»Noch immer ergeht sich unsere Zeit trotz aller auftauchenden Resignation in der Verherrlichung der Bewußtheit und des Wissens. Fast in jeder Einleitung eines naturwissenschaftlichen, soziologischen oder psychologischen Buches findet man diese Apologie auf die Wirkungen der Wissenschaft« (Seidel 1927: 71). Mit diesen Sätzen beginnt Alfred Seidel sein 1924 verfasstes Manuskript Bewußtsein als Verhängnis. Fragmente über die Beziehungen von Weltanschauung und Charakter oder über Wesen und Wandel der Ideologien, das 1927 aus seinem Nachlass erscheint. Seidel selbst erlebt die Veröffentlichung nicht mehr: Er begeht 29-jährig, unmittelbar nach der Abfassung seiner Schrift, Suizid. Vorher bittet er seinen Bekannten, den Psychiater und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn, in einem Brief, die Herausgabe seines Textes zu veranlassen:
Wenn Sie diesen Brief erhalten, lebe ich nicht mehr. Das Buch ist vollständig fertig, mein Lebenssinn, für den ich seit Jahren unter größten Qualen lebe, ist erfüllt. […] Nicht ich, sondern der Weltgeist, das Schicksal dachten in mir. Ich weiß, welche teuflische Aufgabe ich zu erfüllen hatte. Aber dies alles mußte gesagt werden in dieser Zeit […]. Ist es Verrat, mein Werk so zu verlassen? Aber wer es gelesen hat, wird selbst sagen, dass damit kein Mensch mehr leben kann. […] Sorgen Sie für die Herausgabe des Werks. Ich lege es Ihnen ans Herz. (Prinzhorn 1927: 45)
Prinzhorn kommt Seidels Ersuchen drei Jahre später nach. Die Bitte Seidels, nämlich das Buch »stilistisch zu verbessern und einige allzu deutliche Züge des Wahnsinns und der Groteskerie« auszubessern (ebd.: 46), erfüllt Prinzhorn insofern, als dass er Bewußtsein als Verhängnis ein ausgiebiges Vorwort beifügt, das Seidels »tragisch zerbrochene Persönlichkeit« als Grund anführt, diesen »wenig einladenden Gedankenrohbau«, der sich »von ähnlichen Unternehmungen deutlich abhebt«, zu veröffentlichen. »Die Drucklegung dieses Buches erfolgt nicht wegen der Reife oder der formalen Vollendungsstufe, die es in wissenschaftlicher oder bekenntnishaft-philosophischer Hinsicht etwa besäße […]« (ebd.: 3). Sie sei vielmehr motiviert durch den »überwältigende[n] menschliche[n] Reiz einer im vitalen oder im erkennerischen Sinne ganz tiefen und tragisch zerbrechenden Persönlichkeit, die erst nach ihrem Tode die ihr gebührende Führerrolle, nunmehr mittels des nachgelassenen Werkes, ausüben sollte« (ebd.). Die »Führerrolle«, die Prinzhorn – und wie weiter unten deutlich wird, auch andere Rezipienten und Rezipientinnen – Seidel einräumt, ist eine radikal negative: Dieser mache mit seinem Text und seiner Selbsttötung auf ungleich dringlichere Art als andere zeitgenössische Intellektuelle auf die unheilvolle Situation seiner Zeit aufmerksam. In der Tat: In Seidels Schreibstil und Gedankengängen ist eine Verzweiflung spürbar, die den wissenschaftlichen Inhalt und die Aussagen des Textes im Ausmaß weit überschreitet. In seinem Buch wird in aller Vehemenz greifbar, dass die zunehmende Deutungsmacht anderer Wissenschaften grundlegende philosophische Krisen auslöst: Ist das Denken der Menschen noch frei – und falls ja, was ist darunter zu verstehen? –, wenn das Bewusstsein mit experimentellen Methoden der Psychologie erklärt werden kann? Was ist wissenschaftliche Objektivität, wenn Erkenntnisse lediglich zeit- und ortsgebundene Wahrheiten enthalten – so wie es die Kulturwissenschaften behaupten? Und wie steht es generell um die menschliche Vernunft, wenn sie Kriege nicht aufzuhalten weiß oder diese gar befürwortet?1
In Nachfolge Prinzhorns wird Seidel rezeptionsgeschichtlich zu einer Person stilisiert, deren Arbeit in extremer Form verdeutliche, dass die damalige Welt in eine Krise geraten sei. Insbesondere Seidels »Unzufriedenheit mit der [sic!] herrschenden Wissenschaftsübungen« habe diesen – so Siegfried Kracauer – zur Absage an die »vernunftmäßige Bewußtheit« geführt (Kracauer 2011 [1927]: 523–524). Kurz: An Seidels theoretischer und auch existenzieller Dramatisierung des Bewusstseins als eines grundlegenden Verhängnisses wird in radikaler Weise deutlich, dass naturwissenschaftliche und empirische Wissenschaften philosophische Grundannahmen und Wahrheitsansprüche – insbesondere die Annahme eines reinen, von anderen Faktoren unabhängigen Geistes – in fundamentaler Weise herausfordern. Seidel beendet sein Manuskript denn auch mit den resignierten Worten: »Mögen die Waffen gegen das allein herrliche analytische Bewußtsein immer schärfer gespitzt werden und es an seinem eigenen Geiste zugrunde gehen – und wäre dieser sogar: die Wahrheit selbst« (Seidel 1927: 205).2
Hundert Jahre später kann festgestellt werden, dass weder das »analytische Bewußtsein« noch »die Wahrheit« in den 1920er-Jahren »zugrunde gingen«. Im Verlaufe des 20. Jahrhunderts wird im Gegenteil erkennbar, dass der Anspruch auf Wahrheit – auch auf eine letzte – für die Wissenschaften konstitutiv ist. Wahrheitsansprüche und wissenschaftliche Deutungsmacht sind untrennbar verknüpft. Zugleich ist die Rhetorik der Krise, wie sie an Seidel, seinem Buch und auch an dessen Rezeptionsgeschichte erkennbar wird, ein bis heute wiederkehrendes Moment. Die zentrale Stoßrichtung des vorliegenden Buches ist, dass diese Krisen nicht nur etwas sind, was die Wissenschaften gewissermaßen von außen und unmittelbar befällt, sondern dass wissenschaftliche Disziplinen fundamentale Krisen zugleich für ihre Legitimation und Erneuerung nutzen können. Dies möchte ich am Beispiel der Philosophie zeigen. Die leitende These ist, dass die Philosophie nicht nur auf Krisen reagiert, sondern diese im Zuge ihrer disziplinären Selbsterhaltung auch aktiv erzeugt: Das Aufgreifen von Krisen und die dazugehörige Suche nach Auswegen und Alternativen ist für die Philosophie ein zentraler Modus, wie sie sich ihre disziplinäre Unabhängigkeit über die Zeit hinweg bewahren kann.
Insofern sind die ›Angriffe‹, die die Philosophie durch die Weiterentwicklungen anderer Wissenschaften im 20. Jahrhundert erfährt – etwa, wenn die Psychologie das Bewusstsein auf biologische bzw. neurophysiologische Prozesse zurückführt –, höchst produktiv. Durch die fundierte Auseinandersetzung mit Herausforderungen, die das philosophische Selbstverständnis im Kern treffen, gelingt es Philosophen und Philosophinnen immer wieder, die Daseinsberechtigung ihrer Disziplin als eigenständige Wissenschaft neu zu begründen und zu aktualisieren.
1.1 Philosophie und/oder Wissenschaftsforschung?
Im Zentrum steht die Frage, mit welchen argumentativen Strategien Philosophen am Anfang des 20. Jahrhunderts ihre Disziplin erneuern und legitimieren. Mit dieser Frage, die nicht eigentlich eine philosophische, sondern eine metaphilosophische Perspektive verlangt, verortet sich die vorliegende Untersuchung auf der Schnittstelle zwischen Philosophie und Wissenschaftsforschung. Ludwik Fleck stellt Anfang des 20. Jahrhunderts mit seinen Begriffen des Denkkollektivs bzw. Denkstils die bis heute wohl instruktivsten Mittel zur Verfügung, wissenschaftliche Disziplinen zu historisieren und deren Entstehungsbedingungen zu thematisieren.3 »Jedem Erkennen, jedem Erkenntnissysteme, jedem sozialen Beziehungseingehen entspricht eine eigene Wirklichkeit. Dies ist der einzig gerechte Standpunkt« (Fleck 1983: 48). Fleck argumentiert dezidiert für die historische und soziale Verfasstheit der Erkenntnis: Jedes Wissen habe einen »eigenen Gedankenstil mit seiner Tradition und Erziehung« (ebd.), Wissen und Soziales stehen also in einer Wechselbeziehung zueinander. »Erkenntnisse werden von Menschen gebildet, aber auch umgekehrt: sie bilden Menschen. Es wäre einfach töricht, zu fragen, was hier ›Ursache‹ und was ›Wirkung‹ ist« (ebd.: 49). Denn: »Wie könnte ich sonst begreifen, dass z.B. der humanistisch Gebildete die Wissenschaft des Naturforschers nie vollständig versteht? Oder gar der Theologe? Soll ich, wie es leider so oft geschieht, jene für Narren halten?« (ebd.). Dass »jede Erkenntnistheorie ohne geschichtliche und vergleichende Untersuchungen ein leeres Wortspiel, eine Epistemologia imaginabilis« bleibe (Fleck 1980 [1935]: 31), gehört zu den Überzeugungen, die mit und seit Fleck die Wissenschaftsforschung und -geschichte prägen. Die Historisierung wissenschaftlicher Erkenntnis ist in der Wissenschaftsforschung denn auch ein »epistemischer Standard«, der »zwar stets verbesserungsfähig ist, hinter den es jedoch kein Zurück gibt« (Hagner 2001: 30). Die Wissenschaftsforschung verfügt mit den Werken von Ludwig Fleck, Gaston Bachelard, Georges Canguilhem, Thomas S. Kuhn, Michel Foucault, Lorraine Daston oder Bruno Latour4 inzwischen über einen Kanon, der unter dem Begriff der Historischen Epistemologie gefasst wird (Rheinberger 2007). Im Verlaufe des 20. Jahrhunderts, so Hans-Jörg Rheinberger, »entwickelte sich eine breit gefächerte neue Reflexion über Wissenschaft […], die in vielgestaltiger Weise begann, die Epistemologie zu historisieren« (ebd.: 9). Diese Zugangsweise, in der die Art und Weise, wie Epistemologien hervorgebracht werden, selbst zum wissenschaftlichen Gegenstand wird, ist die Ausgangslage des vorliegenden Buches.
