„Vielleicht erscheint Ihnen ja das, was ich Ihnen über die Verpflichtung gegenüber dem Nächsten, die jedem Vertrag vorausgeht – Bezug auf eine Vergangenheit, die niemals Gegenwart war! –, über das Sterben für den Anderen – Bezug auf eine Zukunft, die niemals meine Gegenwart sein wird – sagte, nach dieser letzten Erwähnung Heideggers und Rosenzweigs als ein Vorwort zu möglichen Forschungen.“
Lévinas, Zwischen uns, 278
Der in Litauen geborene und im Jahr 1995 in Paris verstorbene Philosoph Emmanuel Lévinas, der eine so wichtige Rolle für die Kontinental-Philosophie des 20. Jahrhunderts annehmen sollte, gilt gemeinhin als der Denker einer „Ethik vom Anderen her“1, der sich das Ziel einer Ethik als prima philosophia zu behaupten und entwickeln vornahm, die nicht mehr das selbstbezügliche ‚Ich‘, sondern die unverfügbare ‚Andersheit‘ des Anderen in den Mittelpunkt stellt und zum Ausgangspunkt aller Überlegungen macht. In anderen Forschungskontexten, insbesondere innerhalb der Theologie, wird Lévinas auch häufig als ein „führender Vertreter jüdischer Philosophie“2 angesehen, sein Denken manchmal als ein „Eingedenken der Shoa“3, das in besonderer Weise auch in einen Zusammenhang zu setzten ist mit den geschichtlichen Ereignisses des Nationalsozialismus. In allen Fällen aber gilt Lévinas’ Denken als eine Philosophie der Alterität. So behauptet etwa Georg W. Bertram, dass Lévinas nur „über ein einziges Problem“ nachdachte und sein ganzes Werk als eine „Variationenfolge“ dieser einen Frage zu verstehen sei: „Wie Alterität, die Andersheit des Anderen, zu denken sei.“4
Was seltener in der Auseinandersetzung mit Lévinas Erwähnung findet, ist die Hervorhebung seines Denkens als eine außergewöhnliche, ausgesprochen vielfältige und gänzlich neuartige Zeit-Philosophie. Obwohl das Thema der Zeit im Werk von Lévinas in besonderer Weise präsent ist und die zeittheoretischen Schlussfolgerungen seiner Philosophie als ein tatsächliches Novum zu betrachten sind, findet es in den verschiedenen Forschungsfeldern zu Lévinas zumeist lediglich als ein peripherer oder additiver Nebenaspekt Erwähnung, der ergänzend für die Erarbeitungen anderer Themen genutzt wird.5 Dabei wird das Zeit-Thema nicht nur unverhältnismäßig selten – im Verhältnis zur werkinternen Präsenz des Themas –, sondern oft auch nur oberflächlich und einseitig behandelt. Meistens bleibt dabei die Beschäftigung mit der Zeit hinter dem eigentlichen philosophischen Gehalt und der Bedeutungstiefe der Zeit-Thematik im Werk von Lévinas zurück. Bei genauerer Betrachtung bietet das Zeit-Denken bei Lévinas jedoch einen scheinbar unendlichen Fundus an ungewöhnlichen und neuartigen Ideen: Als eine Bewegung des Abschieds, als Beziehung zu ‚Gott‘, als eine unendliche Geduld, die das Subjekt umwandelt, als eine Frage ohne Antwort oder als die ‚bindende Trennung‘ der Nähe zum Anderen durchläuft Lévinas’ Verständnis der Zeitlichkeit die unterschiedlichsten Etappen und weist einen ungewöhnlichen Ideenreichtum auf, der bisher kaum beachtet wurde. Manchmal in ganz textnaher Auseinandersetzung mit recht umständlichen Zeittheorien, etwa der Zeit-Phänomenologie Husserls, an anderer Stelle in eher assoziativen und poetischen Gedankengängen, bspw. in der Beschäftigung mit der Religionsphilosophie Rosenzweigs oder der Fundamentalontologie Heideggers, arbeitet sich Lévinas durch einen großen Teil moderner zeitphilosophischer Ansätze, bis sein eigenes Denken der Zeit als Diachronie mehr und mehr an Kontur gewinnt.
