Einleitung

In: Die Worte der Anderen
Author:
Felix Bräuer
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Das Projekt

»No man is an island, entire of itself; every man is a piece of the continent, a part of the main«. Diese Worte des Dichters John Donne1 lassen sich unmittelbar auf unsere Situation als Erkenntnissubjekte übertragen. Einen Großteil unserer Überzeugungen verdanken wir den Aussagen unserer Mitmenschen. Wir fragen Fremde nach dem Weg oder studieren Stadtpläne. Restaurantempfehlungen suchen wir im Internet. Über die weltpolitische Lage halten uns diverse Nachrichtenquellen auf dem Laufenden. Aus Geschichtsbüchern erfahren wir, was vor unserer Geburt in Ländern geschehen ist, die wir nie betreten haben. Ja, sogar grundlegende Informationen über uns selbst stammen aus zweiter Hand. Unsere Eltern haben uns mitgeteilt, wann und wo wir geboren sind und auf welchen Namen wir wenig später getauft wurden. Auch unser Wissen um frühkindliche Erlebnisse verdanken wir eher ihren Worten als der eigenen Erinnerung … Die hier begonnene Liste lässt sich beliebig fortsetzen und sie belegt, wie sehr wir in epistemischer Hinsicht von anderen abhängen.

Aus dieser Diagnose erwächst die zentrale Frage meiner Arbeit: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit wir gerechtfertigt sind, den Aussagen unserer Mitmenschen zu glauben? Zu betonen ist hierbei, dass ich diese Frage ausgehend von der Annahme stelle, dass wir den Inhalt der jeweils vermittelten Information klar und deutlich vernehmen konnten. Ich werde mich auf Fälle konzentrieren, in denen kein Missverständnis zwischen den Parteien droht, die in einen Informationsaustausch treten. Genauer gesagt setze ich voraus, dass die jeweilige Mitteilung in einer Sprache erfolgt, die wir verstehen können und dass wir zudem die kognitiven Fähigkeiten besitzen, diese Mitteilung korrekt zu verarbeiten. Außerdem gehe ich davon aus, dass wir uns nicht in einer Situation befinden, in der wir »Stille Post« spielen müssen, weil wir den Wortlaut lediglich erahnen.2 Ich möchte also ergründen, was uns darin rechtfertigt, uns eine Information zu eigen zu machen, nachdem wir ihren Gehalt zuverlässig wahrgenommen haben.

Um die derart präzisierte Ausgangsfrage zu beantworten, werde ich in dieser Arbeit einen Ansatz namens »moderater Non-Reduktionismus« entwickeln und verteidigen, der sich in einigen wichtigen Punkten von den in der Literatur gängigen Positionen unterscheidet. Anschließend werde ich diesen Ansatz zu einer Theorie testimonialen Wissens erweitern und ausblickhaft untersuchen, wie sich diese Theorie in das übergeordnete Themenfeld Soziale Erkenntnistheorie einfügt.

Kapitelübersicht

In Kapitel 1 werde ich die zwei für meine Ausgangsfrage zentralen Begriffe klären – den Rechtfertigungsbegriff und den Aussagenbegriff. Hierbei werde ich zunächst einen Überblick über die Internalismus/Externalismus-Debatte in der Erkenntnistheorie geben und motivieren, warum es mir im weiteren Verlauf dieser Arbeit um Rechtfertigung in einem internalistischen Sinne gehen wird. Anschließend werde ich das für mich relevante Verständnis von »Aussage« darlegen. Ich werde, grob gesagt, argumentieren, dass ein Sprecher eine Aussage im relevanten Sinne trifft, sofern sein kommunikativer Akt dazu dienen soll, einem Publikum zu vermitteln, dass ein bestimmter Sachverhalt vorliegt.

Nachdem diese Begriffsklärungen erfolgt sind, werde ich mich der Debatte bezüglich der Rechtfertigung unserer Testimonial-Überzeugungen zuwenden. Diese Debatte wird von zwei widerstreitenden Positionen geprägt, die unter den Namen »Reduktionismus« und »Non- Reduktionismus« einschlägig sind. Laut Reduktionismus stellen die Aussagen unserer Mitmenschen keine eigenständige Erkenntnisquelle dar. Daher muss die Rechtfertigung unserer Testimonial-Überzeugungen stets auf positive Gründe nicht-testimonialer Natur (kurz: positive Gründe) zurückgeführt werden, die für die Ehrlichkeit und Kompetenz unserer Informationsquelle sprechen. So bin ich etwa gerechtfertigt, einer Person zu glauben, weil ich mir bewusst bin, dass sich ihre Behauptungen in der Vergangenheit stets als zutreffend erwiesen haben. Der Non-Reduktionismus bestreitet diese Annahmen. Laut Non- Reduktionismus werden die Aussagen unserer Mitmenschen als eigenständige Erkenntnisquelle begriffen. Diesem Ansatz folgend, sind wir zunächst gerechtfertigt, zu glauben, was man uns mitteilt. Allerdings wird diese Berechtigung aufgehoben, wenn wir Gründe besitzen, die gegen die Ehrlichkeit oder Kompetenz unserer Informationsquelle sprechen.

