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Ina Herbst
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Einleitung

Demenzielle Erkrankungen sind in der Öffentlichkeit und in den Medien sehr präsent. Sicherlich gibt es kaum jemanden, die oder der noch nicht von einer Demenzerkrankung in der Familie oder im Freundeskreis gehört hat. Sehr viele Menschen in der Lebensmitte sind durch die Erkrankung ihrer Eltern direkt betroffen. Der öffentlich gemachte Fall des Schriftstellers Walter Jens hat ein Übriges dazu getan, in der Bevölkerung ein Bewusstsein für die Krankheit zu schaffen, und inzwischen gibt es zahlreiche Erfahrungsberichte Angehöriger.1 Auch im Film wird das Thema behandelt, z. B. in Still Alice,2 der auf dem gleichnamigen Roman der Neurologin Lisa Genova beruht.3 Tageszeitungen, Zeitschriften, Internetseiten und ähnliche Medien geben mittlerweile Hinweise zum Erkennen der Erkrankung, zum Umgang mit Erkrankten oder sogar Tipps, wie sich eine Erkrankung vermeiden lässt. Es gibt Selbsthilfegruppen für Angehörige, auf Demenzerkrankte spezialisierte Pflegeheime oder ganze Demenzdörfer und spezielle emotionale Robotik wie z. B. die Robbe Paro.4

Der Schwerpunkt der aktuellen medizinethischen Diskussion liegt auf den späten Stadien der Erkrankung, in denen die Betroffenen extrem vergesslich sind, auch nahe Angehörige nicht mehr erkennen und zeitlich oder örtlich in ihrer ganz eigenen Welt leben. Hier stehen Pflege und Betreuung der Betroffenen im Vordergrund. Zusätzlich kann sich die Frage stellen, ob einer in gesunden Tagen erlassenen Verfügung der Erkrankten auch dann Folge zu leisten ist, wenn sich die Verfügungsgeber nicht mehr an ihren Inhalt erinnern und das Verfügte ihrer aktuellen Situation der Betroffenen zu widersprechen scheint.5

Die frühen Krankheitsstadien werden dagegen innerhalb der Medizinethik kaum thematisiert, obwohl sich in diesem Zeitraum ebenfalls ethische Probleme ergeben können, die allerdings anders gelagert sind als in der späten Phase der Demenz. Bei Bestehen eines Verdachts auf Demenz oder zu Beginn einer dementiellen Erkrankung weigern sich die Betroffenen häufig, vorhandene Krankheitsanzeichen überhaupt anzuerkennen, und verwenden stattdessen ihre Energie darauf, diese zu verbergen und alternative Erklärungen dafür zu finden. Angehörige, die auf medizinische Klärung drängen oder darauf, dass sich die betroffene Person den Veränderungen stellt und ihr Verhalten daran ausrichtet, geraten möglicherweise in Streit mit den Betroffenen, wodurch sich die Möglichkeiten zur Unterstützung und die Stimmung innerhalb der Familie erheblich verschlechtern können. Natürlich, so könnte man sagen, geht der jeweilige Umgang mit der eigenen Krankheit oder mit Veränderungen der eigenen Gesundheit doch vor allem die Betroffenen etwas an; sie selbst müssen die Krankheit aushalten und es ist vor allem ihre Sache, wie sie sich dazu stellen und mit wem sie darüber sprechen. Andererseits tragen häufig auch Angehörige einen großen Teil der Last, weil sie ebenfalls mit den Veränderungen umgehen müssen und in der Regel diejenigen sind, die später für die Betroffenen entscheiden und die entsprechenden Lebens- und Pflegebedingungen schaffen müssen. Deswegen wünschen sich viele Angehörige Offenheit der Betroffenen und Gespräche mit ihnen, während viele Betroffene dies verweigern und sich stattdessen darum bemühen, kognitive Probleme zu überspielen oder jeweils situativ zu erklären. Wer sich so verhält, steckt sozusagen den Kopf in den Sand und kümmert sich nicht um Angelegenheiten, die mit Befürchtungen oder Ängsten einhergehen. Die betreffende Person möchte etwas nicht wissen und verlangt von Anderen, dass sie diesen Wunsch akzeptieren und sich entsprechend verhalten. Anders ausgedrückt, kann man sagen, dass die betreffende Person ein Recht auf Nichtwissen geltend macht.