Die vorliegende Arbeit basiert i. d. S. auf drei grundlegenden Thesen: Die erste These lautet, dass das Zeitdenken bei Lévinas in der Forschung bisher zu wenig Beachtung gefunden hat. Obwohl seit den 90er Jahren die Auseinandersetzung mit Lévinas auch im deutschsprachigen Raum mehr und mehr zunimmt, bleibt das Zeit-Thema weitestgehend unterbelichtet und findet wenig Beachtung als ein autonomer Untersuchungsgegenstand der Lévinas’schen Philosophie. Mit wenigen Ausnahmen wurde das Thema bisher fast nie in das Zentrum der Lévinas-Lektüre gestellt und als ein für sich stehender Theorie-Gegenstand behandelt. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem zeitphilosophischen Gehalt von Lévinas’ Denken, die der Vielfalt und Komplexität des Zeit-Themas sowie seiner Relevanz für das Denken einer ‚Ethik der Alterität‘ gerecht würde, steht demzufolge noch aus.
Eine zweite These lautet, dass diese unzureichende Auseinandersetzung mit dem Zeit-Thema auch Konsequenzen für das allgemeine Verständnis der Philosophie von Lévinas zur Folge hat. Die Zeit-Thematik soll in dieser Arbeit als ein wesentlicher Bestandteil der Alteritätsethik – wie zu zeigen sein wird, sogar als das entscheidende Schlüssel-Element der Konzeption einer ethischen Subjektivität – begriffen werden, sodass ein unzureichendes Verständnis der Zeit auch ein gutes Verständnis der philosophischen Grundgedanken von Lévinas erschwert, so die Annahme dieser Arbeit. Weder der Lévinas’sche Subjektbegriff (als eine mit Andersheit verstrickte oder zum Anderen gewendete Selbstheit), noch die Beziehung zum Anderen (die „elementarethische“6 Intersubjektivität oder asymmetrische Sozialität), noch die Alteritätsethik als solche kann hinreichend erfasst werden, ohne das fundierte Aufarbeiten und umfassende Verstehen der Zeit-Thematik: Dass Lévinas das Subjekt synonym setzt zur diachronen Zeitlichkeit, dass er die paradoxe Alteritätsbeziehung nur entlang einer „Struktur“7 der Zeitlichkeit zu erfassen vermag und dass die Alteritätsethik nicht nur ‚auch‘, sondern ganz grundlegend eine zeitphilosophisch begründete Ethik darstellt, dies zu zeigen, soll Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein. Eine Lévinas-Lektüre im Ausgang des Zeit-Begriffs und des entsprechenden Zeit-Denkens soll es folglich ermöglichen, den Gesamtgehalt der Alteritätsphilosophie in verbesserter und anderer Weise zugänglich und plausibel zu machen.
Eine dritte und letzte These, die dieser Arbeit zugrunde liegt, lautet schließlich, dass eine solche zeitphilosophische Zugangsweise, Ausdeutung und Interpretation der Lévinas’schen Alteritätsethik diese in potenzierter Weise für andere Forschungsfelder und -kontexte anschlussfähig machen könnte, insbesondere für solche, zu denen ein Dialog bisher als eher schwierig galt: Zu jenen Theorien, die sich dezidiert mit politischen, kulturellen oder sozialen Phänomen und Themen auseinandersetzen. Lévinas’ Philosophie gilt häufig als zu abstrakt, zu universalistisch oder zu ahistorisch, um etwa einer realpolitischen Komplexität gerecht werden zu können, um soziale Ungleichheitsverhältnisse kritisch adressieren zu können oder die Dimensionen der gesellschaftlichen Historizität in ihre verallgemeinerte Ethik ‚des Antlitzes‘ miteinzubeziehen.8 Eine zeitphilosophische Lévinas-Lektüre könnte in dieser Hinsicht eine ‚Brücke‘ darbieten und theoretische Anschlüsse ermöglichen, die zuvor nicht möglich schienen. So stellt die vorliegende Arbeit auch einen Versuch dar, anhand und vermittelt durch den Zeitbegriff einen fruchtbaren Dialog herzustellen zwischen Lévinas’ Ethik und der poststrukturalistisch geprägten Queer Theory, der ansonsten, mit Ausnahmen, als eher schwierig gelten muss.
