In dieser zweiten Anwendung wird die erläuterte Analysemethode in die Praxis umgesetzt. Es werden zunächst Vorschläge zur Klassifikation der Erzählungen, danach zur Klassifikation der Werke formuliert. Die Kapitel zu Montauk (6.1) und Koala (6.2) sind jeweils in fünf Unterkapitel unterteilt: Rekapitulation (1), Re-Evaluation (2), Klassifikation I (3), Klassifikation II (4) und Fazit (5).
(1) Zunächst werden die auf ihren Fiktionalitätsstatus hin zu untersuchenden Erzählungen nochmals knapp im Sinne ihrer temporal geordneten und sinnhaft verknüpften Ereignisfolgen umrissen.
(2) Danach werden die in den Annäherungen erarbeiteten Listen von Fiktions- und Nichtfiktionssignalen reevaluiert. Zu Beginn der Untersuchung galten als Fiktions- bzw. Nichtfiktionssignale vorläufig Merkmale, die sich häufiger im Text und Kontext von literarischen Werken beobachten lassen, die nach der im Groben etablierten Unterscheidungspraxis als fiktional bzw. nichtfiktional gelten. Im letzten Kapitel wurden Fiktions- und Nichtfiktionssignale in den Definitionen (SF) und (SNF) gehaltvoller bestimmt. Als solche gelten nun Text- und Kontextmerkmale, die relativ zu den vorgeschlagenen Definitionen von Fiktionalität und Nichtfiktionalität eine Begründungsleistung in einer Klassifikation erbringen können. Insofern muss die fiktionstheoretische Signifikanz der in den Annäherungen genannten Merkmale überprüft werden. Es ist abzuwägen, ob (a) die genannten Merkmale tatsächlich auf die Erfülltheit der notwendigen und zusammen hinreichenden Bedingungen hinweisen oder ob (b) die Merkmale zwar häufiger im Text und Kontext von als fiktional bzw. nichtfiktional geltenden Werken zu beobachten sind, aber nicht zur Begründung einer Klassifikation angebracht werden können. Im Falle von (a) handelt es sich bei einem Merkmal um ein mehr oder weniger starkes Fiktions- bzw. Nichtfiktionssignal. Ein solches Signal legt im erläuterten Sinne nahe, dass der Autor entweder zu Vorstellungen (Fiktionssignal) oder zu Überzeugungen (Nichtfiktionssignal) auffordern könnte. Im Falle von (b) kann es sich um ein zwar narratologisch und/oder interpretationstheoretisch relevantes Text- oder Kontextmerkmal handeln, das jedoch nicht auf Fiktionalität oder Nichtfiktionalität hinweist. Solche Merkmale, die womöglich auf den Kunstcharakter eines literarischen Werks verweisen, seine Literarizität, aber letztlich keinen Einfluss auf den Fiktionalitätsstatus haben, sollen als fiktionstheoretisch neutral bezeichnet werden.
(3) Nach diesen Vorarbeiten erfolgen in einem dritten Schritt die Klassifikationen der Erzählungen. Auf der Basis der Re-Evaluation werden die signifikanten Fiktions- oder Nichtfiktionssignale den jeweils zu klassifizierenden Erzählungen zugeordnet. Aufgrund dieser Cluster werden nach (FE) bzw. (NFE) Klassifikationshypothesen aufgestellt. Danach wird die Anfechtbarkeit dieser Hypothesen geprüft, indem potenzielle Einwände diskutiert werden.
(4) In einem vierten Schritt werden Montauk und Koala interpretiert. Auf der Basis einer Hypothese zur Werkbedeutung und einer Reflexion über den Funktionszusammenhang der Erzählungen werden die Werke nach den Definitionen (FW) bzw. (NFW) klassifiziert. Diese Klassifikationshypothesen werden wiederum auf ihre Sicherheit bzw. Anfechtbarkeit hin überprüft.
(5) Zuletzt werden die Ergebnisse des Kapitels knapp zusammengetragen.
6.1 Max Frisch: Montauk
6.1.1 Rekapitulation
In Montauk wurden sechs temporal geordnete und sinnhaft verknüpfte Ereignisfolgen rekonstruiert. In eine Rahmenerzählung sind fünf unterschiedlich umfangreiche Binnenerzählungen eingebettet. Nebengeordnet ist diesen Erzählungen eine Kommentarspur, die keine eigenständige Erzählung bildet. In der Annäherung wurde die Handlung wie folgt rekonstruiert:1
Rahmenerzählung: Die junge Fremde
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Die Erzählung über Lynn setzt mit der Ankunft von Max Frisch in New York im Frühling 1974 ein und endet mit dem Brief von Lynn, der Frisch im Januar 1975 erreicht.
Binnenerzählungen: Mein Leben als Mann
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Die Erzählung über den Freund W. beginnt in der Schulzeit und endet mit der letzten Begegnung 1959, als W. Frischs damalige Partnerin Ingeborg Bachmann trifft.
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Die kurze Erzählung über Käte umreißt die Beziehung, Verlobung und Trennung Mitte der 1930er-Jahre.
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Die Erzählung über die erste Ehe mit Gertrud Constanze von Meyenburg und die Beziehung zur Tochter Ursula setzt mit der Heirat im Jahr 1942 ein und endet in der (damaligen) Gegenwart von 1975.
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Die Erzählung über die Beziehung mit Ingeborg Bachmann schildert die Zeit zwischen dem Kennenlernen in Paris 1958 und dem letzten Treffen 1963.
