Wir stoßen damit auf eine Wissenschaft – von deren Umfang die Zeitgenossen noch keine Vorstellung haben – die zwar Wissenschaft vom Bewusstsein und doch nicht Psychologie ist, auf eine Phänomenologie des Bewußtseins gegenüber einer Naturwissenschaft vom Bewußtsein.
Edmund Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft (1910/11)
3.1 Herausforderung: Psychologisierung des Geistes
Es sei, so schreibt Seidel in Bewußtsein als Verhängnis »eine methodisch notwendige Illusion der Psychologen, eine ewig gleichbleibende menschliche Seele anzunehmen und sich gegen eine historische Relativierung dieser Voraussetzung für die Allgemeingültigkeit ihrer kultur- und religionspsychologischen Untersuchungen mit allen Mitteln zu sträuben« (Seidel 1927: 118). Seidel bezeichnet die Annahme, dass die Seele keinem historischen Wandel unterworfen sei, zwar als illusionär, aber für die Psychologie als methodisch notwendig, denn »jede Wissenschaft muß schon aus einem natürlichen Selbsterhaltungswillen so für ihre Voraussetzungen kämpfen« (ebd.). Seine Auseinandersetzungen mit der Psychologie und der Psychoanalyse in Bewußtsein als Verhängnis erzeugen den Eindruck, dass er mit diesen Zugängen erkenntnistheoretisch in einen Teufelskreis gerät: »Je mehr man zwar Psychologie […] mit Psychologie austreiben will, desto mehr wird man ja selbst psychologisch verseucht durch den Gebrauch der Psychologie. Den Teufel durch den Beelzebub, den obersten der Teufel auszutreiben: höchste Teufelei!« (ebd.: 212)44 »Das Wahrheitsproblem«, so treibt Seidel seinen Gedankengang weiter, »hat mit Psychologie nichts zu tun« (ebd.: 213).
In der erwähnten Passage in Bewußtsein als Verhängnis – es ist nur eine der vielen Stellen, die von dieser Problematik handeln – wird exemplarisch deutlich, dass die Wahrheitsansprüche der empirischen Psychologie45 und jene der Philosophie am Anfang des 20. Jahrhunderts im Widerstreit waren. Die Kernpunkte der Problematik, die sich aus dem disziplinären Streit zwischen Philosophie und Psychologie ergeben und die bei Seidel in aller Schärfe zum Ausdruck kommen, werden in diesem Kapitel weiter nachgezeichnet. Dabei wird auf einen Protagonisten fokussiert, nämlich Edmund Husserl, der Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zentrale Beiträge zu dieser Debatte geleistet hat. Mit ihm – so könnte man abgekürzt sagen – wurde der Kampfbegriff des Psychologismus nicht nur popularisiert, er wurde akademisch salonfähig. Bevor weiter – ausgehend von Seidel – auf Husserls Strategien in diesem Widerstreit eingegangen wird, muss ein Blick auf die Historiografie der Philosophie geworfen werden. Wie – so stellt sich die Frage – wird die Trennung zwischen Psychologie und Philosophie in der Philosophie dargestellt?
Ein konstruktives Problem für die Philosophie: Psychologismus
In der traditionellen Philosophiegeschichtsschreibung wird die Abtrennung der Psychologie von der Philosophie üblicherweise als ein einseitiger Emanzipationsprozesses dargestellt:46 Demnach habe sich die Psychologie – als Stichdatum gilt Wilhelm Wundts Gründung des ersten experimentellen psychologischen Instituts in Leipzig im Jahr 1879 – von der Philosophie kontinuierlich losgesagt und sich dadurch zu einer eigenständigen Disziplin entwickelt. Wie jedoch etwa Nicole D. Schmidt in ihrer Studie Philosophie und Psychologie. Trennungsgeschichte, Dogmen und Perspektiven (1995) verdeutlicht, handelt es sich bei diesem Prozess nicht um eine einseitige Emanzipationsbewegung: Auch die Philosophie musste sich fragen, »wie sie ihre psychologische Leerstelle füllen will« (Schmidt 1995: 9). Schmidt fokussiert somit die gegenseitige Irritation beider Disziplinen und hebt in ihrer Studie die wichtigen Rollen hervor, die in diesen Abgrenzungsprozessen Wundt und Husserl zukommen: »Das ohnehin nicht sehr gefestigte akademische Selbstbewusstsein der jungen Psychologie war durch Husserls ›Logische Untersuchungen‹ mächtig irritiert worden. Wundt reagiert erst 1910, aber in der Vorgehensweise ähnlich wie zuvor viele Kollegen: Er sucht nach Inkonsistenzen in Husserls Konzept«47 (ebd.: 93). Wundt, zu seiner Zeit ein bedeutender und berühmter Philosoph, wird heute kaum mehr als Philosoph, sondern als Begründer der empirischen Psychologie rezipiert.
Auch Martin Kusch betont in Psychologism. A Case Study in the Sociology of Philosophical Knowledge (Kusch 1995) die zentrale Rolle beider Autoren. Allerdings moniert er, dass in der traditionellen Philosophiegeschichte Husserl (und Gottlob Frege) quasi als isolierte Einzelkämpfer gegen den Psychologismus – also gegen die Meinung, dass erkenntnistheoretische Grundlagen auf empirische Gesetze der Psychologie rückführbar sind – dargestellt werden. Es sei überraschend (und falsch), wenn z.B. Herbert Schnädelbach schreibe, dass der Psychologismus seit der Jahrhundertmitte bis weit in unser Jahrhundert – gemeint ist das 20. Jahrhundert – als communis opinio der Philosophen gelte, gegen die Frege und Husserl ziemlich isoliert angekämpft hätten (vgl. Kusch 2000: 18). Vielmehr sei der Psychologismus zwischen ca. 1880 und 1920 ein Thema, das die gesamte deutsche Philosophielandschaft intensiv umgetrieben habe. Beinah jeder Philosoph habe den jeweils anderen in unterschiedlichen Weisen des Psychologismus bezichtigt (ebd.: 17–18). Darüber, was Psychologismus ist, wer ihn betreibt und in welchen philosophischen Gebieten er stattfand, herrschte am Anfang des 20. Jahrhunderts also alles andere als ein Konsens: »Additionally, there were also many seperate criteria for psychologism in ethics and aesthetics that I shall not list here. Given these lists it becomes understandable that it was close to impossible for a philosopher in turn-of-century Germany to avoid being charged with psychologism« (ebd.: 18). Kusch macht deutlich, dass die Debatten rund um den Psychologismus mit dem politisch motivierten Kampf um Lehrstühle für die experimentelle Psychologie (als deren berühmtester Akteur Wundt gilt) zusammenhingen. »To understand why philosophers of that period were so eager to unmask their colleagues as advocates of psychologism, we have to turn to the central ›antidiscipline‹ of philosophy in this period, that is, experimental psychology« (Kusch 2000: 18).
Das Bestreben, die experimentelle Psychologie als ein Teilgebiet der Philosophie zu verstehen (bzw. traditionelle philosophische Lehrstühle in Lehrstühle der experimentellen Philosophie umzubesetzen), sei in verschiedenster Weise attackiert worden.48 Für die Vielfalt der Argumente des Psychologismus waren, so Kuschs Argumentation, letztlich die »›pure‹ philosophers« selbst verantwortlich, da sie sich einerseits in unterschiedlichen Weisen bemüht hätten, sich von der experimentellen Psychologie abzugrenzen: »On the one hand, their authors tried to show that experimental psychology was a natural science like physiology, or rather, that it was nothing but physiology« (ebd.: 20). Andererseits seien diese Abgrenzungen mit der Durchsetzung des jeweils eigenen Anliegens verknüpft gewesen: »On the other hand, every philosopher tried to set his own project enterprise, and by accusing others of being closet psychologicists« (ebd.). Daraus kann gefolgert werden, dass die Philosophen die Argumente für und gegen den Psychologismus selbst hervorgebracht haben: »[…] the plethora of criteria for psychologism was the result of pure philosophers’ respective attempts to translate the ›pure‹ philosophical community’s interest in defending ›pure‹ philosophy into an acceptance of their respective projects. Little suprise therefore that so many were both accuser and accused« (ebd.).
Vor dem Hintergrund von Kuschs Argumentation ist es erstens bemerkenswert, dass in der traditionellen Philosophiegeschichte, wenn es um das Psychologismusproblem geht, vorwiegend Husserl und Frege herangezogen werden und impliziert wird, diese hätten dieses aus der Psychologie stammende Problem gelöst. Zweitens ist es bemerkenswert, dass diese weitläufigen und intensiv geführten Diskussionen im Namen einzelner Personen (hier Husserl und Frege) ausgeklammert werden. Diese gingen, mit anderen Worten, als ›Sieger‹ aus dieser Debatte hervor. Das heißt auch, die Personifizierung philosophisch gewichtiger Argumente gegen den Psychologismus geht mit der Bestimmung einher, was der Psychologismus in philosophischer Hinsicht überhaupt ist: »Before the publication of Husserl’s criticism, the word ›psychologism‹ had been used somewhat vaguely« (ebd.: 22). Erst durch Husserls Texte, so Kusch, wäre der Begriff Psychologismus operationalisiert worden. Verkürzend ist Kuschs Antwort auf die Frage, weshalb aus dieser vielfältigen und kontroversen Debatte plötzlich einzelne Autoren und einzelne Argumente hervorgegangen seien, diese: »[…] Husserl’s Prolegomena was very much a rhetorical masterpiece; the way the arguments were put was such that it simply forced others to react« (ebd.). Husserls Argumente – laut zeitgenössischen Reaktionen auf Husserl seien diese längst überkommen bzw. von anderen (z.B. den Neukantianern) übernommen worden – wurden in einer rhetorisch äußerst geschickten Weise arrangiert, sodass sie quantitativ Reaktionen anderer Philosophen initiiert haben.
To sum up: Husserl’s Logical Investigations became the focus of attention in the border dispute between psychology and ›pure‹ philosophy not only because it provided pure philosophers with a powerful argumentative weapon – both against each other and against experimental Psychology – but also because no one accused of psychologism could afford to ignore the accusation. Others could try, and indeed did try, to turn the charge back against Husserl himself, but whatever the style and direction of the various reactions, in subsequent generations of publications, Husserl’s text could not be left unnoticed. (ebd.: 22–23)
In Kuschs Perspektive konnten die Argumente, wie sie Husserl in den Logischen Untersuchungen vorgebracht hat, im Kontext der damaligen Psychologismusdebatte schlicht nicht mehr ignoriert werden. Kusch betont also die Wichtigkeit des Kontexts, aus dem Husserl seine Argumentationen entwickelt hat: Husserls – für die Philosophie des 20. Jahrhunderts bahnbrechenden – Argumente, die darin münden, dass die theoretischen Fundamente der normativen Logik nicht empirisch-psychologischer Natur sind, resultierten aus dem Kontext der von Philosophen und Psychologen gleichermaßen geführten Psychologismusdebatte.
Auch Seidel hat Husserl nicht ignoriert: Er hat während seiner Freiburger Zeit bei ihm Vorlesungen besucht.49 Obwohl er Husserls Argumente also gekannt haben muss, lösten diese das Problem einer Psychologisierung des Geistes aus seiner Sicht aber nicht.
»Der Geist als Sublimierung des hypertrophierten Trieblebens«
Seidel zeichnet in Bewußtsein als Verhängnis die für das 20. Jahrhundert zentrale Herausforderung nach, nämlich dass psychologische und psychoanalytische Perspektiven die Unabhängigkeit des menschlichen Geistes und damit die Wissenschaft als eine potenziell unabhängige und potenziell ›gute‹ Instanz grundsätzlich infrage stellen. Es sind u.a. die Psychologie, die – zugespitzt – den Menschen insgesamt auf psychologische Prozesse zurückführt, und die Psychoanalyse, die den Geist als von einem unbewussten Trieb bestimmt sieht, die Seidels Überlegungen antreiben. »Die formale Struktur des Denkens ist der Ausdruck der seelischen Struktur des Erkennenden. Das gilt für den einzelnen Menschen, für Gruppen, für ganze Kulturen und Völker« (Seidel 1927: 123). Die »seelische Struktur« formiere also das Denken und nicht umgekehrt. »In dem Bewußtmachen an sich nicht bewußter Einstellungen und seelischer Vorgänge besteht die Haupttätigkeit des reflektierenden und analysierenden Bewußtseins […]« (ebd.: 125). Gleich im Anschluss an diesen Satz folgt emphatisch: »Wir betonen: dieses Bewußtsein ist selbst Symptom einer Kulturentwicklung, nämlich der Phase der entzauberten Psychologie bei einem Volke oder bei einzelnen Individuen« (ebd.). Das Bewusstwerden psychischer Prozesse wird von Seidel also dezidiert historisiert. Weil psychologische Erkenntnisse vorherrschend geworden seien, sei die Gegenwart eine Phase der Entzauberung. Wissenschaftliche Fortschrittsgedanken sind Seidel fremd:
Man wende nicht ein, daß die Schäden des Analysierens durch die bisherige Unzulänglichkeit unseres psychologischen Wissens und unseres praktischen Könnens bedingt seien. Vielmehr kann man behaupten, daß schon zu viel erkannt wurde. Wenn die Folgen noch relativ harmlos erscheinen, so verdanken wir dies lediglich der Tatsache, daß unser verhängnisvoll bewußtes analysierendes Durchschauen psychischer und sozialer Zusammenhänge sich vorläufig noch wenig entfaltet und verbreitet hat. (ebd.: 90)
Seidel stellt die Psychologisierung bzw. Soziologisierung50 des Geistes als ein Problem dar, ohne dass er dieses aufzulösen beansprucht. Der Geist erscheint als eine Krankheit bzw. als Sublimation des (männlichen) Sexualtriebes. »Der Mensch ist ein an der Hypertrophie erkranktes Tier, an Satyriasis erkrankter Affe […]. Wenn Geist die Sublimierung des hypertrophierten Trieblebens darstellt, ist Geist deshalb die schlimmste Krankheit der Tierspezies Mensch« (ebd.: 216).