Das Recht auf Nichtwissen wird in der Medizinethik vor allem im Zusammenhang mit Genkrankheiten thematisiert. Einerseits verschafft Wissen über die eigene genetische Ausstattung die Möglichkeit der Vorsorge oder der Änderung der eigenen Lebensführung, andererseits kann manches Wissen auch eine Belastung sein, die man vermeiden möchte. Auch bei Verdacht auf Demenz und bei beginnenden dementiellen Erkrankungen lässt sich die Frage nach dem Recht auf Nichtwissen stellen. Hier geht es in der Regel (noch) nicht um Testergebnisse oder Diagnosen, sondern vor allem um den persönlichen Umgang des Betroffenen mit den dementiellen Veränderungen zu Beginn der Erkrankung. Haben Betroffene ein moralisches Recht auf Nichtwissen im Hinblick auf alles, was mit ihrer dementiellen Erkrankung zusammenhängt?

Man könnte diese Fragestellung auch anders verstehen. Ein Kennzeichen von Demenz ist, dass Betroffene bestimmte Sachverhalte, insbesondere neue Ereignisse und Gedächtnisinhalte, vergessen; in diesem Fall ist Vergessen die Ursache für Nichtwissen. Häufig glauben Angehörige, die oder der Betroffene strenge sich einfach nicht genug an, um Wichtiges im Gedächtnis zu behalten, und diese Ansicht kann dazu führen, dass man den Betroffenen bestimmte Dinge immer wieder mit einem gewissen Nachdruck mitteilt oder sie sogar dazu abfragt.6 Dieses Verhalten Angehöriger ist für Betroffene unangenehm und erzeugt sicher bei den meisten von ihnen Leid, weil es sie erst recht darauf aufmerksam macht, dass sie Gedächtnisfähigkeiten verloren haben. Insofern könnte man also das Recht auf Nichtwissen bei Demenz auch als Recht auf Vergessen-dürfen verstehen, oder als Recht darauf, zumindest nicht gegen die fortschreitenden Verschlechterungen des kognitiven Zustandes ankämpfen zu müssen. Abgesehen davon, dass nicht klar ist, ob sich der Krankheitsfortschritt überhaupt dadurch verlangsamen lässt, dass Betroffene gezielt dagegen ankämpfen, bin ich der Ansicht, dass niemand die Pflicht hat, gegen eine unvermeidlich fortschreitende, nicht therapierbare Krankheit Widerstand zu leisten.

Nichtwissen bei Demenz, so wie ich es hier verstehe, bezieht sich aber auf das moralische Recht auf Nichtwissen hinsichtlich der eigenen Symptome und gesundheitlichen Veränderungen. Gibt es ein solches Recht, und wie ist es zu begründen? Um diese Frage zu beantworten, werde ich zunächst auf Argumente eingehen, die für ein Recht auf Nichtwissen sprechen. Zu nennen sind die Autonomie der Betroffenen, ihr Anspruch auf Privatsphäre und ihr Anspruch darauf, ihre ganz eigene Haltung in Bezug auf die beginnende Krankheit einnehmen zu dürfen. All dies, so könnte man auf den ersten Blick sagen, spricht dafür, den Betroffenen ein Recht auf Nichtwissen zuzugestehen. Damit ist aber noch nicht berücksichtigt, dass die betroffene Person sich in der Regel in einem Umfeld von Familie und Freunden befindet, die einen Teil der Last tragen7 und deswegen miteinbezogen werden müssen, wenn es um das Recht auf Nichtwissen geht. Damit stellt sich zusätzlich die Frage, ob und auf welcher Basis ein Recht auf Nichtwissen abgewogen werden muss gegen die Interessen nahestehender Personen, oder anders ausgedrückt, ob es moralisch falsch sein könnte, das Recht auf Nichtwissen wahrzunehmen.