Aus dem Anspruch, die Philosophie mit Mitteln der Wissenschaftsforschung zu untersuchen, hat sich jedoch ein folgenreiches Problem ergeben: Die Wissenschaftsforschung widmet sich vor allem der Entwicklung von naturwissenschaftlichem, nicht aber geistes- oder sozialwissenschaftlichem Wissen. Flecks berühmte Studie zur Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache etwa ist im Bereich der Mikrobiologie angelegt (Fleck 2011 [1935]), Steve Woolgars und Bruno Latours Studie zum Laboratory Life ist im Bereich der Biochemie (Latour/Woolgar 1979) und Lorraine Dastons bzw. Peter Galisons Objectivity ist – im weitesten Sinne – im Bereich der Naturwissenschaften angesiedelt (Daston/Galison 2007). Die Produktionsbedingungen von geistes- und sozialwissenschaftlichem Wissen jedoch werden innerhalb dieses Kanons nur am Rande betrachtet, implizit mitgedacht oder gar aktiv ausgeklammert bzw. ignoriert. Diese Situation wiederum bedeutet nicht, dass es keine Studien gäbe, die den Blick tatsächlich auf die Produktionsbedingungen spezifischen geistes- und sozialwissenschaftlichen Wissens richteten (z.B. Kusch 1995/2000; Bollenbeck/Knobloch 2004; Kleeberg/Suter 2014; Amslinger 2017; Morgenthaler 2020). Allerdings verweist das wiederholt vorgetragene Desiderat, die Geisteswissenschaften aus der Perspektive der Wissenschaftsforschung zu untersuchen (z.B. Hamann 2015), darauf, dass diese Studien kaum Eingang in den genannten Kanon finden, sondern tendenziell der jeweils untersuchten Disziplin zugeordnet und nur von dieser rezipiert werden.
Im Fall der Philosophie wird die Situation besonders komplex, da die Grenze zwischen Wissenschaftsforschung und Philosophie weder methodisch noch inhaltlich klar gezogen werden kann. Exemplarisch steht hierfür Bruno Latour, der sich nach einer langen Karriere als Wissenschaftsforscher nun als Philosoph verstanden wissen will (Dätwyler 2018). Die Philosophie, so macht es den Anschein, besitzt auch in der Wissenschaftsforschung eine Art Sonderstatus als Leitwissenschaft. Sie ist zweierlei: eine Disziplin unter Disziplinen und zugleich ein Analyseinstrument, um andere wissenschaftliche Disziplinen zu untersuchen. Mit welchen analytischen Instrumenten aber kann die Philosophie selbst konfrontiert werden? Lässt sich dieser Diszplin, von ihrem Selbstverständnis her der selbstkritischsten und metawissenschaftlichsten unter allen Disziplinen, überhaupt ein Spiegel vorhalten? Oder verliert man, wie es das Schicksal Alfred Seidels befürchten lässt, den Verstand, wenn man dies tut? Kann es diese zur Analyse notwendigen Instrumente gar nicht geben, weil ein Vorhaben, das sich ihrer Anwendung verdankt, zwingend zur Absage an wissenschaftliche Wahrheitsbehauptungen führen muss – so auch das vorliegende?
Wie keine andere Disziplin ist die Philosophie mit dem Begriff der Wahrheit verbunden.5 Ohne Wahrheitsansprüche verliert sie und mit ihr die Wissenschaft generell ihre wichtigste Fragestellung. Die zentrale Herausforderung, die sich für diese Untersuchung gestellt hat, lag also darin, Instrumente zu finden, mit denen sich die Philosophie zwar spiegeln lässt, ohne jedoch in die so unsinnige wie unhaltbare Lage zu geraten, den untersuchten philosophischen Positionen ihren Wahrheitsgehalt absprechen zu wollen. Es galt, eine Perspektive zu finden, die die Philosophie nicht ›von außen‹ betrachtet und beurteilt, sondern die es vermag, philosophische Argumentationsstrategien ›von innen‹ nachzuzeichnen und zu verstehen. Die Leistung dieser Perspektive musste die sein, die Wege und Aushandlungsprozesse nachzuzeichnen, mit denen Philosophen ihre Argumente erhärten und legitimieren, statt philosophische Argumente als gegeben hinzunehmen. Der Blick musste darauf gerichtet sein, wie Philosophen durch spezifische Argumente ihre Disziplin stabilisieren, statt direkt inhaltliche Aussagen oder Argumente von Philosophen zu fokussieren. Diese Perspektive verlangt auf den ersten Blick etwas Widersprüchliches: Sie erfordert gleichzeitig eine radikale Distanzierungsbewegung gegenüber der Philosophie und ein radikales Eintauchen in die jeweilige philosophische Argumentation.
Das analytische Intrument, das ich entwickelt habe, um diesen Ansprüchen gerecht zu werden, fasse ich mit dem Begriff der Selbstpositionierungsstrategie. Der Begriff der Positionierung verweist darauf, dass jedes Argument in spezifischen Kontexten vorgebracht wird und dass diese Kontexte für die Geltungskraft von Argumenten konstitutiv sind. Die Betonung als Selbstpositionierung hingegen verweist darauf, dass es hier, wie gesagt, um die Perspektive der Philosophie selbst geht. So werden die Einzelwissenschaften, mit denen sich Philosophen auseinandersetzen, um ihre genuin philosophischen Argumente hervorzubringen, nicht eigenständig dargestellt, sondern aus der Perspektive der jeweiligen Philosophen selbst.6
Ein klassischer Ansatz der Wissenschaftsforschung ist es, im Labor die konkret stattfindenden Vorgänge der Wissensproduktion zu beobachten und zu analysieren. Woraus aber besteht das Labor von Philosophen und Philosophinnen? Ich habe mich entschieden, philosophische Texte als Labor zu verstehen und zu behandeln. Das heißt, dass ich die behandelten Texte (auf die Kriterien der Auswahl gehe ich weiter unten ein) als Orte verstehe, wo philosophisches Wissen produziert wird. Mein Bestreben war es, in diesen Texten zentrale Strategien ausfindig zu machen, wie die Philosophen ihre Argumente schärfen. Nicht die Argumente auf der Oberfläche haben mich interessiert, sondern die darunter liegenden Strategien, wie diese Argumente Sichtbarkeit und Gültigkeit erlangen. Wie begründen Philosophen ihren Erneuerungsanspruch? Welche argumentativen Strategien kommen dabei zum Vorschein? Und welches disziplinäre Selbstverständnis spiegelt sich darin wider? Die Entstehungsbedingungen der Texte selbst habe ich nicht in die Untersuchung miteinbezogen. Dies hätte einer wissenschaftshistorischen Untersuchung entsprochen. Das Augenmerk des vorliegenden Buches liegt dadurch weder auf wissenschaftshistorischen noch auf fachphilosophischen Details. Ich widme mich hingegen den Selbstpositionierungsstrategien, die ich in kanonischen Texten der deutschsprachigen Philosophie des 20. Jahrhunderts identifizieren konnte.
Die Resultate, die hier präsentiert werden, sind somit für beide Disziplinen von Relevanz: für die Philosophie, weil durch den analytischen Zugang Einsichten in das Selbstverständnis der kanonischen Philosophie des 20. Jahrhunderts gewährt werden. Und für die Wissenschaftsforschung, weil hier an einer Disziplin Methoden und Zugangsweisen erprobt werden, die – in modifizierter Form – auch für die Untersuchung anderer geisteswissenschaftlicher Disziplinen von Bedeutung sein könnten.