Wie angesprochen beschäftigt sich Seidel in einzelnen Gedankengängen mit dem Zusammenhang zwischen Geisteskrankheit und wissenschaftlicher bzw. künstlerischer Produktion: Die Psychopathie, schreibt er, sei eine »Bedingung geistigen Schaffens, nicht aber der geistigen Begabung« (ebd.: 213). Es gebe »sehr viele begabte Menschen, die nie zu innerlich ernster Produktion kommen, weil sie nicht psychopathisch sind – weil der psychopathische Zwang nicht besteht« (ebd.). Bei vielen Menschen sei die geistige Produktivität in der Jugend lediglich »eine Neurose aufgrund der verdrängten Sexualität, die sie antreibt, sobald sie aber (bes. durch Heirat) diese Sexualität und Erotik nicht mehr zu verdrängen brauchen, verschwindet die Neurose, damit aber auch der Zwang zur Produktion und die Produktivität hört auf« (ebd.). Dies sei ein »psychischer Grund, warum so viele Produktive an ihrer Heirat zerbrechen, als Produktive – denn rein psychisch sind sie ja gesund geworden« (ebd.). Wissenschaft und Kunst werden von Seidel letztlich als Flucht, als Rettung vor dem Selbstmord interpretiert (ebd.: 214).51 In diesem Zusammenhang demonstriert er die Sublimierung des Selbstmordes als »die einzig mögliche psychische Grundlage richtiger Erkenntnisse« (ebd.).
Ein »ausgesprochener Denkertyp«
Obwohl Seidel, wie erwähnt, bei Husserl Vorlesungen besucht hat, übernimmt er dessen Lösung des Psychologismusproblems – in aller Kürze: dass logische Begriffe eigenständige und normative Kategorien sind – nicht. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass Seidels Interessen nicht philosophisch im engeren Sinne sind: Husserl stellt für Seidel mehr ein Forschungsobjekt denn einen Überbringer erkenntnistheoretischer Lösungen dar. Eine biografische Anekdote zu Seidel, die Prinzhorn in seinem Vorwort zu Bewußtsein als Verhängnis überliefert, legt dies zumindest nahe. In dieser Anekdote schildert ein Freund von Seidel52 dessen Eindruck von der Figur und dem Philosophen Husserl:
Und so war er [Seidel, MD] gegen Husserl, der im Sommersemester 1916 nach Freiburg übersiedelt war, viel aufnahmsbereiter [als gegenüber Rickert, MD] … Er spürte den radikalen Umschwung der phänomenologischen Erkenntniskritik, die ehrliche Nüchternheit, sachliche Strenge und vielseitige Fruchtbarkeit dieser analytischen und logischen Methode, die eigenartige Kraft der Verbindung von psychologischer, geistesgesetzlicher und metaphysischer Motivation. […] In Husserl erlebte er den ausgesprochenen Denkertyp, der ihm später so oft als charakteristisches Objekt und im Rahmen seiner kulturkritischen Arbeiten beschäftigte. Der Prototyp des Denkers, wie er ihn 1924 klar vor sich sah und mir in gelegentlichen Debatten auch an anderen Studiengenossen beleuchtete: schöpferisch, original, unbedingt sachlich, unanimalisch, einseitig, amusisch – und je weniger sich dessen bewußt, umso besser. (Prinzhorn 1927: 54–55)
Folgt man der Erzählung dieses Freundes, soll Seidel im Gegensatz zu den neukantianischen Ansätzen53 auf Husserls Phänomenologie also positiv reagiert haben. Seidel interessiere sich sowohl für Husserls Denken und Philosophie als auch für den Typus des Denkenden, den er in Husserl personifiziert gesehen habe. Der von Prinzhorn zitierte Freund deutet Seidels Vorhaben wie folgt:
Und er [Seidel] spürte natürlich auch in sich selber sehr vieles von diesen Momenten [den sachlichen, unbedingten etc., MD]. Und wollte doch das typisch Denkerische in sich überwinden. Es in sich selber und objektiv als solches ad absurdum führen mit dessen eigenen Mitteln. Eine logische Deduktion, deren Paradoxie er dann um ihrer Paradoxie willen als Endresultat und Kernproblem seines Werkes erfasste […]. (ebd.)
Laut diesem Freund hatte Seidel Philosophen wie Husserl vor Augen, wenn er mit den Mitteln des Denkens das »typisch Denkerische« zu analysieren suchte.
Diese biografische Anekdote macht auf den in der Einleitung erwähnten Kontrast zwischen Seidel und den für die vorliegende Arbeit ausgewählten kanonisierten Philosophen aufmerksam: Anders als die Philosophen positioniert Seidel seine eigenen Analysen nicht innerhalb der Philosophie. Wo die kanonisierten Philosophen die Standpunkte anderer Wissenschaften analytisch objektivieren, versucht Seidel philosophische Standpunkte seiner Zeit zu objektivieren. Analytisch gelingt ihm das nicht. Sein »Durcharbeiten« (Voller 2012: 324) aber veranschaulicht Krisen, die von Philosophen aufgrund ihrer innerdisziplinären Logik ausgeblendet werden: Er denkt Krisen dort zu Ende, wo Philosophen – hier Husserl – sie als Ausgangspunkte philosophischer Erneuerungsmöglichkeiten nehmen: Von welcher Position aus ist ein Denken legitimierbar, wenn durch psychologische und psychoanalytische Erkenntnisse sichtbar wird, dass die Unabhängigkeit des Geistes grundsätzlich infrage steht?
Seidel prangert diese Krisen in aller Vehemenz in jenen Passagen an, in denen er wissenschaftliche Produkte bzw. den Typus des Wissenschaftlers ›psychologisiert‹: »Der Wissenschaftler«, schreibt er, »ist ein sublimierender Perverser« (Seidel 1927: 212). Wissenschaftler seien »gute, und zwar nicht nur gütige, sondern schwache gutmütige Menschen, weil sie ihre gesellschaftsfeindlichen, bösen Eigenschaften nicht ausleben müssen, wie der Militär, Wirtschaftsmensch, der Erzieher etc. p.p., sondern eben in ihren geistigen Tätigkeiten sublimieren; dafür haben diese Produkte dann aber eine umso zerstörendere Wirkung« (ebd.). Seidels Diagnose resultiert daraus, dass er wissenschaftlich-philosophische Produktionen (auch seine eigenen) mit psychologischen und psychoanalytischen Konzepten zu erfassen versucht und als Folge davon letztgültige Erkenntnisgrundlagen verliert. Er gibt keine Lösungen, sondern zeigt die Konsequenzen von Herausforderungen auf, welche Psychologie und Psychoanalyse für die Philosophie bedeuten: Sind empirisch feststellbare Kausalitäten in der Psyche letztgültige Prinzipien, von denen ausgehend das menschliche Denken erfasst werden kann? Von welcher Position aus sind Denken und Wissenschaft legitimierbar, wenn durch psychologische und psychoanalytische Erkenntnisse sichtbar wird, dass die Unabhängigkeit des Geistes grundsätzlich infrage steht? Indem Seidel diese Herausforderungen konsequent zu Ende denkt, wird greifbar, dass hier jemand schreibend und denkend um die Möglichkeit der Freiheit des Denkens ringt. Vice versa machen Seidels Gedankengänge innerphilosophische Dynamiken deutlich, die von kanonisierten Philosophen nicht erfasst werden: Sie zeigen, dass die Philosophie blinde Flecken dort generiert, wo sie sich mit sich selbst und einem Lösungsprimat beschäftigt. Die Orte, von denen aus Seidel denkt, sind gewissermaßen diese blinden Flecken – er denkt Krisen nicht als Erneuerungsmöglichkeiten, sondern letal bis ans Ende.
An Husserls Argumentationsstrategien hingegen kann idealtypisch nachgezeichnet werden, wie ein Philosoph mit und durch Krisen argumentativ einen neuen philosophischen Standpunkt erzeugt. Im Folgenden wird Kuschs wissenschaftssoziologische Perspektive aufgegriffen und weitergetrieben: Indem an Philosophie als strenge Wissenschaft (1910/11) herausarbeitet wird, wie Husserl seinen philosophischen Erneuerungsanspruch im Zusammenhang mit seiner Psychologiekritik entwickelt,54 werden jene Selbstpositionierungsstrategien beleuchtet, die als Abgrenzungsstrategien bezeichnet werden: Durch den Ausweis, dass eine andere diskursführende Wissenschaft (hier die Psychologie) in Bezug auf ein bestimmtes Thema (hier des Bewusstseins) fehlerhaft und ungenügend ist, werden Geltung und Relevanz eines neuen philosophischen Standpunkts hergeleitet, begründet und legitimiert. Husserls Begründung der Phänomenologie, so also die Stoßrichtung der Argumentation, ist konstitutiv mit seiner Abgrenzung gegenüber der empirischen Psychologie verbunden.
3.2 Philosophie als strenge Wissenschaft
Husserl und sein Text Philosophie als strenge Wissenschaft führen nach Heidelberg, Freiburg und Göttingen in die frühen 1910er- bzw. 1920er-Jahre. Sein Artikel erschien im Frühjahr 1911 in der Zeitschrift LOGOS. Husserl, zu diesem Zeitpunkt 52-jährig und als ordentlicher Professor an der Universität Göttingen angestellt, hatte ihn – es wird in Werkbiografien immer wieder erwähnt – um die Jahreswende 1910/11 in wenigen Wochen niedergeschrieben. Die Gründe, weshalb es sich anbietet, den Erneuerungsanspruch Husserls gerade am Text Philosophie als strenge Wissenschaft zu erarbeiten, sollen kurz angesprochen werden.
Philosophie als strenge Wissenschaft ist ein programmatischer Text. Bereits im Titel wird der Anspruch deutlich: Es geht hier gewissermaßen ums Ganze, um eine wissenschaftliche Reform der Philosophie. Zudem ist der Text rhetorisch geschickt aufgebaut: Zentrale wissenschaftliche Problematiken und Debatten der Zeit finden sich in kondensierter Form darin wieder. Wenn Kusch Husserls Prolegomena zur reinen Logik wie erwähnt als ein »rhetorical masterpiece« (Kusch 2000: 22) bezeichnet, so kann dies ebenso von Philosophie als strenge Wissenschaft gesagt werden.
Der Aufsatz ist in einer aus heutiger Sicht »mythisch« stilisierten Zeitschrift erschienen.55 Der LOGOS, die »Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur«, erschien erstmals 1910, letztmals 1933. Das Projekt wurde von fünf Doktoren der Philosophie gestartet, die alle in Heidelberg und Freiburg bei Wilhelm Windelband oder Heinrich Rickert studiert bzw. promoviert haben. Sie konnten für die Zeitschrift die Mithilfe der wissenschaftlichen Prominenz jener Zeit erwirken. Rüdiger Kramme, der die Entstehungsbedingungen des LOGOS untersucht hat, beschreibt diesen Umstand wie folgt: »Auf dem Titelblatt findet der Leser […] einen kleinen ›Who’s Who‹ der deutschen Geistesgeschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts […]«56 (Kramme 1995: 120). Philosophie als strenge Wissenschaft ist demnach in einem Kontext erschienen, der bereits im Vorfeld Aufmerksamkeit garantierte, da der LOGOS zu philosophischen Erneuerungen aufgerufen hatte. Darüber hinaus hatte die Zeitschrift einen stark ideellen Anspruch. »Ihr Spezifikum liegt in ihrem programmatischen Anspruch, Kultur mit philosophischen Mitteln zu schaffen und zu gestalten und dabei Internationalität als funktional und unverzichtbar und beide wiederum als interdependente Elemente zu begreifen. Damit wird versucht, praktische Philosophie grenzüberschreitend zu betreiben und dies zu institutionalisieren« (Kramme 1997: 124). Interdisziplinarität und Internationalität waren die zentralen Schlagworte des Zeitschriftenprojekts; insofern ist es wenig erstaunlich, dass der LOGOS heute als ein Gründungsorgan sowohl der Kulturphilosophie als auch der Kulturwissenschaften rezipiert wird.
