins Tagebücher der Jahre 1930–1932 sowie 1936–1937. Der Grund für diese Entscheidung liegt in der Tatsache, dass sie in konzentrierter Form die anderweitig nur verstreut anzutreffenden Selbstzweifel und Unsicherheiten Wittgensteins erfassen, vor allem aber darin, dass in den Tagebucheinträgen eine Selbstreflexion seiner Rolle als ›Held‹ stattfindet. Was ich mit Bröcklings Heuristik des Heroentums anhand von biografischen Miniaturen gewissermaßen in externer Fokalisierung herausgearbeitet habe, findet in den Denkbewegungen als Selbstzeugnis und persönlicher Rollenreflexion seine Entsprechung.

Die Einträge der Denkbewegungen, um hier zunächst einen allgemeinen Eindruck zu vermitteln, lesen sich wie eine sentenziös verfasste Selbstanklage, wobei das angeklagte Ich ausschließlich mit negativen Attributen belastet wird. Vom durch die vorangegangenen Kapitel vermittelten Selbstbewusstsein des Heroen Wittgenstein ist darin nichts zu erkennen. Äußeres Handeln und inneres Empfinden stehen sich diametral entgegen: Wittgenstein fühlt sich »[u]nfruchtbar & träg«, »blöd & feig«, möchte »den ganzen Tag nur essen & schlafen« (DB S. 22), er ist mehrfach »traurig« (z. B. DB S. 31), bezeichnet sich als »außerordentlich feig« (DB S. 42), als »kleinlicher, lügnerischer Wicht« (DB S. 52), er fürchtet sich vor einer »Halsentzündung« (DB S. 36) und davor, dass ihn »das schwache Spiritusflämmchen [seines] Geistes« (DB S. 61) verlässt.

Aus dieser diskreditierenden Haltung heraus reflektiert Wittgenstein auch die Performanz seiner Vorlesungen. Was ich im Kontext seines Priestertums im Wiener Kreis985 und in der Schürhakenepisode mit Agonalität als während der Vorlesungen körperlich zur Schau getragenen Kampf mit sich selbst bezeichnet habe,986 erscheint durch die Denkbewegungen aus ganz anderem Blickwinkel: »In meinen Vorlesungen trachte ich oft die Gunst meiner Zuhörer durch eine etwas komische Wendung zu gewinnen; sie zu unterhalten damit sie mir willig Gehör schenken. Das ist gewiß etwas Schlechtes.« (DB S. 23) Der Heroe Wittgenstein kämpfte in seinen Vorlesungen also nicht nur mit »selbstlosem Einsatz für ein höheres Ziel«987, er setzte die längeren Pausen, eruptiven Äußerungen und den öffentlich zur Schau getragenen ›Ringkampf‹ als didaktisches Mittel ein, um durch unterhaltende Performanz die Gunst seiner Zuhörer:innen zu gewinnen – was er in selbstanklägerischen Nachtrag als »etwas Schlechtes« bezeichnet. Aus den Denkbewegungen geht zum Thema der Vorlesungen auch Folgendes hervor: »Ich habe immer Angst vor meinen Vorlesungen obwohl es bis jetzt immer ziemlich gut gegangen ist. Diese Angst besitzt mich dann wie eine Krankheit. Es ist übrigens nichts anderes als Prüfungsangst.« (DB S. 28) Gemäß Selbstaussage litt der Held Wittgenstein vor öffentlichen Auftritten an Lampenfieber, er hatte im Vorfeld der Vorlesungen Angst – ein Gefühl, das sich nicht so recht ins Bild des furchtlosen Heroen fügen will.

Mit dem Stichwort der Prüfungsangst lässt sich von den Denkbewegungen ausgehend auch Wittgensteins Rigorosum bei Moore und Russell aus neuem Blickwinkel betrachten. Im Tagebucheintrag vom 7. Oktober 1930, also rund ein Jahr nach der Verteidigung des Tractatus, finden sich folgende Überlegungen zu seiner Beziehung zu Moore und seinen Empfindungen diesem gegenüber:

Ich habe manchmal über mein seltsames Verhältnis zu Moore nachgedacht. Ich achte ihn hoch & habe eine gewisse nicht geringe Zuneigung zu ihm. Er dagegen? Er schätzt meinen Verstand, mein philosophisches Talent hoch, d.h. er glaubt daß ich sehr gescheidt bin aber seine Zuneigung zu mir ist wahrscheinlich recht gering. Und ich konstruiere dies mehr als ich es fühle, denn er ist freundlich zu mir, wie zu jedem & wenn er hierin mit verschiedenen Leuten verschieden ist so merke ich doch den Unterschied nicht weil ich gerade diese Nuance nicht verstehe. Ich bin aktiv oder aggressiv er aber passiv & darum merke ich während unseres Verkehrs gar nicht wie fremd ich ihm bin. […] Es kommt dann die peinliche Situation heraus daß man fühlt man habe sich den Menschen aufgedrängt ohne daß man es wollte oder wußte. Plötzlich kommt man darauf daß man mit ihnen nicht so steht wie man annahm weil sie die Gefühle nicht erwidern die man ihnen entgegenträgt; man hat es aber nicht bemerkt da die Verschiedenheit der Rollen in diesem Verkehr auf jeden Fall so groß ist daß sich dahinter Nuancen von Zuneigung & Abneigung leicht verstecken können. Ich fragte Moore heute, ob er sich freue wenn ich zu ihm regelmäßig (wie im vorigen Jahr) komme & sagte ich werde nicht gekränkt sein wie immer die Antwort ausfalle. Er sagte es sei ihm selbst nicht klar & ich: er solle sich’s überlegen & mir mitteilen; was er versprach. Ich sagte ich könne nicht versprechen daß mich die Antwort nicht traurig machen, wohl aber daß sie mich nicht kränken werde. (DB S. 32)

