Games are explicitly designed to improve quality of life, to prevent suffering, and to create real, widespread happiness.
(Jane McGonigal)
Gamification is design that places most emphasis on the human motivation in the process. In essence it is human focused design.
(Yu-Kai Chou)
Erstmalig aufgetaucht ist der Begriff »Gamification« Anfang der 2000er Jahre. Eine größere Aufmerksamkeit erreichte das Phänomen jedoch erst rund 10 Jahre später (vgl. Deterding et al. 2011, S. 2; Werbach und Hunter 2012, S. 25). Wie ein Lauffeuer verbreitet sich seitdem die Idee, spielfremde Kontexte mit sogenannten Spielelementen anzureichen (vgl. Deterding et al. 2011, S. 2). Binnen kurzer Zeit entstand ein regelrechter Hype um diese neue und zudem spaßige Form der Verhaltensbeeinflussung, die sich ursprünglich erst einmal als »abgefahrene« Marketingstrategie präsentierte (vgl. Deterding et al. 2011). Es wurde prognostiziert, dass Gamification mehr sein werde als ein bloßes Marketing-Buzzword (vgl. Stampfl 2012). In zahlreichen Buchpublikationen, Zeitungsartikeln, Blogeinträgen5 und Innovationstalks6 wurde Gamification als universelle Heilsbringerin gefeiert und proklamiert, die »revolutionäre« Idee hinter Gamification (vgl. Werbach und Hunter 2012, S. 13) habe das Potenzial »viele verschiedene Bereiche unseres Lebens gehörig auf den Kopf [zu] stellen« (Stampfl 2012, S. 116).
Mittlerweile scheint es normal zu sein, gamifizierte Anwendungen und Systeme zu benutzen oder mit solchen konfrontiert zu werden: Gamification ist in der Normalität angekommen. Es ist nicht mehr nur ein technik- (und computer-)spieleaffines Klientel und eine Hand voll Zukunftsforscher*innen oder selbstberufener »Gamification-Gurus« (mit oftmals wirtschaftlichen Interessen),7 die der Gamification huldigen, über ihre Funktionsweise und Wirksamkeit schwadronieren und allerlei konkrete Möglichkeiten ersinnen, wie sämtliche alltägliche Aufgaben und Probleme aber auch komplexe gesellschaftliche Herausforderungen (z. B. der Kampf gegen Klimawandel und Weltarmut, vgl. McGonigal 2011) mittels Gamification »gelöst« werden könnten. Vielmehr scheint es nun schlichtweg der Fall zu sein, dass Menschen hierzulande in vielen Bereichen ihrer Lebensrealität mit gamifizierten Anwendungen und Systemen konfrontiert werden bzw. solche als Hilfsmittel gebrauchen, um bestimmte Ziele zu erreichen. Der Hype, so könnte man sagen, ist vorbei, Gamification ist angekommen.8
Sowohl in der Arbeitswelt als auch in der Freizeit können mittlerweile an diversen Stellen Punkte, Abzeichen und andere virtuelle Güter gesammelt, Levels aufgestiegen, sowie persönliche Herausforderungen definiert und gemeistert werden. Neben den Möglichkeiten die eigene Leistung bzw. das persönliche Abschneiden anhand dynamischer Leistungsgraphen, Rang- und Bestenlisten ansprechend visualisiert zu bekommen, Avatare zu trainieren und alltägliche Aufgaben mittels Narrativen fiktional aufzuwerten, zählen diese Aspekte zu den am weitesten verbreiteten, sogenannten Spielelementen, die im Rahmen von Gamification zum Einsatz kommen (vgl. Sailer 2016, S. 27 ff.). Verwendet werden diese nicht nur von Unternehmen, die sich davon wirtschaftliche Vorteile erhoffen – sei es intern, indem sie ihre Mitarbeiter*innen mittels Gamification zu einer gesteigerten Produktivität und mehr Leistungsbereitschaft bewegen wollen oder extern, indem sie Gamification als Strategie einsetzen, prospektive Kunden anzusprechen und/oder bestehende zu binden. Auch Regierungen sowie staatliche und quasi-staatliche Institutionen (gemeinnützige Nichtregierungsorganisationen, d. h. NGOs und dergleichen) beginnen mehr und mehr sich für Gamification zu interessieren und versuchen deren Potenzial für das Erreichen von »Gemeinwohlzielen« einzusetzen (vgl. Fleisch 2018). Zudem wird auch der individuelle bzw. eigenmächtige (siehe Kapitel 1.4) Gebrauch von Gamification immer populärer. Es existiert eine kaum mehr abzählbare Menge an gamifizierten Anwendungen und Systemen (hauptsächlich Smartphone- und Computer-Applikationen), die versprechen, ihre Nutzer*innen bei der Realisation diverser Projekte zu unterstützen (bspw. beim Abnehmen und regelmäßigen Sporttreiben. Weitere Beispiele auch für andere Anwendungsgebiete in Kapitel 1.1).9
Wie ist es dazu gekommen? Warum haben wir es bei Gamification mit einer Strategie der Verhaltensbeeinflussung zu tun, die von vielen so euphorisch aufgenommen und weitergetragen wurde und mittlerweile allgegenwärtig angewendet wird? Der Grund bzw. die »Wahrheit« liege auf der Hand, lässt die Gamification-Pionierin Jane McGonigal verlauten. Unsere Wirklichkeit sei in die Brüche gegangen, sie befriedige uns schlichtweg nicht mehr ausreichend, deswegen seien wir geneigt zu spielen:
The truth is this: in today’s society, computer and video games are fulfilling genuine human needs that the real world is currently unable to satisfy. […] Reality doesn’t motivate us effectively. Reality isn’t engineered to maximize potential. Reality wasn’t designed from the bottom up to make us happy. […] Reality, compared to games, is broken (McGonigal 2011, Einleitung).