Laut Kramme war Husserls Beziehung zum LOGOS ambivalent: Dass dieser ausgerechnet in einer kulturphilosophischen Zeitschrift mitgewirkt habe, sei von ihm selbst skeptisch beurteilt worden (ebd.). Dass er seine dezidierte Ablehnung der »Weltanschauungsphilosophie« in einer Zeitschrift publiziert hat, die mit dieser Art Philosophie affirmativ verbunden gewesen ist, könnte ein publikumswirksamer Faktor gewesen sein. In diesem Sinne stellte sein Aufsatz durchaus eine Provokation dar.
Ein weiteres Merkmal der Programmatik des Aufsatzes ist dessen Verbindung zu Wilhelm Dilthey. Philosophie als strenge Wissenschaft wird philosophiehistorisch als eine Replik auf Diltheys kurz zuvor erschienenen Aufsatz Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen (1911) rezipiert: Demnach reagiert Husserl in diesem Text auf einen etablierten, hoch angesehenen Wissenschaftler seiner Zeit. Darauf folgte ein direktes Nachspiel: Dilthey hat sich in einem Brief an Husserl gegen den Vorwurf des Skeptizismus und Historizismus zur Wehr gesetzt, »woraufhin Husserl eine Berichtigung dieses möglichen ›Mißverständnisses‹ ›sogleich im LOGOS versprach‹« (Kramme 1995: 142). Diese Richtigstellung jedoch ist – vermutlich aufgrund von Diltheys Tod im selben Jahr (1911) – nie erschienen. Auch dieses Detail belegt die richtungsweisende Funktion des Aufsatzes: Im Kontext der sich damals durchsetzenden Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften (für deren Etablierung Dilthey steht) positioniert Husserl die Philosophie explizit als Bindeglied beider Bereiche.
Husserls Text – es wird bereits im Titel deutlich – ist ein Plädoyer für eine Erneuerung der Philosophie im Sinne strenger Wissenschaftlichkeit. So heißt es denn in der Exposition programmatisch: »Die nachfolgenden Ausführungen sind von dem Gedanken getragen, daß die höchsten Interessen menschlicher Kultur die Ausbildung einer streng wissenschaftlichen Philosophie fordern; daß somit, wenn eine philosophische Umwendung in unserer Zeit Recht haben soll, sie jedenfalls von der Intention auf eine Neubegründung der Philosophie im Sinne strenger Wissenschaft beseelt sein muß«57 (Husserl 1910/11: 293). Husserl verteidigt also nicht nur eine streng wissenschaftliche Philosophie, es geht ihm gleichzeitig um eine Fundierung der Philosophie selbst. In Philosophie als strenge Wissenschaft können seine zentralen Argumentationsstrategien in kondensierter Form erfasst werden.
Die »Wissenschaftlichkeit« kritisieren
Der 52 Seiten umfassende Text Philosophie als strenge Wissenschaft ist in drei Abschnitte aufgeteilt. Auf eine kurze Einführung, in der Husserl sein Thema und das Vorgehen erläutert, folgen zwei längere Kapitel, zuerst »Naturalistische Philosophie«, danach »Historizismus und Weltanschauungsphilosophie«. Wo im ersten Teil der Naturalismus selbst kritisiert wird, werden im zweiten Teil zeitgenössische Kritikpunkte am Naturalismus kritisiert: die Weltanschauungsphilosophien.
Husserl leitet seine Kritik am Naturalismus und am Historizismus bzw. an den Weltanschauungsphilosophien mit einer Kritik an den Natur- und Geisteswissenschaften ein. Der Naturalismus sei eine Folgeerscheinung der Entdeckung der Natur, so wie der Historizismus eine Folgeerscheinung der Entdeckung der Geschichte sei. »Den herrschenden Auffassungsgewohnheiten entsprechend, neigt eben der Naturwissenschaftler dazu, alles als Natur, der Geisteswissenschaftler als Geist, als historisches Gebilde anzusehen und demgemäß, was so nicht angesehen werden kann, zu missdeuten« (ebd.: 294). In ihrer Abgeschlossenheit seien beide verkürzend – sowohl geisteswissenschaftliche als auch naturwissenschaftliche Erklärungen.
Husserls Ausgangslage ist der zu seiner Zeit viel diskutierte Topos, der später als der der »zwei Kulturen« in die Geistes- und Kulturgeschichte eingehen wird.58 Husserl greift die Trennung der Wissenschaften in zwei weitgehend voneinander abgespaltene Bereiche auf, um zu kritisieren, dass sowohl geistes- als auch naturwissenschaftliche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen es anstreben, ›alles‹ erfassen zu wollen, es aufgrund ihrer Einseitigkeit aber nicht können. Alles – d.h. die Welt in ihrer Totalität. »Das Geistesleben der Menschheit ›verstehen‹«, schreibt Husserl mit einem Seitenhieb gegen Dilthey, »ist sicherlich eine große und schöne Sache. Aber leider kann auch dieses Verstehen uns nicht helfen und darf nicht mit dem philosophischen verwechselt werden, das uns die Welt- und Lebensrätsel enthüllen soll« (ebd.: 336). Diese Aussage verweist darauf, dass Husserl nicht etwa den – zu dieser Zeit sich etablierenden – Geisteswissenschaften die Lösung der Welt- und Lebensrätsel zuweist, sondern dafür eine spezifische Wissenschaft vorsieht: die Philosophie.59
Er zeichnet insgesamt ein alternativloses Szenarium. In ihren extremen Formen würden der Naturalismus in den Szientismus, der Historizismus bzw. die Weltanschauungsphilosophien in den Relativismus führen. Sowohl der Naturalismus als auch der Historizismus werden von Husserl als »erkenntnistheoretische Verwirrung« dargestellt, die vermöge ihrer »widersinnigen Konsequenzen […] schroff abgelehnt werden müsse« (ebd.: 327). Allerdings hält er eine »philosophische Umwendung in unserer Zeit [1910, MD]« (ebd.: 293) für möglich. Die Absicht einer Neubegründung der Philosophie im Sinne strenger Wissenschaft sei der »Gegenwart keineswegs fremd«. Vielmehr sei sie »voll lebendig gerade innerhalb des herrschenden Naturalismus« (ebd.). Der Naturalismus gehe der »Idee einer streng wissenschaftlichen Reform der Philosophie nach und glaubt sogar jederzeit, […] sie schon verwirklicht zu haben« (ebd.).60 Die Art und Weise jedoch, wie der Naturalismus diese Reform vollziehe, sei abwegig: »Der Naturalist ist, kann man alles in allem sagen, in seinem Verhalten Idealist und Objektivist« (ebd.: 295). Er »lehrt, predigt, moralisiert, reformiert« (ebd.). Anders aber als der antike Skeptizismus predige er nicht in expliziter Weise, dass es das einzig Vernünftige sei, die Vernunft zu leugnen. »Der Widersinn liegt bei ihm nicht offen, sondern ihm selbst verborgen darin, dass er die Vernunft naturalisiert« (ebd.: 295–296). Der Naturalismus sei aber nicht nur »theoretisch von Grund auf verfehlt«, sondern bedeute gar »praktisch eine wachsende Gefahr für unsere Kultur« (ebd.: 293). An Kritiken gegen die »naturalistische Philosophie« fehle es aber keineswegs. Im Gegenteil: Die »vielbemerkte Umwendung unserer Zeit« sei »anti-naturalistisch« eingestellt (ebd.: 294). Die Krux ist für Husserl, dass diese Kritiken »von den Linien wissenschaftlicher Philosophie abführen und in bloße Weltanschauungsphilosophie einmünden […] wollen« (ebd.). Kurz: Eine radikale Kritik an der naturalistischen Philosophie ist für ihn »heutzutage eine wichtige Angelegenheit«. Die – in seiner Perspektive durchaus vorhandene – Kritik laufe jedoch Gefahr, ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit preiszugeben. Es bedürfe folglich einer »positive[n] Kritik an den Grundlagen und Methoden« naturalistischer Philosophien (ebd.: 293). Denn nur diese könne »das Vertrauen auf die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Philosophie« erhalten (ebd.: 293–294).
Die Situation, die Husserl präsentiert, ist komplex und soll kurz zusammengefasst werden: Zeitgenössische Tendenzen in den Wissenschaften, u.a. der »herrschende Naturalismus«, seien nicht nur widersinnig, sondern lösten sogar eine kulturelle Bedrohung aus. Dieser Bedrohung wiederum könne nur mit wissenschaftlicher Kritik – mit einer streng wissenschaftlichen Philosophie – begegnet werden. Die zeitgenössischen Versuche, den Naturalismus zu kritisieren, hält Husserl jedoch für ungenügend, wenn nicht gar bedenklich, weil diese Gefahr laufen würden, die Wissenschaftlichkeit preiszugeben. Da der »widersinnige« Ansatz des »Naturalismus« gerade durch seinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit eine Bedrohung darstelle, sei nicht nur eine wissenschaftliche Kritik am Naturalismus, sondern zugleich an den bestehenden wissenschaftlichen Kritiken am Naturalismus notwendig. Die Wissenschaftlichkeit steht also in doppelter Hinsicht im Zentrum von Husserls Überlegungen: Weil der wissenschaftliche Anspruch des Naturalismus schlicht »widersinnig« sei, müsse sowohl die vermeintliche Wissenschaftlichkeit des »Naturalismus« als auch die Wissenschaftlichkeit der Kritiken am Naturalismus (also an den Weltanschauungsphilosophien) kritisiert werden.
Kritik am Naturalismus: Psychologiekritik
»Indem die Kritik scheidet und klärt, indem sie dazu zwingt, dem eigentlichen Sinn der philosophischen Motive nachzugehen, die meist so vage und vieldeutig als Probleme formuliert werden, ist sie geeignet, die Vorstellungen besserer Ziele und Wege zu wecken und unser Vorhaben positiv zu fördern« (ebd.: 297). In dieser Formulierung Husserls wird die zentrale Argumentationsstrategie, nämlich die eigene Position durch die Kritik an der Wissenschaftlichkeit anderer Positionen hervorzubringen, deutlich. Aufschlussreich ist, dass sich seine Kritik letztlich als eine Kritik an den disziplinären Grundlagen der Psychologie herausstellt.
Im ersten Teil fordert Husserl eine Grundlagen- und Methodenkritik an der »naturalistischen Philosophie« ein:
Was alle Formen des extremen und konsequenten Naturalismus, angefangen vom populären Materialismus bis zum neuesten Empfindungsmonismus, charakterisiert, ist einerseits die Naturalisierung des Bewußtseins, einschließlich aller intentional-immanenten Bewußtseinsgegenbenheiten; andererseits die Naturalisierung der Ideen und damit aller absoluten Ideale und Normen. (ebd.: 294–295)
Husserl strebt eine »ausführliche Besprechung« des ersten Aspektes, also der Naturalisierung des Bewusstseins, an. »Die tieferen Zusammenhänge mit den berührten skeptischen Konsequenzen werden im folgenden von selbst hervortreten und ebenso die ganze Weite, in der unser zweiter Vorwurf, die Naturalisierung der Ideen anlangend, gemeint und zu begründen ist, verständlich werden« (ebd.: 297). Er geht also davon aus, dass sich entlang seiner Kritik an der Naturalisierung des Bewusstseins die »tieferen Zusammenhänge« von selbst erschließen. Durch die Kritik an zeitgenössischen Bewusstseinskonzepten werde, so legt er nahe, seine eigene Konzeption, die Phänomenologie, wie von selbst »hervortreten«.
Die hier entscheidende Frage ist demnach, wie Husserl die Kritik an der Naturalisierung des Bewusstseins formuliert. »Wir knüpfen unsere kritischen Analysen natürlich nicht an die mehr populären Reflexionen philosophierender Naturforscher an, sondern beschäftigen uns mit der mit wirklich wissenschaftlichem Rüstzeug auftretenden gelehrten Philosophie. Insbesondere aber mit einer Methode und Disziplin, durch welche sie glaubt, endgültig den Rang einer exakten Wissenschaft erklommen zu haben« (ebd.: 297). Die Rede ist hier von der experimentellen Psychologie.
Husserl kritisiert das abstrakte Konzept des Naturalismus also in Form einer Kritik an den Grundlagen der empirischen Psychologie. Die Trennung zwischen Psychologie und Philosophie ist, wie erwähnt, um 1910 weder institutionell noch ideell vollzogen. Die Unbestimmtheit, welche Konzepte der Psychologie und welche der Philosophie zugehörig sind, widerspiegelt sich in Husserls Text an vielen Stellen. Wenn er beispielsweise von der »mit wissenschaftlichem Rüstzeug auftretenden Philosophie« spricht und damit die experimentelle Psychologie meint, wird deutlich, dass sich die beiden Disziplinen in intensiven Abgrenzungsprozessen befinden. In den Textstellen, in denen er die exakte Psychologie beschreibt, wird die Virulenz dieser Debatten offenkundig:
Sie sei die so lang gesuchte, nun endlich zur Tat gewordene exakt-wissenschaftliche Psychologie. Logik und Erkenntnistheorie, Aesthetik, Ethik und Pädagogik hätten durch sie endlich ihr wissenschaftliches Fundament gewonnen, ja sie seien schon im vollen Zuge, sich zu experimentellen Disziplinen umzubilden. Im übrigen sei die strenge Psychologie selbstverständlich die Grundlage aller Geisteswissenschaften und nicht minder auch der Metaphysik. In letzterer Hinsicht freilich nicht das bevorzugte Fundament, da in gleichem Umfange auch die physische Naturwissenschaft an der Fundamentierung dieser allgemeinsten Wirklichkeitslehre beteiligt sei. (ebd.: 297–298)
Husserl macht unmissverständlich klar, dass er den Anspruch der »strengen Psychologie«, letztlich das Fundament für alle anderen Wissenschaften darstellen zu können, abwegig findet. Dass er in seinen Sätzen den Konjunktiv verwendet, ist signifikant: Er sagt nicht explizit, wem er die Worte in den Mund legt; der – von ihm paraphrasierte – Anspruch, dass die Psychologie das Fundament nicht nur für philosophische Subdisziplinen, sondern auch für die Geisteswissenschaften generell und – gemeinsam mit den Naturwissenschaften – sogar für die Metaphysik sein soll, scheint ihn aber zu empören.