Vor dem Hintergrund dieser drei Kern-Thesen sollen in der vorliegenden Untersuchung zwei Desiderate bearbeitet werden: Der erste Teil der Arbeit widmet sich einer ausführlichen und umfassenden Untersuchung des Zeit-Denkens im Werk von Lévinas; ein zweiter Teil widmet sich einer aktuellen Debatte aus dem Forschungsfeld der Queer Studies, die mit dem Lévinas’schen Zeit-Begriff, wie er im ersten Teil erarbeitet wird, vielversprechend adressiert werden kann. Auf diese Weise kann ein für beide Seiten gewinnbringender Dialog hergestellt werden: Lévinas’ Alteritätsethik kann über den Bereich seiner eigenen Überlegungen hinausgehoben und für konkrete Kontexte fruchtbar gemacht werden, sodass ein Transfer seiner Ethik in den Bereich politischer und kultureller Themen konturiert wird; gleichzeitig kann der im Kontext der Queer Studies eher ungewöhnlich anmutende alteritätsethische Ansatz in die aktuelle Debatte um den sogenannten antisocial turn in den Queer Studies eingebracht werden, um eine bisher nicht bedachte Lösung auf die schwierige Frage nach der konzeptuellen Möglichkeit einer ‚queeren Ethik‘ anzubieten.
Der erste Teil der Arbeit beantwortet insofern ein bestehendes Desiderat in der Lévinas-Forschung als er eine dezidiert philosophische und methodisch systematische Erarbeitung des Zeit-Denkens von Lévinas vorlegt, die das Thema der Zeit in das Zentrum der Lévinas-Lektüre stellt. Bisher gibt es nur wenige Autor:innen, die das Zeit-Thema im Lévinas’schen Werk dergestalt in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen stellten und eine umfassende Forschung diesbezüglich vorgelegt haben9: Neben einigen Forschungsbeiträgen, die das Zeit-Thema im Zusammenhang mit anderen Themen der Alteritätsphilosophie behandeln10 und jenen Beiträgen, die vergleichende Untersuchungen anstellen zwischen Lévinas und anderen philosophischen Kontexten und Werken11, finden sich solche Arbeiten, die das Zeitthema tatsächlich in den Mittelpunkt der Untersuchung rücken, vor allem bei zwei Autoren vor: Zum Einen publizierte der amerikanische Philosoph Eric Severson im Jahr 2013 eine umfassende Monographie zum Zeit-Thema bei Lévinas mit dem Titel Levinas’ Philosophy of Time. Gift, Responsability, Diachrony, Hope. Im deutschsprachigen Raum muss wiederum die Arbeit des Theologen Ludwig Wenzlers genannt werden, der neben einer Vielzahl von Artikeln12 auch seine (unveröffentlichte) Habilitationsschrift mit dem Titel Das Antlitz, die Spur, die Zeit. Zeitlichkeit als Struktur und als Denkform des religiösen Verhältnisses bei Emmanuel Levinas (1988) zu dem Thema angefertigt hat.13 Dabei kann Seversons Monographie als ein chronologischer Durchgang und dementsprechend als ein historischer Zugang zur Zeit-Thematik bei Lévinas gelten. So erklärt Severson in einer Fußnote zur Einleitung seines Buchs:
„This book investigates the chronological development of Levinas’s thinking about time, beginning with his first independent essays and concluding with some of his final essays.“14
Severson trägt i.d.S. die einzelnen Ideen zum Thema der Zeit bei Lévinas zusammen und ordnet sie entsprechend einer Chronologie der Werkveröffentlichungen. Was Severson jedoch zum großen Teil ausspart, ist eine systematisierende Bearbeitung des Zeit-Begriffs. Die einzelnen Etappen der Arbeit am Zeit-Begriff und die einzelnen Ideen und Gedanken, die Lévinas einbringt, finden ausführliche Erwähnung und Darstellung, werden jedoch wenig aufeinander bezogen und interpretiert. Ludwig Wenzler wiederum arbeitet vermehrt auch exegetisch, jedoch muss seine Arbeit im Forschungsfeld der Theologie verortet werden. Auch wenn die Grenzen zwischen Theologie und Philosophie im Denken von Lévinas fließend sind, bearbeitet Wenzler das Zeit-Thema vorwiegend unter Berücksichtigung explizit theologischer Perspektiven: Ihm geht es schließlich darum, „Zeitlichkeit als Medium und als Struktur des religiösen Verhältnisses“15 zu begreifen. Was dementsprechend fehlt und Ziel des ersten Teils der vorliegenden Arbeit ist, ist eine philosophisch-systematische Auseinandersetzung mit Lévinas’ Zeitdenken, wobei der Zeit-Begriff im Mittelpunkt der Untersuchung steht und von diesem ausgehend, die Alteritätsethik erschlossen wird.