Damit ist der Rahmen für meine Fragestellung abgesteckt. Im Einzelnen werde ich wie folgt vorgehen. In Kapitel eins gebe ich einen Überblick über die medizinischen Fakten dementieller Erkrankungen sowie über ihre Diagnose und Therapie. Dabei konzentriere ich mich ausschließlich auf Alzheimer-Demenz, im Folgenden nur noch als Demenz bezeichnet. Ich verstehe Demenz als eigenes Krankheitsbild und nicht als eine Begleiterscheinung normalen Alterns. Demenzen werden in der Regel in drei (gelegentlich auch fünf) Krankheitsphasen eingeteilt, die sich jedoch nicht exakt voreinander abgrenzen lassen. Für meine Überlegungen zum Recht auf Nichtwissen beziehe ich mich ausschließlich auf die frühe Phase, da die Betroffenen in diesem Zeitraum einerseits noch relativ wenig durch die Krankheit eingeschränkt sind, sich ihnen aber andererseits die krankheitsbedingten Veränderungen durchaus bereits mitteilen. Zusätzlich beziehe ich die leichte kognitive Beeinträchtigung ein, da auch hier bereits Veränderungen feststellbar sind, andererseits Betroffene aber noch gut in der Lage sind, diese Veränderungen und ihre Bedeutung für sie selbst zu beurteilen.

Von einem Recht auf Nichtwissen wird, wie bereits oben erwähnt, vor allem im Zusammenhang mit Genkrankheiten gesprochen; in diesem Bereich ist es auch juridisch kodifiziert.8 Das Gesetz legt fest, dass die zu untersuchende Person explizit darauf hingewiesen werden muss, dass sie ein Recht auf Nichtwissen hat und das Recht, das Untersuchungsergebnis oder Teile davon vernichten zu lassen. Auf diese Weise kann die Person vermeiden, mit belastenden oder beängstigenden Ergebnissen konfrontiert zu werden; allerdings kann auch bereits das Wissen darüber, dass es etwas zu erfahren gibt, eine Belastung sein. In dieser Hinsicht ist ein Recht auf Nichtwissen paradox, denn um es überhaupt geltend machen zu können, benötigt man ein Vorwissen, das ebenfalls schon belastend sein kann.

Bei beginnender Demenz lässt sich nicht so eindeutig bestimmen, welches Wissen eine Person möglicherweise ablehnen könnte. Das liegt zum einen daran, dass die Diagnose einer beginnenden Demenz auf die Mitwirkung der Betroffenen und möglichst auch ihrer Angehörigen angewiesen ist, zum anderen aber auch daran, dass sich Wissen über krankheitsbedingte Veränderungen nicht nur im medizinischen Kontext, sondern vor allem im alltäglichen Leben der Betroffenen ergibt. Der Wunsch, etwas nicht wissen zu wollen, kann hier also in einer wesentlich größeren Anzahl von Lebenssituationen und gegenüber einer größeren Anzahl von Personen auftreten.

Im zweiten Kapitel werde ich zunächst die einzelnen Bestandteile des Rechts auf Nichtwissen betrachten. Das Recht ist hier als moralisches Recht zu verstehen, und ich werde kurz auf die Wirksamkeit moralischer Rechte eingehen. Anschließend betrachte ich in zwei Zwischenschritten erstens den Begriff des Wissens, da Nichtwissen ein Negationsbegriff von Wissen ist, und gehe zweitens darauf ein, was unter einem Recht auf Wissen verstanden werden kann. Wissen ist innerhalb der Erkenntnistheorie definiert als gerechtfertigte wahre Meinung9 oder Überzeugung, die man sich durch eigene kognitive Leistungen gebildet hat. Auf diese Art von Wissen lässt sich jedoch kein Recht geltend machen, sondern ein Recht auf Wissen muss verstanden werden als das Recht darauf, eine bestimmte Information zu erhalten. Im medizinischen Kontext handelt es sich bei diesen Informationen z. B. um Diagnosen, Testergebnisse, Behandlungsalternativen oder um Mitteilungen, dass bestimmte Untersuchungen ratsam wären.

Anschließend analysiere ich den Begriff des Nichtwissens, der auf verschiedene Weise verstanden werden kann, z. B. in dem Sinne, etwas nicht zu kennen, nicht zu können oder nicht zu wissen. Wenn eine Person etwas nicht weiß, dann kann es sein, dass sie überhaupt nicht weiß, dass es die betreffende Information gibt, oder dass sie zwar weiß, dass die Information zur Verfügung steht, sie aber den Gehalt nicht erfahren möchte. Gerade im Umgang mit unerfreulichen oder angstauslösenden Diagnosen scheint es aber noch einen Graubereich zu geben, der durch die Gegenüberstellung von Wissen und Nichtwissen nicht ausreichend erfasst wird. Wenn Patientinnen/Patienten eine beängstigende Diagnose erhalten haben, sind sie häufig anschließend trotzdem auf eine gewisse Weise uninformiert. Sie wissen zwar, was die Ärztin bzw. der Arzt ihnen gesagt hat, aber sie weichen dem Verstehen der Diagnose aus. Mit Verstehen ist nicht gemeint, dass die zu behandelnden Personen die Diagnose in ihren fachlichen Einzelheiten nachvollziehen oder sogar überprüfen können, sondern wenn sie die Diagnose verstehen, dann kennen sie den Krankheitsverlauf, der mit großer Wahrscheinlichkeit eintreten wird, und wissen um dessen Bedeutung für das eigene Leben. Um Verstehen muss man sich bemühen, doch diese Bemühungen kann man auch verweigern.

