Das zentrale Problem der Handlungstheorie besteht darin, den Unterschied zwischen Handlungen und rein passiven Körperbewegungen zu erklären. Dieses Problem hat Harry Frankfurt (1978: S. 157) das Problem des Handelns (engl. »The Problem of Action«) genannt. Blickt man auf die wichtigsten Entwicklungen der Handlungstheorie der letzten Jahrzehnte, so kann man feststellen, dass Philosophinnen und Philosophen den Unterschied zwischen Handlungen und bloß passiven Körperbewegungen fast ausschließlich dadurch erklärt haben, wie Akteure Handlungen produzieren. Einige haben sich auf die Rolle von Entscheidungen konzentriert (z.B. Pink 1996), andere auf die Rolle der praktischen Vernunft (z.B. Ford et al. 2011; Vogler 2002; Anscombe 1957) wieder andere auf die Rolle von Absichten und Plänen (z.B. Holton 2009; Mele 1992; Bratman 1987; Searle 1983; Davidson 1980), und besonders in jüngster Zeit auf die Rolle des Motorsystems im Gehirn bei der Erzeugung von Handlungen (z.B. Mylonopulous und Pacherie 2018; Shepherd 2019, Brozzo 2016; Butterfill und Sinigaglia 2014; Nanay 2013; Pacherie 2000). Allen diesen Ansätzen ist die implizite Annahme gemein, dass eine Erklärung der Produktionsbedingungen von Handlungen für sich genommen hinreichend ist, um den Unterschied zwischen Handlungen und bloß passiven Körperbewegungen, zwischen aktivem und passivem Verhalten zu erklären. Dem entgegen steht die Kernthese meines Buches, dass Handlungen nur verstanden und erklärt werden können, wenn man sowohl die produktiven als auch die inhibitorischen Aspekte von Handlungskontrolle berücksichtigt. Handeln besteht deshalb stets aus dem Zusammenspiel von Produktion und Inhibition.
Die Bedeutung inhibitorischer Kontrolle für unser Handeln wird deutlich, wenn man Alltagsbeispiele betrachtet: Stellen Sie sich vor, Sie wollen eine Tür öffnen und greifen nach der Türklinke. Bevor Sie die Klinke herunterdrücken, bemerken Sie eine riesige giftige Spinne, die an der Klinke entlang krabbelt. Sofort stoppen Sie Ihre Armbewegung und ziehen Ihre Hand zurück. Zugleich dient inhibitorische Kontrolle nicht nur als »Notbremse«, um Handlungen in letzter Sekunde zu unterdrücken und gefährliche oder potentiell schädliche Situationen zu vermeiden. Inhibitorische Kontrolle spielt auch eine entscheidende Rolle bei der Steuerung des eigenen Verhaltens, wenn es darum geht, langfristige Ziele zu erreichen. Stellen Sie sich vor, Sie wollen einen wichtigen Aufsatz oder das Kapitel eines Buches fertigstellen, und das Smartphone klingelt in Ihrer Tasche. Sie werden sofort den Drang verspüren, zu überprüfen, wer sich gerade bei Ihnen meldet. Da Sie aber rechtzeitig fertig werden wollen, müssen Sie den Drang, das Telefon abzunehmen, unterdrücken. Um ein langfristiges Ziel zu erreichen, muss ein Akteur1 also in der Lage sein, sein Handeln zu steuern und sich gegen Störungen und Ablenkungen zu wehren. Diese Beispiele machen deutlich, dass Akteure nur dann die volle Kontrolle über ihr Handeln besitzen, wenn sie auch über inhibitorische Fähigkeiten verfügen.
Häufig verläuft die Ausübung inhibitorischer Kontrolle automatisch und unbewusst und wird deshalb nicht wahrgenommen. Ihre Bedeutung lässt sich aber leicht erkennen, wenn man Patienten mit neuropsychologischen Erkrankungen in den Blick nimmt, die nur eingeschränkt über inhibitorische Kontrolle verfügen. Pathologien wie das sogenannte »Anarchic Hand Syndrome« (AHS) bieten einen interessanten Einblick in die Natur inhibitorischer Kontrolle und erlauben Rückschlüsse darauf, wie inhibitorische Kontrolle bei gesunden Menschen funktioniert. Wenn AHS-Patienten Alltagsgegenstände wie Werkzeuge, Tassen oder Geschirr sehen, greift ihre anarchische Hand ungewollt nach diesen und benutzt sie entsprechend ihrer Funktion. Im Gegensatz zu gesunden Menschen sind AHS-Patienten nicht in der Lage, ihre Hand daran zu hindern, dieses anarchische und ungewollte Verhalten auszuführen. Die Tatsache, dass AHS-Patienten über eine Reihe mentaler Vermögen und Fähigkeiten verfügen, die für die Produktion von Verhalten von Bedeutung sind (z.B. das Vermögen, Entscheidungen zu treffen oder Absichten und Pläne zu formen), sie aber dennoch nicht in der Lage sind, dieses anarchische Verhalten der Hand zu unterdrücken, legt den Schluss nahe, dass ein entscheidender Aspekt für Handlungskontrolle fehlt: inhibitorische Kontrolle. Diese Überlegungen zeigen, dass man das von Frankfurt charakterisierte Problem der Handlungstheorie nicht lösen kann, ohne das komplexe Zusammenspiel von Produktion und Inhibition zu verstehen.