Der erste Teil der Arbeit ist dementsprechend in drei Kapitel unterteilt: In einem ersten Kapitel wird die Zeit-Thematik im Gesamtkontext der Lévinas’schen Philosophie verortet. Eine Beschäftigung mit dem Zeit-Begriff muss zunächst einmal herausarbeiten, welche Rolle die Zeit im Gesamtwerk von Lévinas spielt, in welcher Weise er sich dem Thema nähert, in welchen Hinsichten das Thema Relevanz für ihn hat und vor allem welche Frage er mit der Idee einer diachronen Zeitlichkeit zu beantworten versucht. Im Anschluss an diese einleitende und einbettende Kontextualisierung des Themas, soll in einem zweiten Kapitel die Entwicklung des Zeitbegriffs detailliert nachgezeichnet werden. Dabei werden die wichtigsten philosophischen Referenzen und Etappen der Begriffsentwicklung erörtert, und es wird nachgezeichnet, von wem Lévinas in Bezug auf das Thema der Zeit inspiriert wurde, von wem er sich abgegrenzt, welche Ideen er übernommen und welche Gedanken er weiterentwickelt hat, um abschließend eine eigene Begriffs-Bestimmung auszuformulieren. Da im Werk von Lévinas Zeit- und Subjekt-Verständnis untrennbar miteinander verwoben und nur in ihrem jeweiligen Bezug aufeinander überhaupt verständlich zu machen sind, soll in einem dritten Kapitel gezeigt werden, inwiefern Lévinas das Subjekt grundlegend als eine Weise des Zeitlichseins versteht und die Zeit für ihn überhaupt nur in inkarnierter Form, in Form der Subjektivität, zum Ausdruck kommt und Geltung hat. Ausgehend von diesem wechselseitigen Verständnis von Zeit und Subjekt soll eine zeitphilosophische Lesart der Alteritätsethik dargelegt werden, um diese damit auf neue und andere Weise zugänglich und plausibel zu machen.
Ein solcher systematischer Zugang zum Thema muss immer auch als eine spezifische Interpretation verstanden werden. Lévinas’ Zeit-Denken weist eine außerordentliche gedankliche wie thematische Heterogenität auf, die jedoch keiner kohärenten Darstellung unterliegt, und dementsprechend muss der Versuch, alle diesbezüglichen Erwähnungen und Erwägnisse ‚unter einen Hut‘ zu bringen und einer einzelnen Begriffs-Bestimmung ein- und unterzuordnen, notwendig scheitern. Vielmehr soll die hier dargestellte Systematisierung des Themas als ein Vorschlag gelten, wie das vielschichtige, mehrdeutige und oft widersprüchliche Thema der Zeit bei Lévinas erfasst und interpretiert werde könnte. Dementsprechend findet auch nicht jeder einzelne Aspekte gleichermaßen Beachtung, sondern – wie in allen wissenschaftlichen Arbeiten – wurde eine Auswahl getroffen: Nicht nur, welche zeittheoretischen Ausführungen im Werk von Lévinas herausgegriffen und besonders ausführlich bearbeitet wurden, sondern auch, welche Referenzen und philosophischen ‚Vorläufer‘ des Diachronie-Gedankens in den Vordergrund gerückt wurden.16
