Dass Staunen am Anfang der Philosophie steht und mit dem Staunen das Erkennen beginnt, ist seit Platons Theaitetos und Aristoteles’ Metaphysik ein Gemeinplatz. In der westlichen Ideengeschichte nimmt das Staunen einen festen Platz ein. Ob in der römischen Antike als rhetorische Strategie (Cicero, Quintilian), im Mittelalter als höchste Stufe göttlicher Kontemplation (Augustinus), in der Neuzeit als Leidenschaft (Descartes), in der Aufklärung als pädagogisches Instrument (Baumgarten), in der Romantik und im Deutschen Idealismus als Synonym für die Begegnung mit dem Numinosen (Kant, Burke) oder im 20. Jahrhundert als politischer Impuls (Arendt, Bloch, Benjamin)1 : In der abendländischen Theorie wurde viel gestaunt. Und Staunen wurde nicht selten als Moment markiert, in dem ein qualitativer Wechsel stattfindet und sich neuartige Perspektiven, Gedanken und Gefühle eröffnen.
Entgegen dieser bis in die Antike zurückreichenden Tradition setzt die systematische Erforschung der Semantiken von Staunen im deutschsprachigen Raum erst relativ spät ein. 1991 legte Stefan Matuschek, mit der Epoche der Aufklärung endend, die diesbezüglichen Grundlagen in seiner Studie Über das Staunen2 ; Grundlagen, die Ekkehard Martens in seiner Arbeit Vom Staunen oder Die Rückkehr der Neugier3 weiterführte. Mit Philosophieren mit Kindern4 erschloss er das Staunen auch für pädagogisch-didaktische Kontexte. Überhaupt entdeckte er im deutschsprachigen Raum die Figur des Kindes für das Staunen – was sich, mit verändertem Forschungsinteresse, mit Das Staunende Kind. Kulturelle Imaginationen von Kindheit5 bis in die Gegenwart fortsetzt. Auch die Medienwissenschaft beginnt sich um die Jahrtausendwende mit Zeichen und Wunder. Über das Staunen im Kino6 für den Begriff in technischen, auf Effekterzeugung ausgerichteten Zusammenhängen zu interessieren – eine Traditionslinie, die in der jüngeren Vergangenheit mit der Archäologie der Spezialeffekte7 historisiert wurde. Mit Wunder. Poetik und Politik des Staunens im 20. Jahrhundert8 wird das Staunen ab den 2010er-Jahren vermehrt auch im Umfeld von Poetik und Politik untersucht. Staunen als Grenzphänomen9 hat inzwischen über das gesamte Spektrum der Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften als Forschungsgegenstand Konjunktur, wobei Staunen. Eine Poetik10 von Nicola Gess aus dem Jahr 2019 hierbei die letzte, ein breites Panoptikum von Staunen eröffnende Wegmarke ist.
Wie der Blick in die Geistes-, Kultur- und Forschungsgeschichte beweist, besitzt der Begriff ›Staunen‹ theoretische Anziehungskraft. In ihm liegt Signifikanz. Es scheint sich zu lohnen, über Staunen nachzudenken und darüber zu schreiben. Angesichts seiner historischen, von der Antike vorgeprägten Stoßrichtung wundert dies nicht: Denn wenn Staunen der Anfang von Erkenntnis ist, dann wird Staunen zum Anfang der Wissenschaft, deren Ziel bekanntlich die Hervorbringung von Erkenntnissen ist. In der Auseinandersetzung mit Staunen als einer Art Primärimpuls scheint auch das Versprechen zu liegen, die Grundlagen des eigenen wissenschaftlichen Handelns zu ergründen und dadurch zum Selbstverständnis und Ursprung des eigenen Tuns vorzudringen. Aus dieser Perspektive wird das Forschen über das Staunen zur Grundlagenforschung – und die Erkenntnisse über das Staunen sowie die Erkenntnisse über ebendiese Erkenntnisse zu einem Beitrag zur Erforschung des wissenschaftlichen Fundaments.
So weit kann man, muss man beim Begriff ›Staunen‹ nicht gehen. Nicht jede Erkenntnis wird vor wissenschaftlichem Hintergrund gewonnen, nicht jeder Erkenntnis geht ein Staunen voran. Ohnehin wäre zu fragen, wie viel in Laboren, Hörsälen, Seminarräumen und Bibliotheken gestaunt wird. Dient ›Staunen‹ nicht vielmehr als Beschreibungskategorie für Geschehnisse im Alltag? Schon ein flüchtiger Blick in die Presse genügt, um dies zu bestätigen. Dort finden sich Überschriften wie »Kunden staunen über Osterhasen-Invasion in Kaufland-Filialen«, »Ermittler staunen: Kokain in flüssiger Form geschmuggelt«, »Alle staunen über dieses 60-Meter-Solo«, »Kurs für junge Eltern: Schauen, rasseln, staunen«, »Erinnerungen an Enzensberger: Zum Staunen bestellt« oder »Die neue Rügenbrücke – Staunen statt Stauen«.11 Wird also nicht immer dann gestaunt, wenn etwas aus dem Gewöhnlichen des Alltags herausfällt, etwas Ungewöhnliches geschieht? Entsteht Staunen nicht aus und in persönlichen Begegnungen? Sind die erwähnten theoretischen Reflexionen über das Staunen dann nicht einfach nur nachgelagerte Erklärungsansätze für diese Momente, diese alltäglichen Momente, die man unter dem weitläufigen Begriff ›Staunen‹ zusammenfasst? Und: Stellen die vor theoretischem und alltäglichem Hintergrund aufgeworfenen Perspektiven auf Staunen überhaupt Widersprüche dar?