Der Ludwig Wittgenstein, der am 6. Juni 1929 mit jovial herablassender Geste sein Rigorosum bei Moore mit dem Verdikt »I know you’ll never understand it«988 verlassen hat,989 drückt im angeführten Auszug aus den Denkbewegungen unmissverständlich Hochachtung und Zuneigung gegenüber Moore aus. Wittgensteins Sorge besteht darin, dass diese Zuneigung nur von seiner Seite aus bestehe und Moore ihn nur ob seiner intellektuellen Fähigkeiten, nicht jedoch seine Person schätze. Dass ihm das nicht früher aufgefallen ist, begründet Wittgenstein mit seiner aktiv-aggressiven Art in Gesprächen, die der ruhigen Zurückhaltung Moores entgegensteht. Über diese »Verschiedenheit der Rollen«, so Wittgenstein, ist ihm »in diesem Verkehr« nicht aufgefallen, wie groß die Fremdheit und die Abneigung Moores ihm gegenüber tatsächlich sind. Um seine Person und Anerkennung werbend, berichtet Wittgenstein anschließend von einer Unterredung mit Moore. Aus der Position des Bittstellers heraus will Wittgenstein ein regelmäßiges Treffen arrangieren. Der Zweck dieser Zusammenkünfte scheint angesichts des vorangegangenen Räsonierens für Wittgenstein nicht auf philosophische Gespräche, sondern persönlichen Austausch hinauszulaufen. Ein Beleg hierfür, so meine Rekonstruktion infolge der vielen Leerstellen der Sequenz, scheint auch Moores Äußerung zu sein, dass er hinsichtlich Wittgensteins Vorschlag noch unentschieden, sich »selbst nicht klar« sei. Wäre es um philosophische Angelegenheiten gegangen, hätte Moore wohl nicht gezögert, sondern den Unterredungen unmittelbar zugestimmt. Wittgensteins Aussage, eine mögliche Ablehnung der von ihm vorgeschlagenen Gespräche könnte ihn traurig stimmen, zeigt ein im Vergleich zum Rigorosum umgekehrtes Hierarchiegefälle. Der Auszug aus den Denkbewegungen stellt auf privater Ebene die Umkehrung des Blickregimes dar: Wittgenstein schaut zu Moore auf, nicht Moore zu Wittgenstein. Dass Moore ihm auf persönlicher Ebene tatsächlich nicht zugeneigt war und sich Wittgensteins Vermutung einer rein philosophischen Hinwendung Moores bestätigt, belegt ein rund zwei Wochen später vermerkter Tagebucheintrag: »Moore hat meine Frage später dahin beantwortet, daß er mich zwar nicht eigentlich gern habe, daß mein Umgang ihm aber so gut tut daß er glaubt ihn fortsetzen zu sollen. Das ist ein eigentümlicher Fall.« (DB S. 34)

Auch der im Rigorosum bei Moore und Russell ausschließlich mit Arroganz und selbst zugeschriebener Exzeptionalität verteidigte Tractatus kommt in den Denkbewegungen nicht gut weg:

Mein Buch die log.phil. Abhandlung [= Tractatus, TH] enthält neben gutem & echtem auch Kitsch d.h. Stellen mit denen ich Lücken ausgefüllt habe und sozusagen in meinem eigenen Stil. Wie viel von dem Buch solche Stellen sind weiß ich nicht & es ist schwer es jetzt gerecht zu schätzen. (DB S. 28)

Der mit Stringenz suggerierender Wirkung durchnummerierte Tractatus weist, so Wittgenstein im angeführten Auszug, argumentative Leerstellen auf, die er mit »Kitsch«, also nutz- und bedeutungsloser Füllung, kaschiert habe. Zweifel und Unsicherheit treten hier zutage, wie sie vom ›Helden‹ Wittgenstein auf öffentlicher Bühne nicht bekannt sind. Aus seiner Perspektive war der Tractatus also keinesfalls unantastbar und, anders als im dazugehörigen Vorwort proklamiert, die »Probleme im Wesentlichen« eben nicht »endgültig gelöst« (TLP S. 10).990

Der Helden-Topos – um abschließend nun explizit auf Wittgensteins Rollenprofil einzugehen – zieht sich auffällig durch die ganzen Denkbewegungen. Es entsteht der Eindruck, dass Wittgenstein unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Cambridge (1929) auf der philosophischen ›Bühne‹ in einen heldenspezifischen Dialog über die ihm zugeschriebene und von ihm auch ausgefüllte Rolle tritt. So findet sich, noch aus der Perspektive des Zuschauers, im Kontext einer Reflexion über die Tragödie und den beispielhaft angeführten Leinwandhelden im Kino folgende Sequenz:

Wenn ich von einer Tragödie (im Kino z.B.) ergriffen werde, dann sage ich mir immer: nein, so werde ich’s nicht tun! oder: nein, so soll es nicht sein. Ich möchte den Helden & alle trösten. […] Drum versteh ich auch nur den guten Ausgang (im primitiven Sinn) […]. Den Untergang des Helden verstehe ich – ich meine, mit dem Herzen – nicht. Ich will also eigentlich immer ein Märchen hören. (DB S. 48)

Wittgenstein spricht im angeführten Auszug seine eigene Affektion durch Heldenfiguren an. Mit nahezu naiver Hingabe will er diesen Trost spenden. Ihr »Untergang« ist Wittgenstein angeblich fremd, was im Umkehrschluss bedeutet, dass Heldengeschichten für ihn immer mit einem Happy End schließen müssen; daher die Präferenz für Märchen, worin die Held:innen stets siegreich sind.

Neben dieser ästhetisch-dramaturgischen Reflexion sind für mein Unterfangen jedoch vor allem Wittgensteins selbstreferenzielle Aussagen über das Heroentum aufschlussreich. Untereinander sind diese nicht stimmig und widersprechen sich bisweilen. Angesichts seines eigenen Heroentums besaß Wittgenstein keine eindeutigen Antworten, sondern nur einen Fragehorizont, aus dem kein fester Standpunkt abzuleiten war. Hinzu kommt die Eigenheit der Denkbewegungen, dass die Einträge zum Thema des eigenen Heroentums durch eine allgemein gehaltene, apersonale Adressierung verstellt sind. Wittgenstein vermeidet das heroische ›Ich‹ – was letzlich seine Unsicherheit unterstreicht. Er hält es auf Distanz, um einer direkten Selbstanschuldigung zu entgehen.