Der zweite Teil der Arbeit stellt einen Versuch dar, das Lévinas’sche Zeit-Denken, wie es im ersten Teil erarbeitet wurde, anschließend für einen vollkommen anderen theoretischen Kontext fruchtbar zu machen: Anhand des Zeitbegriffs soll ein Dialog zwischen der phänomenologischen Alteritätsethik und dem poststrukturalistisch geprägten Forschungsfeld der Queer Studies stattfinden, um die Frage nach der Möglichkeit einer ‚queeren Ethik‘ nach dem sogenannten antisocial turn zu adressieren. Das interdisziplinäre Forschungsfeld der Queer Studies, das seit den 90er Jahren als eine kritische Weiterentwicklung der Theorien der Gay- and Lesbian Studies in den USA entstanden ist und vorwiegend auf den deutsch-französischen Theorien des 20. Jahrhunderts aufbaut, kann von Anfang an auch als eine Auseinandersetzung mit ethischen Fragen in gesellschaftlichen Zusammenhängen gelten. Als ein Versuch, insbesondere Subjektivität und politische Praxis so zu denken, dass bestimmte Formen der sozialen Gewalt gemindert werden – vor allem die gesellschaftliche Gewalt des normativen Zwangs und der Exklusion infolge starrer Identitäts-Vorstellungen –, entstand das paradoxe Begriffs-Konzept von ‚queer‘ als eine – mit Leo Bersanis Worten – „anti-identitarian identity“17. Gestiftet im Ausgang eines ethischen Anspruchs (der „Gewaltlosigkeit“18 oder zumindest der Gewaltverminderung innerhalb sozialer Kontexte) bleibt es jedoch vielseitig verhandelbar und kritisch befragbar, wie genau eine ‚queere Ethik‘ zu denken sei im Ausgang eines solchen widersprüchlichen Begriffs-Konzepts.19 Insbesondere mit der antisocial thesis des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Lee Edelman – einer besonders zugespitzten Variante dieser These, vorgelegt mit dem 2004 publiziertem Buch No Future. Queer Theory and the Death Drive – wurde u.a. diese Debatte um die konzeptuelle Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer ‚queeren Ethik‘ erneut aktualisiert und bis heute diskutiert. Die Schwierigkeit (und das dementsprechende Desiderat innerhalb dieser Debatte) besteht darin, einen ethisch-normativen Anspruch im Ausgang der definitorischen ‚Negativität‘ des Queer-Begriffs formulierbar zu machen. Wie also kann das Moment queerer Unintelligibilität innerhalb der sozio-kulturellen „Rahmensetzung der Anerkennung“20 – als Momente der Störung, des Widerstands, der Irritation oder der Unterbrechung – ethisch markiert werden? Wie zu zeigen sein wird, treibt der so gedachte Queer-Begriff, als Verweigerung, „eine feste Form anzunehmen“21, diese Frage und Debatte immer wieder in Widersprüche, Dilemmata und „Aporien“22, die manchmal sogar drohen, das gesamte akademisch-politische Projekt „unter dem Gewicht der eigenen Widersprüche“23 kollabieren zu lassen, wie es etwa Michael O’Rourke befürchtet. Was innerhalb des theoretischen Rahmens, in dem die Debatte zumeist geführt wird (dem poststrukturalistischen Theorie-Kontexten), zum Teil als schwierig oder unlösbar erscheint, soll in diesem zweiten Teil der Arbeit anhand eines Dialogs zwischen Edelman und der phänomenologischen Alteritätsethik Lévinas’ – als einem sowohl inhaltlich wie theoretisch-methodisch sehr entferntem Theorie-Gebiet – in eine neue Perspektive gerückt und in bisher nicht gegebener Weise beantwortet werden. Anhand der gemeinsamen zeittheoretischen Fundierung und Begründung von Subjekt und Ethik bzw. der Unmöglichkeit einer Ethik (wie Edelman annimmt) wird ein Anschluss zwischen beiden Theorie-Kontexten möglich und eine Antwort auf die Frage nach dem konzeptuellen Wie einer ‚queeren Ethik‘ formulierbar, die dem paradoxen Begriffs-Gebilde die Treue hält und dem ursprünglichen ethischen Anliegen trotzdem gerecht wird.