McGonigal ist eine der schillerndsten Figuren in der Debatte um Gamification. Die amerikanische Game-Designerin und Zukunftsforscherin am Institute for the Future in Palo Alto10 ist Verfasserin des internationalen Bestsellers Reality Is Broken: Why Games Make Us Better and How They Can Change the World (2011), der eine der bekanntesten Lobschriften über Gamification darstellt.11 Wie der Titel schon andeutet, vertritt McGonigal in ihrem Buch die These, dass durch Spiele sowohl wir als auch der Zustand der Welt sich deutlich verbessern ließen und das zudem eine sehr befriedigende Angelegenheit darstelle, d. h. Spaß mache. Sie beginnt ihre Argumentation mit der Feststellung, dass unglaublich viele Menschen auf der Welt – über alle Länder, Altersstufen und Geschlechter hinweg – sehr viel Zeit Computer-, Video- und Smartphonespielen widmen: Insgesamt über 600 Millionen Menschen sind ihr zufolge als »active gamers« zu bezeichnen, was bedeutet, dass sie durchschnittlich 13 Stunden pro Woche mit dem Spielen der oben genannten Spiele verbringen.12 Den Spieleforscher Edward Castronova zitierend, spricht sie von einem Exodus to the Virtual World (Castronova 2007). Dieser Exodus läge ihrer Meinung nach darin begründet, dass die reale Welt nicht hinreichend in der Lage sei, genuine menschliche Bedürfnisse zu erfüllen. Spiele, insbesondere Computer- und Videospiele hingegen tun ihrer Meinung nach genau dies (siehe das obige Zitat). Spiele seien in der Regel so gestaltet, dass gewisse menschliche Bedürfnisse leichter und verstärkt befriedigt werden, als dies im gewöhnlichen Leben der Fall sei.13 Deswegen, so McGonigal, müsse die Wirklichkeit gegenüber Spielen als »zerbrochen« bezeichnet werden. Um nun den anhaltenden und, an einem gewissen Punkt fatalen Exodus in virtuelle Spielwelten zu vermeiden – irgendwann werden schlicht zu wenig Kapazitäten für lebensnotwendige Tätigkeiten zur Verfügung stehen –, schlägt McGonigal vor, das Wissen der Spieleentwickler*innen und der damit im Zusammenhang stehenden Wissenschaftsdisziplinen dafür zu gebrauchen, die Realität selbst in ein Spiel zu verwandeln, d. h. sie mit Spielen bzw. Aspekten von Spielen anzureichern:
Game developers know better than anyone else how to inspire extreme effort and reward hard work. They know how to facilitate cooperation and collaboration at previously unimaginable scales (McGonigal 2011, Einleitung).
In einer an die Bergpredigt erinnernde Manier beschreibt sie, wie sie sich eine umfassend gamifizierte Zukunft vorstellt:
I foresee games that make us wake up in the morning and feel thrilled to start our day. I foresee games that reduce our stress at work and dramatically increase our career satisfaction. I foresee games that fix our educational systems. I foresee games that treat depression, obesity, anxiety, and attention deficit disorder. I foresee games that help the elderly feel engaged and socially connected. I foresee games that raise rates of democratic participation. I foresee games that tackle global-scale problems like climate change and poverty. In short, I foresee games that augment our most essential human capabilities – to be happy, resilient, creative – and empower us to change the world in meaningful ways (McGonigal 2011, Einleitung).
Prima facie klingt dies erst einmal überaus verlockend, wie sich McGonigal unsere Zukunft vorstellt – geradezu paradiesisch: Um die Welt zu retten, müssen wir einfach nur spielen bzw. geeignete Spiele schaffen, durch deren Spielen wir dann ganz automatisch unser Wohlbefinden als auch die Welt in bedeutsamer Weise verbessern. Darüber hinaus, dass das Spielen gemeinhin als spaßige Angelegenheit empfunden wird und somit die Anreicherung spielfremder Kontexte mit sogenannten Spielelementen eine Steigerung des Spaßfaktors verheißt (vgl. Werbach und Hunter 2012, S. 36), wird das Spielen von McGonigal als überaus nützlich und von besonderer Bedeutung für die Belange der Menschheit ausgewiesen. Kein Wunder also, dass viele auf diesen Zug aufspringen und der Ansatz, Gamification in sämtlichen Lebensbereichen anzuwenden, immer populärer wird.
Dass dem Spiel eine zentrale Rolle in Bezug auf das Menschsein und unsere Kultur zugesprochen und ihm damit eine wichtige, positive Bedeutung zugestanden wird, ist keine neue Idee. Dessen sind sich McGonigal und viele andere Gamification-Propagator*innen durchaus bewusst.14 Selbst Immanuel Kant, der eher als spaßbefreiter Philosoph einzuordnen wäre, verknüpft das Spiel mit überaus positiven Attributen: Angesichts und nur angesichts des Schönen gerieten die menschlichen Erkenntniskräfte in ein freies Spiel, stellt er 1790 in seiner Kritik der Urteilskraft fest. Das Spiel, auch wenn Kant die Bezeichnung in diesem Zusammenhang, wie wir sehen werden, ausschließlich als Metapher gebraucht, wird begrifflich von ihm sowohl mit Schönheit als auch mit (einer bestimmten Art von) Freiheit verschmolzen (vgl. Kant 1974, § 9).15 Friedrich Schiller greift diesen Gedanken auf und denkt ihn weiter. Er befreit das Spiel von seiner lediglich metaphorischen Bedeutung und hebt es zum (bildungs-)philosophischen Prinzip empor:
[D]er Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt (Schiller 1993, S. 618).