1.2 Drei Fallbeispiele
In Bezug auf die Beschreibung philosophischer Epochen schlägt der Philosoph Herbert Schnädelbach vor, das 19. und 20. Jahrhundert durch die symbolische Jahreszahl 1918 voneinander zu trennen. Durch die Kriegsniederlage würden in Deutschland Umbruchstendenzen außerordentlich verstärkt. »In der Zeit der Weimarer Republik geht manches zu Ende, und es werden die Weichen des Neuen gestellt, was man auch in der Philosophie daran erkennen kann, dass die großen Kontroversen, die unsere Gegenwartsdiskussionen bestimmen, sämtlich auf jene Jahre zurückgehen« (Schnädelbach 1983: 15–16). In der Philosophie, so pointiert Schnädelbach, »beginnt das 20. Jahrhundert erst in den 1920er Jahren« (Schnädelbach 1992: 309). Demnach werden die 1920er-Jahre häufig als ein Wiederaufstieg oder als eine Blütezeit der Philosophie beschrieben. In dieser Zeit entstehen einflussreiche, die philosophische Diskussion bis heute prägende Strömungen wie die Phänomenologie, die Kritische Theorie, die analytische Sprachphilosophie sowie die Kulturphilosophie oder die Philosophische Anthropologie.
Angesichts der Vielzahl und Heterogenität philosophischer Neupositionierungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bin ich auf drei verschiedenen Ebenen selektiv vorgegangen. Erstens habe ich mich in Anlehnung an Schnädelbach, der die Sprache, die Gesellschaft und das Sein als die neuen Horizonte für das 20. Jahrhundert beschreibt (Schnädelbach 1992: 309), für drei philosophische Paradigmen entschieden: für die analytische Sprachphilosophie, die Kritische Theorie und die Phänomenologie. Zweitens verläuft die Art und Weise, wie ich mir Zugang zu den Selbstpositionierungen dieser Traditionen verschafft habe, über wenige einzelne Philosophen. Ich habe Philosophen ausgewählt, die diese Paradigmen gewissermaßen als Galionsfiguren verkörpern. Schnädelbach spricht von der Philosophie als einer »personengebundenen Deutungsdisziplin, in der man sich wesentlich durch die Nennung von Eigennamen orientiert« (Schnädelbach 1983: 120). Es gebe sicherlich auch in anderen Disziplinen »Parteienstreit und Schuloberhäupter, aber nirgends ist dies so ausgeprägt wie in der Philosophie« (ebd.). Ich habe mich für jene »Schuloberhäupter« entschieden, die je als Begründer eines dieser Paradigmen gelten: Edmund Husserl als Begründer der Phänomenologie,7 die Vertreter des Wiener Kreises als Begründer des Logischen Positivismus bzw. der analytischen Sprachphilosophie sowie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (unter Einbezug von Georg Lukács und Karl Korsch) als Begründer der Kritischen Theorie. Gerade weil die Arbeiten der ausgewählten Philosophen ein fixer Bestandteil des philosophischen Kanons sind, bedeutet das Aufspüren ihrer Argumentationsstrategien gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit den Anfängen von Traditionen, die den philosophischen Diskurs des 20. und 21. Jahrhunderts maßgeblich prägen.8
Drittens schließlich bin ich auch bezüglich der Textauswahl in folgender Weise selektiv vorgegangen: Es stehen bekannte Texte aus dem westlichen philosophischen Kanon im Zentrum, in denen Husserl, die Vertreter des Wiener Kreises sowie Horkheimer und Adorno ihr Programm paradigmatisch ausdrücken. Nicht die sogenannten Hauptwerke werden analysiert, sondern Texte, in denen die Autoren ihre spezifische philosophische Erneuerung gegenüber der Wissenschaftsgemeinde vertreten: programmatische Aufsätze (vor allem bei Husserl), Ankündigungen einer neuen Zeitschrift (vor allem beim Wiener Kreis) und Antrittsreden (vor allem bei Horkheimer und Adorno). Wie diese Texte einzuordnen sind, ist jeweils Thema der Teilkapitel. An dieser Stelle möchte ich lediglich auf die Heterogenität des Materials eingehen, die eine Folge der Unterschiedlichkeit der drei Denktraditionen selbst ist: So wird etwa die Phänomenologie – anders als der Logische Positivismus und die Kritische Theorie – auf Husserl als alleinigen Begründer zurückgeführt. Deswegen steht im Kapitel zu Husserl dessen Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft (1910/11) im Zentrum. Dieser Text ist für die spätere Begründung und Ausformulierung der Husserl’schen Phänomenologie maßgeblich. Der Wiener Kreis hingegen hat u.a. mit Rudolf Carnap, Moritz Schlick, Hans Hahn und Otto Neurath gleich mehrere Exponenten. Die Protagonisten des Wiener Kreises widersetzen sich explizit dem Geniekult innerhalb der Philosophie, d.h., sie verstehen Philosophie nach dem naturwissenschaftlichen Modell als ein gemeinschaftliches, interdisziplinäres und personenunabhängiges Arbeitsprojekt. Aus diesem Grund steht im Kapitel zum Wiener Kreis nicht ein einzelner Text eines einzelnen Autors im Vordergrund, sondern zwei Dokumente, in denen verschiedene Autoren zu Wort kommen: die erste und zweite Ausgabe der Zeitschrift »Erkenntnis« (inklusive Vorwörtern und Tagungsberichten) sowie der als Manifest bekannt gewordene Text Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis (Neurath/Hahn/Carnap 1929). Mit diesen Publikationen wenden sich die Protagonisten des Wiener Kreises erstmals an eine breitere Öffentlichkeit. Obwohl sich auch die Frankfurter Schule der Interdisziplinarität verschreibt, wird sie weit stärker als der Wiener Kreis mit den Namen der Protagonisten in Verbindung gesetzt. Die Namen Horkheimer und Adorno stehen beinahe synonym für die Kritische Theorie. In diesem Kapitel werden folglich sowohl Horkheimers Antrittsrede »Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben des Instituts für Sozialforschung« (1931) als auch Adornos Antrittsrede »Zur Aktualität der Philosophie« (1931) sowie Aufsätze, in denen Horkheimer und Adorno explizit die Funktion der Philosophie thematisieren, untersucht. Die Argumentationsstrategien von Horkheimer und Adorno können jedoch kaum ohne Rückbezug auf jene marxistischen Theorien analysiert werden, die in den 1920er-Jahren die verstärkte Einbeziehung der Philosophie in marxistische Diskussionen gefordert haben. Deswegen werden in diesem Teil auch Auszüge aus Georg Lukács’ Aufsatzsammlung Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) und aus Karl Korschs Aufsatz Marxismus und Philosophie (1923) eine wichtige Rolle spielen.
Die Heterogenität der untersuchten Texte widerspiegelt eine wichtige Einsicht der Wissenschaftsforschung, nämlich dass Erkenntnisse und Denktraditionen immer auch materiell bedingt sind bzw. im Material selbst zum Vorschein kommen. Das heißt, die epistemologischen Besonderheiten der drei Traditionen sind eine direkte Folge der ganz konkreten Arbeitsweisen, des intellektuellen Milieus, der ökonomischen Bedingungen etc. der jeweiligen Autoren. Wie angesprochen handelt es sich hier jedoch nicht um eine im engeren Sinne wissenschaftshistorische Untersuchung, d.h., die Analysen verbleiben auf der Ebene der philosophischen Argumentationen. Dadurch werden letztlich Quervergleiche zwischen den in inhaltlicher Hinsicht höchst unterschiedlichen Traditionen ermöglicht: An welchen Schnittstellen wenden Philosophen, die sich teilweise äußerst scharf voneinander abgrenzen, ähnliche oder sogar analoge Strategien an, um ihre spezifische Erneuerung als genuin philosophische zu verteidigen? Wie deutlich werden wird, zeichnen sich diese Schnittstellen dort ab, wo die verschiedenen Philosophen sich in je unterschiedlicher Weise auf etwas anderes, d.h. auf andere Wissenschaften, beziehen, um ihrer Position Gültigkeit und Geltungskraft zu verleihen.
Es sind jene Punkte, die in der Selbstbeschreibung und im Selbstverständnis der Philosophie, die sich selbst als autonom und unabhängig versteht, häufig unterschlagen werden, jedoch dann offensichtlich zutage treten, wenn man den Blick verschiebt und – anstatt direkt die Argumente zu untersuchen – die Strategien aufspürt, mit denen Philosophinnen und Philosophen diese Argumente vorbringen.
1.3 Eine Kontrastfolie
Wie zu Beginn angesprochen, spielen eine weitere Person und ein weiterer Text in diesem Buch eine wichtige Rolle: der wenig bekannte Autor Alfred Seidel und sein fragmentarischer Text Bewußtsein als Verhängnis, der 1927 erscheint. In der vorliegenden Untersuchung nimmt Seidel die Funktion einer Kontrastfolie ein, da sein Text Dynamiken zeigt, die in kanonisierten philosophischen Texten unausgesprochen bleiben.
Seidel bezeichnet sich selbst weder als Philosoph, noch verortet er seine Untersuchung innerhalb der Philosophie. Er verwehrt sich gegen einen »metaphysischen« Standpunkt: »Die metaphysische Grundlage dieser Arbeit ist hier, wo es sich um eine psychologische und soziologische Problemstellung handelt, nicht entwickelt – das würde in einen größeren Rahmen gehören –, sie ist bewußt herausgezogen worden« (Seidel 1927: 71). Seidel möchte das Bewusstsein – das philosophische Thema per se – also nicht philosophisch, sondern ausgehend von anderen Perspektiven beleuchten. Er stellt sich die Frage, »ob die Erkenntnis der sozialen und psychischen Vorgänge nicht gerade ihre Beeinflussung unmöglich macht, zumindest hemmt – die Frage nach dem Bewußtsein als Verhängnis« (ebd.: 74).