Er vollzieht also, ohne dies zu explizieren, eine Distanzierungsbewegung: Statt direkt das Thema des Bewusstseins zu fokussieren und zu begründen, warum das Bewusstsein mit rein empirischen Mitteln nicht vollständig erfasst werden kann – wie dies an Seidels Bemühungen deutlich geworden ist –, beschäftigt er sich mit der aus seiner Sicht abwegigen Meinung, das Bewusstsein könne naturalisiert werden. Wer konkret diese Meinung vertritt, wird zwar nicht geklärt, dennoch wird dadurch argumentativ ein potenzieller Gegenpart aufgebaut. Pointiert gesagt: Da es – wie an Seidels zirkulären Argumentationsgängen sichtbar geworden ist – unmöglich ist, das Bewusstsein ohne erkenntnistheoretische Distanzierung zu bestimmen, argumentiert Husserl gegen die These, ebenjenes Bewusstsein könne mit experimentellen Mitteln erfasst werden. Für seine Argumentation ist eine systematische und dezidierte Wissenschaftskritik also konstitutiv.
Auf die Angriffe aus der Psychologie reagieren
Husserls Einwände gegen den »erkenntnistheoretischen Psychologismus und Physizismus« gehen nahtlos in seine eigene Konzeption über. Er setzt in seinen Einwänden die Psychologie mit den Naturwissenschaften gleich: »Jedes psychologische Urteil schließt die existenziale Setzung der physischen Natur in sich, ob nun ausdrücklich oder nicht« (ebd.: 299). Husserl wirft der Psychologie naturalistische Grundannahmen vor. Er konstatiert, dass es an Argumenten gegen naturwissenschaftliche Erkenntnistheorien keineswegs fehle. »Es genügt nur, an die ›Naivität‹ zu erinnern, mit der, gemäß dem oben Gesagten, Naturwissenschaft Natur als gegeben hinnimmt« (ebd.). Da Husserl in dieser Argumentationslinie die empirische Psychologie mit den Naturwissenschaften analogisiert, erweist sich seine Psychologiekritik gleichzeitig als eine Kritik am Wahrheitsanspruch der Naturwissenschaften generell. Diese Kritik wiederum ist, so macht der folgende Absatz deutlich, für Husserls eigene Positionierung entscheidend.
Eine empirische Disziplin vermöge es nicht, auf die Empirie als solche zu reflektieren. Jede erfahrungswissenschaftliche Methode führe letztlich auf Erfahrung zurück. »Es bedarf nur strenger Konsequenz in der Festhaltung des Niveaus dieser Problematik (einer Problematik, die freilich allen bisherigen Erkenntnistheorien gefehlt hat), um den Widersinn einer ›naturwissenschaftlichen Erkenntnistheorie‹ einzusehen, also auch den jeder psychologischen« (ebd.: 300). Seien gewisse Rätsel den Naturwissenschaften prinzipiell immanent, so seien ihr deren Lösungen selbstverständlich transzendent. »Die Lösung eines jeden Problems, das der Naturwissenschaft als solcher anhaftet – also ihr durch und durch als solcher anhaftet – von der Naturwissenschaft selbst erwarten zu wollen, oder auch nur zu meinen, daß sie für die Lösung eines derartigen Problems irgendwelche Prämissen beisteuern könne, das heißt sich in einem widersinnigen Zirkel bewegen« (ebd.).61
Eine streng wissenschaftliche Philosophie darf in Husserls Perspektive also nicht von naturwissenschaftlichen bzw. psychologischen Prämissen ausgehen, weil eine naturwissenschaftliche bzw. psychologische Perspektive in sich selbst beschränkt sei. Es ist bezeichnend, dass Husserls intendierte Kritik am abstrakten Konzept Naturalismus bzw. am noch abstrakteren Konzept einer Naturalisierung des Bewusstseins in einer dezidierten Kritik an der experimentellen Psychologie mündet. Denn erst diese disziplinäre Grenzziehung ermöglicht es ihm, die Beschränktheit und Widersinnigkeit einer Perspektive aufzuzeigen, welche das Bewusstsein naturalisiere.
Husserls letzter Einwand gegen eine »psychologistische Erkenntnistheorie« führt nahtlos in sein eigenes Lehrgebäude: Wenn Erkenntnistheorie das Verhältnis von Bewusstsein und Sein erforschen wolle, so konstatiert er, dann komme sie nicht umhin, das »Sein« als das »Correlatum« zum Bewusstsein vor Augen zu haben, »als bewusstseinsmäßig ›Gemeintes‹: als Wahrgenommenes, Erinnertes, Erwartetes, bildlich Vorgestelltes, Phantasiertes, Identifiziertes, Unterschiedenes, Geglaubtes, Vermutetes, Gewertetes usw.« (ebd.). Der an dieser Stelle prompt einsetzende Umschwung in Husserls eigene Konzeption hinein liest sich wie folgt:
Man sieht dann, daß die Forschung gerichtet sein muß auf eine wissenschaftliche Wesenserkenntnis des Bewußtseins, auf das, was Bewußtsein in allen seinen unterscheidbaren Gestaltungen selbst, seinem Wesen nach, »ist«, zugleich aber auf das, was es »bedeutet«, sowie auf die verschiedenen Weisen, in denen es – dem Wesen dieser Gestaltungen gemäß – bald klar, bald unklar, bald gegenwärtigend oder vergegenwärtigend, bald signitiv oder bildlich, bald schlicht, bald denkmäßig vermittelt, bald in dem oder in jenem attentionalem Modus, und so in unzähligen anderen Formen, Gegenständliches meint, und es ev. als »gültig«, »wirklich« Seiendes »erweist«. (ebd.: 300–301)
Dieses Zitat verdeutlicht, dass erst mit Husserls Kritik an psychologischen Konzepten intelligibel wird, worauf es ihm ankommt: Die Forschung muss in seiner Perspektive auf das gesamte Bewusstsein gerichtet sein. Erst indem er nachweist, dass die empirische Psychologie in ihren Ansätzen nur einzelne Aspekte des Bewusstseins im Blick hat, wird eine andere, umfassendere Bewusstseinskonzeption sinnvoll. Die beiden Elemente – Kritik an einzelnen Disziplinen und Erneuerung der Philosophie insgesamt – sind in Husserls Argumentation untrennbar miteinander verbunden. Das Konstitutive beider Aspekte wird im folgenden Zitat auf den Punkt gebracht: »Die experimentelle Methode ist unerlässlich, wie überall, wo es sich um Fixierung von intersubjektiven Tatsachenzusammenhängen handelt. Aber sie setzt voraus, was kein Experiment zu leisten vermag, die Analyse des Bewußtseins selbst« (ebd.: 303).
Dass die Kritik an psychologistischen Erkenntnistheorien ein konstitutives und nicht etwa ein additives Merkmal von Husserls Phänomenologie ist, wird auch in folgender für seine Argumentation zentraler Textstelle deutlich:
Es würde sich schließlich voraussehen lassen, daß jede psychologistische Erkenntnistheorie dadurch zustande kommen muß, daß sie, den eigentlichen Sinn der erkenntnistheoretischen Problematik verfehlend, einer vermutlich naheliegenden Verwechslung zwischen reinem und empirischem Bewußtsein unterliegt, oder was dasselbe besagt: daß sie das reine Bewußtsein »naturalisiert«. (ebd.: 302, Herv. MD)
Wenn Husserl nachweist, dass die Psychologie das »reine« mit dem »empirischen« Bewusstsein verwechselt, macht er zugleich plausibel, dass es – zusätzlich zum empirischen – ein reines Bewusstsein gibt. Damit wiederum erhält sein Argument, dass das Bewusstsein anderen Bedingungen als naturalistischen untersteht, nämlich phänomenologischen, Gültigkeit. Bewusstsein ist für Husserl folglich immer ein Bewusstsein »von etwas«. In der zitierten Textstelle wird darüber hinaus erkennbar, dass seine Psychologiekritik mit der Kritik am abstrakten Konzept des Naturalismus zusammenfällt. Er setzt die Naturalisierung des Bewusstseins analog zu den ›Fehlern‹ oder ›Lücken‹ einer psychologistischen Erkenntnistheorie.
Es wird folgender Argumentationsvorgang deutlich: Husserl weist auf theoretische Leerstellen in den Naturwissenschaften und der empirischen Psychologie hin, um diese neu zu besetzen. Durch seine Kritik an der empirischen Psychologie konzipiert er theoretische Leerstellen, um diese wiederum für die Philosophie produktiv zu machen: Er nimmt die von ihm sichtbar gemachten Leerstellen der Psychologie auf, um sie an ein für die Philosophie zentrales und philosophiehistorisch äußerst relevantes Erkenntnisobjekt zurückzubinden: an das Bewusstsein. Er rekonfiguriert durch diese Argumentationsstrategie das Bewusstsein nicht nur als das für die Philosophie grundlegende Forschungsobjekt, sondern rehabilitiert es als Grundbedingung der Erkenntnis.
Husserls Argumentationsstrategie ist bemerkenswert: Er nimmt den ›Angriff‹ aus der empirischen Psychologie, nämlich die Erkenntnis, dass es den reinen Geist nicht geben kann, konstruktiv auf, indem er dieses Argument – in einem ersten Schritt – philosophisch untermauert: Ein reines Bewusstsein könne es nicht geben, da das Bewusstsein immer ein Bewusstsein »von etwas« ist. Jedes Bewusstsein sei auf etwas bezogen; es sei immer »intentional«. In einem zweiten Schritt argumentiert er jedoch dezidiert dafür, dass dieses nicht reine intentionale Bewusstsein dennoch ganzheitlich analytisch erfasst werden kann und soll. Dafür jedoch benötige es eine eigene und neue Wissenschaft: die Phänomenologie. Wie deutlich geworden ist, verwendet Husserl in seiner Argumentation den für die Philosophie charakteristischen Anspruch, das ›Ganze‹ in den Blick zu nehmen: Indem er der empirischen Psychologie unterstellt, diese würde lediglich einzelne Teile des Bewusstseins in den Blick nehmen, argumentiert er für die Möglichkeit, dass die Philosophie das Bewusstsein in seiner Gesamtheit erfassen könne. Die Instrumentarien für diese neue Wissenschaft jedoch müssen gemäß Husserl erst noch geschaffen werden.
Seine Kritik an der »naturalistischen Philosophie« zielt also letztlich darauf, das Bewusstsein als eine Entität oder als Phänomen darzustellen, das systematisch erforscht werden kann. In Abgrenzung zur Psychologie argumentiert er für die Möglichkeit eines Standpunkts, der das Bewusstsein gleichzeitig objektiviert und subjektiviert – aber nicht vorgängig naturalisiert bzw. materialisiert. Eine entscheidende Strategie Husserls ist in der hier eingenommenen Perspektive, dass er die Herausforderungen der empirischen Psychologie – die Erkenntnis, dass das Bewusstsein empirisch vermessen werden kann – aufnimmt und ernst nimmt. Anders als es bei Seidel deutlich geworden ist, verzweifelt er aber nicht an der Erkenntnis, dass das Bewusstsein möglicherweise empirischen Kausalitäten unterworfen ist, sondern nimmt sie als Anstoß, um Argumente für eine philosophische Erneuerung zu entwickeln.62
Wissenschaftliche Entscheidungen tragen den Stempel der Ewigkeit
Husserls Kritik an den Weltanschauungsphilosophien wird in philosophiehistorischen Darstellungen wie erwähnt als eine Kritik an Diltheys »Weltanschauungslehre« rezipiert. »Eine ›objektive‹ Geisteswissenschaft kann es [gemäß Husserl, MD] überhaupt nicht geben, weil der Geist überhaupt nie Objekt sein kann« (Schneiders 1998: 78). Wenn man die weiter oben geschilderte Episode beachtet, wonach Dilthey nach der Veröffentlichung von Husserls Aufsatz eine Richtigstellung verlangt hat, weil er fälschlicherweise dem Vorwurf von Skeptizismus und Historizismus ausgesetzt worden sei (und Husserl dies habe korrigieren wollen), erscheint Husserls Bezugnahme auf Dilthey in einem etwas anderem Licht: Husserl, so macht seine Argumentation deutlich, zielt hier nicht direkt gegen Dilthey, sondern er verweist auf ihn, um seine eigenen Argumente stärker und deutlicher hervorbringen zu können. Husserls zuweilen affirmative Bezugnahmen auf Dilthey stehen in keinem Verhältnis zu seiner dezidierten Argumentation gegen den »Historizismus«. Dieses Missverhältnis lässt bei dem oder der Lesenden, ohne dass dies das Thema des Aufsatzes wäre, die Annahme enstehen, dass Dilthey in Philosophie als strenge Wissenschaft als Husserls Opponent erscheint.