Schiller zufolge sei das Spielen der Raum der Menschwerdung schlechthin, denn es ist »gerade das Spiel und nur das Spiel […], was ihn [den Menschen] vollständig« und zugleich frei und schön mache (Schiller 1993, S. 618). Alle Bildung ziele somit darauf ab, dem Menschen das Spielen beizubringen. Rund 150 Jahre später setzt der Kulturphilosoph Johan Huizinga dem Spiel ein weiteres wirkungsmächtiges Denkmal. Er betrachtet sämtliche Kulturen »sup specie ludi« und stellt fest: Das Spiel sei ein kulturelles Urphänomen, das sich nicht »verneinen« ließe (vgl. Huizinga 1997, S. 13) und proklamiert, es müsse »als eins der allerfundamentalsten geistigen Elemente des Lebens angesehen« werden (Huizinga 1997, S. 37). Das Spiel sei, seinen Erkenntnissen zufolge, nicht nur in sämtlichen Kulturen präsent, sondern es stelle die Grundlage bzw. den Ursprung aller Kultur(en) dar. Der Mensch sei also von Kultur aus eine Spieler*in, d. h. ein Homo ludens.16
Haben wir mit Gamification nun »endlich« eine Strategie gefunden, wie wir dem Menschsein bzw. der menschlichen Natur als Homo ludens nicht nur in der begrenzten Sphäre des Spiels, sondern im Alltag gerecht werden können? Und das selbst in unserer gegenwärtigen Verwertungs- und Optimierungsgesellschaft, in der die kapitalistische Leistungslogik sich bereits in die letzten Winkel menschlichen und zwischenmenschlichen Handelns eingenistet zu haben scheint? So könnte man meinen, wenn wir Aussagen von Gamification-Propagierenden wie diesen Glauben schenken:
Schillers berühmte Feststellung, der Mensch sei »nur da ganz Mensch, wo er spielt«, erscheint in einer hochgradig vernetzten Welt aktueller denn je. Das alte Konzept des Homo oeconomicus ist schon heute obsolet – der Mensch von morgen ist ein Homo ludens, ein Spielwesen.17
Oder:
Vom Homo Ludens [sic!] zur Gamification: »Der Mensch ist nur ganz da Mensch, wo er spielt«, schrieb Friedrich Schiller und landet mit einer alten Erkenntnis mitten in der virtuellen Gegenwart: […] Heute wissen wir, dass die spielerische Aneignung von Inhalten nicht mit der Kindheit endet, sondern auch für den Lernerfolg von Erwachsenen von signifikanter Bedeutung ist; eine Erfahrung, aus der die Werbeindustrie das Konzept der Gamification abgeleitet hat, das aufgrund des Erfolges schnell von anderen Branchen, wie der Softwareindustrie, übernommen wurde.18
Doch stellt Gamification wirklich eine Umsetzung und Weiterentwicklung der Ideen Schillers und Huizingas dar? Kann Gamification wirklich als Befreiung des Menschen (im Schiller’schen Sinne) gewertet werden? Und kommt Gamification tatsächlich eine ähnliche kulturelle Bedeutung zu, wie sie Huizinga dem Spiel zuschreibt? Oder ist der Schulterschluss mit Schiller und Huizinga (und anderen berühmten »Spieltheoretiker*innen«) als Beitrag zur Mystifizierung einer sich doch eher als profan entpuppenden (und ganz im Sinne kapitalistischer Leistungslogik operierenden) Form der Verhaltensbeeinflussung zu werten, die allenfalls oberflächlich etwas mit dem Spiel gemein hat, aber weder eine Befreiung des Menschen noch seine kulturelle Weiterentwicklung impliziert?
Auch jenseits der, wie wir sehen werden, ambitionierten Spielverständnisse bei Schiller und Huizinga gilt es zu klären, inwiefern Gamification eine Betätigung evoziert, die auch nur Ansatzweise damit zu vergleichen ist, was es bedeutet bspw. ansprechende Computer- und Videospiele zu spielen. Oder haben wir es auch hier mit einer Mystifizierung zu tun? Müsste Gamification dann nicht gar als »Bullshit« bezeichnet werden, wie dies der Spiele-Entwickler und Gamification-Kritiker Ian Bogost bereits 2011 verlauten ließ?
[G]amification is marketing bullshit, invented by consultants as a means to capture the wild, coveted beast that is videogames and to domesticate it for use in the grey, hopeless wasteland of big business, where bullshit already reigns anyway (Bogost 2011a).
Gamification als Bullshit zu bezeichnen, lässt den Verdacht aufkommen, dass Gamification etwas mit Manipulation zu tun habe. Wird etwa nur aus rhetorischen Gründen so getan, als habe Gamification etwas mit dem Spiel gemein, um derart das Phänomen in ein positives Licht zu rücken und somit seine Popularität und Anwendungsrate zu erhöhen? Und handelt es sich bei Gamification nicht gar selbst um eine Manipulationsstrategie, die darin besteht, die Anziehungskraft von Spiel und Spaß gezielt zu nutzen, um Betroffene dazu zu manipulieren, bestimmte Dinge zu tun?
Kann es unter gewissen Umständen zwar ethisch gerechtfertigt sein, Menschen zu manipulieren, stellt dies doch in den meisten Fällen eine ethisch problematische Form der Einflussnahme dar. Als kritikwürdig ist ein Manipulationsvorhaben insbesondere dann einzustufen, wenn es die betroffene Person davon abhält, Autor*in ihres eigenen Lebens zu sein. Dies kann sich auf verschiedenen Ebenen äußern und die Autonomie einzelner Handlungen, aber auch die der Person als Ganzes betreffen. Um in diesem Punkt Klarheit zu schaffen, müssen wir genauer betrachten, inwiefern Gamification eine Manipulationsstrategie darstellt und unter welchen Bedingungen diese spezielle Form der Manipulation ethisch legitimiert werden kann. Es muss also geklärt werden, ob womöglich Gamification – komplementär zu Schillers Idee der Befreiung des Menschen durch das Spiel – nicht genau auf das Gegenteil hinausläuft, nämlich auf eine Einschränkung seiner Autonomie. Auch wenn Gamification unser Leben zwar spaßiger und angenehmer machen kann (und dies im Einzelfall uns nicht daran hindern mag, autonom zu handeln), birgt nicht insbesondere eine umfassende Verwendung von Strategien wie Gamification dennoch die Gefahr unserem Leben »ein bisschen von seinem Sinn [zu nehmen], sodass wir für die Launen und Anforderungen der conditio humana weniger gut gewappnet sind« (Morozov 2013, S. 567)? Gefährdet anstatt befördert also ein umfassender Gebrauch von Gamification nicht eher unsere Entwicklung hin zu freien, selbstreflexiven und individuellen Individuen, die in der Lage sind ein autonomes Leben zu führen?
Damit wäre umrissen, was es in dieser Arbeit auf den Prüfstand zu stellen gilt:
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Ist Gamification das, was es vor gibt zu sein? Was hat Gamification mit dem Spiel, insbesondere den ambitionierten Verständnissen des Spiels bei Schiller, Huizinga und weiteren Denker*innen zu tun, auf die in der Debatte um Gamification gerne – in positiver Hinsicht – Bezug genommen wird?
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Ist Gamification eine ethisch legitime Form der Verhaltensbeeinflussung? Haben wir es bei Gamification mit einer Manipulationsstrategie zu tun, deren Verwendung zwar unter gewissen Umständen ethisch gerechtfertigt werden kann, dennoch aber im Verdacht steht die Autonomie Betroffener in verschiedener Hinsicht zu beeinträchtigen?