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Die Erzählung über die zweite Ehe mit Marianne setzt mit dem Kennenlernen und der ersten Reise 1962 ein und endet in der (damaligen) Gegenwart von 1975.
Kommentarspur: Frisch über Frisch
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Die Kommentarspur bildet keine eigene Ereignisfolge, sondern enthält Frischs Urteile über die Binnenerzählungen sowie verschiedene themenbezogene Reflexionen.
6.1.2 Re-Evaluation
In der Annäherung zu Montauk wurde eine Liste mit Merkmalen erstellt, die vorläufig als Fiktions- (a) bzw. Nichtfiktionssignale (b) bewertet wurden.2 Auf der Basis dieser Liste ließ sich erklären, warum sich die Auffassungen über den Fiktionalitätsstatus von Montauk in der Forschung und Kritik unterscheiden. Vor dem Hintergrund der vorgeschlagenen Theorie ist die Liste nun zu überprüfen.
(a) Fiktionssignale: Re-Evaluation
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(1) Neutral: Die anachronische Erzählweise und Montagetechnik. Die Rekonstruktion der temporalen Ordnung der erzählten Ereignisse ist aufgrund der ausgeprägten Anachronien aufwändig und komplex, aber auf der Basis der im Text vergebenen Informationen möglich. Die segmentierte Montage und die auflösbaren Anachronien sind ein fiktionstheoretisch neutrales Merkmal von Frischs literarischem Erzählen. Die Erzählweise verweist auf den anspruchsvollen Kunstcharakter des Werks, legt aber weder Fiktionalität noch Nichtfiktionalität nahe.
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(2) Neutral: Die impliziten Verknüpfungen zwischen den Ereignissen. Die Rekonstruktion des nicht explizit gemachten sinnhaften Zusammenhangs zwischen den erzählten Ereignissen erfordert erhöhten Aufwand, ist aber ohne das Hinzuziehen kontextueller Informationen möglich. Die impliziten, aber textintern nachvollziehbaren Verknüpfungen sind fiktionstheoretisch neutral.
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(3) Neutral: Die impliziten zeitlichen, örtlichen und personellen Lokalisierungen der Ereignisse. Auf der Basis der im Text verteilten Hinweise ist das Wo, Wann und Wer der erzählten Ereignisse zu rekonstruieren. Die impliziten, aber textintern ermittelbaren Lokalisierungen sind fiktionstheoretisch neutral.
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(4) Neutral: Das Erzählen in homo- bzw. autodiegetischer Ich- und Er-Form. Frischs wiederholtes Changieren zwischen Ich-Form und Er-Form bei gleichbleibender Referenz (auf ihn selbst) und Perspektive auf die erzählten Ereignisse (seine eigene) ist ein fiktionstheoretisch neutrales Merkmal seines Erzählens.
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(5) Fiktionssignal: Die intern fokalisierten Passagen über eine Drittperson. Die Passagen über Lynn, in denen ihre mentalen Ereignisse wie Tatsachen präsentiert werden, weisen textuell auf Fiktionalität hin. Die Erzählweise deutet darauf hin, dass solche Sätze das Ergebnis fiktionaler Äußerungen sind, in denen Frisch zu Vorstellungen über das Innenleben von Lynn auffordert.
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(6) Neutral: Die ästhetisch motivierte Variation des Erzähltempus. Die Wechsel des Erzähltempus zwischen Präteritum und Präsens beruhen nicht auf der zeitlichen Distanz oder Abgeschlossenheit der erzählten Ereignisse, sondern auf ästhetischen Überlegungen. Diese Variationen sind fiktionstheoretisch neutral.
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(7) Neutral: Der hergestellte Eindruck einer dokumentarischen Gegenwartsschilderung. Der unter anderem durch die Verwendung von relativen temporaldeiktischen Ausdrücken vermittelte Eindruck eines ‚Hier und Jetzt‘ der erzählten Ereignisse ist fiktionstheoretisch neutral.
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(8) Fiktionssignal: Der Hinweis auf ein mögliches Erfinden von Ereignissen. Das Gantenbein-Zitat „ich probiere geschichten an wie kleider“3 weist (nach einem von mehreren möglichen Verständnissen) textuell auf Fiktionalität hin. Es folgt unmittelbar auf die Schilderung von Frischs in Amagansett gefassten Vorsatz, „dieses Wochenende zu erzählen: autobiographisch, ja, autobiographisch“4 und stellt diesen so in Frage. Ein ‚Anprobieren‘ von Geschichten würde nahelegen, dass Frisch in fiktionalen Äußerungen zu Vorstellungen über mehr oder weniger frei erfundene Ereignisse auffordert.
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(9) Fiktionssignal: Die Parallelisierung der Protagonisten mit fiktiven Personen. Die prominenten intertextuellen Bezüge auf Homo Faber und die so herbeigeführte Parallelisierung von Frisch und Lynn mit den fiktiven Romanfiguren Walter und Sabeth weist kontextuell auf Fiktionalität hin. Die Parallelen legen nahe, dass Frisch, ähnlich wie bei den beiden Romanfiguren, in fiktionalen Äußerungen zu Vorstellungen über sich selbst und Lynn auffordert.
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(10) Neutral: Die Fülle intertextueller Bezüge in Form unmarkierter Anspielungen und Zitate. Frisch verweist wiederholt unmarkiert, aber rekonstruierbar auf eigene und fremde literarische Werke. Diese Art des Anspielens und Zitierens ist fiktionstheoretisch neutral.