Mein Fokus in Kapitel 2 wird auf einer Kritik des Reduktionismus liegen. Ich werde drei Möglichkeiten vorstellen, wie die Forderung des Reduktionisten nach nicht-testimonialen Gründen zu verstehen ist: (1) Wir benötigen nicht-testimoniale Gründe, die dafür sprechen, dass die Aussagen unserer Mitmenschen generell eine verlässliche Erkenntnisquelle darstellen; (2) Wir benötigen nicht-testimoniale Gründe, die für die Verlässlichkeit des Aussagen-Typs sprechen, dem die fragliche Aussage zuzuordnen ist; (3) Wir benötigen nicht- testimoniale Gründe, die für die Verlässlichkeit der individuellen Aussage in der konkreten Situation sprechen. Hierbei wird sich zeigen, dass jede dieser Optionen mit schwerwiegenden Problemen behaftet ist: Die von Ansatz (1) gelieferten Gründe bleiben zu allgemein, um die Testimonial-Skepsis des Reduktionisten zu befriedigen. Ansatz (2) kann dem Umfang nicht gerecht werden, in dem wir auf die Aussagen unserer Mitmenschen angewiesen sind. Und Ansatz (3) zeigt sich außerstande, der spontanen Unbeschwertheit gerecht zu werden, mit der ein alltäglicher Informationsaustausch zumeist vonstattengeht. Dieses Ergebnis werde ich als Grund begreifen, dem Non-Reduktionismus den Vorzug zu geben, sofern sich dieser nicht seinerseits als noch problematischer erweist.

Entsprechend werde ich in Kapitel 3 damit beginnen, eine Antwort auf meine Ausgangsfrage zu entwickeln, die auf einem non-reduktionistischen Verständnis testimonialer Rechtfertigung basiert. Insbesondere wird es mir in diesem Kapitel darum gehen, zu erklären, warum wir prima facie gerechtfertigt sein sollten, den Worten unserer Mitmenschen zu glauben. Hierbei wird ein erster Bruch mit der erkenntnistheoretischen Tradition stattfinden. Solche Erklärungen gehen – zumindest implizit – davon aus, dass Rechtfertigung in einem externalistischen Sinne zu verstehen ist. Somit sind sie nicht mit dem internalistischen Rahmen vereinbar, in dem diese Untersuchung stattfindet. Daher wird es hier meine Aufgabe sein, zu zeigen, dass der Non-Reduktionismus auch mit einem internalistischen Verständnis von Rechtfertigung kompatibel ist.

Sobald dies geschehen ist, werde ich mich in Kapitel 4 einem weiteren Aspekt des Non-Reduktionismus zuwenden. Auch der Non-Reduktionismus stellt den Worten unserer Mitmenschen keinen Blankoscheck aus. Wie oben bereits ausgeführt, behauptet er nur, dass wir gerechtfertigt sind, den Aussagen anderer zu glauben, sofern wir nicht über Gründe verfügen, die dagegensprechen, dies zu tun. Dieser wichtigen Einschränkung folgend, werde ich sodann untersuchen, was unter »Gegengründen« zu verstehen ist und was es genau bedeutet, keine solchen Gegengründe zu besitzen. In Zusammenhang mit letzterem werde ich ein Dilemma diskutieren, das Elisabeth Fricker gegen den Non-Reduktionismus vorgebracht hat: Entweder die Gegengründebedingung erlaubt die leichtgläubige Akzeptanz von Behauptungen oder sie führt dazu, dass der Non-Reduktionismus in eine Version des Reduktionismus kollabiert. Hiergegen werde ich – ausgehend von Arbeiten Sanford Goldbergs und David Hendersons – argumentieren, dass dem Non-Reduktionisten ein Mittelweg offensteht, der ihn sicher zwischen den Hörnern des Fricker’schen Dilemmas hindurchführt. Es ist plausibel, anzunehmen, dass wir über eine Art Alarmsystem verfügen, das anschlägt, wenn es Grund zum Misstrauen gibt. Entsprechend müssen wir weder leichtgläubig akzeptieren, was man uns sagt, noch uns bewusst fragen, was dafür oder dagegen spricht, der jeweiligen Aussage zu glauben.