Husserls Philosophie als strenge Wissenschaft erscheint kurz nach Diltheys Aufsatz Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen. Dilthey argumentiert in diesem Aufsatz für eine Erneuerung der Philosophie im Sinne einer Historisierung:
So zerstört die Ausbildung des geschichtlichen Bewußtseins gründlicher noch als der Überblick über den Streit der Systeme den Glauben an die Allgemeingültigkeit irgendeiner der Philosophien, welche den Weltzusammenhang in zwingender Weise in einen Zusammenhang von Begriffen auszusprechen unternommen haben. Die Philosophie muß nicht in der Welt, sondern in dem Menschen den inneren Zusammenhang ihrer Erkenntnisse suchen. (Dilthey 1911: 6)
Dilthey formuliert eine Absage an die Allgemeingültigkeit philosophischer Systeme. Husserl geht in Philosophie als strenge Wissenschaft vom Gegenteil aus: Der Philosophie komme ein allgemeingültiger Anspruch zu.63 Dilthey galt bereits zu seiner Zeit als Vertreter einer genuin historischen Philosophie. Indem Husserl Dilthey in seinem Aufsatz als Anhänger des Historizismus auftreten lässt, stärkt er seine eigene Positionierung durch den Einbezug eines Autors, der bereits zu dieser Zeit als Exponent einer wissenschaftlichen Tradition galt. Dies wiederum – so wird auch in den folgenden Kapiteln weiter ausgeführt – ist für Husserls eigenen Einsatz konstitutiv. Wenn Philosophie als strenge Wissenschaft philosophiehistorisch stets als eine Replik auf Dilthey gedeutet wird, kann dies darüber hinaus als eine Reproduktion der bereits bei Husserl selbst angelegten Strategie verstanden werden, philosophische Positionen zu personifizieren.
Husserls Argumente gegen die Weltanschauungsphilosophien (und implizit auch gegen die Geisteswissenschaften) lauten verkürzt wie folgt: Weltanschauungsphilosophien seien ein »Kind« des »historizistischen Skeptizismus« (Husserl 1910/11: 328). Weltanschauungsphilosophien würden auf die Weisheit setzen, wohingegen eine wissenschaftliche Philosophie auf die Wissenschaft setze. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt (1910) hätten sich Weltanschauungsphilosophien nicht mit strenger Wissenschaftlichkeit widersprochen. »Beide Ziele [Weltanschauung und strenge Wissenschaft, MD] waren entweder noch gar nicht oder nicht scharf geschieden« (ebd.: 332). In der Gegenwart jedoch sei dies anders geworden, da sich die Wissenschaften zu einer überzeitlichen Idee entwickelt hätten. »Das [die Untrennbarkeit, MD] hat sich seit der Konstitution einer überzeitlichen universitas strenger Wissenschaften gründlich geändert« (ebd.).64
Husserl bezeichnet Wissenschaft somit als eine überzeitliche Idee, Weltanschauung jedoch als eine historisch gebundene Idee. »Die ›Idee‹ der Weltanschauung ist dabei für jede Zeit eine andere […]. Die ›Idee‹ der Wissenschaft hingegen ist eine überzeitliche, und das sagt hier, durch keine Relation auf den Geist einer Zeit beschränkt« (ebd.). Die Setzung der Wissenschaft – und damit der Wahrheit und Theorie (ebd.: 325) – als einer überzeitlichen Idee ist für Husserls Neupositionierungen zentral. Er begründet sie mit seiner Absetzung gegenüber den Weltanschauungstheorien. »Weltanschauungen können streiten, nur Wissenschaft kann entscheiden und ihre Entscheidung trägt den Stempel der Ewigkeit« (ebd.: 337). Seit der Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft besitzen die Wissenschaften somit überzeitliche, d.h. absolute Gültigkeit: »Also wohin immer die neue Umwendung der Philosophie sich richten mag, es ist außer Frage, daß sie den Willen auf strenge Wissenschaft nicht preisgeben darf, vielmehr sich dem praktischen Weltanschauungsstreben als theoretische Wissenschaft gegenüberstellen und sich von ihm vollbewußt trennen muß« (ebd.: 337). Die Philosophie werde ihr Fundament verlieren, wenn sie sich nicht von den Weltanschauungsphilosophien absetzt und sich nicht in streng wissenschaftlicher, d.h. für Husserl in phänomenologischer Weise erneuert.
Aus der Philosophie resultiert Wissenschaftlichkeit – und umgekehrt
Aus der Trennung zwischen Weltanschauungsphilosophie und Wissenschaft leitet Husserl ein Wissenschaftsverständnis her, das wissenschaftliche Entscheidungen als absolut setzt.
Und sie [die Gegenwart, MD] leidet […] an der zu geringen Entwicklung und Macht der Philosophie, die noch nicht weit, noch nicht wissenschaftlich genug ist, um den skeptischen Negativismus (der sich Positivismus nennt) durch den wahren Positivismus überwinden zu können. Unsere Zeit will nur an »Realitäten« glauben. Nun, ihre stärkste Realität ist die Wissenschaft, und so ist die philosophische Wissenschaft das, was unserer Zeit am meisten nottut. (ebd.: 340)
Weil den neuzeitlichen Wissenschaften Deutungsmacht zukomme, dürfe auch die Philosophie ihre Wissenschaftlichkeit nicht preisgeben, wenn sie ihre Deutungsmacht nicht verlieren wolle. Das Bestechende an Husserls Argumentation ist in der hier eingenommenen Perspektive, dass er nicht etwa die Wissenschaftlichkeit der Philosophie behauptet (wie dies weiter unten beim Wiener Kreis deutlich wird), sondern dafür argumentiert, dass die Philosophie an der Idee der Wissenschaftlichkeit festhalten müsse. Es geht ihm nicht darum, ein bereits vorgefasstes Philosophieverständnis zu ›verwissenschaftlichen‹, sondern die Philosophie mit dem Prinzip der Wissenschaftlichkeit gleichzusetzen. Die Philosophie wird zum Mittel, die Wissenschaft generell zu verteidigen, und umgekehrt wird die Wissenschaft zum Mittel, die Relevanz der Philosophie zu verteidigen. Philosophie ist strenge Wissenschaft aus Prinzip. Weil die Wissenschaft eine überzeitliche Idee ist, ist es auch die Philosophie. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie resultiert für Husserl also gewissermaßen aus der Philosophie selbst, und umgekehrt resultiert aus echter Wissenschaftlichkeit Philosophie. Pointiert: Ohne Philosophie verliere die Wissenschaft ihren Grund und Boden, und ohne Wissenschaft verliere die Philosophie ihre Wissenschaftlichkeit.
Mit dieser programmatischen Bestimmung legitimiert Husserl zugleich die gesellschaftliche Relevanz der Philosophie. Denn Wissenschaft und Philosophie seien dasjenige, »was unserer Zeit am meisten nottut« (ebd.: 340). Mehr implizit als explizit trägt er eine gesellschaftlich-historische Komponente in seine Argumentation: Weil den »Siegeslauf« (ebd.: 296) der Wissenschaften nichts hemmen werde, muss auch die Philosophie an ihrem eigenen Anspruch der Wissenschaftlichkeit festhalten. »Vielleicht gibt es im ganzen neuzeitlichen Leben keine mächtiger, unaufhaltsamer vordringende Idee als die der Wissenschaft« (ebd.: 296). Es wird deutlich, warum es für Husserl so wichtig ist, die Philosophie als strenge Wissenschaft zu begründen: Weil der Bereich der Wissenschaften – zeitbedingt – die mächtigste aller »Realitäten« ist und also die stärkste Deutungsmacht besitzt, ist er zugleich die »Realität«, der am meisten Glaubwürdigkeit zukommt. Philosophinnen und Philosophen müssen also deswegen am Prinzip Wissenschaftlichkeit festhalten, weil sie ansonsten ihre Glaubwürdigkeit und dadurch ihre Wirkungsmacht verlieren würden. Für Husserl ist es zentral, dass die Philosophie auf ihrer eigenen, prinzipiellen Wissenschaftlichkeit beharrt. Er fordert ein Festhalten an der Wissenschaft als einer absoluten, d.h. zeit- und ortsunabhängigen Instanz. Dafür, so seine Argumentation, benötige es die philosophische Wissenschaft, da diese stärker als andere Wissenschaften das Potenzial einer »strengen Wissenschaft« in sich trage.
Husserl definiert die Philosophie als eine Möglichkeit, Sicherheit zu gewinnen: Mit streng philosophischen Methoden, so seine Implikation, kann echte Wissenschaftlichkeit hergestellt werden. Er bezieht sich dabei jedoch nicht auf bestehende philosophische Methoden, sondern argumentiert, dass diese Methoden erst entwickelt werden müssten. Der Weg dafür sei mit der Phänomenologie geebnet. »Nicht von den Philosophen[,] sondern von den Sachen und Problemen muß der Antrieb zur Forschung ausgehen« (ebd.: 340). Er leitet sein berühmt gewordenes Argument, man müsse in einer wissenschaftlich fundierten Philosophie von konkreten »Sachen« und Situationen und nicht von Theorien ausgehen, mit einer Absetzung der Philosophie von den anderen Wissenschaften her. Auch andere Wissenschaften, so sein Argument, untersuchten Phänomene – z.B. historische, psychologische oder naturwissenschaftliche –, die Art und Weise jedoch, wie diese Wissenschaften Phänomene konfrontieren, unterscheide sich davon, wie dies in der Philosophie angegangen werden müsse. In der neuen Philosophie, d.h. Phänomenologie, sei in Bezug auf Phänomene eine »ganz andere Einstellung« notwendig. In der Einleitung von Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913) umschreibt er diesen Aspekt wie folgt:
Sie [die Phänomenologie, MD] nennt sich eine Wissenschaft von Phänomenen. Auf Phänomene gehen auch andere, längst bekannte Wissenschaften. So hört man die Psychologie als eine Wissenschaft von den psychischen, die Naturwissenschaften von den physischen »Erscheinungen« oder Phänomenen bezeichnen; ebenso ist gelegentlich in der Geschichte die Rede von historischen, in der Kulturwissenschaft von Kultur-Phänomenen; und ähnlich für alle Wissenschaften von Realitäten. Wie verschieden in solchen Reden der Sinn des Wortes Phänomen sein und welche Bedeutungen es irgend noch haben mag, es ist sicher, daß auch die Phänomenologie auf all diese »Phänomene« und gemäß allen Bedeutungen bezogen ist: aber in einer ganz anderen Einstellung, durch welche sich jeder Sinn von Phänomen, der uns in den altvertrauten Wissenschaften entgegentritt, in bestimmter Weise modifiziert. Nur als so modifizierter tritt er in die phänomenologische Sphäre ein. Diese Modifikationen verstehen, oder, genauer zu sprechen, die phänomenologische Einstellung vollziehen, reflektiv ihre Eigenart und diejenige der natürlichen Einstellungen in das wissenschaftliche Bewußtsein erheben – das ist die erste und keineswegs leichte Aufgabe, der wir vollkommen genugtun müssen, wenn wir den Boden der Phänomenologie gewinnen und uns ihres eigentümlichen Wesens wissenschaftlich versichern wollen. (Husserl 1913: 1, Herv. MD)
Der von Husserl behauptete prinzipielle Unterschied zwischen der Philosophie und anderen Wissenschaften ist für seine Neupositionierung der Philosophie als Phänomenologie zentral. Zwar untersuche auch die Philosophie Phänomene, sie müsse dies jedoch in einer ganz anderen Weise als die anderen Wissenschaften tun, nämlich indem sie – im Unterschied zu den anderen Wissenschaften – zugleich reflektiere, wie Phänomene dem menschlichen Bewusstsein überhaupt zugänglich werden. Deswegen müsse in der Philosophie untersucht werden, was das Bewusstsein erkennen kann und wie es erkennt. In dieser »ganz anderen Einstellung« der Philosophie sei das Bewusstsein – wie erläutert – immer ein Bewusstsein »von etwas«. Das ›innere‹ Bewusstsein erscheint nicht etwa als ein von der ›äußeren‹ Welt abgetrennter Bereich, sondern beide Dimensionen – Welt und Bewusstsein – beeinflussen sich wechselseitig. Husserl weist der Philosophie die Aufgabe zu, genau diese Wechselseitigkeit in den Blick zu nehmen. Das heißt, es geht ihm darum, das Wesen eines Phänomens erfassbar zu machen und dabei beide Seiten – Subjekt und Objekt, inneres und äußeres Erleben, Welt und Bewusstsein – im Blick zu behalten. Um dieser Beidseitigkeit gerecht zu werden, sind gemäß Husserl neue phänomenologische Methoden erforderlich. An dieser Stelle wird ein Aspekt erkennbar, der in den weiteren Kapiteln noch näher ausgeführt wird: Ein Erneuerungsanspruch der Philosophie geht jeweils mit der Begründung einer neuen philosophischen Methode einher. Bei Husserl heißt diese Methode »Wesensanalyse des Bewusstseins« bzw. »eidetische Reduktion«. An dieser Stelle soll jedoch nicht tiefer in seine Konzeption eingedrungen, sondern weiterhin die Ebene der Positionierungsstrategien verfolgt werden.