Der zweite Teil der Arbeit untergliedert sich dabei wie folgt: In einem ersten (bzw. chronologisch betrachtet vierten) Kapitel erfolgt eine kurze Einführung in das Forschungsfeld der Queer Studies sowie ein Nachzeichnen bereits bestehender Anknüpfungspunkte und Verbindungslinien zur Lévinas’schen Phänomenologie. Dabei sollen die bisher ausgeschöpften Möglichkeiten, aber auch die unvermeidlichen Schwierigkeiten hervorgehoben werden, die v.a. der geringen inhaltlichen wie theoretischen ‚Schnittmenge‘ zwischen beiden Forschungs-Gebieten geschuldet sind, um anschließend die Gründe und bisher kaum beachteten Vorteile eines zeittheoretischen Zugangs zu einem Dialog darzulegen. Schließlich wird das Desiderat einer queeren Ethik-Konzeption ‚nach dem antisocial turn‘ ausführlich dargelegt und erläutert, welches sich der zweite Teil der Arbeit zu beantworten vornimmt. Im anschließenden Kapitel 5 wird dann die antisocial thesis nach Lee Edelman ausführlich und unter besonderer Berücksichtigung der zeittheoretischen Argumentation rekonstruiert, die Edelmans These zu Grunde liegt. Am Ende des Kapitels erfolgt außerdem eine erste Annäherung zwischen Edelman und Lévinas, indem Edelmans Analyse aus einer Lévinas’schen Perspektive betrachtet und gedeutet wird, um auf diese Weise sowohl begriffliche und konzeptuelle Parallelen als auch Widersprüche und Unstimmigkeiten zwischen beiden Zeittheorien herausarbeiten zu können. Im letzten Kapitel soll schließlich eine ‚queere Ethik‘ im Ausgang von Edelman und in Anlehnung an Lévinas erarbeitet werden: Zunächst wird noch einmal verständlich gemacht, warum die Frage einer ‚queeren Ethik‘ im Zuge der antisocial thesis virulent geworden ist und überhaupt zur Diskussion steht; anschließend wird nachgezeichnet, warum und in welcher Weise Lévinas’ alteritätsethischer Ansatz im Rahmen dieser Debatte geeignet und anschlussfähig ist; in einem dritten Unterkapitel werden schließlich die Ähnlichkeiten in der jeweiligen Zeitstruktur des Subjekt-Entwurfs bei Edelman und Lévinas herausgearbeitet, um die queere Subjektivität im Anschluss an Lévinas als eine ethische Subjektivität behaupten zu können.
Dieser zweite Teil der Arbeit sieht sich in besonderer Weise mit methodischen Schwierigkeiten konfrontiert: Während Edelman sich in seiner Arbeit zwischen Lacan’scher Psychoanalyse und film- und literaturwissenschaftlicher Theorie bewegt, lässt sich Lévinas’ Philosophie vorwiegend der Phänomenologie zuordnen. Das Vorhaben, zwischen beiden theoretischen Rahmen eine Verbindungslinie zu ziehen, muss notwendigerweise mit Einschränkungen erfolgen: Einiges an theoretischem Gehalt wird unbeachtet bleiben müssen, anderes wird leicht ‚überdehnt‘ werden, vieles lässt sich nur schwer in einen gemeinsamen Zusammenhang bringen; theoretisch, begrifflich und disziplinär muss die eine oder andere Kluft überbrückt werden. Der Dialog zwischen beiden Autoren soll hier dennoch stattfinden und wird ermöglicht anhand einer vergleichenden Gegenüberstellung vor dem Hintergrund der gemeinsamen zeittheoretischen Argumentationsweisen. Dabei werden Ähnlichkeiten und Unterschiede sowie die verschiedenen Interpretationsweisen in den jeweiligen Aussagen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Subjekt und Zeit einerseits und des Verhältnisses zwischen Zeit und Sozialität andererseits herausgearbeitet und erläutert. Auf diese Weise kann trotz der methodischen Divergenz eine sinnvolle Verbindungslinie gezogen und das genannte Desiderat produktiv adressiert werden.