Anhand der folgenden Selbstaussage möchte ich zunächst auf einen Auszug eingehen, der für Wittgensteins inszenatorische Praktiken bezeichnend ist: »Im durchscheinenden Licht hat das Heldentum eine andere Farbe als im auffallenden. […] Der Unterschied ist eher der zwischen einer gesehenen & einer gegessenen Speise. Weil hier das Erlebnis wirklich ein gänzlich anderes ist.« (DB S. 36) Die Sequenz ist voraussetzungsreich und erschließt sich nicht sogleich. Vor allem ist nicht nachvollziehbar, was Wittgenstein im Kontext des Heldentums mit »durchscheinende[m]« und »auffallende[m]« Licht meint. Im Sinne meines inszenatorischen Ausgangspunkts gibt Wittgenstein an dieser Stelle zu verstehen, dass beim Heldentum seiner Auffassung nach die Notwendigkeit besteht, sich ›ins rechte Licht rücken‹ zu müssen. Ein Held müsse auffallen, sich in auffallendes Licht stellen. Tut er es nicht, wird er auch nicht als ein solcher wahrgenommen, sondern wird durch ihn hindurchgesehen. Die Lichtmetaphorik spricht die performative Praxis des Heroentums an, die durch die daran anschließende, weniger glücklich gewählte Analogie mit »einer gesehenen & einer gegessenen Speise« unterstrichen wird: Heldentum muss inszeniert, eine Speise gegessen werden, um Sinn zu erhalten. Die an dieser Stelle von ihm eingenommene Perspektive auf das Heldentum habe ich in den vorangegangenen Kapiteln anhand von biografischem Material illustriert und ausgeführt. Durch den wiedergegebenen Auszug aus den Denkbewegungen wird nun ersichtlich, dass hinter Wittgensteins Performanz ein gewisses Kalkül stand und seine Auftritte auf der öffentlichen Bühne einem Heldenprogramm folgten.

In einer negativen, mit einem Aufruf zur Bescheidenheit verbundenen Wendung reflektiert Wittgenstein sein eigenes Heroentum auch in folgendem Tagebucheintrag:

Eine Schwäche ist, kein Held zu sein, aber eine noch viel schwächere Schwäche den Helden zu spielen, also nicht einmal die Kraft haben, das Deficit klar & ohne Zweideutigkeit in der Bilanz zu bekennen. Und das heißt: bescheiden werden: nicht in ein paar Worten, die man einmal sagt, sondern im Leben. (DB S. 73)

Aus der Sequenz geht eine normative Klassifikation des Heldentums hervor: (1) Die größte charakterliche Schwäche ist es, den Helden zu spielen; es ist (2) ›nur‹ eine Schwäche, kein Held zu sein; und es ist im Umkehrschluss (3) eine charakterliche Stärke und normative Zielgröße, ein ›echter‹ Held zu sein. Der zweite und der dritte Punkt werden im angeführten Auszug fallen gelassen. Vor allem ist nicht ersichtlich, was Wittgenstein unter ›echtem‹ Heldentum versteht. Er vertieft ausschließlich den ersten Gesichtspunkt des gespielten Heldentums, das er entgegen der im vorangegangenen Abschnitt ausgeführten Notwendigkeit (s. o.) nun als ein »Deficit« markiert. Dieses ›Heldenspielen‹ ist für ihn bereits verwerflich; eine Steigerung erfährt es, wenn sich der Schauspieler seiner Inszenierung als Held nicht bewusst ist. Die nachgeordnete Formulierung »bescheiden werden […] im Leben« rahmt die vorangegangene Überlegung zum gespielten, inszenierten Heldentum als Selbstaussage bzw. Selbstappell. Wittgenstein zeigt einen Lösungsweg aus dem gespielten Heldentum auf und gibt durch die selbstappelative Struktur des nachgeordneten Satzes zu erkennen, dass er sich in ebendiese Kategorie (1) einordnet. Das bedeutet, dass er sich selbst nicht als Helden sieht und sich dahingehend etwas ›vorspielt‹, es zeigt aber auch, wie stark öffentliche Performanz und inneres Erleben kontrastieren. Da er in seiner Wahrnehmung kein echter Held ist – ein Vorwurf –, rät er sich selbst, »im Leben« bescheidener zu werden, um dem charakterlichen »Deficit« des gespielten Heldentums zu entgehen.

Ganz anders liest sich seine heroische Selbseinschätzung im letzten der von mir aus den Denkbewegungen angeführten Auszüge. Darin gibt Wittgenstein ein Heldenbekenntnis. In einem Tagebucheintrag vom 22. Oktober 1930 heißt es: »Man sieht gerne den Helden im Anderen als Schauspiel (das uns geboten wird) aber selbst einer zu sein auch nur im Geringsten schmeckt anders.« (DB S. 34) Für mein Unternehmen sind in dieser Sequenz zwei Aspekte von Interesse: Zum einen benennt sie die bereits von meinen anderen Ausführungen in Kap. II.3 Performanz her bekannte Differenzierung von Zuschauer- und Schauspielerrolle. Auch wird die damit verbundene Affizierung angesprochen. Dem gebotenen Schauspiel »sieht [man] gerne« zu. Zum anderen, dies möchte ich betonen, gibt sich Wittgenstein entgegen seines Absprechens des Heldenstatus im vorangegangenen Abschnitt (s. o.) hier als Held zu erkennen. Durch die Wortfolge »aber selbst einer sein« bringt er ein Erfahrungswissen in Anschlag: Nur ein Held ahnt, was es heißt, Held zu sein. Dass dieses ›Heldsein‹ für ihn negativ konnotiert ist, beweist die Bezugnahme auf die Zuschauer:innen. Was bei diesen in der Betrachtung positiv besetzt ist und »gerne« gesehen wird, »schmeckt« aufseiten des Heroen »anders«. Obschon Wittgenstein die Qualifizierung »anders« nicht vertieft, wird durch diese Andeutung ersichtlich, dass er mit der ihm zugeschriebenen, von ihm angenommenen und ausgefüllten Heldenrolle negative Affekte, Probleme und Schwierigkeiten verband.

›Wenn der Vorhang fällt‹, zeigen sich beim Helden Wittgenstein Reflexionen, Positionen und Gefühle, die mit seinem öffentlichen Auftreten teilweise stark kontrastieren. Manche Abschnitte der Denkbewegungen lassen Wittgensteins heroische Inszenierungen aus anderer Perspektive sehen. Die Tagebucheinträge sind Zeugnis von Unsicherheit und Selbstzweifeln; von heroischer Exzeptionalität, Agonalität oder Transgression ist darin nichts zu finden. In den Auszügen eröffnet sich das ambivalente Bild einer Person, die sich von Helden faszinieren ließ; einer Person, die nicht wusste, ob sie Held war oder nicht, ob sie Held sein wollte, konnte oder nicht; von einer Person, die zum Heroentum keine oder nur vorläufige Antworten hat. Vielleicht gehört gerade dies auch zum Heldentum.