Das sind die beiden Forschungsfragen, die im Folgenden angegangen werden. Um dies sinnvoll tun zu können, werde ich mich in Teil 1 zunächst detaillierter mit dem Phänomen Gamification beschäftigen. Nachdem ich in Kapitel 1.1 die Idee und den Facettenreichtum von Gamification anhand zahlreicher Beispiele dargestellt und illustriert habe, werde ich mich einer genaueren Wesensbestimmung zuwenden (Kapitel 1.2). Ausgehend von einer kritischen Diskussion der bekanntesten Versuche, das Wesen von Gamification zu bestimmen, werde ich Gamification folgendermaßen definieren: die strategische Verwendung sogenannter Spielelemente in spielfremden Kontexten mit dem Zweck so das Verhalten von Menschen in diesen Kontexten zu beeinflussen. Diese Wesensbestimmung erscheint mir in zweierlei Hinsicht vorteilhaft: Zum einen wird hier der instrumentelle Charakter von Gamification explizit betont. Dies ist wichtig, denn schließlich stellt Gamification eine Strategie der Verhaltensbeeinflussung dar: Es geht nicht darum, das Ausführen irgendwelcher Tätigkeiten einfach nur so spaßiger oder befriedigender zu machen, sondern darum, gezielt die motivierende Kraft sogenannter Spielelemente zu nutzen, um Betroffene dazu zu bewegen, bestimmte Dinge zu tun oder erwünschte Verhaltensweisen an den Tag zu legen. Zum anderen verringert sich die Gefahr, Gamification per Definition sozusagen zu immunisieren. Wird bspw. die Absicht, sogenannte spieltypische Erlebnisse bei den Betroffenen hervorrufen zu wollen, als wesentlicher Bestandteil von Gamification ausgewiesen, werden gehaltlose und ethisch bedenkliche Gamification-Ansätze von vornherein ausgeschlossen. Dies ist jedoch problematisch, da es sich hierbei nichtsdestotrotz um Instanzen der Verhaltensbeeinflussung handelt, die in Realität als Gamification bezeichnet werden und daher bei einer gehaltvollen ethischen Beurteilung des Phänomens nicht fehlen dürfen.
Im Anschluss an die Wesensbestimmung gilt es die verschiedenen, sich strukturell unterscheidenden Anwendungsformen von Gamification zu identifizieren (Kapitel 1.3). Gamification wird (aus der Perspektive der Betroffenen) sowohl fremdbestimmt eingesetzt oder eigenmächtig gebraucht. Hinsichtlich der mit der Verwendung von Gamification verfolgten Interessen kann der fremdbestimmte Einsatz zudem entweder als paternalistisch oder als ausbeuterisch bezeichnet werden. Ersteres ist der Fall, wenn Gamification zwar fremdbestimmt, aber zum (vermeintlichen) Wohle der Betroffenen eingesetzt wird. Als letzteres muss die Verwendung von Gamification bezeichnet werden, wenn es darum geht, Betroffene dazu zu motivieren Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die (eigentlich) nicht in ihrem Interesse sind. Der eigenmächtige Gebrauch hingegen existiert nur in einer Spielart, da es dabei darum geht gamifizierte Anwendungen und Systeme gezielt als Hilfsmittel zu nutzen, um bestimmte persönliche Projekte zu realisieren. Folglich liegt der eigenmächtige Gebrauch von Gamification notwendig im Interesse der Betroffenen. In der Praxis ist es jedoch mitunter schwierig zu beantworten, ob es sich tatsächlich um einen eigenmächtigen Gebrauch von Gamifcation handelt oder ob eine Person zwar eine gamifizierte Anwendung oder System von sich aus verwendet, der Einsatz aber eigentlich als fremdbestimmt zu deklarieren ist.
Nach der Unterscheidung der verschiedenen Anwendungsformen von Gamification, die hinsichtlich deren ethischer Legitimität eine wichtige Rolle spielt, werde ich mich in Kapitel 1.4 der psychologischen Wirkungskraft von Gamification zuwenden. Ausgehend von der Feststellung, Menschen spielten Spiele, weil es Spaß mache, werde ich zuerst der Frage nachgehen, was unter dem Empfinden von Spaß im Rahmen des Spielens von (insbesondere Video- und Computer-) Spielen zu verstehen ist. Die motivationale Anziehung von Spielen kann mittels der Selbstbestimmungstheorie der Motivation und den darin enthaltenen Konzepten der Befriedigung psychologischer Grundbedürfnisse (d. h. dem Erleben von Kompetenz, Autonomie und sozialer Eingebundenheit) und intrinsischer Motivation näher beleuchtet werden. Die Anziehungskraft von Spielen ist demnach darauf zurückzuführen, dass sie diese Grundbedürfnisse besonders gut befriedigen und daher Spieler*innen ein hohes Maß an intrinsischer Motivation aufweisen, die jeweiligen Spiele zu spielen. Dieses Erklärungsmuster lässt sich auf Gamification übertragen. Außerdem kann den verschiedenen zum Einsatz kommenden Spielelementen jeweils die Befriedigung unterschiedlicher Grundbedürfnisse zugeordnet werden. Es stellt sich jedoch die Frage, ob Gamification als Strategie begriffen werden kann, die ausschließlich die intrinsische Motivation Betroffener adressiert, oder ob wir es in bestimmten Fällen eher mit »klassischen« Anreiz- bzw. Belohnungssystemen zu tun haben, die extrinsisch motivierend wirken. Ist dies der Fall sind motivationale Unzulänglichkeiten, wie etwa der sogenannte Korrumpierungseffekt externer Anreize, auch im Rahmen von Gamification zu beachten.