Auf Basis dieser Überlegungen kann Nichtwissen auf zwei unterschiedliche Weisen gegeben sein: erstens dadurch, dass die Kenntnisnahme bestimmter Informationen abgelehnt wird, und zweitens dadurch, dass absichtlich nicht die kognitiven Leistungen erbracht werden, die für ein Verständnis der Informationen notwendig wären. Ein Recht auf diese Verhaltensweisen kann auf Basis des Hohfeld-Schemas10 sowohl als Freiheitsrecht als auch als Anspruchsrecht verstanden werden. Das Freiheitsrecht verschafft der Person mit der Präferenz für Nichtwissen die freie Entscheidung darüber, welche Informationen sie zur Kenntnis nehmen möchte und mit welchen Informationen sie sich intensiver befasst. Weiterhin kann das Recht auf Nichtwissen auch ein Anspruchsrecht sein; eine Person, die ein solches Recht innehat, kann dann von Anderen verlangen, ihre Wissenspräferenz zu respektieren und sie nicht mit unerwünschten Informationen zu behelligen. Auf dieses Anspruchsrecht gehe ich im Kapitel über Privatsphäre ein.

Im dritten Kapitel befasse ich mich mit einem Einwand, der in Bezug auf ein Recht auf Nichtwissen geltend gemacht wird. Er lautet, dass absichtlich herbeigeführtes Nichtwissen die Autonomie der Person untergräbt. Ich argumentiere dafür, dass Nichtwissen in Bezug auf einen speziellen, mit Bedacht ausgewählten Sachverhalt, dessen Kenntnis für die betroffene Person stark angstauslösend wäre, ihre Autonomie nicht schwächt, sondern im Gegenteil dazu beitragen kann, dass sie in allen anderen Angelegenheiten ihre Autonomie stärkt, indem sie Ängste vermeidet, die sich möglicherweise lähmend auf sie auswirken könnten. Zur Autonomie einer Person gehört es auch, auszuwählen, was sie wissen möchte und womit sie sich befassen will. Da dementielle Erkrankungen jedoch nach und nach alle Lebensbereiche erfassen, prüfe ich, ob sich Nichtwissen über die Erkrankung im Laufe der Zeit zu einem globalen Autonomieverzicht ausweiten könnte und dann mit der Selbstbestimmung der Person nicht mehr zu vereinbaren wäre. Hier argumentiere ich dafür, dass nicht der Informationsverzicht, sondern das Fortschreiten der Krankheit die Autonomie der betroffenen Person beeinträchtigt, so dass sich auch aus der speziellen Verlaufsform dementieller Erkrankungen kein Argument gegen das Recht auf Nichtwissen ableiten lässt.

Im letzten Teil des dritten Kapitels erläutere ich, was bei beginnender Demenz jeweils als Wissen, Nichtwissen und Vorwissen gilt. Bei Demenz lassen sich Wissen und Vorwissen nicht exakt voneinander unterscheiden. Bereits das Vorwissen besteht hier aus von außen beobachtbaren Sachverhalten und der Eigenwahrnehmung des oder der Betroffenen und ist belastend. Wissen könnte dann z. B. durch einen Demenztest generiert werden, bei dem der oder die Betroffene mitwirken muss. Bei vielen Betroffenen kommt es aber gar nicht dazu. Nichtwissen bei Demenz besteht in solchen Fällen darin, eigene Beobachtungen oder Kommentare anderer Personen in Bezug auf die sich verschlechternden kognitiven Fähigkeiten nicht zur Kenntnis zu nehmen. Auch darauf kann eine Person mit Bezug auf ihre Autonomie ein Recht geltend machen.