818

Vgl. u. a.: Ludwig Wittgenstein. Briefe an Ludwig von Ficker, Salzburg: Müller, 1969; Ludwig Wittgenstein. Briefe. Briefwechsel mit B. Russell, G. E. Moore, J. M. Keynes, F. P. Ramsey, W. Eccles, P. Engelmann und L. von Ficker, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980; Ludwig Hänsel – Ludwig Wittgenstein. Eine Freundschaft. Briefwechsel, Aufsätze, Kommentare, Innsbruck: Haymon, 2000; Wittgenstein – Engelmann. Briefe, Begegnungen, Erinnerungen, Innsbruck: Haymon, 2006; Wittgenstein. Eine Familie in Briefen, Innsbruck: Haymon, 2018; »I think of you constantly with love …«, Briefwechsel Ludwig Wittgenstein – Ben Richards 1946–1951, Innsbruck: Haymon, 2023.

819

Vgl. u. a.: Rhees, Rush, Ludwig Wittgenstein. Porträts und Gespräche, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992; Portraits of Wittgenstein, ed. by F. A. Flowers III and Ian Ground, London: Bloomsbury 2016; Wittgenstein, Hermine, Familienerinnerungen, Innsbruck: Haymon, 2016.

820

Vgl. u. a.: Bartley, William, Wittgenstein, ein Leben, Berlin: Matthes & Seitz, 1983; Nedo, Michael; Ranchetti, Michele, Ludwig Wittgenstein. Sein Leben in Bildern und Texten. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983; Wünsche, Konrad, Der Volksschullehrer Ludwig Wittgenstein, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985; McGuinness, Brian, Wittgensteins frühe Jahre, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988; Monk 1992; Schulte, Joachim, Ludwig Wittgenstein, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005; Waugh, Alexander; Röckel, Susanne, Das Haus Wittgenstein. Geschichte einer ungewöhnlichen Familie, Frankfurt am Main: Fischer, 2009; Geier, Manfred, Wittgenstein und Heidegger. Die letzten Philosophen, Hamburg: Rowohlt, 2017; Eilenberger, Wolfram, Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919–1929, Stuttgart: Klett-Cotta, 2018; Schneider, Christian, Der sprachlose Philosoph. Ludwig Wittgensteins Philosophie als lebensgeschichtliche Selbstreflexion, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2020.

821

Bröckling 2020: 19.

822

Vgl. hierzu ausführlich u. a. die im dramatischen Modus ausformulierte und an einen Livekommentar im Radio erinnernde Schilderung der Auseinandersetzung von Eilenberger (Eilenberger, Wolfram, Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919–1929, Stuttgart: Klett-Cotta, 2018, S. 355–372) sowie den Sammelband Cassirer – Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, hg. v. Dominic Kaegi und Enno Rudolph, Hamburg: Meiner, 2002, und Meyer 2014: 109–112.

823

Vgl. hierzu ausführlich u. a. Chomsky, Noam; Fons, Elders; Foucault, Michel, Macht und Gerechtigkeit. Ein Streitgespräch zwischen Michel Foucault und Noam Chomsky, Freiburg: Orange Press, 2008; sowie den gesamten TV-Ausschnitt über https://www.youtube.com/watch?v=3wfNl2L0Gf8 [9.12.2022].

824

Vgl. hierzu u. a. Frank, Arno, »Mit dem Taschenmesser ins Artilleriegefecht« (https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/slavoj-zizek-vs-jordan-peterson-marxist-gewinnt-philosophenduell-a-1263756.html [9.12.2022]); sowie Basad, Judith, »Žižek: ›Ich wollte Sie irritieren.‹ – Peterson: ›Das haben Sie geschafft!‹« (https://www.nzz.ch/feuilleton/iek-ich-wollte-sie-irritierslavoj-iek-und-jordan-peterson-haben-sich-in-toronto-duellierten-peterson-das-haben-sie-geschafft-ld.1476563 [9.12.2022]).

825

Vgl. Kap. II.3 Performanz.

826

Edmonds/Eidinow 2003: 26.

827

Edmonds/Eidinow 2003: 26.

828

Monk 1992: 524.

829

Popper 2012 [1973]: 184.

830

Ebd. 182.

831

Vgl. hierzu die ausführliche Materialsammlung Wie Ludwig Wittgenstein Karl Popper mit dem Feuerhaken drohte von Edmonds/Eidinow (2003), die nicht von ungefähr mit »Eine Ermittlung« untertitelt ist. Ihre auch für meine Argumentation maßgebliche Rekonstruktion der Ereignisse vom 25. Oktober 1946 basiert auf der Befragung von Teilnehmer:innen. »Glücklicherweise scheint Philosophie der Langlebigkeit zuträglich zu sein: Von den dreißig damals anwesenden Personen antworteten auf unsere Bitte um Mitteilung ihrer Erinnerungen an jenen Abend neun Siebzig- bis Neunzigjährige brieflich, telefonisch und vor allem mit E-Mail aus der ganzen Welt – aus England, Frankreich, Österreich, den Vereinigten Staaten und Neuseeland.« (S. 19) Wenn ich in meiner folgenden Argumentation von Augenzeug:innen oder Augenzeugenberichten spreche oder solche als Beleg anführe, rekurriere ich aus pragmatischen Gründen unmarkiert auf die von Edmonds/Eidinow erstellte Teilnehmerbefragung ohne weiteren Quellennachweis. Zu den Berichten vgl. Edmonds/Eidinow 2003: 19–28.

832

Popper 2012 [1973]: 185.

833

Edmonds/Eidinow 2003: 13.

834

Bröckling 2020: 60.

835

Vgl. Papst, Manfred, »Ein Denker greift zum Schürhaken«, in: NZZ am Sonntag, 30.8.2020, S. 63.

836

Bröckling 2020: 23.

837

Monk 1992: 279.

838

Hierzu auch Keynes in einem Brief an Wittgenstein vom 29. März 1924: »Ich weiß immer noch nicht, was ich von Ihrem Buch [dem Tractatus, TH] halten soll, spüre aber, daß es außerordentlich wichtig und genial ist. Ob nun richtig oder falsch, es dominiert, seit es erschien, in Cambridge alle Grundsatzdiskussionen.« (Keynes in Monk 1992: 242)

839

Bröckling 2020: 25.

840

Ebd.

841

Edmonds/Eidinow 2003: 25, 40.

842

Von Wright 2018 [1954]: 15.

843

Ryle 1971: 11.

844

Was Popper im Kontext seiner Aussage über den Ausgang des Duells nicht wissen konnte, ist, dass Wittgenstein die Sitzungen des Moral Science Club für gewöhnlich immer früher, immer dann verließ, wenn ihn das Gesagte nicht mehr interessierte (vgl. Edmonds/Eidinow 2003: 248). Die an Wittgensteins früherem Gehen festgemachte ›Siegeserklärung‹ Poppers läuft also ins Leere.

845

Popper 2012 [1973]: 184.

846

Bröckling 2020: 25.