Das Absolvieren der soeben aufgezählten Vorübungen erlaubt es, die oben ausgewiesenen Forschungsfragen ins Visier zu nehmen. In Teil 2 werde ich der Frage nachgehen, was Gamification eigentlich mit dem Spiel zu tun haben soll. Herauszufinden was das Spiel bzw. die Spiele auszeichnet ist, wie oben bereits angeklungen, kein einfaches Unterfangen. Aus diesem Grund bedarf es hier einer umfangreicheren Darstellung und Analyse. Sinnvoll erscheint mir diese auch, weil in der Diskussion um Gamification immer wieder auf zentrale Auseinandersetzungen mit dem Spielbegriff Bezug genommen wird, ohne hinreichend klarzustellen, was diejenigen Autor*innen jeweils unter dem Spiel eigentlich verstehen. Auch der ideengeschichtliche Kontext und die philosophischen Grundannahmen der verschiedenen Spieltheorien finden keine Berücksichtigung. Problematisch ist das insbesondere dahingehend, dass sich bspw. von Schiller und Huizinga zutage geförderter positiver Merkmale des Spiels explizit bedient wird, um damit für Gamification zu werben, ohne überhaupt hinreichend präzisiert zu haben, was denn Gamification eigentlich mit dem Spiel im Sinne Schillers oder Huizingas gemein habe. Um in diesem Punkt klärend auf die Gamification-Debatte einzuwirken und aufzuzeigen, dass es keines Falls einfach, geschweige denn klar sei, was ein Spiel ausmache, beginne ich den zweiten Teil (Kapitel 2.1) mit einer Diskussion von Ludwig Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen (1953) und seiner Feststellung, das Spiel stelle zwar einen Begriff dar, mit dem wir im Alltag gut umgehen können, der sich aber nicht eindeutig bestimmen lasse.
Nach einem kurzen Abriss über die Rolle des Spiels in verschiedenen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen seit der Antike werde ich vier wichtige Ansätze das Spiel zu betrachten exemplarisch darstellen (Kapitel 2.2). Hierbei handelt es sich nicht nur um an und für sich erhellende Beiträge im Zusammenhang einer Wesensbestimmung des Spiels, sondern auch um diejenigen Auseinandersetzungen mit dem Spiel, die in der Diskussion um Gamification zumeist zitiert werden. Beginnen werde ich mit der Ästhetisierung des Spielbegriffs, die von Immanuel Kant und Friedrich Schiller Ende des 18. Jahrhunderts vollzogen wurde. Wie bereits erwähnt, ist es Schiller in Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795), der in Inspiration und zugleich in Abgrenzung von Kant das Spiel (als reale Tätigkeit) mit Schönheit und Freiheit identifiziert und es dadurch zum Ort der Menschwerdung schlechthin emporhebt. Eine derartige Aufwertung des Spielbegriffs gab es bis zu diesem Zeitpunkt nicht. Diese hat jedoch auch ihren Preis, da sie mit einer gewissen Entfremdung einhergeht: Weder das Schiller’sche, noch das Kant’sche Spiel hat, wie wir sehen werden, etwas mit dem zu tun, was gemeinhin unter spielen verstanden wird. Nur bedingt anders ist dies, wie sich herausstellen wird, bei den zwei berühmten, kulturphilosophischen bzw. soziologischen Betrachtungen des Spiels, denen ich mich im Anschluss an Kant und Schiller zuwende. Zum einen fällt darunter Johan Huizingas bereits erwähntes Buch Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel (1938), in dem er das Spiel einer formalen Kennzeichnung unterzieht und es als kulturelles Urphänomen ausweist, das sämtliche Kulturen maßgeblich beeinflusst hat. Zum anderen werde ich anhand Roger Caillois’ gleichsam einflussreicher Klassifikation der Spiele in Les jeux et les hommes. Le masque et le vertige (1958) weitere Kennzeichen zutage fördern, anhand derer sich das Spiel bzw. die Spiele substantiell (also inhaltlich bzw. von der Art her) unterscheiden lassen. Danach werde ich auf Bernard Suits’ Auseinandersetzung mit dem Spielbegriff und insbesondere sein Buch The Grasshopper: Games, Life and Utopia (1978) zu sprechen kommen. Suits überaus lesenswerte Abhandlung unterscheidet sich radikal von den vorherigen, da der analytische Philosoph nicht das Spiel im Allgemeinen zu bestimmen versucht, sondern sich im Speziellen mit dem Spielespielen (game-play) beschäftigt. Da sich Suits an anderer Stelle (»Words on Play«) jedoch auch mit einer formalen Kennzeichnung des Spielens auseinandersetzt, stellt er einen geeigneten Startpunkt dar, der Frage nachzugehen, was eigentlich das Spielen simpliciter betrachtet mit dem Spielespielen oder gar den Spielen zu tun habe, d. h. was play, game-play und games voneinander unterscheidet bzw. miteinander verbindet.
Um diese Unterscheidung und warum diese für die Frage, was Gamification mit dem Spiel gemein hat, relevant ist, wird es in Kapitel 2.3 gehen. In einem ersten Schritt werde ich dort diskutieren, in welchem Zusammenhang die Begriffe games, game-play und play zueinander stehen. Im Rahmen dieser Arbeit werde ich drei Kennzeichen bestimmen, die das Spielen (also play) formal kennzeichnen: die Autotelie (d. h. Selbstzweckhaftigkeit), die Begrenzt- bzw. Abgesondertheit und die Freiwilligkeit. Gespielt werden kann zudem auf substantiell unterschiedliche Weise: Das freie Spiel (auch als play zu bezeichnen) unterscheidet sich vom Spielespielen (game-play) inhaltlich dahingehend, als dass ersteres ein regelloses und letzteres - geradezu konträr dazu - ein geregeltes Unterfangen darstellt. In Anknüpfung an Suits, der das game-play letztlich als Überwinden unnötiger Hindernisse begreift, wird sich herausstellen, dass dieses auch betrieben werden kann, ohne dass es sich dabei der Form nach um ein Spielen handelt – eben weil etwa das professionelle game-play u. a. nur bedingt eine autotelische Betätigung darstellt. Nach dieser latent verwirrenden terminologischen Vorübung (aufgrund der Vielschichtigkeit des Spielbegriffs, scheint es kaum möglich etwas über das Spiel zu sagen ohne das Gesagte im Anschluss wieder einschränken zu müssen), werde ich das Phänomen Gamification in zweierlei Hinsicht demystifizieren. Zum einen gilt es aufzuzeigen, dass Gamification keine Betätigung evoziert, die der Form nach etwas mit dem Spielen zu tun hat. Ganz im Gegenteil steht die Idee hinter Gamification diametral der des Spielens entgegen: Selbst wenn die Verwendung gamifizierter Anwendungen und Systeme freiwillig erfolgt (was zwar möglich, aber dennoch nicht notwendig der Fall ist), haben wir es mit einer Verzwecklichung und Vermischung des Spiels mit dem gewöhnlichen Leben zu tun, die den formalen Kennzeichen des Spielens (eben Zwecklosigkeit und Abgesondertheit vom gewöhnlichen Leben) entgegensteht. Zum anderen wird sich herausstellen, dass durch Gamification (in der Regel) auch kein game-play (im Suits’schen Sinne) evoziert wird. Gamifizierte Anwendungen oder Systeme zu verwenden, hat (meist) nicht zur Folge, dass eine dadurch gamifizierte Tätigkeit herausfordernder bzw. (in einem angemessenen Rahmen) schwieriger wird. Die im Rahmen von Gamification am häufigsten verwendeten, sogenannten Spielelemente schaffen nämlich keine unnötigen Hindernisse, die es zu überwinden gilt (was wiederum das game-play Suits zufolge im Kern auszeichnet). Vielmehr haben wir es bei Punkten, Abzeichen, Ranglisten und dergleichen sowie den meisten anderen, sogenannten Spielelementen mit sekundären Aspekten von Spielen (genauer einer bestimmten Klasse von Spielen, nämlich agonalen Spielen) zu tun, die zwar beim game-play eine Rolle spielen selbst aber kein game-play hervorrufen bzw. konstituieren. Diese doppelte Demystifizierung ist deshalb von Bedeutung, weil all denjenigen, die Gamification undifferenziert mit dem Spiel im Sinne Schillers, Huizingas oder Caillois’ (die in erster Linie das Spielen aufgrund seiner formalen Kennzeichnen als wertvoll deklarieren) oder dem Spielespielen gemäß Suits in Verbindung bringen, ein Etikettenschwindel vorgeworfen werden muss, der von normativer Relevanz ist: Gamification wird zu etwas emporgehoben (d. h. normativ aufgewertet), das es bei Weitem nicht zu sein scheint.