Gegen dieses Verständnis eines Rechts auf Nichtwissen bei Demenz kann man einwenden, dass die Betroffenen möglicherweise gar nicht absichtlich auswählen, was sie nicht zur Kenntnis nehmen wollen, sondern dass sie einer Selbsttäuschung unterliegen könnten, die ihre Wahrnehmung beeinflusst. Die Kraft dieses Einwands hängt davon ab, wie das Phänomen der Selbsttäuschung erklärt wird und ob die jeweilige Erklärung sich auf das Verhalten anwenden lässt, das bei beginnender Demenz auftritt. Im vierten Kapitel gehe ich auf die beiden am meisten diskutierten Theorien von Selbsttäuschung ein, und zwar erstens auf die Theorie der Intentionalisten, die Selbsttäuschung als absichtliche Handlung analog zur Fremdtäuschung verstehen, und zweitens auf die Theorie der Nicht-Intentionalisten, der zufolge Personen aufgrund von Ängsten oder angstbesetzten Wünschen irgendwie in die Selbsttäuschung hineingeraten. Wenn auch die Benennungen der Theorien den Eindruck erwecken, es handele sich um konkurrierende Erklärungen für dasselbe Phänomen, scheint es auch angemessen zu sein, sie als Erklärungen für unterschiedliche Phänomene zu betrachten, die unter dem Oberbegriff der Selbsttäuschung zusammengefasst werden.

Intentionalisten11 verstehen Selbsttäuschung analog zur Fremdtäuschung. Problematisch an diesem Verständnis ist, dass eine Person, die sich selbst täuscht, dabei weiß, dass sie das tut, und sie weiß zugleich auch, dass sie von etwas Falschem überzeugt ist. Dieser paradoxe mentale Zustand ist deshalb möglich, weil Intentionalisten von einer Teilung des Geistes ausgehen, die die widersprüchlichen Überzeugungen voneinander trennt. Eine Person ist überzeugt, dass p, und sie ist überzeugt, dass nicht p, allerdings ist sie zu keinem Zeitpunkt davon überzeugt, dass (p & nicht p). Problematisch an der Anwendung dieser Theorie auf eine von beginnender Demenz betroffene Person ist, dass sie auch die unerwünschte Überzeugung ausbilden muss, dass sie an beginnender Demenz erkrankt ist, denn ohne diese Überzeugung hat sie keine Motivation dafür, die gegenteilige Überzeugung in sich wachzurufen. Dieses Verständnis von Selbsttäuschung scheint mir auf eine beginnende Demenz jedoch nicht zuzutreffen, denn hier versuchen Betroffene vor allem, sich möglichst nicht mit ihrer Situation zu befassen, so dass sie auch keine entsprechende Überzeugung ausbilden können.

Der Theorie der Nicht-Intentionalisten12 zufolge handeln Personen, die sich selbst täuschen, nicht absichtlich, sondern geraten durch Ängste oder Wünsche in die Selbsttäuschung hinein. Problematisch an der Anwendung dieser Theorie scheint mir, dass Betroffene zwar, durch entsprechende Ängste oder Wünsche beeinflusst, zu der Annahme kommen können, dass bei ihnen keine krankheitsbedingten Veränderungen vorliegen, dass sie aber diese Annahme ständig gegen anderslautende Überzeugungen nahestehender Personen verteidigen müssen. Es ist wenig wahrscheinlich, dass die Selbsttäuschung diesem Einfluss von außen standhalten kann.

Deswegen stelle ich eine dritte Theorie13 zur Erklärung von Selbsttäuschung vor, die das Phänomen als Sonderfall von Fremdtäuschung beschreibt, bei der die Täuschung Anderer über bestimmte Aspekte der eigenen Person erfolgt. Ziel dieser Täuschung ist es, bestimmte Themen oder Sachverhalte aus der Kommunikation mit Anderen auszuschließen, so dass eine sozusagen offizielle Kenntnisnahme des betreffenden Sachverhaltes vermieden werden kann.