847

Popper 2012 [1973]: 185.

848

Ebd. 183.

849

Wie der folgende Auszug aus den Denkbewegungen beweist, wurde diese Exzeptionalität ihm nicht nur von anderen zugeschrieben, sondern deckt sich auch mit seiner Selbstwahrnehmung: »Ich glaube daß mein Denkapparat außergewöhnlich kompliziert & fein gebaut ist & darum mehr als gewöhnlich empfindlich. Vieles stört ihn, setzt ihn außer Aktion was einen gröberen Mechanismus nicht stört. Wie ein Stäubchen ein feines Instrument zum Stillstand bringen kann aber ein gröberes nicht beeinflußt […].« (DB S. 35)

850

Popper 2012 [1973]: 184.

851

Hijab in Edmonds/Eidinow 2003: 242.

852

Popper 2012 [1973]: 182.

853

Ebd. 185.

854

McLendon in Edmonds/Eidinow 2003: 27.

855

Edmonds/Eidinow 2003: 22 ff.

856

Ebd. 248.

857

Wittgenstein in Drury 1987a: 167.

858

Bröckling 2020: 32.

859

Edmonds/Eidinow 2003: 209.

860

Dieser bereits im Tractatus (vgl. insb. TLP 5.61 ff.) angelegte Gedanke, die Verneinung apriorischer Aussagen und die Schwerpunktsetzung auf sprachliche Analyse, findet sich auch in den Vermischten Bemerkungen. So heißt es u. a. in einer Sequenz von 1931: »Man hört immer wieder die Bemerkung, daß die Philosophie eigentlich keinen Fortschritt mache, daß die gleichen philosophischen Probleme, die schon die Griechen beschäftigten, uns noch beschäftigen. Die das aber sagen, verstehen nicht den Grund, warum es so sein muß. Der ist aber, daß unsere Sprache sich gleich geblieben ist und uns immer wieder zu denselben Fragen verführt. Solange es ein Verbum ›sein‹ geben wird, das zu funktionieren scheint wie ›essen‹ und ›trinken‹, solange es Adjektive ›identisch‹, ›wahr‹, ›falsch‹, ›möglich‹ geben wird, solange von einem Fluß der Zeit und von einer Ausdehnung des Raumes die Rede sein wird, u.s.w., u.s.w., solange werden die Menschen immer wieder an die gleichen rätselhaften Schwierigkeiten stoßen, und auf etwas starren, was keine Erklärung scheint wegheben zu können.« (VB S. 470)

861

Popper 2012 [1973]: 182.

862

Ebd. 14.

863

Im Kontext der Profilierung seines Falsifikationismus heißt es, den Positivismus, die Physik und die Logik diskreditierend: »Der Positivismus […] [versucht immer wieder] zu beweisen, daß die Metaphysik sinnloses Gerede ist – ›Blendwerk‹ […], das ›ins Feuer‹ gehört. Sofern man nun unter ›sinnlos‹ per definitionem nichts anderes verstehen wollte, als ›nicht empirisch-wissenschaftlich‹, wäre eine Kennzeichnung der Metaphysik durch den Terminus ›sinnlos‹ trivial; denn man hat die Metaphysik wohl meist als nichtempirisch definiert. Aber natürlich glaubt der Positivismus über die Metaphysik viel mehr sagen zu können, als daß sie nichtempirische Sätze enthalt: Unzweifelhaft steckt in dem Worte ›sinnlos‹ eine abfällige Wertung; nicht um eine Abgrenzung geht es, sondern um die Überwindung, um die Vernichtung der Metaphysik. […] Im Gegensatz zu diesen ›antimetaphysischen‹ Versuchen sehen wir unsere Aufgabe nicht darin, die Metaphysik zu überwinden, sondern darin, die empirische Wissenschaft in zweckmäßiger Weise zu kennzeichnen, die Begriffe ›empirische Wissenschaft‹ und ›Metaphysik‹ zu definieren. Und zwar derart, daß wir auf Grund dieser Kennzeichnung von einem Satzsystem sagen können, ob seine nähere Untersuchung für die empirische Wissenschaft von Interesse ist. […] Und wir vermuten, daß wissenschaftliche Forschung, psychologisch gesehen, ohne einen wissenschaftlich indiskutablen, also, wenn man will, ›metaphysischen‹ Glauben an manchmal höchst unklare theoretische Ideen wohl gar nicht möglich ist.« (Popper, Karl, Logik der Forschung. Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft, Wien: Springer, 1935, S. 8–11) Poppers in Logik der Forschung verfolgtes Programm negiert also keinesfalls die Metaphysik. Vielmehr nennt es die Metaphysik sogar als Voraussetzung der empirischen Wissenschaft. Ohne den »›metaphysischen‹ Glauben an manchmal höchst unklare theoretische Ideen« ist empirische Wissenschaft für Popper »gar nicht möglich«. Auch wenn sich Logik der Forschung letztlich dann ›nur‹ den empirischen Satzsystemen widmet, ist die metaphysische Rahmung aller empirischen Aussagen damit ausdrücklich gesetzt.

864

Popper 2012 [1973]: 183.

865

Ebd. 185.

866

Bröckling 2020: 32.

867

Ebd.

868

Ebd. 30.

869

Ebd.

870

Ebd. 31.

871

Die Opposition gegen die etablierte Ordnung, seine Inszenierung als ›Outlaw‹, trug Wittgenstein auch durch Auftreten und Kleidung zur Schau. Nach John Mabbott, seinerzeit renommierter Philosoph am St. John’s College in Oxford, ereignete sich im Vorfeld einer Tagung an der Universität Nottingham zwischen ihm und Wittgenstein folgende Episode: »In 1929 I attended a gathering of philosophers at Nottingham University. Ascending the steps of our hostel on arrival, I found myself alongside a youngish man with a rucksack, shorts and an open-necked shirt. I assumed he was a Nottingham student, on vacation, who did not know his hostel had been given over to philosophy. So I said to him kindly ›I’m afraid there is a gathering of philosophers going on in here‹. He said ›I’m too‹. He was Ludwig Wittgenstein, and this was my only meeting with him. I thus became notorious as the reactionary who tried to eject Wittgenstein from the only philosophic conference he ever attended.« (Mabbott, John, »I Am Afraid There is a Gathering of Philosophers Going on in Here«, in: Portraits of Wittgenstein. Abridged Edition, ed. by F. A. Lowers III and Ian Ground, London: Bloomsbury, 2018, p. 188)

872

Edmonds/Eidinow 2003: 65.