Krisen und ein »Heilmittel«
Husserls Ausführungen erzeugen nicht nur den Eindruck, dass die Philosophie gänzlich vom Weg der Wissenschaftlichkeit abkommen und zur puren Weltanschauung verkommen könnte, sondern es wird nebst der philosophischen Krise auch eine gesellschaftliche Krise diagnostiziert: »Die geistige Not unserer Zeit ist in der Tat unerträglich geworden. Wäre es doch nur die theoretische Unklarheit über den Sinn der in den Natur- und Geisteswissenschaften erforschten ›Wirklichkeiten‹, was unsere Ruhe störte […]. Es ist vielmehr die radikalste Lebensnot, an der wir leiden, eine Not, die an keinem Punkte unseres Lebens halt macht« (Husserl 1910/11: 336). Er fordert eine Erneuerung der Philosophie nicht nur deswegen, weil ansonsten die Philosophie und die Wissenschaft ihr Fundament verlieren würden, sondern damit zusammenhängend, weil sonst die gesamte Menschheit in eine Krise geraten könnte. Indem er eine in diesem Sinne alternativlose Situation zeichnet, erscheint sein Vorschlag einer Aktualisierung der Philosophie als Phänomenologie als umso notwendiger.
Ohne dass Husserl die »geistige Unerträglichkeit« in sozialer, ökonomischer, gesellschaftlicher oder psychologischer Hinsicht ausführt, wird deutlich, dass er die Krise der Philosophie als eine gesamtgesellschaftliche Krise versteht. »Ich meine«, schreibt er, »unsere Zeit ist ihrem Berufe nach eine große Zeit – nur leidet sie am Skeptizismus, der die alten, ungeklärten Ideale zersetzt hat« (ebd.: 340). Die »geistige Not« erscheint als eine Not der Gegenwart. Die Herkunft dieser Not konstatiert er in der Wissenschaft, wie sie von den Naturalisten und Historizisten betrieben werde:
Die Not stammt hier von der Wissenschaft. Aber nur Wissenschaft kann die Not, die von Wissenschaft stammt, endgültig überwinden. Löst die skeptische Kritik der Naturalisten und Historizisten die echte objektive Gültigkeit in allen Sollensgebieten in Widersinn auf; hemmen unklare, unstimmige […] Begriffe der Reflexion ein Verständnis der Wirklichkeit […]; wird eine spezielle […] methodische Einstellung gewohnheitsmäßig geübt […] und hängen mit solchen Vorurteilen das Gemüt bedrängende Widersinnigkeiten der Weltauffassung zusammen – so gibt es gegen diese und alle ähnlichen Uebel nur Ein [sic!] Heilmittel: wissenschaftliche Kritik […]. (ebd.: 337)
Husserl plausibilisiert die Notwendigkeit einer neuen Philosophie mit der Kritik an den zeitgenössischen Wissenschaften und Philosophien. In den folgenden Kapiteln wird sich zeigen, dass diese Strategie auch bei den anderen Neupositionierungen zentral ist. In diesem Zitat Husserls ist zudem die aus dem Bereich der Krankheiten stammende Wortwahl interessant: Es wird suggeriert, dass das »Übel«, das durch die Wissenschaft ausgelöst wird, »geheilt« werden könne: durch die Philosophie. Die Wissenschaften seien an einem Umschlagpunkt angelangt; entweder die Lage verbessere sich, und die Wissenschaften werden »geheilt«, oder sie schlägt in die Katastrophe um.
Wenn Husserl schreibt, das Übel widersinniger wissenschaftlicher Konzepte könne mit wissenschaftlicher Kritik geheilt werden, erscheint das »Heilmittel« – die Kritik – in einem doppelten Licht: Zum einen stellt er die »streng wissenschaftliche Philosophie« als ein Instrument dar, um auf Skeptizismus, Relativismus und Positivismus in den Wissenschaften zu reagieren. Zum anderen beschreibt er sie als Mittel, um das grundsätzliche »Leiden« der Gegenwart zu mindern. Er stellt somit eine unausgesprochene Verbindung zwischen den wissenschaftlichen Konzepten und den gesellschaftlichen Umständen seiner Zeit her. Ohne es im Detail auszuführen, betont Husserl an vielen Stellen in seinem Text, dass der Philosophie eine über die Wissenschaft hinausgehende Verantwortung zukomme: Es müsse, sagt er beispielsweise, »darauf bestanden werden, dass wir auch der Verantwortung eingedenk bleiben, die wir hinsichtlich der Menschheit haben« (ebd.: 337). Er ruft dazu auf, an wissenschaftlichen Prinzipien im Sinne der Ewigkeit festzuhalten: »Um der Zeit willen dürfen wir die Ewigkeit nicht preisgeben, unsere Not zu lindern, dürfen wir nicht Not um Nöte unserer Nachkommen als ein schließlich unausrottbares Übel verderben« (ebd.). Diese Appelle enthalten nicht nur Aussagen über die Wichtigkeit der Philosophie, sondern stellen sie zugleich her. Indem Husserl sich selbst und der Philosophie in dieser Weise Verantwortung zuweist, positioniert er sie zugleich als Retterin. »Der Philosoph wird in diesem Sinne […] zum Lehrer und Führer der Menschheit« (Schneiders 1997: 77–78). Husserl konstatiert – mehr implizit als explizit – Krisen, um davon ausgehend eine neue Philosophie zu entwickeln. Die Rede über Krisen enthält ein legitimatorisches Potenzial. Indem er impliziert, dass sowohl die Gesellschaft als auch die Philosophie bzw. ihre Wissenschaftlichkeit in der Krise stecken, erscheint eine Erneuerung der Philosophie als umso notwendiger. Durch seine Gleichsetzung der Philosophie mit Wissenschaftlichkeit überhaupt stellt er zugleich das Primat der Philosophie gegenüber anderen Wissenschaften heraus und bekräftigt dadurch argumentativ die Stellung der Philosophie als ›Erste Wissenschaft‹.
3.3 Fundierung durch Abgrenzung
Husserls Argumente können als eine Reaktion auf die Herausforderung verstanden werden, dass die Unabhängigkeit des menschlichen Geistes am Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Erkenntnisse aus der Psychologie und Psychoanalyse grundsätzlich infrage steht. Die potenziell experimentelle Vermessbarkeit des Bewusstseins beschreibt für die Philosophie eine Krise: Welche Funktion kann Philosophie innerhalb der Wissenschaften noch einnehmen, wenn das Bewusstsein bzw. der menschliche Geist potenziell von den Naturwissenschaften erklärt werden kann?
Husserls Argumentationsstrategien zielen darauf, das Bewusstsein als einen für die Philosophie zentralen Gegenstand zurückzuerobern, indem er nachweist, dass nicht nur naturwissenschaftlich-psychologische Erklärungsmodelle zu kurz greifen, sondern ebenso die Kritiken an diesen Modellen, die in historizistischen bzw. relativistischen Ansätzen münden würden. Ausgehend von der empirischen Psychologie teilt er die Wissenschaften seiner Zeit entweder in »naturalistische« oder »historizistische« Erklärungsmodelle ein und kritisiert beide als je unzulänglich. Er zeichnet eine verfahrene Situation, indem er die Entweder-oder-Haltung – entweder Naturalismus oder Historizismus – als aporetisch darstellt. Er argumentiert für die Notwendigkeit einer neuen Philosophie, die gewissermaßen als verbindendes Element beider Pole einen Ausweg aus dieser als alternativlos erscheinenden Situation bieten soll. Als Folge präsentiert er seine eigene Position als dritten Weg gegenüber zwei etablierten philosophischen Positionen: Er konstituiert die Phänomenologie als Alternative sowohl zum Szientismus bzw. zu den Naturwissenschaften als auch zum Historizismus bzw. zu den Geisteswissenschaften.65
Husserl schreibt dieser neuen Philosophie das Vermögen zu, bestehende Dualismen – Empirie und Theorie, Natur und Geist, Naturalismus und Historizismus, Subjekt und Objekt, Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften – überwinden zu können.66 Das Bewusstsein ist der Dreh- und Angelpunkt dieser Argumentation. Die »Wesensanalyse des Bewusstseins« stelle eine Alternative zur empirischen Vermessbarkeit des menschlichen Geistes auf der einen Seite und zum historischen Relativismus auf der anderen Seite dar. Am Bewusstsein werde gewissermaßen prototypisch greifbar, dass Subjekt und Objekt eine Korrelation bilden und nicht unabhängig voneinander gedacht werden können. Er plausibilisiert seine Argumente maßgeblich mit einer Psychologiekritik. Indem er empirisch-psychologischen Erklärungsansätzen unterstellt, diese würden nicht das »Ganze« erfassen können, rehabilitiert er die Möglichkeit, dies durch eine neue philosophische Methode leisten zu können. Für dieses Selbstverständnis einer streng wissenschaftlichen Philosophie gelte es einzustehen. Erst indem er an zeitgenössischen Strömungen deren Unzulänglichkeiten reaktiv aufzeigt, erzeugt er einen fundierenden Standpunkt – und der liege in der Phänomenologie. Dieser Standpunkt wiederum wird prospektiv verstanden: Er lässt sich nur in Relation zu den anderen Wissenschaften entwickeln. Indem Bestehendes kritisiert wird, wird etwas Zukünftiges behauptet. Der letzte Satz aus Philosophie als strenge Wissenschaft bringt diese Gleichzeitigkeit von Reaktion und Prospektion auf den Punkt:
[…] es ist der größte Schritt, den unsere Zeit zu machen hat, zu erkennen, daß mit der im rechten Sinne philosophischen Intuition, der phänomenologischen Wesenserfassung, ein endloses Arbeitsfeld sich auftut und eine Wissenschaft, die ohne alle indirekt symbolisierenden und mathematisierenden Methoden, ohne den Apparat der Schlüsse und Beweise, doch eine Fülle strengster und für alle weitere Philosophie entscheidender Erkenntnisse gewinnt. (Husserl 1910/11: 341)
Wenn durch die »im rechten Sinne philosophische Intuition« erkannt werde, dass mit der phänomenologischen Wissenschaft streng wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden, dann erst werde deutlich, dass die Phänomenologie den richtigen Weg weise.
Die Überwindung von Dualismen könne nur dann gelingen, wenn die Philosophie das Prinzip der Wissenschaftlichkeit grundsätzlich in sich aufnehme bzw. daran festhalte. Husserl begründet die Wissenschaftlichkeit der Philosophie mit dem Prinzip der Philosophie selbst: Philosophie sei strenge Wissenschaft per Definition.67 In diesem Zusammenhang ist seine Setzung zu verstehen, dass an der Idee der Überzeitlichkeit von Wissenschaft und Philosophie festgehalten werden müsse. Ausgehend von dieser Setzung argumentiert er für die Wissenschaftlichkeit seiner neuen, genuin philosophischen Methode. Er verteidigt, dass es wissenschaftliche Wahrheit unabhängig von empirischen Erklärungsansätzen gibt und geben muss. Die Setzung ist reaktiv; die Wahrheit liegt darin, dass es eine andere wissenschaftliche Wahrheit gibt. Diese Wahrheit wiederum wird als etwas Zukünftiges vorgestellt: Sie werde sich, so Husserl, in der Methode der Phänomenologie bzw. in einer streng wissenschaftlichen Philosophie verwirklichen.
Es sei der Philosophie vorbehalten, die Welt- und Lebensrätsel in ihrem Grund enthüllen zu können. In der Philosophie liegt für Husserl die Wahrheit. Der Status der Philosophie als Königin der Wissenschaften und damit ihr Machtanspruch über die anderen Wissenschaften wird von Husserl selbstverständlich vorausgesetzt und verteidigt. Ähnlich wie es am Beispiel des Wiener Kreises deutlich werden wird, begründet er diesen Status mit dem wissenschaftlichen Fortschritt insgesamt: Ohne Philosophie als regulierende Instanz verliere die Wissenschaft ihre Wissenschaftlichkeit. Dadurch aktualisiert er gleichzeitig den Führungsanspruch der Philosophie: Als Modell der Wissenschaftlichkeit per se nimmt die Philosophie die Rolle der Retterin der Wissenschaften im Allgemeinen ein. Die propagierte Wissenschaftlichkeit nimmt bei ihm die Züge eines ethos an: Während – wie im nächsten Kapitel deutlich wird – die Vertreter des Wiener Kreises Wissenschaftlichkeit nach dem Vorbild der exakten Wissenschaften verstehen, bleibt bei Husserl relativ offen, was darunter zu verstehen ist. Vermutlich ist es dieser Offenheit zuzuschreiben, dass bei ihm die Kopplung von Philosophie mit Kritik eine breite Bestimmung erhält: Da Philosophie im Prinzip Wissenschaft ist – und als Kehrseite davon die Wissenschaften im Prinzip philosophisch zu sein haben –, weist Husserl den Wissenschaften und der Philosophie generell eine kritische Funktion zu. Hier liegt die Stärke des Erneuerungsanspruchs der Phänomenologie: Durch die Rehabilitation der Philosophie als Wissenschaft im Prinzip wird ein philosophischer Standpunkt legitimiert, der unabhängig von den empirischen Wissenschaften Wissenschaftlichkeit beansprucht und beanspruchen kann.