Seidels wissenschaftliche Arbeit über das Verhängnisvolle des Bewusstseins ist untrennbar mit seiner eigenen Existenz verknüpft. Sein Ringen mit den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten wissenschaftlicher Erkenntnis ist im Text permanent spürbar. Er möchte das Phänomen des Bewusstseins resp. die »Ideologien der Gegenwart«9 mit den wissenschaftlichen Mitteln seiner Zeit, d.h. mit naturwissenschaftlichen, soziologischen, psychologischen und historischen Theorien, untersuchen, zerbricht aber – so seine Selbstdarstellung – an diesem Vorhaben. Seine Einsicht, dass auch er selbst als Wissenschaftler den zeitgenössischen Ideologien ausgeliefert ist, er also nicht sicher sein kann, dass nicht auch er sich von den vorherrschenden wissenschaftlichen, kulturellen und philosophischen Wahrheitsansprüchen blenden lassen könnte, scheint Seidel in eine analytisch und existenziell ausweglose Situation zu bringen. Denn selbst eine »Analyse der Analyse« werde den Analytiker lediglich »erläutern, soweit er ehrlich ist«, sie werde dann aber »möglicherweise negativ auf ihn wirken, d.h. ihm seinen Glauben an die Wirkungen des Bewußtseins erschüttern« (ebd.: 205). Und das, fügt Seidel lapidar an, »wäre der schönste Erfolg« (ebd.). Selbst der Zynismus, der üblicherweise aus Gedankengängen wie diesem einen Ausweg bietet, ist aus dieser Perspektive letztlich nur eine verzweifelte Möglichkeit, den Glauben an das Bewusstsein aufrechtzuerhalten.
Seidel räumt der finalen Erkenntnis und der absoluten Wahrheit kein Refugium mehr ein. Man erhält während der Lektüre den Eindruck, dass er eine Position sucht, von der aus das menschliche Bewusstsein als Gegenstand zu erfassen wäre – doch dies scheint weder mit psychologischen, soziologischen, naturwissenschaftlichen noch mit historischen Zugriffen möglich zu sein. Jede dieser Perspektiven mündet für Seidel letztlich in eine Ideologie und die komplette Desillusionierung der wissenschaftlichen – auch der kultur- und geisteswissenschaftlichen – Erkenntnis. Nach der Lektüre des Textes bleibt Resignation: Naturwissenschaftliche, soziologische, psychologische und historische Erkenntnisse scheinen den reinen philosophischen Geist derart herauszufordern, dass selbst die Wahrheit (und damit die Philosophie als deren Verwalterin) zerstört werden wird. Lösungsansätze, wie die Wahrheit und – im Besonderen die wissenschaftliche Wahrheit – in dieser Situation noch zu retten wäre, gibt es nicht.
Seidels Schrift gibt davon Zeugnis, wie prekär und existenziell philosophisches Denken werden kann, wenn es in aller Konsequenz ausgeübt wird. Bewußtsein als Verhängnis ist also keinesfalls ein kulturpessimistisches Pamphlet, in dem Intellektualismus, die Wissenschaft oder kurz: der menschliche Geist als Verhängnis angegriffen werden. Der Text ist im Gegenteil von der Einsicht bestimmt, dass die Annahme eines freien, von anderen Faktoren unabhängigen menschlichen Geistes tatsächlich in die Bredouille geraten ist und dass Erkenntnisse aus anderen Wissenschaften den reinen Geist bzw. philosophische Standpunkte in fundamentaler Weise infrage stellen. An seiner Selbstdarstellung wird deutlich, dass eine Objektivierung des Geistes mit wissenschaftlich-analytischen Mitteln für ihn undurchführbar ist. Er macht durch seine Arbeit in exemplarischer Weise die Verluste genuin philosophischer Standpunkte infolge der Erkenntnisse aus anderen Wissenschaften deutlich.
Wo Seidel die von anderen Wissenschaften ausgelösten Herausforderungen für die Philosophie klar zur Sprache bringt, werden diese von Philosophen zugunsten ihrer eigenen Disziplin objektiviert, in unterschiedlichen Weisen operationalisiert und dadurch in spezifischer Weise unsichtbar gemacht. Bewußtsein als Verhängnis stellt in der vorliegenden Untersuchung somit eine Art Kontrastfolie dar. Im direkten Gegensatz zu den Texten in den drei Fallbeispielen zu Husserl, zum Wiener Kreis und zur Kritischen Theorie ist Seidels Bewußtsein als Verhängnis ein Text, der aufgrund seiner unklaren Gattungszugehörigkeit philosophisch nicht kanonisiert werden kann: In Seidels Gedankengängen ist keine Orientierung an einer philosophischen Lösung der traktierten Problematik zu entdecken, d.h., die Analysen sind bar jeder argumentativen Strategie formuliert. Auf den ersten 130 Seiten entwickelt er zwar seine Thesen über das Bewusstsein als Verhängnis (Seidel 1927: 71–205), in inhaltlicher Hinsicht fransen seine Analysen jedoch immer wieder aus. Letztlich werden in diesem Text keine systematischen Begründungen sichtbar, warum das Bewusstsein verhängnisvoll ist, sondern es werden ex negativo die Konsequenzen nachgezeichnet, die diese Diagnose auf das Denken und die Philosophie selbst hat. Auf den letzten 14 Seiten des Buches (»Anhang«) hat Prinzhorn, der es posthum herausgegeben hat, zusätzlich »Bruchstücke aus anderen Schriften« in Form von Fragmenten aufgelistet (ebd.: 207–221). Es werden auch Auszüge aus diesen Fragmenten zitiert.
Dieser textsortenspezifische Unterschied zwischen Seidel und den anderen Autoren ist für die Konzeption des vorliegenden Buches zentral. Seidel behandelt keine »Krisen«; er denkt – jedenfalls in diesem Text10 – nicht in Mustern möglicher akademisch-philosophischer Profilierung. Gerade deswegen zeichnet sich in Bewußtsein als Verhängnis – als unterschwelliger Kontrast – die illusio von überwiegend akademisch ausgerichteten Philosophen und Philosophinnen punktuell ab. »Die illusio«, so schreibt Pierre Bourdieu, »gehört nicht zu den expliziten Prinzipien, den Thesen, die man aufstellt und die verteidigt werden, sondern zum Handeln, zur Routine, zu den Dingen, die man halt tut und die man tut, weil es sich gehört und weil man sie immer getan hat« (Bourdieu 2001 [1997]: 129). Seidel denkt gewissermaßen über die Denkroutinen hinaus, die Philosophinnen und Philosophen qua ihrer Disziplinierung einüben und anwenden.11 Aus diesem Text können Muster philosophischer Denkbewegungen extrapoliert werden, die ausgehend von der üblichen fachinternen Logik nicht erfasst werden können. Seidel und sein Text fungieren hier als eine Möglichkeit, die Philosophie und ihre Wahrheitsansprüche zu spiegeln. Diese Möglichkeit ergibt sich vor allem aus seinem Anspruch, das Bewusstsein explizit nicht aus einer philosophischen Perspektive, sondern ausgehend von anderen Disziplinen zu beleuchten. Er macht dadurch nicht nur das Verhängnis sichtbar, in das eine solche Auffassung von Bewusstsein führen kann, sondern verdeutlicht zudem die Bedrängnis, in die die Philosophie gerät, wenn ihre Kernthemen von anderen Disziplinen aufgegriffen und bearbeitet werden.
1.4 In Reaktion auf die Einzelwissenschaften: Unterschiedliche Strategien der Selbstbehauptung
Was an Seidels Text beispielhaft deutlich wird – die Selbstwahrnehmung der Philosophie als einer Disziplin in der Krise – widerspiegelt auch die philosophische und historische Fachliteratur. »Die Hoheit über das Wissen von den Menschen wird von der Psychologie und Soziologie, aber auch der Medizin reklamiert, das Wissen um die Gesetzmäßigkeiten der materiellen Welt fällt an die Physik, die Chemie und an die Biologie – was also bleibt für die Philosophie?« (Gamm 2009: 17). Dass die herausgehobene Stellung der Philosophie um 1900 gegenüber den Einzelwissenschaften zusammenbricht und die Philosophie nun als eine Fachwissenschaft neben anderen steht, wird laut dem Wissenschaftshistoriker Paul Ziche von Philosophen als Bedrohung oder gar Katastrophe beurteilt, auf die die Philosophie zur Sicherung ihrer eigenen Existenzberechtigung zu reagieren habe (Ziche 2008: 31–41).12 Die Ausgliederung der einzelnen Wissenschaften aus der Philosophie, die um 1900 weitgehend abgeschlossen sei und das heutige System der Einzelwissenschaften bilde (ebd.: 25), eröffne für die Philosophie paradoxerweise neue Möglichkeitsräume für ihre Selbstdefinition. Wie der Philosoph Gerhard Gamm betont, trat die Philosophie, wie man im Rückblick sagen kann, zu dieser Zeit in einen Prozess ununterbrochener Selbstverständigung über sich und die Welt ein (Gamm 2009: 12).
