Das Ziel der vorliegenden Arbeit bestand darin, Ludwig Wittgensteins Werk, Wirken und Handeln vor dem Hintergrund der Zwischenkriegszeit 1918–1939 auf Topoi des Staunens hin zu befragen. Nach der Darstellung und Einführung des praxeologischen Fundaments wurden im ersten Hauptkapitel zu Wittgenstein die epistemischen Aspekte seines Staunensbegriffs benannt und im Zuge einer kritischen Diskussion in alltäglich-empirischen sowie mystischen Zusammenhängen verortet. Im zweiten Hauptkapitel ließen sich rhetorische Evokationsformen von Staunen bzw. Wittgensteins Rhetorik des Staunens ausführen, wobei seine poetologischen Standpunkte und textuellen Verbalisierungsstrategien mit dem Inventar der klassischen Rhetorik in Dialog gebracht wurden. Das letzte Hauptkapitel untersuchte Wittgensteins Performanz, seine an Heroentum ausgerichteten Inszenierungspraktiken und das damit verbundene Bewunderungsgeschehen.
Aus den Befunden und Erträgen dieser Kapitel geht ein Leitmotiv hervor: Wittgensteins Semantiken von Staunen sind wesentlich als sprachliche Phänomene zu erfassen. Sie speisen sich aus Sprache, lassen sich aus Sprache ableiten und bewirken Effekt- und Affektdynamiken innerhalb eines grammatisch-ontologischen Bezugsrahmens. Sei es das durch Abrichtung erworbene Lebensformkonzept, das Denken und Handeln prädeterminierende Sprach-Apriori, die mit dem relativen und absoluten Staunen verbundene (temporäre) Sprachlosigkeit, die ›wilden Semiosen‹, seien es die rhetorischen Evokationsformen von Staunen, Wittgensteins aphoristische Textangebote oder seine sprachlichen Äußerungen im Kontext der an Bewunderung und Heroentum gebundenen Performativität: Sprache zieht sich als einendes Moment durch alle im Zusammenhang mit Staunen angesprochenen Themenfelder. Mit der Sprache lässt sich ein gemeinsamer Nenner identifizieren, von dem Wittgensteins Semantiken von Staunen ausgehen oder auf den sie zurückweisen, den sie resemantisieren und inkorporieren. Sprache ist die Basis, das Potenzial und das verbindende Moment für Wittgensteins Quadraturen des Staunens. Dies gilt auch für die zentrale These dieser Arbeit: In der Metapher des Sprengsatzes, des ›Spreng-Satzes‹, sprengt Staunen die Sätze einer kohärenten, sprachlich konstituierten Lebensform, legt sie in »Steinbrocken und Schutt« (PU 118), dekonstruiert ihre Ordnung und ermöglicht dadurch die Konstruktion, Verschiebung und Reformulierung eines neuen »Flußbett[s] der Gedanken« (ÜG 97) – einer neuen Lebensform.
Als ›Sprengsatz‹ erhalten Wittgensteins über Sprache vermittelte Semantiken von Staunen und deren semiotische Stoßrichtungen eine kulturkritische Valenz. Punktuell artikulieren sich seine mit Staunen verbundenen Krisennarrationen zwar explizit mit der pathologisierenden Formel »Krankheit einer Zeit« (BGM S. 132) und, wie mit der Figur des Primitiven ausgeführt, auch als explizite Wissenschaftskritik. Aus einer Latenzposition heraus berührt Wittgensteins Kulturkritik jedoch ein weitaus größeres Feld. Denn Staunen als kulturkritischer Impuls bezieht sich bei ihm weniger auf große wissenschaftliche Lehrgebäude oder einen politischen Rahmen und die dazugehörigen – gerade in der Zwischenkriegszeit von vielen Richtungen aus verhandelten – Systementwürfe, sondern ist an ein Subjekt und dessen Alltag adressiert. Staunen ist das ›Werkzeug‹ der »Arbeit an Einem selbst« (VB S. 472). Vor allem Wittgensteins aphoristische Textangebote lassen sich als eine ›Schule des Staunens‹ denken. Sie sind sprachliche Texträume, die das Staunen im praktischen Zusammenhang der sich aus Sprache konstituierenden Lebensform vorbereiten. Mit seiner Rhetorik des Staunens forciert er die Kultivierung einer Haltung, die nicht mehr an Tilgung von Unkonformem, an Formpassung bzw. Formentsprechung interessiert ist. Es gilt nicht, »das Problemhafte zum Verschwinden [zu] bringen« (VB S. 487), sondern das Problematische offenzuhalten. Als Ethos formuliert, sind tradierte Lebensformen für Wittgenstein zu hinterfragen, alternative Lebensformen zu reflektieren und in praktischem Zusammenhang auch umzusetzen. Bewegungen hin zum Ungewöhnlichen, Außerordentlichen und Außeralltäglichen sind Ziel seines kulturkritischen, mit Staunen verbundenen Unterfangens – was Wittgenstein nicht nur textuell produktiv machte, sondern, wie das Kapitel zur Performanz gezeigt hat, selbst auch lebte.