Wenn eine Person etwas nicht zur Kenntnis nehmen will, dann kann es zu Konfrontationen mit den Personen in ihrer Umgebung kommen, wenn diese immer wieder auf den unerwünschten Punkt hinweisen oder Fragen dazu stellen. Im fünften Kapitel prüfe ich, ob Betroffene aufgrund der Norm der Privatsphäre einen Anspruch darauf haben könnten, dass Andere bestimmte Themen nicht ansprechen. Was als privat gilt, ist zunächst von der jeweiligen Gesellschaft und Kultur abhängig. Aber auch innerhalb einer Gesellschaft erscheint es schwierig, zu bestimmen, was genau in welchem Kontext als privat zu gelten hat. Dennoch ist es üblich und allgemein anerkannt, sich auf die eigene Privatsphäre zu berufen, wenn andere Personen einem zu nahe treten. Man könnte Privatsphäre als ein System von Konventionen verstehen, also als eine Art Regelsystem, von dessen Existenz eine ausreichend große Anzahl von Personen überzeugt ist und dessen Einhaltung durch Billigung oder Missbilligung entsprechenden Verhaltens aufrechterhalten wird.14 Nach diesem Verständnis mag es einen Kernbereich von Regeln geben, die sehr viele Personen akzeptieren und befolgen, aber in Randbereichen scheint unterbestimmt zu sein, wann und wodurch die Privatsphäre einer Person verletzt wird. So kann sie z. B. verletzt sein, wenn Informationen über eine Person bekannt werden, die sie für sich behalten möchte, aber eine Privatsphärenverletzung kann auch vorliegen, ohne dass dabei überhaupt eine neue Information bekannt wird.

Alternativ wird versucht, Privatsphäre über die Bedingungen zu bestimmen, die zu ihrer Wahrung notwendig sind. Ich gehe auf zwei Vorschläge aus diesem Bereich näher ein, zum einen auf den Vorschlag, dass Privatsphäre dann gegeben ist, wenn eine Person die Informationen über sich selbst kontrolliert,15 und zum anderen den Vorschlag, dass Privatsphäre voraussetzt, dass keine unveröffentlichten Informationen über eine Person öffentlich werden.16 Allerdings lassen sich auch bei diesen Lösungen genügend Situationen finden, die als privat gelten können, aber nicht erfasst werden. Die Kontrolle über eigene Angelegenheiten ist jedoch ein wichtiger Baustein der eigenen Privatsphäre.

Die Unbestimmtheit des Privatsphärebegriffs bildet den Ausgangspunkt für weitere Vorschläge, die gelegentlich unter dem Begriff der reduktiven (oder skeptischen) Theorien zusammengefasst werden. Eine bekannte Vertreterin dieser Richtung ist Thomson,17 die behauptet, das Interesse an Privatsphäre, ihr Wert oder das Recht darauf seien reduzierbar auf andere Interessen, Werte oder Rechte. Die Gegenposition dazu besteht darin, Privatsphäre als solche für wichtig und notwendig für das menschliche Zusammenleben zu halten. Für andere Autoreninnen/Autoren ist Privatsphäre notwendig für die Ermöglichung weiterer wichtiger Werte, wie z. B. die Gestaltung selektiver persönlicher Beziehungen (Rachels) oder den Schutz vor unerwünschten Reaktionen Anderer.18 Es trifft zwar zu, dass ohne Privatsphäre keine engen persönlichen Beziehungen möglich sind, andererseits ist aber auch innerhalb enger Beziehungen die Privatsphäre nicht aufgehoben. Was passiert, wenn eine Person aus dem Nahbereich hartnäckig Fragen zu einem Thema stellt, das für das Gegenüber privat bleiben soll? Dies ist genau die Situation, in der sich eine von Demenz im frühen Krankheitsstadium betroffene Person häufig befindet. Ist bereits durch das Fragen die Privatsphäre verletzt, also auch, ohne dass die gefragte Person eine Information preisgibt?

Bei der Beantwortung dieser Frage stütze ich mich besonders auf die Theorie von Rössler, da kommunikative Unterlassensansprüche im Rahmen des Rechts auf Privatsphäre hier besonders ausgearbeitet und begründet sind. Rössler versteht die Räume oder Bereiche, in denen Privatsphäre gilt, als konventionell definiert, aber mit einem normativen Sinn, der sich darin ausdrückt, dass sie die Autonomie von Personen schützen.19 Für meine Fragestellung ist besonders die sogenannte dezisionale Privatsphäre relevant, die die Entscheidungen von Personen vor der Einmischung Anderer schützt. Für Rössler ist ohne dezisionale Privatsphäre kein selbstbestimmtes Leben möglich, da Personen einen persönlichen Bereich benötigen, in dem sie von Einflüssen Anderer frei sind. Die Autonomie (im Sinne von praktischer Selbstbestimmung) einer betroffenen Person bezogen auf den Umgang mit den krankheitsbedingten Veränderungen könnte also Rösslers Theorie zufolge gefährdet sein, wenn Andere mit Fragen oder gutgemeinten Ratschlägen in ihren privaten Freiraum eindringen. Ich werde dafür argumentieren, dass durch Fragen und Kommentare zwar nicht die Autonomie der betroffenen Person verletzt ist, dass aber dennoch ein wunder Punkt berührt wird, der sich allerdings nicht durch Rückgriff auf die Verletzung der Privatsphäre erklären lässt. Auf diesen wunden Punkt gehe ich im sechsten Kapitel ein.