Abschließen werde ich den zweiten Teil mit dem Versuch, Gamification von zwei weiteren Strategien der Instrumentalisierung des Spiels abzugrenzen (Kapitel 2.4). So werde ich aufzeigen, was Gamification von Playification unterscheidet und diskutieren in welchem Zusammenhang Gamification zu sogenannten Serious Games steht und inwiefern auch komplette Spiele und nicht nur einzelne Spielelemente im Rahmen von Gamification eingesetzt werden können.
Mit einem hinreichend geschärften Bild dessen, was Gamification auszeichnet, werde ich mich in Teil 3 der zweiten, oben definierten Forschungsfrage, wie sich die Verwendung von Gamification auf die Freiheit bzw. Autonomie Betroffener auswirkt, zuwenden und eine Grundlegung einer Ethik von Gamification wagen. Beginnen werde ich damit, Gamification als Manipulationsstrategie auszuweisen und zu erörtern welche ethischen Anforderungen sich daraus an die Verwendung von Gamification ergeben (Kapitel 3.1). Gemäß Alexander Fischers Auffassung von Manipulation als gezielte Veränderung der affektiven Anziehungskraft von Zwecken, stellt Gamification offenkundig eine Manipulationsstrategie dar, weil die Implementierung sogenannter Spielelemente genau das bezwecken soll: Unabhängig davon ob nun Gamification intrinsisch oder extrinsisch motivierend wirken soll, geht es darum, bestimmte Tätigkeiten oder Verhaltensweisen den Betroffenen spaßiger oder befriedigender, d. h. angenehmer erscheinen zu lassen. Mittels Gamification werden Betroffene folglich weder rational überzeugt noch gezwungen, etwas Bestimmtes zu tun. Vielmehr wird ihnen eben auf manipulative Art und Weise entsprechendes Verhalten nahegelegt. Hinsichtlich des ethischen Status, der Manipulation zugeschrieben werden sollte, scheiden sich die Geister. Im Rahmen dieser Arbeit will ich mich der Meinung anschließen, dass Manipulation zwar nicht immer, aber aus unterschiedlichen Gründen dennoch oftmals ethisch problematisch ist. Es müssen also spezifische, die genaue Situation der Anwendung sowie Art und Weise der Manipulation betreffende Bedingungen erfüllt sein, damit ein konkretes Manipulationsvorhaben als ethisch legitim zu betrachten ist. Diese Bedingungen können anhand des folgenden Fragenkatalogs konkretisiert werden: Eine Manipulation muss transparent gehandhabt werden (1), darf keine Schädigung Betroffener nach sich ziehen (2) und weder deren Handlungsautonomie (3) noch deren personale Autonomie kurz- oder langfristig einschränken (4), um als ethisch legitim eingestuft werden zu können.
Um nun den ethischen Status von Gamification (als eine bestimmte Form von Manipulation) zu beurteilen, soll es im Verlauf des dritten Teils darum gehen, diesen Fragenkatalog auf Gamification zu übertragen und zu diskutieren, was genau der Fall sein muss, damit die soeben aufgezählten Bedingungen erfüllt sind. In einem ersten Schritt werde ich unter Rückgriff auf die Prinzipienethik die Fragen 1–3 ins Visier nehmen und mit ihr die Grundvoraussetzungen für eine ethisch legitime Verwendungsweise von Gamification ausbuchstabieren (Kapitel 3.2). Demnach erweist sich der Einsatz gamifizierter Anwendungen und Systeme bereits für sich genommen (d. h. einzeln betrachtet) als ethisch problematisch, wenn dieser (1) intransparent und/oder unfreiwillig erfolgt, d. h. die betroffene Person keine Informierte Einwilligung erteilt hat (fremdbestimmter Einsatz) bzw. Gamification nicht informiert gebraucht (eigenmächtiger Gebrauch); (2) er direkt oder indirekt den Betroffenen in irgendeiner Form Schaden zufügt; oder (3) innerhalb der gamifizierten Anwendungen oder Systeme Spielelemente verwendet werden, von denen ein kontrollierender Einfluss ausgeht, der autonomes Handeln verhindert (also z. B. wenn Süchte oder starke negative Emotionen getriggert werden oder schlichtweg Betroffene zu stark abgelenkt werden, sodass sie keine rationalen Entscheidungen mehr treffen können). Es wird sich zeigen, dass insbesondere der Forderung nach Herstellung von Transparenz (u. a. hinsichtlich des Zwecks und anderweitigen wesentlichen Konsequenzen der Verwendung von Gamification sowie den damit verknüpften Interessen) eine zentrale Rolle zukommt und dieser Forderung nicht nur diejenigen nachkommen müssen, die Gamification anwenden, sondern auch diejenigen, die gamifizierte Technologien bereitstellen.