873

Wie verhasst Wittgenstein diese ›mustergültigen‹ Umgangsformen in Cambridge waren, lässt sich anhand eines Manuskripteintrags rund einen Monat vor seinem Aufeinandertreffen mit Popper erahnen: »Heute in Cambridge angekommen. Alles in dem Ort stößt mich ab. Das Steife, Künstliche, Selbstgefällige der Leute. Die Universitäts-Atmosphäre ist mir ekelhaft.« (MS 132, 85)

874

Edmonds/Eidinow 2003: 43.

875

Popper 2012 [1973]: 184.

876

Vgl. Edmonds/Eidinow 2003: 25 ff.

877

Popper 2012 [1973]: 184.

878

Bröckling 2020: 53.

879

Bröckling 2020: 58.

880

Ebd. 54 f.

881

Lee 2018 [1954]: 182.

882

Vgl. zu diesen beiden ›Polen‹ auch Wittgensteins Freund von Wright: »Wittgensteins überaus ungewöhnliche und starke Persönlichkeit übte große Wirkung auf andere aus. Keiner, der ihn kennenlernte, vermochte unbeeindruckt zu bleiben. Manche wurden von ihm abgestoßen. Die meisten fühlten sich angezogen oder waren fasziniert.« (von Wright 1990: 40)

883

Bröckling 2020: 58.

884

Ebd. 55.

885

Bell 2008 [1930]: 173–180.

886

Vgl. zur hier von Bell angeführten Metaphorik Jona 1,1–2,11.

887

Gray-Lucas in Edmonds/Eidinow 2003: 33.

888

Bröckling 2020: 53.

889

Badiou 2008: 16.

890

Vgl. zu Badiou und der hier angeführten theoretischen Referenz insb. Kap. 12 Antiphilosophie.

891

Vgl. beispielsweise: »Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit. Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken.« (TLP 4.01)

892

Vgl. beispielsweise: »Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ›Bedeutung‹ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. Und die Bedeutung eines Namens erklärt man manchmal dadurch, daß man auf seinen Träger zeigt.« (PU § 43)

893

Vgl. zu den beiden Positionen und ihrer Genese Kellerwessel, Wulf, Wittgensteins Sprachphilosophie in den ›Philosophischen Untersuchungen‹, Heusenstamm: Ontos, 2009; sowie insb. Majetschak, Stefan, »Bedeutung«, in: Wittgenstein-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Anja Weiberg und Stefan Majetschak, Berlin: Metzler, 2022, S. 194–200.

894

Bell 2008 [1930]: 173.

895

Bröckling 2020: 53.

896

Malcolm in VuGÄPR S. 8. Mit dieser Schilderung zur Performanz Wittgensteins in seinen Vorlesungen ist Malcom keineswegs allein. Sie deckt sich u. a. mit einer Beschreibung von Frank R. Leavis, Literaturkritiker, Dozent für Literatur und Gesprächspartner Wittgensteins. In einer Erinnerungsskizze heißt es: »[T]hat the wonder and the profit for the lecture-audience lay in the opportunity to witness the sustained spontaneous effort of intellectual genius wrestling with its self-proposed problems.« (Leavis, Frank R., »Memories of Wittgenstein«, in: Portraits of Wittgenstein. Abridged Edition, ed. by F. A. Lowers III and Ian Ground, London: Bloomsbury, 2018, p. 231–244, hier p. 241) Und hierzu mit weniger Emphase von Wright: »Er benutzte weder Manuskript noch sonstige Aufzeichnungen. Er dachte vor seinen Hörern. Man erhielt den Eindruck äußerster Konzentration.« (von Wright 1990: 39)

897

Pinsent in Monk 1992: 105.

898

Ebd. 106.

899

Russell in Monk 1992: 108.

900

Wittgenstein, um in diesem Zusammenhang eine andere Facette seines Heroentums anzusprechen, wurde auch als Kriegsheld gewürdigt und bewundert. Wegen seines Verhaltens als Aufklärer in einer Schlacht in den Trentiner Bergen 1918 erhielt er von der österreichisch-ungarischen Armeeführung die ›Militärverdienstmedaille am Band mit Schwertern‹. In der Begründung hieß es: »Sein hervorragend tapferes Verhalten, Ruhe, Kaltblütigkeit und Heldenmut erweckte bei der Mannschaft vollste Bewunderung.« (Monk 1992: 172)

901

Vgl. Monk 1992: 123–184 sowie ausführlich Baum, Wilhelm, Wittgenstein im Ersten Weltkrieg. Die ›Geheimen Tagebücher‹ und die Erfahrungen an der Front (1914–1918), Klagenfurt: Kitab, 2014.

902

Vgl. Kap. 14 Staunen als Konventionsbruch: Vorworte.

903

Bröckling 2020: 53.

904

Es ist schwer einzuschätzen, ob die in den Denkbewegungen gesammelten Tagebucheinträge als authentische oder als von Selbstinszenierung und -kuratierung beeinträchtigte Quelle bewertet werden müssen. Wittgenstein selbst übergab die Einträge zu Lebzeiten seiner Schwester Margarete (vgl. Somavilla in DB S. 7); ein Indiz dafür, dass er zumindest in Erwägung zog, die als privat markierten Einträge einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es kann nur spekuliert werden, ob diese Option bereits bei der Verschriftlichung seiner Einträge eine Rolle gespielt hat und er ein mögliches Publikum und eine damit verbundene Wahrnehmung seiner Person bereits mitdachte – ob die notierte Selbstwahrnehmung durch eine imaginierte Fremdwahrnehmung verwässert wurde. Wäre ihm ausschließlich an intimer Reflexion seiner Gedanken- und Gefühlswelt gelegen gewesen, hätte er diesen Schritt gewiss unterlassen.

905

Vgl. meinen Definitionsvorschlag zum Begriff der Bewunderung in Kap. 17.5 Zum Begriff ›Bewunderung‹ II.

906

Vgl. Lorenz, Kuno, »Der Beginn der sprachanalytischen Philosophie. Bertrand Russell und der logische Empirismus, George Edward Moore und der linguistische Phänomenalismus«, in: ders., Philosophische Variationen. Gesammelte Aufsätze unter Einschluss gemeinsam mit Jürgen Mittelstraß geschriebener Arbeiten zu Platon und Leibniz, Berlin: De Gruyter, 2011, S. 481–495.