Waldenfels & Därmann (1998): 7.
Lesch (1992): 9.
Gürtler (2001): 11.
Bertram (2006): 242.
Häufig werden dabei einzelne zeittheoretische Aspekte des Lévinas’schen Denkens aufgegriffen, um in einem übergeordneten Sinne bspw. theologische, feministische oder gesellschaftliche Fragen zu erörtern: Vgl. etwa Wenzler (1993b), Chanter (2001) oder Liebsch (2016).
Gürtler (2001).
Wenzler (1993b): 307.
So spricht etwa Burkhard Liebsch an unterschiedlichen Stellen von einem diesbezüglich nach wie vor aktuellen Desiderat: Liebsch (2010b): 9; Liebsch (2010a): 3, 10.
Darüber hinaus existieren einige Beträge, die das Thema in kürzeren Texten und geringerem Umfang behandeln, so etwa Krewani (1982), Wygoda (2006), Tauber (1998) oder auch – im französischsprachigen Raum – Olivier (1983).
So etwa Tina Chanter (2001), die das Zeit-Thema im Zusammenhang mit einer kritischen Untersuchung der Geschlechterdifferenz im Werk von Lévinas verbindet, oder Cynthia D. Coe (2018), die die Frage nach der Bedeutung des ‚Traumas‘ in der Lévinas’schen Philosophie in eine Beziehung zum Zeit-Thema stellt.
Hier können die zeitthematischen Arbeiten von Adonis Frangeskou (2017) (eine Gegenüberstellung zwischen Lévinas und Kant) und Robert Legros (2002) (eine Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen Lévinas und Husserl) erwähnt werden.
Wenzler (1993), Wenzler (1993b), Wenzler (1995), Wenzler (1998), Wenzler (2006).
Wenzler (1988).
Severson (2013): 303.
Wenzler (1993b): 307.
So fehlt bspw. eine nähere Auseinandersetzung mit dem Einfluss Paul Valérys oder Maurice Blanchots, die über eine periphere Erwähnung hinausginge.
Bersani (1996): 101.
Insbesondere Judith Butler spricht in ihren späteren Texten diesbezüglich häufig von dem (wenn auch nicht unkritisch oder naiv vorausgesetzten, so doch trotzdem gestellten) „Anspruch auf Gewaltlosigkeit“: Butler (2010): 153 ff. Hannelore Bublitz bezeichnet Butlers moralphilosophischen Ansatz in ihrer Einführung sogar als eine „Ethik der Gewaltlosigkeit“: Bublitz (2010): 132 f.
Die Frage der Ethik kann dabei als eine singuläre Problemstellung unter vielen gelten, die durch das Begriffs-Konzept aufgeworfen wird; ganz grundlegend ist und bleibt in Folge der doppeldeutigen Begriffs-Konzeption (wie sie ausführlich noch in Kapitel 4 erläutert wird) auch verhandelbar, was genau überhaupt mit dem Begriff zu bezeichnen ist: Ob er als ein Übergriff für verschiedene Weisen der nicht-heteronormativen Geschlechts- und Begehrensformen zu verstehen ist, oder ob er konsequent als eine definitorische ‚Leerstelle‘ zu begreifen ist, die darum auch nicht mehr als ein Übergriff für bestimmte Inhalte verwendet werden kann – diese Frage prägt und bestimmt in besonderer Weise das Theoriefeld der Queer Studies. So vielfältig wie die Antworten auf diese Frage bleiben, so verschieden und oft gegensätzlich gebären sich die unterschiedlichen Queer-Theorien. Das Forschungsfeld der Queer Studies lässt sich auch gerade darum nicht – vielleicht noch weniger als andere Theorie-Gebiete – homogenisieren.
Butler (2010): 13.
So lautet der Titel des Textes von Adorf & Brandes (2008).
So heißt es in dem Flyer zur internationalen Konferenz Queer again? Power, Politics and Ethics, die an der Humboldt Universität Berlin vom 23. bis zum 25.9.2010 stattfand: „Lee Edelman manoeuvred queer theory into a kind of aporia and thus deep crisis that persists to this day.“.
Nach eigener Übersetzung: O’Rourke (2013): xxi.