In einem zweiten Schritt werde ich mich der vierten Frage bzgl. der ethischen Legitimität von Manipulation im Allgemeinen und Gamification im Speziellen zuwenden (Kapitel 3.3 und 3.4). Es wird sich zeigen, dass insbesondere eine umfassende Verwendung von Gamification die Gefahr birgt, die personale Autonomie Betroffener zu beeinträchtigen. Und zwar selbst dann, wenn die Grundvoraussetzungen für deren ethisch legitime Verwendungsweise (jeweils) beachtet werden. Um als Autor*in des eigenen Lebens zu gelten, muss eine Person zentrale rationale Fähigkeiten besitzen, diese anwenden und so ein hinreichendes Maß an Selbstkenntnis entwickeln und sich proaktiv selbst gestalten.19 Bei einer umfassend gamifizierten Person besteht jedoch das Problem, dass sie sich sowohl normativ als auch rational von sich selbst zu entfremden droht. Eine normativ entfremdete Person hat den normativen Bezug zu ihren Handlungen und die motivationale Relevanz der Werte und Gründe, die eigentlich hinter ihrem Handeln stehen, zu dem sie mittels gamifizierter Anwendungen und Systeme motiviert wird, aus den Augen verloren. Hierfür kann die Gamification innewohnende Hedonisierung von Aufgaben und Tätigkeiten verantwortlich gemacht werden. Führt eine gamifizierte Person bestimmte Tätigkeiten nur noch aus, weil sie dafür Punkte, Abzeichen und dergleichen bekommt oder weil es sich angenehm anfühlt oder Spaß macht dies zu tun, handelt sie normativ entfremdet. Blick sie ex post auf ihr Handeln zurück, kann der Fall eintreten, dass sie sich als fragmentierte Person wahrnimmt, die sich inkonsistent verhält, weil sie bestimmte Dinge nur dann tut, wenn sie sich in den Fängen gamifizierter Anwendungen und Systeme befindet. Dies kann in einer gestörten Selbstwahrnehmung resultieren und Betroffene davon abhalten Selbstkenntnis darüber zu erlangen, was sie im tiefsten Inneren eigentlich antreibt. Dies zu wissen stellt jedoch eine zentrale Voraussetzung personaler Autonomie dar.
Unter einer andauernden Beeinflussung gamifizierter Anwendungen und Systeme zu stehen, birgt zudem die Gefahr, den Bezug zu den eigenen rationalen Fähigkeiten zu verlieren, d. h. sich rational zu entfremden. Umfassend gamifzierte Personen werden nicht dazu animiert, selbst darüber nachzudenken, was sie eigentlich wollen oder für wünschenswert erachten und wie sie sich dementsprechend verhalten können. Vielmehr werden sie dazu programmiert, auf festgelegte Art und Weise das zu tun, was andere für wichtig oder richtig halten. Die Programmierung bzw. Algorithmisierung menschlichen Verhaltens im Rahmen von Gamification kann als Ursache für rationale Entfremdung identifiziert werden. Ständig damit beschäftigt zu sein, präsentierte Probleme auf vorbestimmte Art und Weise zu lösen, hält Betroffene davon ab sich selbst Gedanken darüber zu machen, was sie eigentlich wünschen, tun wollen oder für erstrebenswert halten. Sie sind nicht mehr in der Lage ein hinreichendes Maß an Selbstreflexion aufzubringen, um ein eigenes, individuelles Selbstverständnis zu entwickeln. Außerdem rückt auch die Relevanz und Notwendigkeit Fähigkeiten wie Willensstärke und Selbstkontrolle zu kultivieren in den Hintergrund. Anstatt aus eigener Kraft heraus eigene Projekte zu realisieren oder selbstgewählte Pläne in die Tat umzusetzen, gewöhnen sich umfassend gamifizierte Personen daran, andauernd mit angenehmen motivationalen Reizen versorgt zu werden. Es ist zu befürchten, dass sie eine motivationale Abhängigkeit von den gamifizierten Anwendungen und Systemen entwickeln, die sie tagtäglich begleiten und dass sie die Tendenz aufweisen, sich zu gleichgeschalteten und infantilisierten Individuen zu entwickeln. Sie geben die Gestaltung ihres Lebens freiwillig an gamifizierte Anwendungen und Systeme ab, die ihr Agieren auf vorgezeichnete Bahnen lenkt, was einer proaktiven und individuellen Selbstgestaltung entgegensteht und eine Beeinträchtigung ihrer personalen Autonomie darstellt. Wie wir in Teil 3 sehen werden, ist zu befürchten, dass eine umfassende Verwendung von Gamification in toto betrachtet eine ethisch problematische Form der Einflussnahme darstellt und zwar selbst dann, wenn die einzelnen gamifizierten Anwendungen und Systeme jeweils die Grundvoraussetzungen für deren legitime Verwendungsweise erfüllen.
Insgesamt soll diese Abhandlung darauf abzielen, die Leser*innen zu sensibilisieren, dass Gamification nicht unbedarft als universelle Heilsbringerin sondern als Manipulationsstrategie aufzufassen ist, die aus verschiedenen Gründen durchaus ethisch problematisch sein kann. Wie bei technischer Innovation im Allgemeinen und bspw. der Digitalisierung im Speziellen haben wir es bei Gamification mit einer Form der Beeinflussung zu tun, die ihre positiven und negativen Seiten hat und »es von den konkreten Formen ihrer Nutzung abhängt, ob diese menschenfreundlich oder feindlich ist« (Nida-Rümelin und Weidenfeld 2018, S. 205). Entgegen McGonigals Behauptung, mit Gamification ließen sich sämtliche persönlichen und gesellschaftlichen Probleme mit spielerischer Leichtigkeit in den Griff bekommen, besteht der Verdacht, dass durch die Verwendung von Gamification neue persönliche und gesellschaftliche Probleme geschaffen werden, insbesondere (wenn auch nicht ausschließlich) wenn wir es mit einem umfassenden Einsatz an sich schon problematischer Instanzen von Gamification zu tun haben. Um sicherzustellen, dass Gamification tatsächlich eine Bereicherung für die Menschheit darstellt, müssen also erstens gewisse Grundvoraussetzungen eingehalten werden und zweites darf sie nur partiell und eben nicht allumfassend zum Einsatz kommen.