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(11) Fiktionssignal: Der Untertitel „Eine Erzählung“. Der paratextuelle Zusatz ‚Erzählung‘ weist (nach einem von mehreren möglichen Verständnissen) kontextuell auf Fiktionalität hin. Er deutet, insofern als er ungewöhnlich ist, darauf hin, dass es sich bei der titelgebenden Erzählung von Montauk um eine mehr oder weniger frei erfundene Geschichte handeln könnte, in der Frisch zu Vorstellungen über die erzählten Ereignisse auffordert.
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(12) Fiktionssignal: Die fehlende Referenz des Eigennamens ‚Lynn‘ auf eine reale Person. Die fehlende unmittelbare textexterne Referenz des Ausdrucks ‚Lynn‘ auf eine reale Person weist kontextuell auf Fiktionalität hin. Damit wird nahegelegt, dass Frisch in fiktionalen Äußerungen über „die junge Frau, die Lynn heißt“5 zu Vorstellungen auffordert.
(b) Nichtfiktionssignale: Re-Evaluation
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(13) Nichtfiktionssignal: Die Deklaration als von Erfindungen freies autobiografisches Erzählprojekt. Frischs geäußerter Vorsatz, er „möchte erzählen können, ohne irgendetwas dabei zu erfinden“,6 weist textuell auf Nichtfiktionalität hin. Damit wird nahegelegt, dass Frisch in nichtfiktionalen Äußerungen zu Überzeugungen über das Erzählte auffordert.
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(14) Neutral: Die Identität von Autor, Erzähler, Protagonist und Lektor. Im Sinne der konstanten textexternen Referenz auf die Person mit dem Eigennamen ‚Max Frisch‘ ist der Autor in Montauk zugleich Erzähler, Protagonist und Lektor. Diese Identität ist fiktionstheoretisch neutral.
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(15) Neutral: Die extern fokalisierten Passagen über Drittpersonen. In den Binnenerzählungen erzählt Frisch in durchgehend externer Fokalisierung über Drittpersonen. Diese Perspektive ohne Einblick in mentale Ereignisse ist fiktionstheoretisch neutral.
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(16) Nichtfiktionssignal: Die geäußerte Ablehnung von „Geschichten“. Das Zitat „ich probiere geschichten an wie kleider“7 weist (nach einem von mehreren möglichen Verständnissen) textuell auf Nichtfiktionalität hin. Nach dem Zitat folgt der Satz: „Ich habe mir mein Leben verschwiegen.“8 Ein Gegenentwurf dazu würde nahelegen, dass Frisch in nichtfiktionalen Äußerungen zu Überzeugungen über sein Leben auffordert.
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(17) Nichtfiktionssignal: Der Hinweis auf ein mögliches Verschweigen von Ereignissen. Frischs Frage „dies ist ein aufrichtiges buch, leser / und was verschweigt es und warum?“9 weist als indirekte Bestätigung des paratextuell formulierten Aufrichtigkeitsanspruchs textuell auf Nichtfiktionalität hin. Das Fragen nach dem Verschweigen von Ereignissen impliziert, dass Frisch über die nicht verschwiegenen Ereignisse in nicht-fiktionalen Äußerungen zu Überzeugungen auffordert.
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(18) Nichtfiktionssignal: Die eine autobiografische Lektüre nahelegenden Klappentexte. Die Klappentexte der deutschen Original- und Taschenbuchausgaben von Montauk weisen kontextuell auf Nichtfiktionalität hin. Die paratextuellen Zusätze legen nahe, dass es sich um ein Werk von und über Max Frisch handelt, in dem er in nichtfiktionalen Äußerungen zu Überzeugungen über sich selbst auffordert.
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(19) Nichtfiktionssignal: Der im Motto formulierte Anspruch autobiografischer Aufrichtigkeit. Das paratextuelle Montaigne-Zitat weist kontextuell auf Nichtfiktionalität hin. Es stellt den Leser auf ein Werk ein, in dem der Autor sich und seine Fehler darstelle. Wird das Zitat nicht nur Montaigne, sondern auch Frisch zugeordnet, impliziert ein solcher Aufrichtigkeitsanspruch nichtfiktionale Äußerungen, in denen Frisch zu Überzeugungen über seine eigenen Fehler auffordert.
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(20) Nichtfiktionssignal: Die Nähe zu nichtfiktionalen Gattungen. Die mit den als nichtfiktional geltenden Gattungen geteilten Merkmale weisen kontextuell auf Nichtfiktionalität hin. Die Überschneidungen mit der Autobiografie (Selbstdarstellung), dem Essay (themenbezogene Reflexionen) und dem offenen Brief (direkte Anrede) deuten darauf hin, dass es sich in diesen Passagen um nichtfiktionale Äußerungen handelt, in denen Frisch zu Überzeugungen über verschiedene Gegenstände auffordert.
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(21) Nichtfiktionssignal: Die Übereinstimmungen zwischen den erzählten Ereignissen und Frischs Biografie. Die breite Übereinstimmung der zeitlich, örtlich und personell lokalisierbaren erzählten Ereignisse mit Frischs bekannter Biografie weist kontextuell auf Nichtfiktionalität hin. Sie legt nahe, dass Frisch in nichtfiktionalen Äußerungen zu Überzeugungen über sich und sein Leben auffordert.
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(22) Nichtfiktionssignal: Die auf eine reale Person referierende Verwendung der Du-Form. Frischs scheinbar direkte und identifizierbare Anrede von Marianne mit dem Personalpronomen ‚Du‘ weist kontextuell auf Nichtfiktionalität hin. Die Form des offenen Briefes deutet darauf hin, dass es sich um an eine Person gerichtete nichtfiktionale Äußerungen handelt.