Philosophische Kontroversen werden vor allem dann ausgelöst – das betont auch der Soziologe und Philosoph Martin Kusch –, wenn sich die philosophische Gemeinschaft oder Teile davon vom Erfolg anderer Disziplinen bedroht fühlen. »Controversies in philosophical community feel endangered by the success and appeal of one or several antidisciplines. In such cases, philosophers then start to search for hidden tendencies in each other’s work, tendencies that allegedly provide an insufficient defence against usurpation« (Kusch 1995: 277). Im Unterschied zu Ziches wissenschaftshistorischem und Gamms philosophiehistorischem Zugriff ist Kuschs Ansatz einer Sociology of Philosophical Knowledge (Kusch 1995; 2000) der Wissenschaftssoziologie verpflichtet.13 Trotz ihrer unterschiedlichen disziplinären Zugänge vertreten jedoch alle diese Autoren die Auffassung, dass Krisen für die Neubestimmung der Philosophie produktiv genutzt werden. »Gerade die Krisensituation eröffnet optimale Bedingungen für eine Neubestimmung der Philosophie; vor dem Hintergrund der Katastrophe bleibt die Wiedergeburtsforderung zunächst allerdings programmatisch […]«14 (Ziche 2008: 35). Nicht Krisen an sich, sondern die explizite Auseinandersetzung mit Krisen, so die zentrale Implikation, ist ein produktives Element in der neuen Verhältnisbestimmung zwischen Einzelwissenschaften und Philosophie um 1900.15
Von Schnädelbach stammt der bislang umfassendste Versuch, die Geschichte der Philosophie als »eine Geschichte philosophischer Reaktionen auf das, was in der Wissenschaft und mit der Wissenschaft in einer veränderten Kultur geschieht« (Schnädelbach 1983: 118), aufzufassen (vgl. Ziche 2008). Dieser betrachtet die Philosophiegeschichte seit Hegel als eine Art Krisenbewältigungsgeschichte und unterscheidet diesbezüglich vier Typen: Im ersten Typus – Philosophie als Wissenschaft – versuche die Philosophie, »es der Wissenschaft gleichzutun und einen Platz im Spektrum anerkannter Forschungswissenschaften zu finden: sie konzentriert sich auf historisch-hermeneutische Forschung und bestimmt sich als Geisteswissenschaft« (ebd.: 119). Hier suche die Philosophie einen Ausweg durch die »Verwissenschaftlichung der Philosophie mit geisteswissenschaftlichen Mitteln« (ebd.: 121). Im zweiten Typus – Wissenschaft als Philosophie – werden die Wissenschaften selbst als Philosophie bestimmt. Das »Resultat ist der Szientismus in verschiedener Gestalt« (ebd.: 119). Diesen Typus beschreibt Schnädelbach als eine »Identifikation mit dem Angreifer«. »Die Philosophie läuft zu derjenigen Instanz über, die sie bedroht – zur Wissenschaft« (ebd.: 123). Ein dritter Typus – Philosophie als Kritik – sei »die Abwendung von dem traditionellen Philosophiemodell und die Neubestimmung der Philosophie als Kritik, die dann eine fundamentale Philosophiekritik durchaus einschließt« (ebd.: 119). Hier werde die Kritik an der Philosophie überhaupt zum Topos:
Die Philosophen machen damit die philosophie-externen Zweifel an der Existenzberechtigung ihres Faches zu ihrer eigenen Sache, und dies mit der Konsequenz, dass die internalisierte Kritik der Philosophie zu einer Neubestimmung der Philosophie als Kritik führt. Man respektiert das allgemeine Todesurteil über die Philosophie als eigenständiges Erkenntnisgebiet und glaubt, nur noch im Gestus der Kritik am philosophischen Geist festhalten zu können. (ebd.: 128)
Im vierten Typus schließlich – Rehabilitierung der Philosophie – versuche sich »die Philosophie durch Neubegründung ihrer Aufgaben und Methoden zu rehabilitieren« (ebd.: 119). Er zeige sich darin, dass man der Philosophie »in einem wissenschaftlichen Zeitalter einen von den Einzelwissenschaften unabhängigen Bereich von Aufgaben zuweist, durch deren Bearbeitung sie selbst als Wissenschaft auftreten kann« (ebd.: 131). Schnädelbach betont, dass alle »vier Weisen, mit der Identitätskrise der Philosophie nach Hegel fertig zu werden, bis in die Gegenwart [1983, MD] das kontroverse Selbstverständnis der Philosophen [bestimmen]« (ebd.: 119).
Ziche kritisiert Schnädelbachs Typologisierung dahingehend, dass dessen Darstellung »zu stark auf eine möglichst eindeutige Abgrenzung unterschiedlicher Richtungen« ziele (Ziche 2008: 327). Den entscheidenden Einwand sieht Ziche darin, »dass diese Reaktionsweisen nicht, wie Schnädelbach suggeriert, wechselseitig exklusiv sind. In mehreren Punkten wird man in ihnen eine Rückprojektion einer erst in der Folge entstandenen, durch bestimmte Schulbildungen fixierten Philosophieeinteilung sehen müssen« (ebd.). Diese Kritik wird hier geteilt: Auf der einen Seite wendet sich Schnädelbach explizit gegen die Tendenz, die Philosophien des 19. Jahrhunderts als Repräsentationen der »großen Denker« oder »Schulen« darzustellen (Schnädelbach 1983: 16), um philosophisches Wissen gewissermaßen neu zu ordnen. Auf der anderen Seite liegt die Crux seiner »problemgeschichtlichen Untersuchung«, wie Schnädelbach selbst einräumt, in der Gefahr eines »Übergewichts der Systematisierung« (ebd.). Wo Ziche und Kusch konkrete Debatten und Kontroversen untersuchen, um damit das neue Verhältnis zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften zu bestimmen, schlägt Schnädelbach eine neue Typologie philosophischer Reaktionsweisen vor.
Ungeachtet der Differenzen in den referierten Ansätzen nehmen alle Autoren eine Perspektive auf die Philosophie ein, die auch hier von entscheidender Bedeutung ist: Sie beleuchten die Reaktionen der Philosophie auf die Entwicklungen in den Wissenschaften und beurteilen diese Reaktionen als wesentlich für die Disziplinbildung der Philosophie. Genau diese Dynamik soll hier an drei ausgewählten Philosophen des frühen 20. Jahrhunderts idealtypisch nachgezeichnet werden: Indem sich Husserl, die Vertreter des Wiener Kreises sowie Horkheimer und Adorno mit den Herausforderungen aus anderen Wissenschaften auseinandersetzen, schwächen sie nicht nur die Infragestellung ihrer eigenen Disziplin ab, sondern entwickeln und erhärten zugleich je neue philosophische Positionen. Theoretisch gewendet bedeutet das: Um ihre Standpunkte hervorzubringen, sind diese Philosophen auf ein »konstitutives Außen« (z.B. Derrida 2004) – im hier eingenommenen Blickwinkel in Form der Erkenntnisse aus anderen Wissenschaften – angewiesen. Husserl begründet die Phänomenologie durch eine Abgrenzung von der experimentellen Psychologie, um sie dadurch als »Erste Wissenschaft« zu etablieren (Abgrenzungsstrategie). Die Vertreter des Wiener Kreises begründen den Logischen Positivismus durch eine Identifikation naturwissenschaftlicher Modelle mit der Philosophie, um dadurch den Objektivitätsanspruch der Philosophie zu rehabilitieren (Identifikationsstrategie). Horkheimer und Adorno schließlich begründen die Kritische Theorie durch eine Kooperation mit den empirischen Sozialwissenschaften, um eine Zurückführung der Philosophie auf die Praxis zu rechtfertigen (Kooperationsstrategie).
Dieses heuristische Modell – bzw. die Sondierung dreier unterschiedlicher Strategien – dient im vorliegenden Buch als Rahmen, um danach zu fragen, wie Philosophen ihre Erneuerungsansprüche im Kontext anderer Disziplinen begründen. Es liegt auf der Hand, dass in jedem der drei Beispiele jede der drei Strategien auffindbar ist – und mit Sicherheit auch noch andere. Das Modell ist der Organisiation und Struktur des Buches geschuldet und dient dazu, die Gemengelage, die aus der Thematik und Fragestellung resultiert, zu systematisieren. Inwiefern sich dieses Muster philosophischer Selbstpositionierung, wonach sich die Philosophie in spezifischer Weise an einer anderen Wissenschaft zu orientieren habe, auch in den Strategien anderer kanonisierter Philosophen wiederfindet, müsste untersucht werden. Carl Schmitts Auseinandersetzungen mit den Politikwissenschaften, Ernst Cassirers Auseinandersetzungen mit den Kulturwissenschaften oder Max Schelers Auseinandersetzungen mit der Anthropologie etwa sind Indizien, dass sich das hier herausgearbeitete Muster philosophischer Aktualisierung auch auf andere Philosophen und Philosophinnen des 20. Jahrhunderts übertragen lassen könnte.