Ob theoretisch motivierte Erforschung des Anfangspunkts von Erkenntnis, nachgeordnete Reflexion auf ein von Sinnesdaten ausgehendes Geschehen oder ein Geschehen in actu: ›Staunen‹ scheint ein zwischen Theorie und Praxis changierender Begriff zu sein, dem sowohl in den höchsten Höhen der Wissenschaft als auch in den profanen Niederungen des Alltags Bedeutung zugeschrieben wird.
Weil sich das Interesse, die Kontexte und Verwendungsweisen von Staunen über ein solch breites Spektrum erstrecken und die theoretische wie auch alltägliche Bedeutung von Staunen unbestritten scheint, fällt auf, dass bezüglich einer eingehenden Beschäftigung mit dem Staunens-Topos bei Ludwig Wittgenstein, einem der prägendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, eine Forschungslücke besteht. Bislang wurde dieser nicht bzw. höchstens marginal auf Semantiken des Staunens hin befragt.12 Dies wundert zum einen, da sich Wittgenstein in seinem Werk in vielerlei Variationen und Ansprachen mit dem Staunen auseinandersetzt und sich theoretisch in die angesprochene ideengeschichtliche Tradition stellen lässt; zum anderen jedoch auch – um nun die andere Seite jenes Spektrums anzusprechen –, da Wittgensteins Überlegungen zum Staunen, der damit verbundene sprachliche Ausdruck, seine Beispiele, die Referenzierungen und die praktischen Implikationen im Vergleich zu anderen Autor:innen des 20. und 21. Jahrhunderts sehr stark in alltägliche Zusammenhänge eingelassen sind.
Die vorliegende Arbeit möchte diesem Forschungsdesiderat begegnen. Die zentrale, meinem Projekt übergeordnete Frage zielt auf Topoi des Staunens innerhalb des Werks, Wirkens und Handelns des Philosophen Ludwig Wittgenstein. Anhand epistemischer, rhetorischer und performativer Motivkreise wird nach den interdependenten und inkorporierenden Semantiken von Staunen, nach Wittgensteins Quadraturen des Staunens gefragt.
Weil Wittgenstein Philosophie als Praxis begreift, sind auch seine Begriffe von ›Staunen‹ vor praxeologischem Hintergrund zu verhandeln. Anhand seines Konzepts der ›Lebensform‹ – durch sprachliche Sozialisation erworbene Handlungs- und Denkmuster mit prädeterminierendem Charakter – wird die übergeordnete These aufgestellt, dass Staunen bei Wittgenstein je das Moment ist, in dem eine Lebensform konstruiert, aber auch dekonstruiert wird. Durch die Bezugsgrößen Episteme, Rhetorik und Performanz werde ich Staunen bei Wittgenstein in der Metapher des ›Sprengsatzes‹ fassen; eines Sprengsatzes, der eine Lebensform, ein »Flussbett der Gedanken« (ÜG 97)13, durch produktive Abweichung in »Steinbrocken und Schutt« (PU 118) legt und dazu beiträgt, dass sich ein bestehendes »Flußbett der Gedanken« verschiebt, reformuliert oder auflöst.
Aufgeworfen wird diese These in der Annahme, dass Motive und Artikulationsformen von Staunen stets einen Zeitindex besitzen. Bei Wittgensteins Äußerungen zum Staunen stellt die Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg den historischen Referenzrahmen dar, die Zwischenkriegszeit 1918–1939. Es ist auffallend, dass in diesen rund zwanzig Jahren des 20. Jahrhunderts eine Vielzahl von etablierten Wissensordnungen unzureichend werden und Ordnungskonzepte von Welt unter dem Druck gesamtgesellschaftlicher Transformationen kollabieren, während andere emergieren. Es steht die Frage im Raum: Wird zu manchen Zeiten mehr gestaunt, das Staunen vermehrt angesprochen, über das Staunen mehr nachgedacht als zu anderen Zeiten? Folgt man der Verlaufskurve des DWDS-Textkorpus14, liegt in den »Krisenjahre[n] der Klassischen Moderne«15 1918–1939 ein auffallendes historisches Hoch an direkten Bezugnahmen und textuellen Nennungen von ›Staunen‹ vor, das erst nach 1939 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs abflacht.16 Dieser Befund lässt den Schluss zu, dass sich Wittgenstein mit seinen Äußerungen zum Staunen einem Thema widmete, das auch viele Zeitgenoss:innen beschäftigte.