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(23) Nichtfiktionssignal: Die Referenzialisierbarkeit von Eigennamen. Die gekürzt oder vollständig im Text genannten Namen mit rekonstruierbaren textexternen Referenzen auf reale Personen weisen kontextuell auf Nichtfiktionalität hin. Sie legen nahe, dass Frisch in nichtfiktionalen Äußerungen zu Überzeugungen über diese Personen auffordert.
6.1.3 Klassifikation I
Fiktional: Rahmenerzählung: Die junge Fremde
Die Lynn-Erzählung kann auf der Basis des folgenden Clusters von Fiktionssignalen nach (FE) als fiktional klassifiziert werden:
(5) Die intern fokalisierten Passagen über eine Drittperson.
(8) Der Hinweis auf ein mögliches Erfinden von Ereignissen.
(9) Die Parallelisierung der Protagonisten mit fiktiven Personen.
(11) Der Untertitel „Eine Erzählung“.
(12) Die fehlende Referenz des Eigennamens ‚Lynn‘ auf eine reale Person.
Diese Text- und Kontextmerkmale legen isoliert betrachtet zunächst nahe, dass die Bedingungen von (FE) in der Lynn-Erzählung erfüllt sein könnten. Für sich betrachtet wären die einzelnen Merkmale aber nicht deutlich genug, um auf die Erfülltheit der notwendigen und zusammen hinreichenden Bedingungen für Fiktionalität zu schließen. Erst durch die summarische Berücksichtigung der Fiktionssignale lässt sich die Klassifikationshypothese begründen.
In ihrer Summe lassen die Fiktionssignale den Schluss zu: Frisch intendiert reflexiv, dass sich der Leser vorstellt, die temporal geordnete und sinnhaft verknüpfte Menge der durch die Äußerungen der Lynn-Erzählung ausgedrückten (komplexen) Propositionen sei insgesamt wahr, wobei der Gehalt mindestens einer Teilmenge der Äußerungen (jener über Lynn) nicht auf einem Wahrheitsbemühen von Frisch beruhen. Kurz: Frisch fordert in der titelgebenden fiktionalen Erzählung von Montauk zu der Vorstellung auf, er habe in New York eine Frau namens Lynn kennengelernt und mit ihr in Montauk ein Wochenende verbracht.10
Das für die Lynn-Erzählung relevante Cluster von Fiktionssignalen zeichnet diese Klassifikationshypothese als plausibel aus. Die in der Annäherung erarbeitete Datenbasis aus Text- und Kontextmerkmalen ist besser mit einer Klassifikation als fiktional in Einklang zu bringen als mit einer Klassifikation als nichtfiktional. Gleichwohl ist die Klassifikationshypothese anfechtbar. Es lassen sich insbesondere zwei potenzielle Einwände formulieren.
(1) Ein erster Einwand könnte lauten, bei der im Text ‚Lynn‘ genannten Person handle es sich trotz der fehlenden unmittelbaren textexternen Referenz des Eigennamens nicht um eine fiktive Figur. ‚Lynn‘ sei ein Platzhalter für ‚Alice Locke-Carey‘. Frisch erzähle zwar von Lynn, aber referiert werde eigentlich auf Alice, mit der Frisch im Mai 1974 ein Wochenende in Montauk verbracht hat. Weil im Referenzakt derart auf Alice Bezug genommen werde, sei die Hypothese plausibler, Frisch fordere in der Lynn-Erzählung nicht zu Vorstellungen über sich und Lynn auf, sondern zu Überzeugungen über sich und Alice.
(2) Ein zweiter Einwand könnte lauten, die Leserschaft habe beim Erscheinen von Montauk im Jahr 1975 nicht wissen können, dass ‚Lynn‘ ein Name ohne textexterne Referenz auf eine reale Person sei. Im Text selbst würden keine Hinweise darauf gegeben. Im Gegenteil legten der Text sowie der paratextuelle Kontext nahe, dass es sich um eine autobiografische Erzählung von und über Max Frisch handle. Deshalb sei davon auszugehen gewesen, dass Lynn eine reale Person sei. Insofern sei, zumindest damals, die Hypothese plausibler gewesen, Frisch fordere zu Überzeugungen über sich und Lynn auf.
Beide Einwände haben ihre Berechtigung und tragen zu einer etwas erhöhten Unsicherheit der Klassifikationshypothese bei. Die Hypothese scheint durch die Einwände aber nicht falsifiziert zu werden. Erstens betreffen sie nur einzelne von summarisch zu betrachtenden Fiktionssignalen. Zweitens haben die Einwände ihrerseits Mängel.