Die Fragen, die in diesem Buch gestellt werden, sind dem Desiderat geschuldet, zu verstehen, welche Strategien Philosophinnen und Philosophen im 20. Jahrhundert wählen, um ihre eigene Disziplin durch die Rezeption anderer Wissenszusammenhänge zu erneuern, damit aufrechtzuerhalten und als eigenständig zu behaupten. Es versteht sich von selbst, dass diese Fragestellung keine umfassende Diskussion der einzelnen Philosophen bzw. von deren Theoriegebäuden zulässt. Es geht hier nicht darum, den einzelnen Philosophen in ihrer Bandbreite gerecht zu werden, sondern punktuell Strategien zu identifizieren, die Philosophen anwenden, um die Philosophie als Wissenschaft zu verteidigen. Insofern interessiert hier auch weniger, ob philosophische Argumente gut oder schlecht sind, ob sie für eine bessere Gesellschaft ›nützlich‹ sind oder nicht, sondern philosophische Argumente werden selbst problematisiert und kontextualisiert.
1.5 Unausweichliche Agonalität der Philosophie
Im Unterschied zu den oben referierten Ansätzen von Schnädelbach, Ziche und Kusch geht es hier weder um eine ideengeschichtliche noch um eine vergleichende wissenschaftshistorische oder wissenschaftssoziologische Untersuchung. Vielmehr wird untersucht, wie philosophische Selbstverständnisse in einem bestimmten Kontext jeweils konstruiert werden. Die zugrunde liegende Annahme ist, dass mit philosophischen Aktualisierungen immer auch eine Klärung der Rolle einhergeht, welche die Philosophie für die Wissenschaften spielt oder spielen möchte. »Für die akademische Philosophie ist vor allem die Klärung ihrer Stellung im Rahmen der ›Arbeitsteilung‹ der Disziplinen des ›Kosmos der Wissenschaften‹ von hervorragender Bedeutung« (Plümacher 1996: 7). Es wird sich zeigen, dass in allen drei Fällen eine herkömmliche Vorstellung von Philosophie als Leitwissenschaft mobilisiert und neu begründet wird. Die seit der Antike transponierte Vorstellung der Philosophie als ›Königin der Wissenschaften‹ ist in allen drei Beispielen in je unterschiedlicher Weise anzutreffen.
In ihren Versuchen, die Philosophie auf neue wissenschaftliche Grundlagen zu stellen, klären Philosophen immer auch disziplinäre Machtverhältnisse. Sie tarieren das Verhältnis zwischen der Philosophie und anderen Wissenschaften so aus, dass sich die Philosophie in ihrem Selbstverständnis nicht nur gegenüber anderen Wissenschaften behaupten, sondern sich in spezifischer Weise über diese erheben kann. So etabliert Husserl – vorwegnehmend gesagt – die Philosophie in traditioneller Manier als Methode, die über einen privilegierteren Zugang zur Wahrheit verfügt als andere Wissenschaften. Der Wiener Kreis vermittelt die fundamentale Bedeutung der Philosophie durch die Vorstellung, mit der Klärung der Logik und ihrer sprachlichen Bedingungen würden die Grundlagen der Wissenschaften bestimmt. Und durch die Betonung der herausragenden Bedeutung von Kritik möchte die Kritische Theorie zeigen, dass die Philosophie ein notwendiges Korrektiv für andere Wissenschaften darstellt.
Philosophische Selbstbehauptungsstrategien sind mit der Stabilisierung von disziplinären Machtverhältnissen eng verknüpft. Diese Stoßrichtung verfolgt Jürg Berthold in seiner Studie Kampfplatz endloser Streitigkeiten. Studien zur Geschichtlichkeit der Philosophie (2011). Philosophische Texte werden von ihm als »Interventionen« verstanden, die sich im »Kampfplatz endloser Streitigkeiten«16 zu behaupten haben: als behauptendes Sich-Behaupten. Was ein »philosophischer Text« ist, wird unter dieser Perspektive weit gefasst: Es handelt sich dabei nicht im engen Sinne um einen geschriebenen Text, sondern vielmehr um »Performances […], deren ›Pointe‹ darin besteht, ›Wahrheit‹ zu produzieren« (Berthold 2011: 45). Bertholds Zugang gleicht der hier eingenommenen Perspektive, wonach Texte als Labor verstanden werden, als Ort, an dem Wahrheiten produziert werden. Eine radikale Historisierung der Philosophie und das Herausstellen der grundsätzlichen Agonalität innerhalb der Philosophie sind die zentralen Stränge in seinen Überlegungen. So seien in philosophischen »Interventionen« immer auch Aushandlungen darüber enthalten, was Philosophie ist und sein soll. »Das Anliegen ist nicht der Entwurf einer Metaphilosophie; dennoch ist darauf zu insistieren, dass jedes Philosophieren auch eine Darstellung ist, was Philosophie ist. Die Arbeit redet nicht einem Relativismus das Wort; dennoch erscheint die Pluralität der Stimmen, die Wahres sagen, in ihrer Unausweichlichkeit« (ebd.: 20). Er verfolge keineswegs den Anspruch, ein philosophisches Spezialproblem zu behandeln, vielmehr ziele seine Frage letztlich auf die »Fortschrittsfähigkeit der Philosophie und damit in den Kern ihres Selbstverständnisses, wenn nicht auf die Frage ihrer Legitimität« (ebd.: 39). In Bezug auf die Frage, was sich ändern würde, wenn man den von ihm proponierten Weg einschlagen würde, schreibt Berthold: »Man würde genauer lesen, mit mehr Aufmerksamkeit auf das, was die philosophische Rede konstituiert, mit einer Neugier für die Strategien, mit denen die Narrationen zu einem Mittel ihrer Selbstbehauptung werden. Man würde über die Formen nachdenken wollen, in denen sich Akte der Selbstbehauptung vollziehen« (ebd.: 46). Eine Rede, so fährt Berthold fort,
impliziert und inthronisiert immer eine Instanz, der sie ihre Legitimität abbettelt. Aber noch in dieser Kritik hätte man ein Bewusstsein davon, dass auch die eigene Rede immer all dem unterworfen ist, was sie behauptet. Man würde sich für Grenzziehungen interessieren, weil sie unerlässlich sind. Aber die Demarkationslinien erschienen einem in ihrer Willkürlichkeit nicht als Ausdruck der Sache selbst, sondern als Effekte jener Strategien, die das Philosophieren erst ermöglichen. (ebd.: 46–47, Herv. MD)
Das »behauptende Sich-Behaupten« in der Philosophie geht laut Berthold also immer mit Grenzziehungen einher und spielt sich immer in spezifischen Kontexten ab. Der Begriff der Selbstbehauptung und der der Grenzziehung nehmen in seiner Studie Schlüsselrollen ein.
Er schlägt einen Zugang vor, der philosophische Texte in Beziehung setzt, um dadurch die grundsätzliche Historizität, Perspektivität, Agonalität und Pluralität philosophischen Denkens sicht- und greifbar zu machen. Er fokussiert zudem die Rhetorizität17 philosophischer Texte:
Polemische Diskussionen gehörten immer wieder zur Philosophie, sie wurden aber meist als eigenartig sekundär wahrgenommen. Das Bild, das Philosophen in diesen Situationen abgeben, scheint der Philosophie unwürdig zu sein; es ist, als würde der polemische Ton den Wohlklang philosophischer Rede stören. Ihre Sache ist, respektive scheint zu sein: der kühle Kopf, das kluge Argument, der weite Horizont. Ihr Duktus scheint sich am Ideal eines zwanglosen Zwanges in Rede und Gegenrede zu orientieren. (ebd.: 31)
Vielleicht, so Berthold, verhält es sich aber gerade umgekehrt: »Was, wenn sich in den polemischen Debatten und Interventionen etwas zeigte von der Philosophie, was sich in den gemessen [sic!] Vorstellungen von Weisheitsliebe und Rationalität gewöhnlich verbirgt?« (ebd.). Er nimmt für seine Analysen Begriffe aus der aktuellen Theoriebildung auf (Performance, Narration, Intervention, Akt, Imitation, Parodie etc.); er untersucht philosophische Texte also ausgehend von einem poststrukturalistisch verstandenen Textbegriff.18
Bertholds Studie ist für die hier eingenommene Perspektive instruktiv, unterscheidet sich aber in einem wesentlichen Punkt: er zielt – so wird der Anschein erweckt und ähnlich wie Schnädelbach – darauf ab, zu verstehen, was Philosophie insgesamt ist und wie Philosophieren heute möglich ist. Er stellt fest, dass Philosophie wesentlich durch Selbstbehauptungen bestimmt ist, und erläutert dies an konkreten philosophischen Texten und deren Beziehungen zueinander. Hier hingegen soll an drei konkreten Beispielen aufgezeigt werden, wie Philosophen ihre Selbstbehauptungen – nämlich im Kontext anderer Disziplinen – begründen. Philosophische Selbstbehauptungen ereignen sich innerhalb des Kontextes der Gesamtwissenschaften, d.h., Philosophen schreiben sich mit ihren Erneuerungsansprüchen in die Dynamiken der Wissenschaftslandschaft allgemein ein.19
Obwohl auch das vorliegende Buch aus einer vom Poststrukuralismus geprägten Denkweise entstanden ist, wird hier weitgehend auf diese Begrifflichkeiten verzichtet. Wie weiter oben erwähnt, ist für mich der Begriff der Selbstpositionierungsstrategie (und synonym dazu der der Argumentationsstrategie) zentral. Der Begriff der Strategie ist keineswegs intentional zu verstehen, d.h., es geht nicht darum, herauszufinden, was die betreffenden Philosophen ›eigentlich‹ zu sagen beabsichtigten, sondern es interessieren Taktiken und Arrangements, die im Material der Texte selbst manifest werden.20 Philosophische Argumente werden also nicht hinsichtlich ihrer kognitiven Überzeugungskraft untersucht, sondern mit Blick auf ihre soziale Funktion: Wie wird Plausibilität für die jeweilige Neubegründung erzielt? Wie stützen und legitimieren die vorgebrachten Argumente das Weiterbestehen der Disziplin? Da nicht der inhaltliche Gehalt der Texte im Analysefokus steht, sondern die darin enthaltenen Argumentationsstrategien, wird ein neuer Blick auf sie möglich: Durch die Untersuchung der je geglückten Erneuerungsansprüche werden implizit Einsichten in die Frage gewährt, warum diese Texte kanonisch geworden sind.