907

Vgl. zur wissenschaftsgeschichtlichen Relevanz von Moore und Russell u. a. Preti, Consuelo, The Metaphysical Basis of Ethics: G. E. Moore and the Origins of Analytic Philosophy, London: Palgrave Macmillan, 2022; Monk, Ray, »He was the most revered philosopher of his era. So why did GE Moore disappear from history?«, in: Prospect 4 (2020), o. S.; Preti, Consuelo, »The Origin and Influence of G. E. Moore’s ›The Nature of Judgment‹«, in: Judgement and Truth in Early Analytic Philosophy and Phenomenology, ed. by Mark Textor, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2013, p. 183–205; Preti, Consuelo, »›He Was In Those Days Beautiful and Slim‹. Bertrand Russell and G. E. Moore, 1894–1901«, in: The Journal of Bertrand Russell Studies, 28 (2008/2009), S. 101–126; Bell, David, »The Revolution of Moore and Russell: A Very British Coup?«, in: Royal Institute of Philosophy Supplements, 44 (1999), S. 193–209; Monk, Ray, Bertrand Russell, New York: Routledge, 1999; sowie Clark 1975.

908

Moore 2018a: 73.

909

Russell 2018: 69 f.

910

Rhees in Nedo 2012: 263.

911

Moore 2018b: 189.

912

Clark 1975: 438. Vgl. ferner Monk 1992: 291 f.

913

Moore in Edmonds 2021: 322.

914

Vgl. Nedo 2012: 263.

915

Bröckling 2020: 19.

916

Somavilla in Wittgenstein 2015: 12.

917

Immler 2013: 78.

918

Vgl. ebd. 79; und ferner ihre den Aufsatz vertiefende Monografie Das Familiengedächtnis der Wittgensteins. Zu verführerischen Lesarten von (auto-)biographischen Texten, Bielefeld: Transcript, 2014.

919

Wittgenstein 2015 [1947]: 151.

920

Ebd. 152.

921

Monk 1992: 29.

922

Vgl. Faksimile des Maturazeugnisses von 1906 in Nedo 2012: 74.

923

Wittgenstein 2015 [1947]: 153.

924

Wittgenstein 2015 [1947]: 154.

925

Ebd. 159.

926

Ebd. 164.

927

Ebd. 166.

928

Ebd. 170.

929

Wittgenstein 2015 [1947]: 170.

930

Immler 2013: 78.

931

Von Wright 1990 [1954]: 24.

932

Monk, Ray, Ludwig Wittgenstein. The Duty of Genius, London: J. Cape, 1990.

933

Monk 1992.

934

Vgl. Schneider, Christian, Der sprachlose Philosoph. Ludwig Wittgensteins Philosophie als lebensgeschichtliche Selbstreflexion, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2020, S. 91–161.

935

Vgl. Ludwig Wittgenstein. Universalgenie, Genie oder Generalist? Ein Leben ruhelosen Denkens, hg. v. Ulrich Arnswald und Ilse Somavilla, Innsbruck: Innsbruck University Press, 2022.

936

Zur Auffächerung der sich um den Helden gruppierenden Sozialfiguren vgl. Bröckling 2020: 19 bzw. Kap. 17.6 Der Held.

937

In Foucaults mit der Hirten-Herden-Metaphorik argumentierenden Ausführungen zur Gouvernmentalität, dies zur groben Verortung, heißt es zum Priestertum: »[D]er abendländische Mensch [hat] in Jahrtausenden gelernt, […] sich als Schaf unter Schafen zu betrachten. Er hat in Jahrtausenden gelernt, sein Heil von einem Pastor zu erbitten […].« (S. 194) Seine Autorität, so Foucault weiter, erhält dieser Priester qua seiner »Göttlichkeit in Person«. (Foucault, Michel, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernmentalität I. Vorlesungen am Collège de France 1977–1978, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, S. 213) Er steht als Medium zwischen einem höheren Wissen und Wesen und dem ›normalen‹ Menschen; daraus leiten sich seine Autorität und Führungsrolle ab. Diese Führung zeichnet sich dadurch aus, »andere (durch mehr oder weniger strengen Zwang) zu lenken, und andererseits, sich (gut oder schlecht) aufzuführen, also sich in einem mehr oder weniger offenen Handlungsfeld zu verhalten. Machtausübung besteht darin, ›Führung zu lenken‹, also Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Verhalten zu nehmen.« (Foucault, Michel, »Subjekt und Macht«, in: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 4, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005, S. 269–294, hier S. 286) Bröckling leitet daraus Folgendes ab: Führung ist eine »asymmetrische Beziehung zwischen jemandem, der führt, und denjenigen, die geführt werden«. Führung ist eine »Richtungsvorgabe, Bahnung oder kundige Wegbegleitung« (S. 17). Hierbei haben sich die Geführten bedingungslos unterzuordnen: »Sich den Weisungen des Pastors zu fügen, dient keinem anderen Zweck als der Unterwerfung selbst […].« (Bröckling, Ulrich, Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste, Berlin: Suhrkamp, 2017, S. 20)

938

Zu den Inhalten, den thematischen Leitlinien, Auseinandersetzungen und zur Geschichte des Wiener Kreises und des Logischen Empirismus vgl. u. a.: Carnap, Rudolf, Tagebücher, Hamburg: Meiner, 2022; Der Wiener Kreis – Aktualität in Wissenschaft, Literatur, Architektur und Kunst, hg. v. Ulrich Arnswald, Friedrich Stadler und Peter Weibel, Wien: LIT, 2019; Sigmund, Karl, Sie nannten sich Der Wiener Kreis. Exaktes Denken am Rand des Untergangs, Wiesbaden: Spektrum, 2015; sowie Stadler, Friedrich, Der Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997.

939

Edmonds 2021: 64 f.

940

Schlick in WWK S. 13.

941

Zum wissenschaftsgeschichtlichen Stellenwert von Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre vgl. ausführlich Wendel, Hans Jürgen; Engler, Fynn Ole, »Einleitung«, in: Schlick, Moritz, Allgemeine Erkenntnislehre, Wien: Springer, 2009, S. 9–49.

942

B. G. Schlick in Nedo 2012 [1924]: 224.

943

Vgl. Edmonds 2021: 67.

944

Stonborough in WWK S. 14.

945

B. G. Schlick in WWK S. 14.

946

Carnap 2018: 167.

947

Carnap 2018: 167.