Nachdem geklärt wurde, welche Funktion Gegengründen zukommt, gilt es in Kapitel 5 zu untersuchen, welche Rolle positive Gründe – wie sie für den Reduktionismus einschlägig sind – auch innerhalb eines non-reduktionistischen Ansatzes spielen können. Ich werde argumentieren, dass diese in dreifacher Hinsicht bedeutsam sind: (1) Sie können eine bereits bestehende Rechtfertigung verstärken; (2) Sie können zuvor aufgetretene Gegengründe neutralisieren und so eine verlorene Rechtfertigung wiederherstellen; (3) Sie sind notwendig für den Besitz gerechtfertigter Testimonial-Überzeugungen, wenn besonders hohe praktische Risiken mit einer Fehlinformation einhergehen.

Während sich (1) und (2) mit der erkenntnistheoretischen Orthodoxie vereinbaren lassen, wird (3) zu einem weiteren Bruch mit der Tradition führen. Traditionell gehen Non- Reduktionisten davon aus, dass praktische Risiken keinen Einfluss auf die epistemischen Ansprüche haben, denen wir genügen müssen, um gerechtfertigte Testimonial- Überzeugungen zu besitzen. Auch angesichts hoher praktischer Risiken sind wir prima facie gerechtfertigt, zu glauben, was man uns sagt. Kapitel 5 wird ergeben, dass diese Annahme fallengelassen werden muss. Die resultierende Position bezeichne ich als »moderaten Non- Reduktionismus«, da sie positiven Gründen mehr Raum zubilligt, als dies non- reduktionistische Ansätze bisher getan haben.

Im Anschluss an diese Positionierung innerhalb der Debatte wird es in den beiden folgenden Kapiteln gelten, den bisher entwickelten Ansatz zu verteidigen und mit Alternativpositionen zu vergleichen, die ebenfalls über die klassische Dichotomie zwischen Reduktionismus und Non-Reduktionismus hinausgehen. In Kapitel 6 werde ich mich mit drei Einwänden beschäftigen, die gegen den moderaten Non-Reduktionismus vorgebracht werden könnten. Zunächst werde ich dem Vorwurf begegnen, dass mein Ansatz nicht in der Lage ist, die Intuition einzufangen, laut der auch kleine Kinder gerechtfertigte Testimonial- Überzeugungen besitzen können. Auf dieses vermeintliche Problem werde ich mit Hilfe einer Fehlertheorie reagieren, die den Ursprung der Kleinkinder-Intuition ergründet und zugleich erklärt, warum diese Intuition fehlgeleitet ist. Anschließend werde ich mich zwei Argumenten stellen, die auf Jennifer Lackey und Paul Faulkner zurückgehen. Beide Argumente sollen zeigen, dass wir immer positive nicht-testimoniale Gründe benötigen, um den Worten unserer Mitmenschen gerechtfertigterweise zu glauben. Diese Konklusion widerspricht dem moderaten Non-Reduktionismus, da dieser daran festhält, dass wir in vielen Fällen ohne solche positiven Gründe zu gerechtfertigten Testimonial-Überzeugungen gelangen können. Es wird sich jedoch zeigen, dass weder Lackeys noch Faulkners Argumentation einer kritischen Überprüfung standhält.

Der moderate Non-Reduktionismus geht davon aus, dass wir zumeist berechtigt sind, zu glauben, was man uns sagt, sofern wir uns nicht mit Gegengründen konfrontiert sehen. Diese Berechtigung besteht jedoch nicht, wenn besonders hohe praktische Risiken mit einer Fehlinformation einhergehen. In solchen Fällen benötigen wir stets positive Gründe zur Absicherung. Indem der moderate Non-Reduktionismus auf praktische Risiken verweist, liefert er ein prinzipielles Kriterium, mit dessen Hilfe sich unterschiedliche Fälle testimonialer Erkenntnis unterscheiden lassen. Entsprechend halte ich es für fruchtbar, diesen Ansatz mit weiteren Positionen in der aktuellen Debatte zu vergleichen, die ebenfalls mit Kriterien aufwarten, anhand derer ermessen werden soll, wie viel epistemische Arbeit ein Informationssuchender in einer gegebenen Situation leisten muss.