Durch den gewählten analytischen Zugang wird erkennbar, dass Disziplinierungsvorgänge mit der Aushandlung von Machtverhältnissen eng zusammenspielen. Das Zusammenspiel von Disziplinierung, Wissen und Machtverhältnissen hat in jüngerer Zeit insbesondere Michel Foucault an verschiedenen Untersuchungsfeldern erarbeitet. Foucault hat in seinen Büchern eine Denkweise und eine Perspektive etabliert, die den analytischen Zugang und den Aufbau dieser Untersuchung mitgeformt haben. So ist seine Setzung, »dass es keine Machtbeziehung gibt, ohne dass sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert« (Foucault 1976 [1975]: 39), ein permanent mitgedachter Subtext der nachfolgenden Analysen. Die Überzeugung, dass das Ausgeschlossene und Marginalisierte für das Sichtbare und Hegemoniale konstitutiv sind – und umgekehrt – und es sich lohnt, von den ›Rändern‹ her zu denken, wird in den nachfolgenden Analysen gewissermaßen durchgängig leitend sein. Bei Foucault findet sich folgende, für die Konzeption des vorliegenden Buches treffende Formulierung: »Es handelt sich [bei der Geschichte des Denkens, MD] um eine kritische Analysebewegung, über die versucht wird herauszufinden, wie die verschiedenen Lösungen für ein Problem erstellt werden konnten, aber auch, wie diese verschiedenen Lösungen zu einer spezifischen Problematisierungsform gehören« (Foucault 2005 [1984]: 733). Die Philosophen, die in dieser Arbeit behandelt werden, haben je Lösungen für bestimmte Probleme gefunden, wobei das Gewicht und das Existenzielle dieser Probleme in ihren Texten nicht mehr oder nur noch als Spuren erkennbar sind. Damit jedoch die Strategien sichtbar werden, mit denen Philosophen diesen Lösungen argumentativ Geltungskraft verliehen haben, müssen auch die Probleme nachgezeichnet werden, die die Philosophen umgetrieben haben. Im Text Seidels werden sie direkt und offenkundig ausgebreitet. Daraus ergibt sich folgender Aufbau: Aus Seidels Text werden philosophieinterne ›Krisen‹ (Problematisierungen) extrapoliert (Kapitel 2), um je an einem Beispiel herauszuarbeiten, welche ›Lösungen‹ Philosophen für diese Probleme gefunden haben (Kapitel 3–5). Die Argumente von Husserl, den Vertretern des Wiener Kreises sowie Horkheimer und Adorno werden gemäß dem hier gewählten Ansatz als ›Lösungen‹ für ein grundsätzliches Problem verstanden, nämlich dass die Daseinsberechtigung einer wissenschaftlichen Disziplin – hier der Philosophie – von anderen Disziplinen immer abhängig ist. Neue Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften, der Psychologie und der Soziologie – so kann man aus Seidels Schrift ableiten – setzen die Philosophie unter Druck. Diese Situation der Bedrängnis wird – so machen die darauffolgenden Kapitel deutlich – von Philosophen aufgenommen und für die Neupositionierung der eigenen Disziplin produktiv gewendet. In jedem der drei Fallbeispiele wird zu Beginn mit Rückbezug auf Seidel auf eine spezifische Krise fokussiert: So steht bei Husserl die Psychologisierung des Geistes, beim Wiener Kreis der Verlust philosophischer Objektivität und bei der Kritischen Theorie der Verlust der Legitimität der Philosophie generell im Zentrum.
Wer sich in die akademische Philosophie und Wissenschaft einschreibt – so eine Überzeugung, die ich in den Analysen bestätigt gefunden habe und am Schluss wieder aufnehmen werde –, verfolgt immer auch bestimmte Interessen. Der philosophische Blick ist nie ›rein‹, oder wie Donna Haraway sagt: Er ist nie unschuldig (z.B. Haraway 1988: 582).21 Die in dieser Arbeit geführten Auseinandersetzungen sind demnach zwingend und konstitutiv mit der Frage nach meiner eigenen Positionierung verknüpft. Diese Frage zieht sich gewissermaßen als Subtext entlang der Figur Seidel wie ein roter Faden durch den Text. Die Problematik, mit der in Bewußtsein als Verhängnis mit Vehemenz gerungen wird, nämlich die notorische Unmöglichkeit, die eigenen Wahrheitsansprüche reflexiv zu erfassen, betrifft auch das vorliegende Buch.
»Was soll Philosophie, wenn sie nichts dazu beiträgt oder dazu beitragen kann, diese menschheitlichen Katastrophen [die Barbarei, die ihre Chiffre im Namen Auschwitz gefunden hat] zu verhindern?« (Gamm 2009: 19).
Diese dramatische Zuspitzung ist möglicherweise der editorischen Arbeit Prinzhorns geschuldet (siehe dazu Kapitel 2). Prinzhorn vermerkt in einer Fußnote: »Von hier ab ist das Manuskript sehr schwer leserlich. Ohne deutliche Zeilenführung sind die Worte in flüchtigen Schriftzeichen hingeworfen, wobei doch die Formen und die zahlreichen Durchstreichungen für einen tief erregten Zustand sprechen, aus dem die überraschende und erschütternde Schlußwendung hervorbricht« (Seidel 1927: 205). Diese Schlusswendung lautet: »Und wenn einer sagte, Christus wäre Gegner der Wahrheit, so würde ich doch mit Christus ziehen – und gegen die Wahrheit« (ebd.).
Nachdem Thomas S. Kuhn in The Structure of Scientific Revolutions von 1962 bekundet, dass Flecks »fast unbekannte Monographie« Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache viele seiner Gedanken vorwegnehmen würde (Kuhn 1976 [1962]: 8), beginnt Flecks Wiederentdeckung. Fleck – der Immunologe – wird vermittelt durch Kuhn aus der Unbekanntheit geholt, um im Nachhinein zu einem der Gründerväter der Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung stilisiert zu werden. The Structure of Scientific Revolutions wiederum wird innerhalb der Wissenschaftstheorie als eine Art historische Zäsur behandelt. Kuhns Konzept der Scientific Revolutions wird als theoretischer Meilenstein rezipiert und kritisiert; der Terminus der Kuhn’schen Wende hat sich inzwischen etabliert. (Wahlweise wird diese Wende auch die konstruktivistische oder die antipositivistische Wende der Wissenschaftsforschung genannt (vgl. Hofmann/Hirschauer 2012: 86; Paulitz 2012: 41).) Dass eine Vielzahl an Ansätzen und Methoden der aktuellen Wissenschaftsforschung und -geschichte bereits vor der Kuhn’schen Wende entwickelt worden war, merkt Wolf Lepenies an: »Heute [1979, MD] sehen wir uns der eigentlichen Situation gegenüber, daß die Nach-Kuhnsche Wissenschaftsforschung auf Konzepte, Methoden und Theorie-Ansätze zurückgreift, die der Struktur wissenschaftlicher Revolutionen um Jahrzehnte vorausgingen« (Lepenies 1979: I).
Es handelt sich hier um eine exemplarische, nicht um eine vollständige Auflistung.
Bernhard Kleeberg und Robert Suter haben in Form einer »ersten Hermeneutik« das Forschungsprogramm einer Praxeologie der Wahrheit vorgeschlagen (Kleeberg/Suter 2014). In diesem an Michel Foucault angelehnten Operationalisierungsentwurf geisteswissenschaftlicher Wissensproduktion nehmen die Autoren die Herstellung von ›Wahrheit‹ als solcher in den Blick.
Analog dazu geht es in dieser Untersuchung um die Frage, wie Philosophen andere Wissenszugänge für ihre eigene Positionierung bzw. Neubegründung in Anspruch nehmen, und nicht um die Frage, wie diese Positionierungen wiederum in anderen disziplinären Kontexten rezipiert werden.