Unerwünschte Fragen und Kommentare könnten darauf hinweisen, dass die Betroffenen an einem nicht mehr zutreffenden Selbstbild festhalten. Nicht mit dem eigenen Selbstbild übereinzustimmen, kann eine Bedrohung für die Würde der betreffenden Person sein. Würde verstehe ich dabei nicht im Sinne des klassischen Menschenwürdebegriffs, sondern, einem Vorschlag von Weber-Guskar folgend, als eine bestimmte Haltung. Eine Haltung zu haben, bedeutet, den eigenen Emotions- und Handlungsdispositionen eine stabile Ausrichtung zu geben, mit sich selbst im Einklang zu sein und das auch nach außen zu zeigen. Für die Haltung der Würde ist es Weber-Guskar zufolge erforderlich, dass eine Person mit ihrem Selbstbild übereinstimmt.20 Kennzeichen dieser Übereinstimmung ist, dass das jeweilige Selbstbild intersubjektiv vermittelbar und in gewissem Grad auch an der Wirklichkeit überprüfbar sein muss. Jede gravierende Veränderung im Leben einer Person kann eine Herausforderung für die Übereinstimmung mit dem Selbstbild darstellen, und das Erreichen des vierten Lebensalters (ab ca. 85 Jahren) kann sich dabei als zusätzliche Schwierigkeit erweisen, da viele Personen es möglichst lange hinausschieben, die Veränderungen, die das hohe Alter mit sich bringt, zu akzeptieren. Häufig muss zusätzlich zu den Herausforderungen des hohen Alters auch der Beginn einer dementiellen Erkrankung bewältigt werden. In diesem Fall deuten Fragen und Kommentare der Angehörigen zur Erkrankung darauf hin, dass das Selbstbild der oder des Betroffenen nicht mehr zutrifft, und versetzen dadurch die Betroffenen in ein Dilemma: entweder geben sie etwas zu, was sie eigentlich für sich behalten möchten, oder sie geraten durch den aussichtslosen Kampf um Übereinstimmung mit dem unzutreffenden Selbstbild zunehmend in Situationen, in denen das geschieht, was sie eigentlich vermeiden wollen, dass nämlich ihre Probleme auf eine Weise offenbar werden, die ebenfalls ihre Würde bedrohen kann. Welchen Ausweg aus dem Dilemma sie wählen, hat aber nicht nur Einfluss auf ihre Würde, sondern auch auf die Beziehungen zu Personen, die ihnen nahestehen.

Nach einem kurzen Rückblick (siebtes Kapitel) gehe ich im achten Kapitel auf die Rolle von Verantwortung innerhalb von Beziehungen ein. Verantwortung für eine andere erwachsene Person zu übernehmen, die nicht auf irgendeine Weise beeinträchtigt ist, lässt sich schwer ausbuchstabieren. In solchen Fällen sind weder die Förderung des Wohlergehens der anderen Person noch die Erfüllung eines wichtigen Wunsches geeignete Formen der Verantwortungsübernahme. Mein Vorschlag ist, Verantwortung innerhalb einer Beziehung als Verantwortung für die Beziehung selbst zu verstehen. Eine Beziehung beruht auf Gegenseitigkeit, und die andere Person wird als einzigartiges Individuum wahrgenommen. Die Beziehungspersonen nehmen wechselseitig aktiv am Leben der oder des Anderen teil und sind dabei aufrichtig und respektvoll. Solche Beziehungen können innerhalb von Familien bestehen, aber die Familienzugehörigkeit allein reicht dafür nicht aus, und sie ist auch nicht unbedingt notwendig, denn eine enge bzw. nahe Beziehung kann auch zwischen Personen bestehen, die nicht miteinander verwandt sind. Ein wichtiges Merkmal einer solchen Beziehung ist der Wunsch, sie als eine Art gemeinsames Projekt zu verstehen, für das man sich einsetzt und für das man Verantwortung übernimmt. Dies tun die Beziehungspersonen, indem sie sich einander erklären und wechselseitig Gründe für ihr Handeln geben. Verantwortung ist hier in Anlehnung an die ursprüngliche Bedeutung von ›Antwort geben vor Gericht‹ zu verstehen. Innerhalb einer Nahbeziehung, also einer engen Beziehung, ist es für deren Gedeihen notwendig, dass man sich an diesem Dialog beteiligt. Wer einseitig den Dialog beendet, fügt der anderen Person Leid zu. Das bedeutet nicht, dass Beziehungen sich nicht verändern oder enden, aber zur Verantwortung für die Beziehung gehört es, sich gegenüber dem oder der Anderen zu erklären. Dies trifft auch auf eine Person mit beginnender Demenz zu, die konsequent allen Gesprächsversuchen über die beginnende Erkrankung ausweicht. Sie wird damit der Verantwortung, die sie innerhalb der Beziehung hat, nicht gerecht. Diese Verantwortung besteht darin, sich buchstäblich den nahen Anderen gegenüber zu ver-antworten, indem man Gründe für das eigene Handeln gibt und den Dialog mit Anderen nicht verweigert. Diesen Dialog kann man aber nur führen, wenn man auf das Recht auf Nichtwissen verzichtet.