(1) Auf den ersten potenziellen Einwand lässt sich auf mehrere Weisen reagieren. Zunächst lässt sich auf den Text in seiner seit dem Erscheinen vorliegenden definitiven Zeichenfolge verweisen.11 Frisch hat in seinen Äußerungen die im Text geschilderten Eigenschaften einer Person namens Lynn zugeschrieben. Ein konsequentes Ersetzen des im Text genannten Namens durch einen anderen müsste insofern wohlbegründet sein. Um Frisch plausibel die Absicht zuschreiben zu können, mit dem Ausdruck ‚Lynn‘ auf Alice Locke-Carey referieren zu wollen, müssten verschiedene Bedingungen erfüllt sein. Insbesondere müsste Frisch die Intention zugeschrieben werden können, dass die Leserschaft seine Intention erkennt und aufgrund des Erkennens dieser Intention als Referenz von ‚Lynn‘ die reale Person mit dem Eigennamen ‚Alice Locke-Carey‘ identifiziert.12 Alice Locke-Carey war zum Zeitpunkt des Erscheinens von Montauk aber keine über das engere Umfeld von Max Frisch und dessen Verlegerin hinaus bekannte Person. Auch heute wird kaum jemand, der nur den Text liest, auf die Idee kommen, dass Frisch ‚Alice Locke-Carey‘ meine, wenn er ‚Lynn‘ schreibt. Insofern lässt sich Frisch eine solche Intention kaum begründet zuschreiben. Weiterhin hat Alice Locke-Carey selbst darauf hingewiesen, dass Frisch ihre Äußerungen in einem neuen Zusammenhang präsentiert habe. Lynns textinterne Äußerungen konnten insofern weder zum Zeitpunkt des Erscheinens noch können sie heute mit Alices textexternen Äußerungen gleichgesetzt werden. Die plausibelste Erklärung für Frischs Handeln stellt hingegen die Klassifikation der Erzählung als fiktional bereit: Er fordert in fiktionalen Äußerungen zu Vorstellungen über Lynn auf, wobei die reale Person Alice das Vorbild für die fiktive Figur gewesen ist.
(2) Als Antwort auf den zweiten potenziellen Einwand kann auf die veränderte Datenbasis verwiesen werden. Eine Klassifikation der Lynn-Erzählung als nichtfiktional konnte nach dem Erscheinen von Montauk 1975 noch wohlbegründet erscheinen. Im Lichte der mittlerweile vorliegenden, in der Sekundärliteratur aufgearbeiteten Kontextinformationen ist sie dies jedoch nicht mehr. Eine heutige Klassifikation der Erzählung als nichtfiktional kann nicht wohlbegründet sein, wenn dazu relevante textexterne Sachverhalte ausgeblendet werden müssen.
Nichtfiktional: Binnenerzählungen: Mein Leben als Mann
Die Binnenerzählungen können auf der Basis des folgenden Clusters an Nichtfiktionssignalen nach (NFE) als nichtfiktional klassifiziert werden:
(13) Die Deklaration als von Erfindungen freies autobiografisches Er- zählprojekt.
(16) Die geäußerte Ablehnung von „Geschichten“.
(17) Der Hinweis auf ein mögliches Verschweigen von Ereignissen.
(18) Die eine autobiografische Lektüre nahelegenden Klappentexte.
(19) Der im Motto formulierte Anspruch autobiografischer Aufrichtigkeit.
(20) Die Nähe zu nichtfiktionalen Gattungen.
(21) Die Übereinstimmungen zwischen den erzählten Ereignissen und Frischs Biografie.
(22) Die auf eine reale Person referierende Verwendung der Du-Form.
(23) Die Referenzialisierbarkeit von Eigennamen.
Diese Text- und Kontextmerkmale legen isoliert betrachtet zunächst nahe, dass die Bedingungen von (NFE) in den Mein-Lebenals-Mann-Erzählungen erfüllt sein könnten. Einzeln betrachtet sind die Merkmale nicht ausreichend, um auf die Erfülltheit der notwendigen und zugleich hinreichenden Bedingung für Nichtfiktionalität zu schließen. Die summarische Berücksichtigung der Nichtfiktionssignale begründet aber die Klassifikationshypothese.
In ihrer Summe lassen die Nichtfiktionssignale den Schluss zu: Frisch intendiert reflexiv, dass der Leser glaubt, die temporal geordneten und sinnhaft verknüpften Mengen an Propositionen der Binnenerzählungen seien insgesamt wahr. Dies unabhängig davon, ob sie tatsächlich wahr sind. Allfällige Unwahrheiten, Fehler, Täuschungsabsichten etc. haben keinen Einfluss auf den Fiktionalitätsstatus der Erzählungen, sondern auf Frischs Glaubwürdigkeit. Eine Bewertung der Glaubwürdigkeit würde jedoch den Bereich der Fiktionstheorie verlassen und wäre in erster Linie für Biografen relevant. Kurz: Es handelt sich um nichtfiktionale Erzählungen mit einem spezifischen Fokus auf dem Leben als Mann des Autors. Frisch fordert zu Überzeugungen über ihn selbst auf: als Freund, Partner, Ehemann, Vater.
Diese Klassifikationshypothese scheint von höherer Sicherheit als jene zur Klassifikation der Lynn-Erzählung. Die verschiedenen Merkmale, die zunächst an der Nichtfiktionalität der Erzählungen zweifeln lassen könnten, wurden bei der Re-Evaluation mehrheitlich als Merkmale eines anspruchsvollen literarischen Erzählens bewertet. Diese sind jedoch fiktionstheoretisch neutral. Die Datenlage ist relativ eindeutig und lässt insofern wenig Raum für Einwände. Die Merkmale im Text und Kontext von Montauk, die als Fiktionssignale bestätigt wurden, beziehen sich in erster Linie auf die Rahmenerzählung.
Nichtfiktional: Kommentarspur: Frisch über Frisch
Die Äußerungen der Kommentarspur bilden keine eigene Erzählung, können aber auf der Basis desselben Clusters, das die Klassifikation der Binnenerzählungen als nichtfiktional begründet, nach (NFU) als nichtfiktionale Einzeläußerungen klassifiziert werden.