Trotz der Bedeutung inhibitorischer Kontrolle im Alltag gibt es derzeit weder eine philosophische Auseinandersetzung mit der Thematik noch einen eigenständigen philosophischen Ansatz, der inhibitorische Kontrolle erklären würde. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, diese Lücke in der philosophischen Forschung zu schließen. Dabei möchte ich insbesondere auf die folgenden drei Fragen eingehen:
(1) Was ist inhibitorische Kontrolle?
(2) Kann inhibitorische Kontrolle reduktiv erklärt werden, d.h. indem man sie durch andere mentale Fähigkeiten oder Vermögen erklärt, oder muss dafür ein irreduzibles inhibitorisches Vermögen postuliert werden?
(3) Inwiefern beeinflusst die Berücksichtigung inhibitorischer Kontrolle unser Verständnis von Handeln allgemein?
Mein Ziel ist es, zu zeigen, dass wir, um inhibitorische Kontrolle zu erklären, ein genuines und irreduzibles inhibitorisches Vermögen zur Unterdrückung von Handlungen postulieren müssen, das ich »Inhibition« nennen werde.
In diesem Buch stelle ich die erste umfassende philosophische Darstellung inhibitorischer Kontrolle vor. Dabei werde ich sowohl die neuesten empirischen Erkenntnisse der Kognitionswissenschaften und Psychologie berücksichtigen als auch den höchsten philosophischen Ansprüchen Rechnung tragen. Damit wird der Grundstein für eine neue Handlungstheorie gelegt, die der Erkenntnis gerecht wird, dass Handeln sowohl aus produktiven als auch aus inhibitorischen Aspekten besteht.
In Kapitel 1 hebe ich die Bedeutung und Relevanz inhibitorischer Kontrolle für die Erklärung von Handlungen hervor. Zunächst beginne ich mit dem von Harry Frankfurt angesprochenen »Problem of Action«. Daran anschließend charakterisiere ich vier der einflussreichsten zeitgenössischen Handlungstheorien und arbeite heraus, welche Lösung sie für Frankfurts Problem anbieten. Jede dieser Theorien erklärt Handeln, indem sie auf besondere Arten eingeht, wie Handlungen von Akteuren erzeugt und produziert werden. Dann zeige ich anhand von Alltagsbeispielen und pathologischen Fällen, dass inhibitorische Kontrolle – die Fähigkeit, unerwünschtes Verhalten zu unterdrücken oder zu stoppen – einen wichtigen Aspekt der Handlungskontrolle darstellt. Daran anschließend werde ich eine Herausforderung skizzieren, die sich für jede Handlungstheorie stellt. Diese Herausforderung besteht darin, den Unterschied zwischen normaler menschlicher Tätigkeit und pathologischem Verhalten bei AHS-Patienten zu erklären. AHS-Patienten führen zielgerichtete, aber ungewollte Bewegungen aus, die durch markante Reize in ihrer Umgebung ausgelöst werden (z.B. durch Alltagsgegenstände oder Werkzeuge). Diese ungewollten Bewegungen können aber mit normalen Mitteln nicht unterdrückt werden. Wie ich zeigen werde, ist keine der aktuellen Handlungstheorien in der Lage, diese Herausforderung zu bewältigen. Dies legt den Schluss nahe, dass es derzeit keine angemessene philosophische Erklärung von Handlungen gibt, die zugleich der inhibitorischen Kontrolle gerecht wird.
Die zentrale Aufgabe von Kapitel 2 ist es, einen Überblick über mögliche Erklärungsmodelle inhibitorischer Kontrolle zu geben. Wie ich zeigen werde, muss zwischen pluralistischen und monistischen Erklärungsmodellen einerseits und reduktiven und nicht-reduktiven Erklärungsmodellen andererseits unterschieden werden. Monisten sind der Meinung, dass inhibitorische Kontrolle allein durch den Verweis auf ein einziges mentales Vermögen oder eine Fähigkeit erklärt werden kann. Pluralisten hingegen lehnen diese Auffassung ab und gehen davon aus, dass es mehrerer Vermögen oder Fähigkeiten bedarf, um inhibitorische Kontrolle zu erklären. Reduktionisten teilen die Auffassung, dass inhibitorische Kontrolle reduktiv erklärt werden kann, ohne dafür ein genuines Vermögen zur Inhibition annehmen zu müssen, Nicht-Reduktionisten lehnen dies hingegen ab. Wie ich vorschlagen werde, sind verschiedene Varianten bzw. Kombinationen dieser beiden Erklärungsmodelle möglich.