Zu den einschlägigen Buchpublikationen zählen Jane McGonigals Reality Is Broken: Why Games Make Us Better and How They Can Change the (McGonigal 2011), Kevin Werbachs und Dan Hunters For the Win. How Game Thinking Can Revolutionize Your Business (Werbach und Hunter 2012) Gabe Zichermanns und Joselin Linders The Gamification Revolution. How Leaders Leverage Game Mechanics to Crush the Competition (Zichermann und Linder 2013), Rajat Paharias Loyality 3.0. How to Revolutionize Customer and Employee Engagement With Big Data and Gamification (Paharia 2013) und Brian Burkes Gamify: How Gamification Motivates People to Do Extraordinary Things (Burke 2014). Zentrale Blogs zum Thema sind etwa https://gamified.uk und https://yukaichou.com (abgerufen am 01.12.18). Weitere Blogs, die einzelnen relevanten Blogeinträge und die einschlägigen Zeitungsartikel ausfindig zu machen, überlasse ich den Recherchefähigkeiten der Leser*in.
Siehe z. B. die TED-Talks (siehe https://www.ted.com, TED steht für Technology, Entertainment, Design) und Google-Tech-Talks (siehe http://googletechtalks.net) von Gamification-Pionier*innen Jane McGonigal (»Gaming can make a better world« 2010, siehe https://youtu.be/dE1DuBesGYM), Gabe Zichermann (»Fun is the Future: Mastering Gamification« 2010, siehe https://youtu.be/6O1gNVeaE4g) und Yu-kai Chou (»Gamification to improve our world« 2014, siehe https://youtu.be/v5Qjuegtiyc, abgerufen am 28.11.18).
Viele der einschlägigen Buchpublikationen stammen von Autor*innen (siehe Fußnote 5), die zugleich mehr oder weniger in Unternehmensberatungen oder anderweitige Agenturen involviert sind, die Gamification-Ansätze entwickeln und verkaufen. Zichermann z. B. ist CEO von Dopamine (http://dopa.mn/) und Paharia der Gründer von Bunchball (https://bunchball.com/, beides abgerufen am 01.12.18). Sowohl Dopamine als auch Bunchball stellen zwei Agenturen dar, die maßgeschneiderte Gamification-Lösungen für Unternehmen anbieten.
Vgl. auch https://gamified.uk/2015/08/21/the-hype-is-over-gamification-is-here-to-stay (abgerufen am 28.11.18).
An zahlreichen Stellen wird im Zusammenhang von Gamification von einem milliardenschweren Markt gesprochen (z. B. Deterding und Walz 2015; Mora et al. 2015; Fleisch 2018). In zu Beginn der 2010er Jahre veröffentlichten Prognosen bekannter Marktanalyseunternehmen sollte sich der Marktwert von Gamification bis 2016 auf ungefähr 1,5-3 Milliarden und bis 2018 auf ca. 5 Milliarden US-Dollar belaufen (vgl. Fuchs 2014, S. 119). Mittlerweile (2018) wird davon ausgegangen, dass im Jahre 2020 Gamification eine Marktgröße von über 11 Milliarden US-Dollar erreichen wird (vgl. https://marketsandmarkets.com/Market-Reports/gamification-market-991, abgerufen am 03.12.18).
Siehe http://iftf.org/janemcgonigal (abgerufen am 01.12.18).
Auch wenn McGonigal den Begriff »Gamification« in ihrem Buch nicht verwendet und sich sogar öffentlich von diesem distanziert hat (siehe http://nyti.ms/1BcAeft, abgerufen am 28.11.18), gehört sie dennoch zu den lautesten Fürsprecher*innen der grundlegenden Idee, die hinter Gamification steht und hat maßgeblich zu deren Popularität beigetragen.
Darüber hinaus gebe es über 20 Millionen Spieler*innen, die mehr als 20 Stunden wöchentlich Video- und Computerspiele spielen. Zudem zitiert McGonigal Studien, denen zufolge eine durchschnittliche Spieler*in in den USA 35 Jahre alt sei, Frauen ungefähr genauso häufig Video-, Computer- und Smartphone-Spiele spielen wie Männer und es daher keineswegs eben nur puerile, männliche Jugendliche seien, die in den Bann dieser Spiele gezogen würden (vgl. McGonigal 2011, Einleitung).
Dass Computer- und Videospiele genuine menschliche Bedürfnisse befriedigen, die in der realen Welt aktuell gar nicht erfüllt werden (wie das McGonigal im obigen Zitat formuliert), stellt m. E. eine deutlich überzogene These dar, die weder an dieser Stelle noch im Verlauf von Reality Is Broken näher begründet wird. In Kapitel 1.4 werde ich genauer erörtern, ob und inwiefern Spiele gewisse menschliche Bedürfnisse besonders gut erfüllen.
Wie im Folgenden angedeutet und in Teil 2 ausgearbeitet, beziehen sich sowohl viele Gamification-Gurus (z. B. McGonigal) und Gamification-Forscher*innen (z. B. Kevin Werbach) als auch diverse Beratungsagenturen, die Gamification-Lösungen anbieten, auf die herausragende Bedeutung des Spiels für die Gattung Mensch, die ihm namenhafte Denker*innen, wie Friedrich Schiller und Johan Huizinga zugesprochen haben.
Natürlich ist hier nicht »moralische« Freiheit bzw. Autonomie gemeint. Siehe dazu Kapitel 2.2.
Neben Schiller und Huizinga gibt es zwei weitere, im Rahmen von Gamification oft zitierte Autoren, die sich intensiv mit dem Wesen und dem Wert des Spielens auseinandergesetzt haben: Roger Caillois und Bernard Suits. Auf deren Spieltheorien werde ich im zweiten Teil auch zu sprechen kommen.
Siehe https://zukunftsinstitut.de/artikel/playful-business/ (abgerufen am 12.11.18).
Siehe https://hirschtec.eu/vom-homo-ludens-zur-gamification/ (abgerufen am 12.11.18).
Was wir genau unter personaler Autonomie zu verstehen haben, wird in der Philosophie seit ihren Anfängen ausgiebig diskutiert. Worauf sich dieses Konzept im Rahmen dieser Arbeit beziehen soll und inwiefern sich etwa die Autonomie einer Person von der einer Handlung unterscheidet, werde ich im Abschnitt »Exkurs: Freiheit und Autonomie« in Kapitel 3.1 eingehen.