Um Wittgensteins mit Staunen verbundene Äußerungen zu historisieren, werde ich in Teil I dieser Arbeit zunächst Staunen vor dem Hintergrund zeitgebundener Krisennarrative und prekärer Wissensordnungen kontextualisieren, Staunen als Reaktionsmuster auf Krisen, Staunen als einen Ausweg aus Krisenzusammenhängen suchenden Impuls denken. Die dabei behandelten Diskursbegründer:innen sollen die in Teil II dieser Arbeit ausgeführten Gesichtspunkte zu Wittgenstein einrahmen und ihn als denjenigen profilieren, der Staunen nicht nur als kulturkritischen Impuls, sondern auch als kulturkritische Praxis verstand. Teil I dient dergestalt einerseits als Heuristik für Teil II, andererseits versieht er die Darstellung von Wittgensteins auf Staunen zulaufenden Theoremen, seine Praktiken und seine Strategien der Bewunderungserzeugung, seine Quadraturen des Staunens mit einem Zeitindex.
Vgl. Kap. 3.6 Zusammenfassung.
Matuschek 1991.
Martens, Ekkehard, Vom Staunen oder Die Rückkehr der Neugier, Leipzig: Reclam, 2003.
Ders., Philosophieren mit Kindern, Stuttgart: Reclam, 1997.
Das staunende Kind. Kulturelle Imaginationen von Kindheit, hg. v. Nicola Gess und Mireille Schnyder, Paderborn: Fink, 2021.
Zeichen und Wunder. Über das Staunen im Kino, hg. v. Margrit Frölich, Reinhard Middel und Karsten Visarius, Marburg: Schüren, 2001.
Archäologie der Spezialeffekte, hg. v. Natascha Adamowsky, Nicola Gess, Mireille Schnyder, Hugues Marchal und Johannes Bartuschat, Paderborn: Fink, 2018.
Wunder. Poetik und Politik des Staunens im 20. Jahrhundert, hg. v. Till Kössler und Alexander C. T. Geppert, Berlin: Suhrkamp, 2011.
Staunen als Grenzphänomen, hg. v. Nicola Gess, Mireille Schnyder, Hugues Marchal und Johannes Bartuschat, Paderborn: Fink, 2017.
Gess 2019.
https://www.karlsruhe-insider.de/verbraucher/kunden-staunen-ueber-osterhasen-invasion-in-kaufland-filialen-127550; https://www.br.de/nachrichten/bayern/ermittler-staunen-kokain-in-fluessiger-form-geschmuggelt; https://www.bild.de/sport/fussball/champions-league/champions-league-dortmund-chelsea-1-0-alle-staunen-ueber-adeyemis-60-meter-solo-82916346.bild.html; https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/kurs-fuer-junge-eltern-schauen-rasseln-staunen-18124041.html; https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/erinnerung-an-hans-magnus-enzensberger-zum-staunen-bestellt-18488361.html; https://www.spiegel.de/fotostrecke/die-neue-ruegenbruecke-staunen-statt-stauen-fotostrecke-25769.html [alle 25.2.2023].
Vgl. Kap. 5.3 Forschungsstand.
Direkte und indirekte Zitate aus Wittgensteins Werk werden in runden Klammern unmittelbar nach ihrer Anführung im Fließtext markiert. Die Siglen orientieren sich an den von Alois Pichler, Michael A. R. Biggs und Sarah Anna Uffelmann für die Internationale Ludwig Wittgenstein Gesellschaft vorgeschlagenen Abbreviaturen (vgl. Quellenverzeichnis). Paragrafen bzw. Nummerierungen, sofern von Wittgenstein oder den Herausgeber:innen angegeben, werden unmittelbar und ohne gesonderten Hinweis nach der Sigle vermerkt (Sigle XY). Sofern kein Paragraf bzw. keine Nummerierung innerhalb einer zitierten Werkgruppe gegeben ist, wird nach der Sigle die Seitenangabe angeführt (Sigle S. XY).
Das DWDS-Kernkorpus besteht derzeit aus insgesamt knapp 80 000 Dokumenten bzw. Digitalisaten aus den vier Kategorien Belletristik, Gebrauchsliteratur, Wissenschaft und Zeitung. Auf Grundlage von über hundert Millionen Tokens können Häufigkeitsverteilungen und Wortnennungen vom Jahr 1600 bis in die Gegenwart statistisch angezeigt werden. Vgl. zum empirischen und methodologischen Hintergrund ausführlich: Geyken, Alexander, »The DWDS corpus. A reference corpus for the German language of the 20th century«, in: Collocations and Idioms. Linguistic, lexicographic, and computational aspects, ed. by Christiane Fellbaum, London: Continuum, 2007, p. 23–41.
Vgl. Peukert 2014.
Vgl. DWDS-Wortverlaufskurve für »Staunen«, erstellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, https://www.dwds.de/r/plot/?view=1&corpus=dta%2Bdwds&norm=date%2Bclass&smooth=spline&genres=0&grand=1&slice=10&prune=0&window=3&wbase=0&logavg=0&logscale=0&xrange=1600%3A1999&q1=staunen [25.2.2023].