Die mehr oder weniger isoliert stehenden Äußerungen beziehen sich erstens auf die nichtfiktionalen Mein-Leben-als-Mann-Erzählungen. Die Urteile über die in den Erzählungen geschilderten Beziehungen sind selbst nichtfiktionale Äußerungen, in denen Frisch zu Überzeugungen auffordert. Die Glaubwürdigkeit, Korrektheit, Angemessenheit etc. dieser Urteile ist dabei wiederum vom Fiktionalitätsstatus der Äußerungen unabhängig. Zweitens sind auch die essayistischen Reflexionen über die Liebe, die Literatur, den Tod und weitere Themen unabhängig von ihrem Wahrheitswert nichtfiktionale Äußerungen, in denen Frisch zu Überzeugungen auffordert.13 Kurz: In den nichtfiktionalen Äußerungen reflektiert Frisch über Frisch und fordert zu Überzeugungen über ihn selbst auf: den Freund, Partner, Ehemann, Vater – und Schriftsteller.
Die Klassifikationshypothese scheint wiederum aufgrund der Absenz von Fiktionssignalen, wie sie sich für die Lynn-Erzählung nachweisen lassen, von relativ hoher Sicherheit.
6.1.4 Klassifikation II
Nichtfiktional: Montauk
Montauk kann auf der Basis der folgenden These zur Werkbedeutung nach (NFW) als nichtfiktional klassifiziert werden.
Im Kern ist Montauk eine Selbstbetrachtung des Mannes und Schriftstellers Max Frisch. Dabei lässt er an sich – wie an den Protagonisten seiner früheren Romane – kein gutes Haar. Als zentrale Passage können die folgenden nichtfiktionalen Äußerungen der Kommentarspur gelten:
Ich probiere geschichten an wie kleider
Immer öfter erschreckt mich irgendeine Erinnerung, meistens sind es Erinnerungen, die eigentlich nicht schrecklich sind […]. Es erschreckt mich nur die Entdeckung: Ich habe mir mein Leben verschwiegen. Ich habe irgendeine Öffentlichkeit bedient mit Geschichten. Ich habe mich in diesen Geschichten entblößt, ich weiß, bis zur Unkenntlichkeit. Ich lebe nicht mit der eignen Geschichte, nur mit Teilen davon, die ich habe literarisieren können. […] Es stimmt nicht einmal, daß ich immer nur mich selbst beschrieben habe. Ich habe mich selbst nie beschrieben. Ich habe mich nur verraten.14
Die fiktionale Lynn-Erzählung ist ein weiteres Beispiel für das ‚Anprobieren‘ einer Geschichte. Dies ist die selbstreflexive Pointe von Montauk: In der Selbstdarstellung der Rahmenerzählung ‚literarisiert‘, ‚verrät‘ und ‚entblößt‘ sich Frisch erneut. Nun jedoch unverschlüsselt. Die titelgebende Lynn-Erzählung hat eine exemplifizierende Funktion, während die Werkbedeutung entscheidend von den nichtfiktionalen Binnenerzählungen und insbesondere der nichtfiktionalen Kommentarspur abhängt.
Montauk handelt so von der Selbstentfremdung des Schriftstellers, dem die Grenzen zwischen seinem Leben und seiner Literatur verschwommen sind. Die Mein-Leben-als-Mann-Erzählungen sind Frischs Versuch eines Gegenentwurfes „unter Kunstzwang“.15 Ein Versuch, „sich selber [zu] erzählen“.16 Das resultierende Urteil ist eine moralische Selbstexekution: „Er braucht eine Ehe, eine lange, um ein Monster zu werden.“17 ‚Er‘ ist Max Frischs entfremdetes ‚Ich‘.
Selbst die Gründe für sein Erzählen sind dem Schriftsteller ein Rätsel geworden: „Warum erzähle ich das? Wem erzähle ich das?“18 Dabei hat er eine klare Überzeugung zur Funktion der Literatur: „Die Literatur hat die andere Zeit, ferner ein Thema, das alle angeht oder viele“.19 Frischs nächstes Erzählwerk sollte Der Mensch erscheint im Holozän (1979) sein. Eine Erzählung über das langsame Wegsterben eines alten Mannes. Angekündigt hat er dies bereits in Montauk: „Es wird Zeit, nicht bloß an den Tod zu denken, sondern davon zu reden.“20 Kurz: Montauk ist eine radikalkritische Selbstbeobachtung Max Frischs. Oder mehr noch: ein hochliterarischer Anschlag auf sich selbst.21
Diese Klassifikationshypothese scheint relativ sicher. Um das Werk begründet als fiktional zu klassifizieren, müsste ein umgekehrter Funktionszusammenhang der fiktionalen und nichtfiktionalen Werkteile behauptet werden. Es wäre zu erläutern, inwiefern die Werkbedeutung von der fiktionalen Lynn-Erzählung abhängt und die nichtfiktionalen Binnenerzählungen sowie die nichtfiktionalen Äußerungen der Kommentarspur dazu beitragen. Diese Umkehrung wäre insofern schwierig zu begründen, als die Lynn-Erzählung der Katalysator für Frischs Selbstbetrachtung in Montauk ist.
6.1.5 Fazit: Ein Leben als Literatur
Montauk ist zunächst ein Mischfall: Die Lynn-Erzählung ist fiktional, die Binnenerzählungen sind nichtfiktional, die Äußerungen der Kommentarspur sind nichtfiktional.
Im Rahmen einer Interpretation kann das Werk in einem zweiten Schritt sinnvoll als nichtfiktional klassifiziert werden: Die Werkbedeutung, so die These, hängt entscheidend von den nichtfiktionalen Werkteilen ab. Das Werk Montauk ist eine nichtfiktionale, literarische Autobiografie: ein Leben als Literatur.