Husserl reaktiviert und aktualisiert dadurch in zweierlei Hinsicht ein traditionelles philosophisches Selbstverständnis: erstens die Philosophie als Modell, an dem sich alle andere Wissenschaften zu orientieren haben, und zweitens die Philosophie als kritisches Moment. Die Kritik, die Husserl fordert, ist »eine radikale, eine von unten anhebende, in sicheren Fundamenten gründende und nach strengster Methode fortschreitende Wissenschaft: die philosophische Wissenschaft, für die wir hier eintreten« (ebd.: 337). Die Philosophie, so die Implikation, sei radikaler, tiefer, fundamentaler und strenger als die anderen Wissenschaften. Das philosophische Selbstverständnis, das bei Husserl ersichtlich wird, ist paradigmatisch für die Philosophie: Die Philosophie ist jene Wissenschaft, die »tief« blickt. So habe sich für »Tieferblickende« der Glaube, dass den Naturwissenschaften die Aufgabe zukomme, die Rätsel der Wirklichkeit zu enträtseln, als »Aberglaube« enthüllt (ebd.: 336). Die Philosophie als tiefe und fundamentale Wissenschaft habe das Vermögen, anderen Wissenschaften ihre Mängel vorzuwerfen: Die Philosophie ist – ihrem Selbstverständnis nach – jene Wissenschaft, die andere Wissenschaften kritisieren kann, soll und darf. Husserl stellt die Philosophie als Korrektiv für die anderen Wissenschaften dar.68
Der Philosoph Thomas Rentsch konstatiert, dass Husserls Phänomenologie etwas von der »Rückgewinnung eines Geheimnisses der Wirklichkeit nach dem Schwund aller metaphysischen und weltanschaulichen Systemkonstruktionen an sich [hatte]: und dies als strenge Analyse« (ebd.: 33). In der Tat: Indem Husserl anderen Positionen Leerstellen nachweist, ohne die Philosophie ›an sich‹ in diese Kritik miteinzubeziehen, gelingt es ihm paradoxerweise, einen alten Kernbegriff der Philosophie so zu aktualisieren, dass sich daraus neue Forschungsfelder etablieren. Er reklamiert für die Philosophie tatsächlich ein »Geheimnis« (zurück), das es philosophisch zu erforschen gilt: das Bewusstsein.
Husserls Denken setzt dort ein, wo Seidels Denken sich vollzieht
Im Vergleich zu Seidels Bewußtsein als Verhängnis können diese Schlussfolgerungen zugespitzt werden. Im Gegensatz zu Husserl ringt Seidel mit der Befürchtung, dass die Wissenschaften, die Philosophie und dadurch auch seine eigenen Forschungen verheerend und verhängnisvoll sein könnten. Denn von welchem Standpunkt aus kann die Kritik an anderen Wissenschaften legitimiert werden, wenn Erkenntnisstandpunkte lediglich Produkte psychologischer Prozesse sind – Resultate eines »Grübelzwangs« (Seidel 1927: 100) »sublimierender Perverser« (ebd.: 212)? Was garantiert unter diesen Voraussetzungen, dass der eigene Standpunkt richtig ist? Der erkenntnistheoretische und existentielle Circulus vitiosus, der aus Seidels Befürchtung resultiert, ist in Husserls Argumentation nicht vorhanden. Husserl kritisiert zwar die »Wissenschaftsverfallenheit« seiner Zeit, er nimmt die Philosophie, d.h. die neue, streng wissenschaftliche Philosophie, auf deren Standpunkt er sich stellt, aber davon aus. Die Problematik, die aus Seidels Überlegungen herauszulesen ist, nämlich der Verlust eines objektiven Standpunkts durch die Psychologisierung des Geistes, scheint Husserl nicht direkt zu affizieren, sondern stellt im Gegenteil die produktive Grundlage seiner Erneuerung dar. Es stellt sich somit die Frage, wie Husserl mit dem von Seidel geschilderten Dilemma umgeht. Wie löst er das Problem der Infragestellung eines objektiven philosophischen Standpunkts durch andere Wissenschaften?
Nun, Husserl erschafft einen solchen Standpunkt. Er behauptet und setzt eine Position, indem er sich auf ein bestimmtes Philosophieverständnis bezieht. Was für Seidel erklärungsbedürftig scheint, nämlich die Setzung der Philosophie als einer Wissenschaft, die im Prinzip mit Wahrheit gleichzusetzen ist, ist für Husserl eine Ausgangslage. Er spricht jedoch nicht ausgehend von einer ›sicheren‹ disziplinären Position, sondern evoziert diese im Vollzug seiner Analysen, d.h. durch seine Absetzung von anderen Wissenszugängen. Indem er naturwissenschaftliche und psychologische Erkenntnisse in systematischer Weise ad absurdum führt, entsteht erst eine philosophische Position; eine Position, die impliziert, dass es eine andere wissenschaftliche Wahrheit potenziell gibt. Husserl argumentiert für einen Standpunkt, der das Bewusstsein ›von außen‹ zu betrachten beansprucht, gerade weil er Erkenntnisse aus der empirischen Psychologie in seine Argumentation aufnimmt, ernst nimmt und philosophisch unterlegt. Dieser Standpunkt ermöglicht, dass das Bewusstsein auch unabhängig von naturwissenschaftlich-psychologischen Erkenntnissen als ein relevantes Forschungsobjekt erscheint, und stellt gleichzeitig eine Neupositionierung der Philosophie dar.
Genau diese Möglichkeit ist in Seidels Bewußtsein als Verhängnis nicht vorhanden. Er hat die Distanzierung zu den eigenen Denkbewegungen, die bei Husserl sichtbar wird und letztlich in der Behauptung eines vom Forschungsobjekt (hier: vom Bewusstsein) unabhängigen Erkenntnisstandpunktes besteht, nicht vorgenommen. Anders als Husserl hat er Erkenntnisse aus anderen Wissenschaften (z.B. die Naturalisierung des Bewusstseins) nicht objektiviert oder kritisiert, sondern diese in seine Überlegungen mit einbezogen. Er hat zwar, genau wie Husserl, die »Wissenschaftsverfallenheit« seiner Zeit kritisiert, aber, anders als Husserl, die Wissenschaft und die Philosophie nicht als objektive und unabhängige Instanz der Erkenntnis vorausgesetzt. Seidel »stempelt« die Wissenschaft und Philosophie nicht mit der Ewigkeit. Vielmehr hat er, über Husserl hinausgehend, »überhaupt an dem Werte des Bewusstseins gezweifelt« (Seidel 1927: 75). Husserls Voraussetzung – die Setzung der Philosophie als eine wahre und gute Wissenschaft bzw. die potenzielle Gleichsetzung von Philosophie und Wahrheit – ist in Bewußtsein als Verhängnis nicht vorhanden. Im Gegenteil führt Seidels Frage, inwiefern das Bewusstsein negativ wirkt, letztlich zur Frage nach der Möglichkeit von Wahrheit selbst.
Husserl ist Seidels Teufelskreis somit entgangen. Er wird in Philosophie als strenge Wissenschaft nicht müde zu betonen, wie »widersinnig« es sei, das Bewusstsein mit empirischen Methoden erfassen zu wollen. Der Zirkelschluss, der in den Denkbewegungen von Bewußtsein als Verhängnis deutlich geworden ist, erscheint bei Husserl als Ausgangslage, d.h. als etwas, was es zu widerlegen gilt: der Widersinn, ein Problem, das den Naturwissenschaften als solchen anhaftet, naturwissenschaftlich lösen zu wollen (Husserl 1910/11: 300). Seidel hat sich argumentativ also in genau jener Thematik aporetisch verfangen, die Husserl stillschweigend voraussetzt. Auch Seidel spricht von den Wissenschaften als »Realitäten«, er behauptet aber im Gegensatz zu Husserl, dass durch die wissenschaftlichen Realitäten die zeitlosen Ideen »entthront« worden seien: »Die Entthronung der absoluten Ideen durch die Bejahung der Realitäten – heißen diese nun Leben, Macht, Sexualität einerseits oder Nation und Klasse andererseits – ist Zeichen der Auflösung der Kultur. Die Spannung zwischen Idee und Realität wird aufgehoben, die Realität selbst zur Idee erhoben […]« (Seidel 1927: 202).69 Die wissenschaftlichen Realitäten seien, so Seidel, an die Stelle der absoluten Ideen getreten, und die Spannung zwischen Realität und Idee sei verschwunden. Anders als Husserl, der an dieser Spannung festhält und dadurch wissenschaftliche und philosophische Entscheidungen autorisiert, sieht Seidel keine Möglichkeit, wie die Gültigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse epistemologisch noch legitimiert werden könnte.
Husserl setzt diese Möglichkeit, hält an ihr fest und entwickelt daraus sein Argumentarium. Sein Denken beginnt dort, wo Seidels Denken bereits stattfindet. Er nimmt einen erkenntnistheoretischen Standpunkt jenseits des Seidel’schen endlosen Regresses ein: Er setzt die Möglichkeit, dass andere, neue Wahrheiten gültig werden könnten. Was für Husserl eine Ausgangslage war, war für Seidel eine Konsequenz: Andere Wahrheiten als die bestehenden gibt es in der hier vorgenommenen Interpretation für Seidel nicht. Wo er die Möglichkeit anderer Wahrheiten schwinden sieht, stellt Husserl sie her. Wenn Prinzhorn Seidel in seinem Vorwort in paternalistischer Weise »als reine[n] Tor« bezeichnet, der »mit dem schwersten Rüstzeug des Geistes allzu ernsthaft spielte« (Prinzhorn 1927: 68), kann im Kontrast dazu festgestellt werden, dass Husserl mit großer Ernsthaftigkeit die richtigen Setzungen vorgenommen und diese gemäß den disziplinären Spielregeln seiner Zeit verteidigt hat. Die philosophischen Inhalte, die dadurch aktualisiert wurden, gelten bis heute.
Aktualität
An Husserls Text werden Positionierungsstrategien sichtbar, die – vor allem im Kontext neurophilosophischer Debatten – höchst aktuell sind. Ein Beispiel soll als Abschluss dieses Kapitels kurz vorgestellt werden. Die Philosophin Patricia Churchland70 veröffentlicht 1986 ihr Buch Neurophilosophy (1986): Da das materielle Gehirn Träger aller mentalen Zustände ist – so Churchlands Thesen des »eliminative materialism« in verknappter Form –, gelte es, die »Alltagspsychologie« (folk psychology) sukzessive durch neurowissenschaftliche Modelle zu ersetzen. Diese Position wiederum wird innerhalb des Gebietes der Philosophy of Mind als Extremposition gehandelt – offensichtlich stellt sie eine Provokation dar: zum einen, wie es Jerry Fodor ausdrückt, in Form einer grundsätzlichen intellektuellen Katastrophe: »[…] if commonsense intentional psychology were to collapse, that would be, beyond comparison, the greatest intellectual catastrophe in the history of our species; if we’re that wrong about the mind, then that’s the wrongest we’ve ever been about anything« (Fodor 1987: xii). Zum anderen wird der »eliminative materialism« als eine Bedrohung für die Philosophie selbst dargestellt. Jasper Liptow bemerkt am Schluss seiner Philosophie des Geistes zur Einführung: Wenn die vorangehenden Überlegungen nicht völlig verkehrt sein sollten, »[…] dann zielt der eliminative Materialismus nicht nur auf das Ende des Geistes, wie wir ihn kennen, sondern auch auf das Ende der Philosophie des Geistes, wie wir sie kennen« (Liptow 2013: 180). Georg Northoff, sowohl Hirnforscher als auch Philosoph, sagt diesbezüglich lapidar in einem Interview: Nach Churchland »[…] ersetzen die Neurowissenschaften die Philosophie, die kein eigenständiges Existenzrecht mehr hat« (Northoff 2008: 68).