Einen solchen Vergleich werde ich in Kapitel 7 unternehmen. Er wird uns helfen, die dialektische Kraft des moderaten Non-Reduktionismus einzuschätzen. Als Vergleichspositionen werden mir folgende Ansätze dienen: Elisabeth Frickers lokaler Reduktionismus, der interpersonale Ansatz, der insbesondere von Richard Moran und Edward Hinchman in die Debatte eingebracht wurde, sowie das Informationsverbreitungs-Modell, das John Greco in einer Reihe neuerer Aufsätze entwickelt hat. Mein Ziel hierbei wird es sein, zu zeigen, dass der moderate Non-Reduktionismus gegenüber all diesen Alternativen entscheidende Vorteile aufweist.

Nachdem ich den in dieser Arbeit entwickelten Ansatz dergestalt verteidigt und seine Vorzüge hervorgehoben habe, werde ich in Kapitel 8 einen Weg aufzeigen, ihn zu einer Theorie testimonialen Wissens zu erweitern. Ich werde untersuchen, welche Faktoren hinzukommen müssen, damit eine wahre, gerechtfertigte Testimonial-Überzeugung Testimonial-Wissen darstellt. Als Vorlage für dieses Unterfangen werde ich mich auf eine modifizierte Version von Duncan Pritchards Anti-Zufalls Erkenntnistheorie berufen. Ich werde argumentieren, dass eine wahre, gerechtfertigte Testimonial-Überzeugung genau dann Testimonial-Wissen darstellt, wenn es keine nahe mögliche Welt gibt, in der sich diese Überzeugung als falsch erweist. Um diese Antwort zu präzisieren, werde ich sodann untersuchen, welche Anforderungen sie an die Aussage eines Sprechers stellt sowie an die Umgebung, in welcher der Informationsaustausch stattfindet.

Abschließend werde ich in einem kurzen Epilog der Frage nachgehen, wie sich die so entstandene Gesamtposition in das übergeordnete Projekt Soziale Erkenntnistheorie einfügt. Hierzu werde ich zunächst zwei Kriterien präsentieren, mit deren Hilfe sich ermessen lässt, ob ein fraglicher Ansatz in einem schwachen oder einem starken Sinne sozialer Natur ist: Ein Ansatz ist im schwachen Sinne sozialer Natur, wenn die fragliche Erkenntnisquelle – zumindest teilweise – sozialer Natur ist. Um einen stark sozialen Ansatz handelt es sich, wenn auch die Faktoren, die den epistemischen Status der resultierenden Überzeugung bestimmen – zumindest teilweise – sozialer Natur sind. Sodann werde ich zeigen, dass der moderate Non- Reduktionismus einen Beitrag zur sozialen Erkenntnistheorie im starken Sinne darstellt.

Theoretische Grundannahmen

Bevor ich mit der Untersuchung selbst beginne, möchte ich noch einige theoretische Grundannahmen hervorheben, von denen in der Debatte zumeist ausgegangen wird, ohne sie jedoch explizit zu benennen. Diese Annahmen bilden – frei nach Ludwig Wittgenstein – die Angeln, in denen sich meine Untersuchung bewegen wird.3

Wenn ich nach den Bedingungen von testimonialer Rechtfertigung und Testimonial- Wissen frage, gehe ich davon aus, dass wir durch die Worte unserer Mitmenschen tatsächlich häufig zu gerechtfertigten Überzeugungen und Wissen gelangen. Somit widerspreche ich John Locke, wenn dieser behauptet:

[W]e may as rationally hope to see with other men’s eyes as to know by other men’s understanding […]. The floating of other men’s opinions in our brains makes us not one jot the more knowledge, though they happen to be true. What in them was science is in us but opiniatrety. (Locke 1689/1961, 58)

Vielmehr gehe ich davon aus, dass Testimonien tatsächlich die reich sprudelnde Erkenntnisquelle sind, als die ich sie zu Beginn dieser Einleitung dargestellt habe. Es geht mir in der nachfolgenden Arbeit darum, die alltägliche Praxis des Sich-auf-andere-Verlassens theoretisch zu fundieren, anstatt sie grundsätzlich in Frage zu stellen. Das hier unternommene Projekt ist nicht revisionistischer, sondern affirmativer Natur.

Mit dieser anti-skeptischen Haltung hinsichtlich der Aussagen anderer geht ein weiter gefasster Anti-Skeptizismus einher. Dieser beinhaltet zunächst, dass ich davon ausgehen werde, dass wir uns in einer Welt befinden, die im Großen und Ganzen so beschaffen ist, wie wir annehmen. Entsprechend werden böse Dämonen, Gehirne im Tank oder die Möglichkeit, der einzig bewusste Mensch unter Zombies oder raffinierten Maschinen zu sein, für mich keine Rolle spielen.