6.2 Lukas Bärfuss: Koala
6.2.1 Rekapitulation
Koala enthält drei temporal geordnete und sinnhaft verknüpfte Ereignisfolgen. Zwei nebengeordnete Binnenerzählungen sind in eine Rahmenerzählung eingebettet. Die Handlung wurde in der Annäherung wie folgt rekonstruiert:22
Binnenerzählung: Der Bruder
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Die Erzählung über den Bruder des Erzählers setzt beim Aufwachsen der gemeinsamen Mutter ein und endet mit der Verabschiedung des Erzählers von der Trauerfeier nach dem Suizid des Bruders ‚Koala‘.
Binnenerzählung: Das Tier
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Die Erzählung über die Geschichte des Koalas beginnt in der Urgeschichte vor 20 Millionen Jahren und endet in der Gegenwart des Erzählers.
Rahmenerzählung: Das Buch
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Die Erzählung über den Verarbeitungsprozess des Erzählers nach dem Suizid seines Bruders und die Entstehung des Buches Koala beginnt und endet mit dem An-die-Arbeit-Machen des Erzählers.
6.2.2 Re-Evaluation
Auch in der Annäherung zu Koala wurde eine provisorische Liste mit Merkmalen erstellt, die als Fiktions- (a) bzw. Nichtfiktionssignale (b) bewertet wurden.23 Diese Liste ist nun zu überprüfen.
(a) Fiktionssignale: Re-Evaluation
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(1) Fiktionssignal: Die achronische Erzählweise und Zirkelstruktur. Die nicht widerspruchsfrei bestimmbare Handlung der Bucherzählung weist textuell auf Fiktionalität hin. Die textintern geschilderte Ordnung der erzählten Ereignisse mündet in einer logisch unmöglichen Zirkelstruktur, die darauf hindeutet, dass Bärfuss in fiktionalen Äußerungen zur Vorstellung dieser Ordnung auffordert.
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(2) Neutral: Die impliziten Verknüpfungen zwischen den Erzählungen. Der sinnhafte Zusammenhang zwischen der einbettenden Bucherzählung und den eingebetteten Bruder- und Tiererzählungen wird nicht explizit gemacht, ist jedoch textintern durch ihren jeweiligen Bezug zum Titel rekonstruierbar. Die impliziten Verknüpfungen sind ein fiktionstheoretisch neutrales Merkmal von Bärfuss’ Erzählweise in Koala.
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(3) Fiktionssignal: Die intern fokalisierten Passagen über Drittpersonen. Die intern fokalisierten Passagen über Drittpersonen in der Bruder- und der Tiererzählung weisen textuell auf Fiktionalität hin. Sie legen nahe, dass diese Sätze das Ergebnis fiktionaler Äußerungen sind, in denen Bärfuss zu Vorstellungen über die mentalen Ereignisse der jeweils Handelnden auffordert.
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(4) Fiktionssignal: Die fehlenden zeitlichen, örtlichen und personellen Lokalisierungen der Ereignisse. Die nur durch die Ergänzung textexterner Sachverhalte lokalisierbare Handlung der Bruder- und der Bucherzählung weist textuell auf Fiktionalität hin. Die textinterne Unbestimmtheit des Wann, Wo und Wer deutet darauf hin, dass Bärfuss in fiktionalen Äußerungen zu Vorstellungen über die nicht lokalisierten erzählten Ereignisse auffordert.
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(5) Fiktionssignal: Der Hinweis auf die Nutzung der Imagination als Erkenntnisinstrument. Der in der Bucherzählung geschilderte Plan des Erzählers, der „Imagination […] die Funktion einer erkenntnistheoretischen Maßnahme“24 zuzuweisen, um zu einer Erklärung für den Suizid seines Bruders zu finden, weist textuell auf Fiktionalität hin. Ein solcher Plan legt nahe, dass in fiktionalen Äußerungen zu Vorstellungen über die erlangten Erkenntnisse aufgefordert wird.
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(6) Fiktionssignal: Der Untertitel „Roman“. Die paratextuelle Gattungsbezeichnung weist kontextuell auf Fiktionalität hin. Insofern als ‚Roman‘ in aller Regel zur Bezeichnung eines fiktionalen literarischen Werks verwendet wird, legt der Zusatz nahe, dass Bärfuss in Koala zu Vorstellungen über die erzählten Ereignisse auffordert.
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(7) Neutral: Die intertextuellen Verweise in Form von unmarkierten Zitaten und Anspielungen. Die unmarkierten, aber entschlüsselbaren Verweise auf literarische und musikalische Kunstwerke in der Bruder- und der Bucherzählung sind fiktionstheoretisch neutral.
(b) Nichtfiktionssignale: Re-Evaluation
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(8) Neutral: Die Verweise auf Quellentexte. Die wiederholten textinternen expliziten und impliziten Verweise des Erzählers auf seine Quellen zur Recherche der Tiererzählung sind fiktionstheoretisch neutral.
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(9) Nichtfiktionssignal: Die relativ präzisen zeitlichen, örtlichen und personellen Lokalisierungen der Ereignisse. Die Lokalisierung des Wann, Wo und Wer der erzählten Ereignisse der Tiererzählung weist textuell auf Nichtfiktionalität hin. Die detaillierten Zeit- und Ortsangaben sowie umfassenden Auflistungen von Namen legen nahe, dass Bärfuss in nichtfiktionalen Äußerungen zu Überzeugungen über historische Ereignisse auffordert.