Diese Episode bringt exemplarisch zutage, dass die Psychologisierung und Naturalisierung des Geistes bzw. des Bewusstseins für philosophische Erneuerungsansprüche bis heute ein produktives Gebiet sind. Northoff etwa fordert eine neue philosophische Methode: »Aufgrund der unterschiedlichen Geltungsansprüche, Bedingungen und Problemstellungen in der Philosophie und den Neurowissenschaften können philosophische Theorien nicht durch neurowissenschaftliche Befunde verifiziert oder falsifiziert werden. Zur Vermeidung von solchen interdisziplinären Reduktions- bzw. Identifizierungsversuchen muss eine spezielle Methodik, die ›Neurophilosophie‹, entwickelt werden […]« (Northoff 2000: 169). Um den Herausforderungen aus der Hirnforschung begegnen zu können, ist für Northoff die Entwicklung einer neuen Methodik unerlässlich.71 In struktureller Hinsicht wird am hier aufgegriffenen Beispiel aus der Decade of the Brain seit den 1990er-Jahren eine ähnliche Argumentationskonstellation deutlich, wie sie an Husserl erarbeitet wurde: Die Möglichkeit, von einer empirischen Wissenschaft (hier den Neurowissenschaften) gewissermaßen ›geschluckt‹ zu werden, wird für Philosophinnen und Philosophen zum Anlass, neue philosophische Arbeitsgebiete zu entwickeln (hier in Form der Neurophilosophie) – und zwar, indem sie sich mit genau diesen Herausforderungen auseinandersetzen. Northoff weist reaktiv aus, dass eine rein neurowissenschaftliche Perspektive Reduktionismen unterliegt bzw. keine adäquate Methode ist, die das menschliche Bewusstsein erfassen könnte, und entwickelt davon ausgehend die Methode der Neurophilosophie.
Es wird also eine ähnliche Argumentationsstruktur deutlich, wie sie in diesem Kapitel am Beispiel von Husserl herausgearbeitet wurde: Ein naturalistischer Ansatz wird als verkürzt abgelehnt, um davon ausgehend neue philosophische Methoden zu entwickeln. Wo gegenwärtig das Gehirn im Mittelpunkt steht, stand am Anfang des 20. Jahrhunderts die Psyche im Fokus des Forschungsinteresses. Die für Philosophen und Philosophinnen zentralen Fragen jedoch betreffen heute wie damals das gleiche Thema, nämlich die potenzielle empirische Vermessbarkeit des menschlichen Bewusstseins. Indem sie sich in zeitgenössische Debatten einschreiben, aktualisieren sie die Philosophie als jene zentrale Instanz, die das menschliche Bewusstsein zu bewahren und zu verteidigen beansprucht.
In der philosophischen Erneuerung, die am Beispiel von Husserl deutlich geworden ist, wird eine Form von Wahrheit verteidigt, die sich den naturwissenschaftlich-empirischen Wissenschaften nicht widersetzt, sondern die Absolutheit der Wahrheitsansprüche dieser Wissenschaften infrage stellt. Im nächsten Kapitel wird am Beispiel des Wiener Kreises eine philosophische Erneuerung beleuchtet, die – wie der Erneuerungsanspruch der Phänomenologie – einen fundierenden Anspruch erhebt, diese Fundierung aber mit gänzlich anderen Strategien erzielt: Die Vertreter des Wiener Kreises intendieren eine Neufundierung der Philosophie nicht durch die Abgrenzung gegenüber den Naturwissenschaften, sondern durch die Identifikation mit den Methoden ebendieser Wissenschaften. Sie reagieren damit auf die Gefahr, die Philosophie könne aufgrund des Deutungsanspruchs der Naturwissenschaften ihre wissenschaftliche Objektivität verlieren.
Eine Kapitelüberschrift lautet: »Versuch einer Erklärung: Freud contra Freud« (Seidel 1927: 90).
Wie deutlich werden wird, legen Seidels Ausführungen nahe, dass nebst der empirischen Psychologie auch die Psychoanalyse für die Erneuerung philosophischer Standpunkte konstitutiv ist. Erarbeitet wird dies vor allem am Erneuerungsanspruch der Kritischen Theorie. Hier werden lediglich die Erneuerungsstrategien fokussiert, die entlang der empirischen Psychologie sichtbar werden.
Ausnahmen sind etwa: Rath 1994; Kusch 1995/2000; Schmidt 1995; Jahnke et al. 1998; Dale 2003; Ziche 2008; Kaiser-el-Safti 2011.
Wundt selbst jedoch hat sich vehement gegen eine Trennung beider Disziplinen ausgesprochen. »Gerade darin, daß die Psychologie eine Teilwissenschaft der Philosophie und zugleich eine empirische Geisteswissenschaft ist, liegt ihr Wert für beide Teile, für die Philosophie wie für die empirischen Einzelwissenschaften, die hauptsächlichste Vermittlerin zwischen beiden zu sein« (Wundt 1913: 32). Wundt fordert, dass sich Philosophie und Psychologie gegenseitig ergänzen, sich aber keinesfalls voneinander abkoppeln sollten: »Wenn die Auseinandersetzung mit der Erkenntnistheorie den Anfang einer jeden wissenschaftlichen Psychologie bildet, die nicht auf der Oberfläche zufällig aneinandergereihter Beobachtungen stehen bleiben will, so mündet letzten Endes die Psychologie notwendig in jene Zweiggebiete der Philosophie ein, und nur dadurch kann sie mit Recht den Anspruch erheben, eine Grundlage der Geisteswissenschaften überhaupt zu sein« (ebd.). Obwohl Wundt sich also gegen die Trennung beider Disziplinen gewehrt hat, wird er rezeptionsgeschichtlich zu einer Projektionsfläche gegen den ›Psychologismus‹, gegen die Vorstellung also, wonach die Logik und die Erkenntnistheorie auf empirische psychologische Gesetze reduziert werden können. Wie angesprochen werden diesbezüglich vor allem Wundts »großer Antipode« (Schnädelbach 1983: 126) Husserl als auch Gottlob Frege genannt.
Wundt reagiert 1913 mit seinem Text Die Psychologie im Kampf ums Dasein auf die umkämpften philosophischen Lehrstühle. »Die Philosophen sehen sich augenscheinlich in ihrem Besitzstand gefährdet: je weniger ihnen die neueren psychologischen Forschungsmethoden sympathisch sind, da sie außerhalb des Gesichtskreises ihrer eigenen Arbeit liegen, um so mehr sehen sie in den experimentellen Psychologen Eindringlinge, die den Lehrbetrieb der Philosophie und die emporstrebenden Dozenten der eigentlichen Philosophie benachteiligen. Sie betonen daher mit großer Emphase die Selbständigkeit der experimentellen Psychologie, empfehlen diese sogar den Regierungen zur geneigten Berücksichtigung; aber der Schwerpunkt ihrer Wünsche liegt doch in der mehr negativen Forderung: hinaus mit der Psychologie aus der Philosophie! Ganz anders die Psychologie, die fernerhin nur Psychologen sein wollen und sich von der Beschäftigung mit der übrigen Philosophie von Amts wegen befreit sehen möchten. Ihnen ist es wirklich um die Selbständigkeit der Psychologie zu tun. […] Die experimentelle Psychologie fordere ihren Mann ganz, eine Spaltung seiner Arbeit nach beiden Seiten, der psychologischen und der philosophischen, würde eine unerhörte Belastung für den Psychologen sein. Hier lautet die Devise im Grunde umgekehrt wie oben: hinaus mit der Philosophie aus der Psychologie!« (Wundt 1913: 2–3).
Es handelt sich dabei vermutlich um Husserls Vorlesung Einleitung in die Philosophie von 1916 und 1918.
Seidel nennt die Psychologie und die Soziologie häufig im Zusammenhang. Analog zur Psychologie sieht er auch in der Soziologie das Problem, dass diese den Geist als von sozialen Strukturen bestimmt sieht. Dieser Aspekt wird im Kapitel zur Kritischen Theorie fokussiert.
Die Bezüge zu Friedrich Nietzsche, die hier spürbar werden, sind in Seidels Schrift an vielen Stellen angedeutet. Siehe Fn 135.
Prinzhorn erwähnt den Namen F. Bouquet (Prinzhorn 1924: 54).
Wie betont, bezeichnet Seidel Rickert als einen »raffinierten Impressionisten« (Prinzhorn 1927: 54).
Wie in der Einleitung ausgeführt, ist der Begriff der Strategie nicht intentional zu verstehen, d.h., er ist nicht auf die bewussten Intentionen eines spezifischen Akteurs (hier Husserl) zurückzuführen.
Vgl. zum LOGOS die drei Aufsätze von Rüdiger Kramme 1995; 1996; 1997.
Als »Mitarbeiter« aufgelistet sind: die Philosophen Rudolf Eucken, Edmund Husserl, Heinrich Rickert, Georg Simmel, Ernst Troeltsch, Wilhelm Windelband, der Jurist Otto von Gierke, der Historiker Friedrich Meinecke, der Nationalökonom und Soziologe Max Weber und der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin.
Der Philosoph Werner Schneiders betont, dass der Wille nach strenger Wissenschaftlichkeit »merkwürdig unreflektiert« bleibt. »Dieser Trieb bzw. Wille, der hier merkwürdig unreflektiert immer wieder als letztes Motiv für Philosophie und Wissenschaft angesetzt ist, fällt nämlich mit den wahren Interessen der Menschheit zusammen, die jedoch von Husserl auch nur behauptet werden« (Schneiders 1998: 74).
Die These, wonach zwischen den Geisteswissenschaften einerseits (Verstehen) und den Naturwissenschaften andererseits (Erklären) eine grundsätzliche Dichotomie bestehe, wurde in den 1960er-Jahren zum Topos. Dafür spielte C. P. Snows The Two Cultures von 1959 eine entscheidende Rolle. Die Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften bzw. die Diskrepanz zwischen Verstehen und Erklären wird Ende des 19. Jahrhunderts akademisch etabliert. Wilhelm Dilthey kommt dabei eine Schlüsselrolle zu.
Hier taucht das Motiv, dass es der Philosophie und keiner anderen Wissenschaft zustehe, die Welt in ihrer Totalität erfassen zu können, wieder auf (siehe Unterkapitel »Das Weltganze zum Gegenstand machen«, S. 40–41).
An diesem Punkt tritt einer der entscheidenden Unterschiede zwischen dem Erneuerungsanspruch Husserls und demjenigen des Wiener Kreises hervor: Die Neubegründung der Philosophie im Sinne des Positivismus (wie sie vom Wiener Kreis verfolgt wird) ist in Husserls Perspektive schlicht unsinnig. Es wird weiter unten deutlich werden, dass im Unterschied zu Husserl die Vertreter des Wiener Kreises – wie Husserl – für eine grundsätzliche Wendung in der Philosophie argumentieren, diese aber aufgrund der Entwicklungen der Wissenschaften als schon verwirklicht betrachten. Husserl opponiert hier also gegen jene Traditionslinie, in die sich die Vertreter des Wiener Kreises einschreiben werden.
Der Ausdruck des »widersinnigen Zirkels« ist an dieser Stelle interessant; er erinnert an Seidels Circulus vitiosus. Wie Husserl mit diesem Zirkel umgeht, wird weiter unten besprochen (siehe S. 71–74).
Die Herausforderung, der sich Husserl stellt, könnte auch mit einer von Sigmund Freuds berühmten narzisstischen Kränkungen der Menschheit parallelisiert werden: mit der Kränkung infolge der psychoanalytischen Theorie des Unbewussten, wonach der Mensch nicht Herr im eigenen Hause sei.
Husserls Befürchtung sei gewesen, so wird philosophiegeschichtlich stets betont, dass Dilthey in seinem Ansatz jegliche Objektivität preisgebe.
Inwieweit sich eine »überzeitliche Idee« überhaupt zeitlich zu entwickeln vermag – wie Husserl in diesem Zusammenhang impliziert –, ist eine andere Frage, auf die hier nicht eingegangen werden kann.
Eine aktualisierte Version dieser Strategie kann an Bruno Latour beobachtet werden, der die Wissenschaftsforschung als verbindendes Element zwischen Geistes- und Naturwissenschaften versteht und sich selbst explizit als Philosoph positioniert (Dätwyler 2018).
Die Selbstpositionierungsstrategien des Szientismus werden im weiteren Verlauf dieses Buches durch das Beispiel des Wiener Kreises, der Historizismus hingegen durch das Beispiel der Kritischen Theorie thematisiert.
Dies markiert einen zentralen Unterschied zu den Erneuerungsstrategien des Wiener Kreises: Dessen Vertreter begründen die Wissenschaftlichkeit der Philosophie nicht mit dem Prinzip der Philosophie selbst, sondern mit den exakten Naturwissenschaften.
Es wird sich zeigen, dass die Rolle der Philosophie als Korrektiv für die anderen Wissenschaften vorwiegend in der Kritischen Theorie argumentativ rehabilitiert wird, während die Aktualisierung der Philosophie als Fundament aller Wissenschaften vorwiegend bei Husserl und dem Wiener Kreis erkennbar ist.
Dieses Zitat wurde auf S. 30 im Zusammenhang mit Seidels erkenntnistheoretischer ›Bodenlosigkeit‹ besprochen.
In diesem Beispiel wird eine genealogische Linie von Wundt zu Churchland sichtbar. Olaf Breidbach verortet die Anfänge der aktuellen Neurophilosophie bei Wundt: »Im Vergleich der Bücher von Wundt und Churchland zeigt sich, daß auch der von der Neurophilosophie reklamierte Stellenwert des Neuronalen keineswegs neu und für die philosophische Diskussion innovativ ist« (Breidbach 1997: 393).
Weitere gegenwärtig bekannte Partizipanten an dieser Debatte sind etwa Daniel Dennett, David Chalmers oder Gerhard Roth und Wolf Singer.