1

Exemplarisch seien hier Cyrille Offermans Warum ich meine demente Mutter belüge oder der Dokumentarfilm Vergiss mein nicht von David Sieveking genannt.

2

Vgl. Glatzer, R. und W. Westmoreland (2014): Still Alice.

3

Vgl. Genova, L. (2012). Im Film ergibt sich durch die Kombination von visuellen, akustischen und dramaturgischen Effekten die Möglichkeit, das innere Erleben der Betroffenen darzustellen. Siehe dazu Schweda, M. und L. Frebel (2015), Wie ist es, dement zu sein?

4

Ein Beispiel hierfür ist die Robbe Paro, die zur sog. emotionalen Robotik gehört und einer Sattelrobbe nachempfunden ist. Sie kann mit Hilfe der eingebauten Sensoren Geräusche und Berührungen registrieren und passend darauf reagieren, z. B. mit Bewegungen oder Tönen. Die Robbe kann die zu pflegenden Personen emotional ansprechen und dient dabei als Türöffner, um z. B. Erinnerungen an frühere Erlebnisse dieser Personen mit Tieren wieder hervorzurufen; vgl. Klein, B. (2013).

5

Hierzu sei auf die Debatte zwischen Ronald Dworkin und Rebecca Dresser verwiesen, vor allem auf Dresser, R. (1995), Dworkin on Dementia als Reaktion auf Dworkin, R. (1993), Life’s Dominion.

6

In Betreuungseinrichtungen wird im Rahmen des Realitäts-Orientierungs-Trainings (ROT) versucht, bei jedem Kontakt Informationen zur räumlichen, zeitlichen und personenbezogenen Orientierung zu geben, vgl. Haupt, M. (2003). Diese Methode kann allerdings Angst und Aggression hervorrufen, da sie den Betroffenen ihre Defizite immer wieder vor Augen führt; vgl. Post, S.G. (1995), S. 28 oder Kurz, A. (2013), S. 96.

7

Vgl. dazu Langehenning, M. (2006) über ein Forschungsprojekt zum Familienalltag in der Frühphase der Alzheimer-Krankheit, der als »Krise der familiären Alltagswelt« (S. 22) beschrieben wird.

8

§ 9 II Nr. 5 GenDG.

9

Vgl. z. B. Brendel, E. (2013).

10

Vgl. Hohfeld, W. (1913).

11

Intentionalistische Theorien werden z. B. vertreten von Davidson, D. (1986), Pears, D. (1986) oder Bermudez, L. (2000).

12

Diese Theorie vertreten z. B. Barnes, A. (1997), Mele, A. (2001) oder Johnston, M. (1988).

13

Vgl. Kipp, D. (1980).

14

Vgl. Gilbert, M. (1983).

15

Vgl. Fried, C. (1984).

16

Vgl. Parent, W.A. (1983).

17

Vgl. Thomson, J. (1975).

18

Vgl. z. B. Nagel, Th. (1998) oder Rössler, B. (2001).

19

Vgl. Rössler, B. (2001), Der Wert des Privaten.

20

Vgl. Weber-Guskar, E. (2016), Würde als Haltung.

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