Dass für die vorliegende Arbeit Husserl und nicht Heidegger ausgewählt worden ist, ist der Tatsache zuzurechnen, dass Heideggers Denken zwar Husserls Phänomenologie »sprengt« (Schnädelbach 1992: 310), aber dennoch der phänomenologischen Tradition verhaftet bleibt, als deren Begründer Husserl gilt. Es wäre allerdings ein verlockendes Unterfangen, die Erneuerungsstrategien, die mit Sein und Zeit evoziert wurden, zu untersuchen. Wie Dieter Thomä betont, sind in dieser Schrift Krisen und Umbrüche deutlich greifbar: »Die aktuell übliche Fokussierung der Debatte auf das Verhältnis zwischen Sein und Zeit einerseits sowie Heideggers NS-Engagement andererseits lenkt die Aufmerksamkeit ungünstigerweise von der heftigen Verschiebung, Verunsicherung, Verschärfung oder, kurz gesagt, Krise, die an Heideggers Schriften zwischen 1927 und 1933 ablesbar ist, ab« (Thomä 2018: 100). Von Schnädelbach übernommen wurde die Vermutung, dass den drei Traditionen eine gemeinsame Wurzel zugrunde liegt, die »Verheißung nämlich, ohne Rückfall in vorkritische Metaphysik endlich in den Rücken des akademisch zu Tode analysierten transzendentalen Bewußtseins zu gelangen« (Schnädelbach 1992: 310). In allen drei Beispielen wird der Anspruch auf eine Überwindung der Metaphysik deutlich. Dieser Aspekt wird vor allem im Unterkapitel »Philosophische Altlasten aus dem Weg räumen« (S. 100–105) und im Fazit (S. 193–194) thematisiert.
Das Schisma zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie etwa, das die Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts bis heute prägt, wird an den Auseinandersetzungen zwischen Carnap (als Mitbegründer der analytischen Philosophie) und Heidegger (hier verstanden als Husserls Nachfolger) ersichtlich (Friedman 2000).
Seidel diskutiert in diesem Zusammenhang den »Marxismus-Sozialismus«, die »Neuromantik« (Gemeinschaft, Religion, das Kulturgewollte, die Natürlichkeit, das Erlebnis und die Frauenbewegung), den »Nationalismus«, den »Pazifismus« und die »Untergangsidee« im Sinne Oswald Spenglers (Seidel 1927: 166–202).
Im Gegensatz zu Bewußtsein als Verhängnis ist seine Dissertation klar strukturiert (siehe S. 128).
»Das Erlernen einer wissenschaftlichen Disziplin«, schreibt Patricia Purtschert in ihrem Buch Grenzfiguren, »gestaltet sich immer auch als Prozess der Disziplinierung. In der Philosophie gehört dazu das Erwerben der Fertigkeiten, Textstellen zu übersehen und zu überlesen, die für eine philosophische Interpretation ›zu historisch‹, ›zu exemplarisch‹, ›zu anekdotisch‹ oder schlicht ›zu unbedeutend‹ sind. Das Einüben dieses selektiven Blicks wird dabei kaum je zum Thema; er wird vielmehr stillschweigend vermittelt und erlernt« (Purtschert 2006: 13).
»Eine Bibliographie der Schriften, in denen das Ende der Philosophie verkündet wurde, wäre ein lohnenswertes Unternehmen; es ließe sich zeigen, daß ihre Autoren fast sämtlich Philosophen waren« (Schnädelbach 1983: 282, Fn. 8).
Speziell im Bereich der Philosophie hat vor allem Martin Kusch mit seinem Ansatz einer ›Sociology of Philosophical Knowledge‹ (SPK) versucht, eine entsprechende Forschungsrichtung zu lancieren (Kusch 1995: 2000). In Anlehnung an marxistische und feministische wissenssoziologische Perspektiven verortet sich SPK explizit im Strong Programme der Wissenschaftssoziologie. Das Strong Programme wurde ausgehend von Kuhns The Structure of Scientific Revolutions in den 1970er-Jahren entwickelt und verfolgt den Anspruch, jedes Wissen zur Untersuchung freizugeben, und zwar ohne Vorannahme darüber, ob dieses Wissen ›wahr‹ oder ›falsch‹ ist. Diese Gleichbehandlung jedes Wissens impliziert, dass die Wahrheit oder Falschheit von Wissenschaft neutral bzw. symmetrisch betrachtet wird. Mit dem Strong Programme der Wissenschaftsforschung geht eine radikale ›Soziologisierung‹ der Erkenntnistheorien einher. Kusch adaptiert also die für die Untersuchung der Naturwissenschaften konzipierten und an ebendiesen erprobten soziologischen Forschungsprogramme für die Anwendung auf die Philosophie. Wie vor allem im ersten Kapitel deutlich werden wird, sind seine Analysen zum »Psychologismus« für die vorliegenden Untersuchungen zentral. Methodisch wird hier jedoch eine andere Richtung eingeschlagen. Kusch extrahiert Merkmale philosophischer Wissensproduktion, wie sie in philosophischen Kontroversen anzutreffen sind. »The key concept of the approach employed in this study is the notion of controversy« (Kusch 1995). Im Gegensatz zu diesem Vorgehen werden hier keine philosophischen Kontroversen, sondern Argumentationsstrategien ausgewählter Philosophen innerhalb dieser Kontroversen in den Blick genommen. Nebst Kuschs Ansatz ist Allan Janiks und Stephen Toulmins Buch Wittgenstein’s Vienna diesbezüglich von Bedeutung. Janik und Toulmin verorten Wittgensteins Philosophie explizit in ihrem kulturellen, historischen und sozialen Kontext (Janik/Toulmin 1973). Weiter einschlägig ist Martina Plümachers Buch Philosophie nach 1945 in Deutschland, in dem die Rolle der Philosophie im Zusammenhang mit anderen Disziplinen, vor allem mit den empirischen Wissenschaften, mit Blick auf das philosophische Selbstverständnis untersucht wird (Plümacher 1996).
Ziche verweist an dieser Stelle auf Fritz K. Ringer, der in seiner detailreichen Studie Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarins 1890–1933 erarbeitet, inwiefern sich die deutschen Gelehrten seit 1890 in einer Kulturkrise sahen und wie diese ›Krisenwahrnehmung‹ mit einer zunehmend nationalistischen Orientierung der akademischen Oberschicht in der Weimarer Republik und einer Anfälligkeit für den Nationalsozialismus in den Jahren nach 1933 korreliert (Ringer 1983 [1969]).
Der Zusammenschluss zwischen Philosophie und Krise kann als ein Topos verstanden werden. Sowohl inner- als auch außerakademisch ist die Rede von der Krise der Philosophie bzw. die Philosophie der Krise häufig anzutreffen. Insbesondere Reinhart Koselleck hat den Begriff der Krise geprägt (Koselleck 1979 [1954]; 2004; 2006). Zur Krisenrhetorik siehe etwa Goeze/Strobl 2011; Grunwald/Pfister (Hrsg.) 2007. Weitere Literatur: Oexle (Hrsg.) 2007; Scholten (Hrsg.) 2007; Weiss 2012; Blum 2015.
Die Kampfplatzmetaphorik ist an Immanuel Kant angelehnt, wie dieser sie in der Vorrede in seiner Kritik der reinen Vernunft verwendet. Berthold wendet sich gegen die Vorstellung von Kant, wonach sich diese endlosen Streitigkeiten schlichten ließen (Berthold 2011: 30–31).
Judith Butler beschreibt in ihrem Aufsatz »Kann das ›Andere‹ der Philosophie sprechen?« die Bedeutung der Rhetorizität für philosophische Argumente wie folgt: »Ein Großteil der philosophischen Arbeit, die außerhalb der Philosophie vor sich geht, ist frei, auf die rhetorischen und literarischen Aspekte philosophischer Texte einzugehen und speziell danach zu fragen, welchen besonderen philosophischen Wert diese rhetorischen und linguistischen Merkmale transportieren oder inszenieren. Die rhetorischen Aspekte eines philosophischen Textes umfassen seine Gattung, die variieren kann, die Form, in der die Argumente vorgetragen werden, und die Art, wie die Darstellungsweise das Argument selbst prägt, indem sie das Argument manchmal implizit inszeniert oder gelegentlich ein Argument inszeniert, das völlig im Gegensatz zu dem steht, was der philosophische Text ausdrücklich erklärt« (Butler 2009 [2004]: 370). Um disziplininterne Dynamiken aufzuspüren, so folgt aus Butlers Darstellung, ist die Überschreitung dieser Disziplin notwendig.
Wie Ziche verweist ebenfalls Berthold kritisch auf Schnädelbach, wenn auch in einem anderen Kontext: Mit Schnädelbach sei »auf einem Philosophieren in der ersten Person und auf einem pluralen Verständnis von Philosophie zu bestehen« (Berthold 2011: 26). Gleichzeitig sei gegen Schnädelbach eine zweifache Verharmlosung zu vermeiden: Erstens sei die Textgebundenheit des Philosophierens, d.h. »das Angewiesensein auf Hermeneutik im weitesten Sinne«, nicht zu trivialisieren. Und zweitens sei ein »plurales Verständnis der Philosophie nicht zu verkürzen auf ein harmloses Nebeneinander unterschiedlicher Praxen und als ein Zustand, der sich gewissermaßen von selbst klärt – sei es über die Mechanismen des Wettbewerbs, sei es durch den Streit der Argumente oder sei es durch evolutionistisch zu verstehende Gesten der Macht, die die anderen Stimmen zum Verstummen bringen« (ebd.).
Siehe dazu Fn. 201.
Vgl. Foucault 1977: 95–102. Für einen Überblick zum Strategiebegriff im Kontext diskurstheoretischer und ‑analytischer Überlegungen vgl. Wrana et al. (Hrsg.) 2014: 387–388.
In diesem Zusammenhang ist Haraways Auseinandersetzung mit feministischen Standpunkttheorien, etwa von Nancy Hartsock und Sandra Harding, zu verstehen (z.B. Haraway 1988: 575–580).