In Kapitel 3 prüfe ich, ob es möglich ist, inhibitorische Kontrolle reduktiv zu erklären, indem ich mich auf einige grundlegendere Vermögen als potentielle Kandidaten stütze. Ich bezeichne diese Strategie als Reduktionismus der inhibitorischen Kontrolle. Klassische Kandidaten für eine reduktive Erklärung inhibitorischer Kontrolle sind: das Vermögen, Entscheidungen zu treffen, Absichten, Pläne und Verpflichtungen zu formen sowie das Vermögen der Aufmerksamkeit. Wie ich argumentieren werde, sind reduktive Erklärungen von inhibitorischer Kontrolle nicht erfolgreich. Dies liefert dem ersten Anschein nach Grund zur Annahme, dass ein irreduzibles inhibitorisches Vermögen als notwendige Bedingung für die Erklärung inhibitorischer Kontrolle postuliert werden muss.
Um meine These weiter zu stützen, liefere ich in Kapitel 4 das erste Argument, dass wir ein genuines und irreduzibles inhibitorisches Vermögen, kurz »Inhibition«, annehmen müssen. Zu diesem Zweck betrachte ich die Rolle inhibitorischer Kontrolle im Bereich der Handlungen. Zunächst werde ich zeigen, dass die Fähigkeit Alltagshandlungen auszuführen, zum Teil auf der Ausübung des Vermögens, Wahrnehmung und Handlung automatisch zu koordinieren, beruht. Ich nenne dies das Reiz-Reaktions-Vermögen. Daran anschließend führe ich ein Gedankenexperiment durch und stelle einen möglichen Akteur vor, der lediglich über ein Reiz-Reaktions-Vermögen verfügt, aber keine weitere inhibitorische Kontrolle besitzt. Wie ich darlegen werde, mangelt es diesem Akteur an der Fähigkeit, sich von seiner Umwelt und den Gegenständen, die ihn umgeben, zu lösen. Er ist damit nicht in der Lage, im eigentlichen Sinne des Wortes zu handeln, da jede seiner zielgerichteten Handlungen eine ungewollte Interaktion mit Gegenständen in seiner Umgebung nach sich zieht. Zur Stützung meines Arguments ziehe ich auch empirische Studien heran, die die gleiche Schlussfolgerung zulassen. Drittens werde ich Inhibition als genuines und irreduzibles inhibitorisches Vermögen in die Debatte einführen und eine philosophische Charakterisierung davon vornehmen. Die Frage, die dies aufwirft, ist: Wie muss Inhibition von Akteuren ausgeübt werden, damit normales Handeln möglich ist. Wie ich argumentieren werde, stellt automatische Inhibition die überzeugendste Art dar, um zu erklären, wie inhibitorische Kontrolle im Normalfall ausgeübt wird und wie Akteure in die Lage versetzt werden, sich von ihrer Umwelt zu lösen.
In Kapitel 5 stelle ich ein zweites Argument zur Stützung meiner These vor, die besagt, dass man ein genuines und irreduzibles inhibitorisches Vermögen annehmen muss. Zu diesem Zweck betrachte ich die Rolle inhibitorischer Kontrolle im Bereich der Selbstkontrolle, verstanden als die Fähigkeit, Wünsche, Emotionen und Gedanken zu kontrollieren. Ziel dieses Kapitels ist es, zu zeigen, dass Inhibition auch einen kritischen Faktor für Selbstkontrolle darstellt. Wie ich ausführen werde, führt der Verlust von Inhibition zu einem Verlust an Selbstkontrolle. Dies werde ich durch verschiedene empirische Studien zur Fettleibigkeit untermauern. Wenn meine Argumentation korrekt ist, besteht die Funktion von Inhibition nicht nur darin, Verhalten, sondern auch Wünsche, Emotionen und Gedanken zu unterdrücken.
In Kapitel 6 lege ich meinen Ansatz inhibitorischer Kontrolle vor, wie er sich aus der vorangegangenen Diskussion ergibt. Zunächst führe ich die verschiedenen Argumentationsstränge zusammen. Daran anschließend liefere ich einen umfassenden philosophischen Ansatz inhibitorischer Kontrolle. Demnach wird inhibitorische Kontrolle durch das Zusammenspiel verschiedener mentaler Vermögen und Fähigkeiten konstituiert. Dazu zählen, das Vermögen, Entscheidungen zu treffen, Absichten und Pläne zu formen und das Vermögen der Aufmerksamkeit und Inhibition selbst, verstanden als ein genuines und irreduzibles inhibitorisches Vermögen. Diese Position nenne ich nicht-reduktiven Pluralismus der inhibitorischen Kontrolle.
Abschließend kehre ich zu Frankfurts Ausgangsfrage zurück, wie der Unterschied zwischen dem, was ein Akteur tut und dem, was ihm lediglich widerfährt, erklärt werden kann. Wie ich zeigen werde, lässt sich das Vermögen zu handeln am besten als ein Zwei-Wege-Vermögen (engl. »two-way-power«) charakterisieren, wonach Handeln stets aus Produktion und Inhibition von Verhalten besteht. Um dies zu erklären, müssen wir notwendigerweise ein genuines und irreduzibles mentales Vermögen zur Inhibition annehmen.
Aus Gründen der Lesbarkeit wurde im Text die männliche Form gewählt, nichtsdestoweniger beziehen sich die Angaben auf Angehörige beider Geschlechter.