Aus diesem Ethos ergibt sich ein Anschluss an die Gegenwart. Eine Gegenwart, in der sich die Grenzlinien der pluralistischen Gesellschaft zunehmend verhärten und politisch aufladen, in der verschiedene Lebensformen kollidieren und zueinander in agonale Verhältnisse treten. Praktiken von Staunen können hier ein Gegengewicht darstellen, um Grenzziehungen aufzulösen, Vorurteile abzubauen und Angebote zur Selbstreflexion zu formulieren. Nicht, dass ich hier für ein im Außen- oder Innenministerium angesiedeltes ›Ressort für Staunen‹ plädiere, das per Gesetzesdekret die Lektüre von Wittgensteins Aphorismen bzw. ›Staunenstexten‹ anordnet. Vielmehr spreche ich von Zusammenhängen der (politischen) Bildung, in denen Momente der staunenden Dekonstruktion, Disruption, Irritation und Aporie geschaffen werden können, in denen die Praktik der ›wilden Semiose‹ eingeübt wird, Momente, in denen offenbar wird: Die Welt könnte so, sie könnte aber auch anders sein, die Lebensform könnte so, sie könnte aber auch anders sein. Denn wer die Sprache verändert, verändert die Lebensform, da »eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen« (PU 19).
Auch die Ausführungen zum mit Wittgenstein verbundenen Bewunderungsgeschehen reichen, herausgelöst aus dem historischen Referenzrahmen der Zwischenkriegszeit, als kulturkritischer Impuls bis in die Gegenwart. In meiner Definition bzw. Heuristik für Wittgensteins Bewunderungsstrategien habe ich davon gesprochen, dass durch die Analyse von modifizierten Attraktoren die Profanisierung einer bewunderten Person eingeleitet und Inszenierungen über die Dechiffrierung von Bewunderungstechniken und -praktiken sichtbar gemacht, eine bewunderte Person ›entwundert‹ werden kann. Diese Bewunderungstechniken und -praktiken habe ich bei Wittgenstein anhand von performativen Aspekten des Heroentums analysiert. Diese vor dem Hintergrund der Aufmerksamkeitsökonomie und der Poiesis des Staunens entwickelten Überlegungen bieten aber auch Antworten für eine umfassend mediatisierte Gesellschaft, in der das Bewunderungsgeschehen kapitalisiert wird: Die Musik- und Filmindustrie, Influencer:innen, aber auch Sportstars greifen auf Techniken der Bewunderungserzeugung zurück, um das jeweilige ›Produkt‹ maximal zu monetarisieren. Die zur Verfügung stehenden medialen Inszenierungstechniken scheinen inzwischen unbegrenzt. Mit den Bezugsgrößen Macht und Einfluss spielt Bewunderung aber auch in politischen Zusammenhängen eine bedeutende Rolle. Als Analysekategorie greift die Poiesis des Staunens darin in zweierlei Hinsicht: zum einen performativ bei Gesten und inszenierten Bildern vor großen oder symbolisch aufgeladenen Kulissen, zum anderen jedoch insbesondere im Kontext rhetorischer Strategien und kolportierter, ebenfalls als Lebensform zu denkender Narrative, die über Strategien der Poiesis des Staunens reflektiert und vor allem dechiffriert werden können.
Obschon den bis zu diesem Punkt hervorgebrachten Überlegungen zwangsläufig der Status des Kursorischen und Vorläufigen zukommt, scheint es lohnenswert, in einem anderen Forschungszusammenhang Aspekte von Wittgensteins Quadraturen des Staunens in einen erweiterten Kontext zu stellen und seine mit Staunen verbundene kulturkritische Praxis, die Arbeit an der eigenen Lebensform und die mit Bewunderung verbundenen Inszenierungen mit der Gegenwart zu konfrontieren.