Außerdem gehe ich davon aus, dass unser Erkenntnisapparat insgesamt zuverlässig ist. Mit Hilfe unserer Wahrnehmung, unserer Erinnerung sowie unserer inferentiellen Fähigkeiten sind wir in der Lage, Erkenntnisse zu gewinnen. Entsprechend sind Begründungen wie »Ich habe es gesehen«, »Ich habe mich daran erinnert«, »P folgt logisch aus allgemein akzeptierten Prämissen« oder »Meine Beobachtungen sprechen induktiv für P« für mich als Rechtfertigung prima facie unproblematisch.4

Diese antiskeptische Grundhaltung lässt sich unter Verweis auf die eingangs angesprochene »Angel-Metapher« motivieren. Indem wir ein bestimmtes Projekt verfolgen, legen wir uns bereits implizit auf Grundannahmen fest. Sie bilden die Angeln, um die wir uns hierbei drehen. Nehmen wir an, ein Historiker will untersuchen, ob ein Dokument aus dem Mittelalter authentisch ist. Hierbei kann er sich fragen, ob das Papier alt genug ist, ob die verwendete Tinte zur Datierung passt und ob die geschilderten Ereignisse mit den Beschreibungen in bereits verbürgten Quellen übereinstimmen. Hingegen kann der Historiker sich, im Rahmen dieser Untersuchung, nicht fragen, ob die Welt – inklusive all unserer vermeintlichen Erinnerungen – erst vor fünf Minuten entstanden sein könnte. Geht er dieser Frage ernsthaft nach, hat er hiermit das Feld der Geschichtswissenschaften verlassen. Er betreibt nun stattdessen Erkenntnistheorie skeptischer Prägung.5

Was für verschiedene Betätigungsfelder – Geschichtswissenschaft, Erkenntnistheorie usw. – gilt, trifft auch auf verschiedene Teildisziplinen innerhalb einer Oberdisziplin zu. Konkreter bedeutet dies für mich: Wer die soziale Dimension menschlicher Erkenntnis ausloten möchte, legt sich hierdurch auf eine antiskeptische Position bezüglich einiger traditioneller erkenntnistheoretischer Probleme fest. Durch die Frage »Unter welchen Bedingungen sind wir gerechtfertigt, den Aussagen unserer Mitmenschen zu glauben?« wird schon vorausgesetzt, dass es (1) Mitmenschen gibt und dass wir uns (2) in einer gemeinsamen Welt befinden, in der wir Erkenntnisse gewinnen und uns sinnvoll über diese Erkenntnisse austauschen können.

Wer (1) und (2) leugnet oder zumindest ernsthaft in Zweifel zieht, wird kaum Interesse an der sozialen Dimension seiner Erkenntnis zeigen. Ohne Mitmenschen gäbe es schlicht keine solche Dimension. Und wer die Erkenntnisfähigkeiten seiner Mitmenschen, oder die Möglichkeit, sich mit ihnen zu verständigen, grundsätzlich anzweifelte, würde nicht nach den Bedingungen fragen, unter denen ihre Aussagen ihm gerechtfertigte Überzeugungen bescheren. Kurz gesagt: Um einander als Erkenntnisquelle ernstnehmen zu können, müssen wir einander zunächst als Erkenntnisträger und Kommunikationspartner ernstnehmen.

Die letzte theoretische Grundannahme betrifft mein argumentatives Vorgehen in den weiteren Kapiteln dieser Arbeit. Ich werde vielfach anhand von Beispielen argumentieren, die bestimmte Intuitionen hervorrufen sollen. Somit gehe ich davon aus, dass unseren Intuitionen philosophisches Gewicht zukommt. Auch wenn diese sicher nicht unfehlbar sind, stellen sie doch einen wichtigen Gradmesser für den Erfolg unserer Theorien dar.

1

Vgl. John Donne (1624/2006, 1305).

2

Vgl. hierzu auch Sanford Goldberg (2007a, Kap. 1.7).

3

Vgl.: »[D]ie Fragen, die wir stellen, und unsere Zweifel beruhen darauf, dass gewisse Sätze vom Zweifel ausgenommen sind, gleichsam die Angeln, in welchen jene sich bewegen« (Wittgenstein 1969/1970, §341).

4

Diese Annahmen werden in der Testimonien-Debatte allgemein geteilt. Vgl. etwa Elisabeth Fricker (1995, 394), Peter Graham (2006a, 93) und Axel Gelfert (2014, 99 f.).

5

Vgl. Michael Williams (2001, 160).

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