948

Wittgensteins Treffen mit Teilnehmern des Wiener Kreises erstreckten sich ab 1927 über mehrere Jahre und wurden auch noch nach Wittgensteins Rückkehr nach Cambridge 1929 sporadisch – jeweils zu Wittgensteins Familienbesuchen in Wien – fortgeführt. Entsprechend stellen die in WWK versammelten Mitschriften nur einen Teil der Gespräche dar. Da keine anderen Quellen dieser Zusammenkünfte und den darin verhandelten inhaltlichen Gesichtspunkten existieren, kann ferner nicht ermittelt werden, welche Sequenzen tatsächlich von Wittgenstein stammen und welches Rekonstruktionen von Waismann sind. Zu Wittgensteins Begegnungen mit Teilnehmern des Wiener Kreises vgl. ausführlicher Biesenbach, Hans, »Friedrich Waismann: Wittgenstein und der Wiener Kreis«, in: Wittgenstein-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Anja Weiberg und Stefan Majetschak, Heidelberg: Metzler, 2022, S. 140–142.

949

Carnap 2018: 167.

950

McGuinness in WWK S. 15.

951

Vgl. Heid 2019: 217–351.

952

McGuinness in WWK S. 15.

953

Ebd.

954

Carnap 2018: 169.

955

Edmonds 2021: 72.

956

Vgl. Kap. 18.1 Wittgenstein, Karl Popper und der Schürhaken.

957

Edmonds 2021: 71.

958

Keynes in Nedo 2012: 259.

959

Vgl. Monk 1992: 242.

960

Keynes in Nedo 2012: 259.

961

Ehring 2010: 1 ff.

962

Keynes in Nedo 2012: 259.

963

Keynes in Nedo 2012: 259.

964

Bröckling 2020: 58.

965

Lee 2018 [1954]: 182.

966

Bröckling 2020: 58.

967

Keynes in Nedo 2012: 259.

968

Drury 1987a: 172 f.

969

Vgl. Biesenbach 2022: 143.

970

Drury 1987a: 172 f.

971

Vgl. u. a. die bereits zur Schürhakenepisode aufgeführte Aussage: »Heute in Cambridge angekommen. Alles in dem Ort stößt mich ab. Das Steife, Künstliche, Selbstgefällige der Leute. Die Universitäts-Atmosphäre ist mir ekelhaft.« (MS 132, 85) Sowie: »Cambridge wird mir mehr & mehr verhaßt.« (MS 134, 152) Oder: »Es ist gesunder Menschenverstand, sich nicht davor zu fürchten, daß der Lokomotivführer Cambridge einfach übersieht und weiterfährt.« (VGM S. 271)

972

Bichlmayer in Monk 1992: 216.

973

Monk 1992: 215.

974

In den Denkbewegungen äußert sich Wittgenstein einschlägig zu den Wunderheilungen Jesu, wobei er in seinem Räsonieren vor allem den performativen Charakter, die Geste und die Handlung der Wunderheilungen Jesu hervorhebt: »Wenn man Wunder Christi etwa das Wunder auf der Hochzeit zu Kana so verstehen will wie Dostojewski es tat, dann muß man sie als Symbole auffassen. Die Verwandlung von Wasser in Wein ist höchstens erstaunlich & wer es könnte den würden wir anstaunen aber mehr nicht. Es kann also nicht das das Herrliche sein. – Auch das ist nicht das Herrliche daß Jesus den Leuten auf der Hochzeit Wein verschafft & auch das nicht daß er den Wein ihnen auf eine so unerhörte Weise zukommen läßt. Es muß das Wunderbare sein das dieser Handlung ihren Inhalt & ihre Bedeutung gibt. Und damit meine ich nicht das Außergewöhnliche, oder noch nie Dagewesene, sondern den Geist in dem es getan wird und für den die Verwandlung von Wasser in Wein nur ein Symbol ist gleichsam eine Geste. Eine Geste die freilich nur der machen kann der dieses Außerordentliche kann. Als Geste, als Ausdruck muß das Wunder verstanden werden, wenn es zu uns reden soll. Ich könnte auch sagen: Nur wenn er es tut der es in einem wunderbaren Geist tut ist es ein Wunder. Ohne diesen Geist ist es nur eine außerordentlich seltsame Tatsache. Ich muß gleichsam den Menschen schon kennen um sagen zu können, daß es ein Wunder ist. Ich muß das Ganze schon in dem richtigen Geiste lesen, um das Wunder darin zu empfinden.« (DB S. 46)

975

Vgl. Mt 9,1–8, Mk 2,1–12, Lk 5,17–26.

976

Vgl. Mt 9,27.

977

Zimmermann 2013: 30.

978

So z. B. in Lk 17,11–14, wo es in der Wundergeschichte der zehn Aussätzigen über Jesus heißt: »Und es begab sich, als er nach Jerusalem wanderte, dass er durch Samarien und Galiläa hin zog. Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer [Einleitung]; die standen von ferne und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser! Und als er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern! [Exposition] Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein. [Schluss]« Gleiches lässt sich in Mk 1,29–31 bei der Heilung der Schwiegermutter des Petrus nachvollziehen: »Sie verließen sogleich die Synagoge und gingen zusammen mit Jakobus und Johannes in das Haus des Simon und Andreas. Die Schwiegermutter des Simon lag mit Fieber im Bett. [Einleitung] Sie sprachen sogleich mit Jesus über sie und er ging zu ihr, fasste sie an der Hand und richtete sie auf. [Exposition] Da wich das Fieber von ihr und sie diente ihnen. [Schluss]« Auch Mk 7,31–35 folgt dieser Sequenzierung bei der Heilung eines Taubstummen: »Und als er wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege. Und er nahm ihn aus der Menge beiseite [Einleitung] und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!, das heißt: Tu dich auf! [Exposition] Und sogleich taten sich seine Ohren auf und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig. [Schluss]«

979

Bichlmayer in Monk 1992: 216.

980

Ebd.

981

Ebd.

982

Vgl. Nedo 2012: 82.

983

Monk 1992: 216.

984

Vgl. u. a. Mt 11,28, Mk 14,7, Lk 6,24 und insb. Mt 25,40.

985

Vgl. Kap. 18.4.1 Der Wiener Kreis und sein Priester sowie Carnap 2018: 167.

986

Vgl. Kap. 18.1 Wittgenstein, Karl Popper und der Schürhaken sowie Malcom in VuGÄPR S. 8.

987

Bröckling 2020: 53.

988

Clark 1975: 438. Vgl. ferner Monk 1992: 291 f.

989

Vgl. Kap. 18.2 »I know you’ll never understand it«.

990

Vgl. zum Vorwort des Tractatus und dem darin geäußerten Satz »Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben« (TLP S. 19) ausführlich Kap. 14.2 Das Vorwort des ›Tractatus‹.

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Quadraturen des Staunens

Episteme, Rhetorik und Performanz bei Ludwig Wittgenstein

Series:  Poetik und Ästhetik des Staunens, Volume: 12