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(10) Nichtfiktionssignal: Die Verweise auf nichtfiktionale Quellentexte. Die Verweise auf grundsätzlich als nichtfiktional geltende Quellentexte weisen kontextuell auf Nichtfiktionalität hin. Die Verweise auf historischwissenschaftliche Arbeiten und Tagebücher in der Tiererzählung deuten darauf hin, dass Bärfuss in nichtfiktionalen Äußerungen zu Überzeugungen über recherchierte Ereignisse auffordert.
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(11) Nichtfiktionssignal: Die Korrektheit der Zitate und sinnhaften Übernahmen aus nichtfiktionalen Quellentexten. Die Korrektheit der direkten und indirekten Zitate sowie sinnhaften Übernahmen aus den nichtfiktionalen Quellentexten in der Tiererzählung deuten kontextuell auf Nichtfiktionalität hin. Sie legen nahe, dass Bärfuss in nichtfiktionalen Äußerungen zu Überzeugungen über dokumentierte Ereignisse auffordert.
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(12) Nichtfiktionssignal: Die Nähe zu nichtfiktionalen Gattungen. Die (potenziell) mit als nichtfiktional geltenden Gattungen geteilten Merkmale weisen auf Nichtfiktionalität hin. Die Nähe zum Essay, zur Autobiografie, zur Biografie und zur Geschichtsschreibung legt nahe, dass Bärfuss in den betreffenden Passagen in nichtfiktionalen Äußerungen zu Überzeugungen über verschiedene Gegenstände auffordert.
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(13) Nichtfiktionssignal: Die paratextuell nahegelegte autobiografische Lektüre. Die durch den Paratext nahegelegte autobiografische Lektüre weist kontextuell auf Nichtfiktionalität hin. Der Klappentext deutet darauf hin, dass es sich um ein autobiografisches Werk von und über Lukas Bärfuss handelt, in dem er in nichtfiktionalen Äußerungen zu Überzeugungen über sich selbst auffordert.
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(14) Nichtfiktionssignal: Die Übereinstimmungen der erzählten Ereignisse mit der Biografie des Autors. Die textextern auffindbaren Entsprechungen der erzählten Ereignisse in der bekannten Biografie von Bärfuss weisen auf Nichtfiktionalität hin. Sie deuten darauf hin, dass Bärfuss in nichtfiktionalen Äußerungen zu Überzeugungen über sein Leben auffordert.
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(15) Neutral: Die mögliche Identifizierung von Autor und Erzähler. Die durch den Paratext und den biografischsachlichen Kontext nahegelegte und durch den Text ermöglichte Identifizierung von Autor und Erzähler ist fiktionstheoretisch neutral.
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(16) Nichtfiktionssignal: Die Übereinstimmung der erzählten Ereignisse mit der historischwissenschaftlichen Forschung. Die Übereinstimmungen der erzählten Ereignisse der Tiererzählung mit dem Wissensstand der Forschung über die Geschichte Australiens und des Koalas weisen auf Nichtfiktionalität hin. Sie legen nahe, dass Bärfuss in nichtfiktionalen Äußerungen zu Überzeugungen über die mit der Geschichte Australiens verknüpfte Geschichte des Koalas auffordert.
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(17) Nichtfiktionssignal: Die Referenzialisierbarkeit von Eigennamen. Die Referenzen der in Koala genannten Namen auf reale Personen weisen auf Nichtfiktionalität hin. Die Referenzialisierbarkeit der Eigennamen der zentralen und peripheren Akteure legt nahe, dass Bärfuss in nichtfiktionalen Äußerungen zu Überzeugungen über diese historischen Personen auffordert.
6.2.3 Klassifikation I
Fiktional: Binnenerzählung: Der Bruder
Die Brudererzählung kann unter Berücksichtigung des folgenden Clusters von Fiktionssignalen nach (FE) als fiktional klassifiziert werden:
(3) Die intern fokalisierten Passagen über Drittpersonen.
(4) Die fehlenden zeitlichen, örtlichen und personellen Lokalisierungen der Ereignisse.
(6) Der Untertitel „Roman“.
Die summarische Berücksichtigung der Fiktionssignale begründet die Klassifikationshypothese. Isoliert betrachtet legen die Text- und Kontextmerkmale zunächst nahe, dass die Bedingungen von (FE) in der Brudererzählung erfüllt sein könnten. In ihrer Summe lassen die Fiktionssignale dann den Schluss zu: Bärfuss intendiert reflexiv, dass sich der Leser vorstellt, die temporal geordnete und sinnhaft verknüpfte Menge der durch die Äußerungen der Brudererzählung ausgedrückten (komplexen) Propositionen sei insgesamt wahr. Dabei beruht der Gehalt mindestens einer Teilmenge der Äußerungen nicht auf einem Wahrheitsbemühen von Bärfuss. Die Sätze über die Pfadfindertaufe des Bruders wären auch isoliert betrachtet das Ergebnis fiktionaler Äußerungen. Kurz: Bärfuss fordert in der fiktionalen Erzählung zu Vorstellungen über seinen Bruder und sich selbst auf.25
Die Klassifikationshypothese scheint relativ sicher. Mit einer Klassifikation der Brudererzählung als nichtfiktional stünden die Fiktionssignale in einem nur schwer aufzulösenden Widerspruch. Gleichwohl lassen sich zumindest zwei potenzielle Einwände diskutieren.
(1) Ein erster Einwand könnte lauten, die Zeit, der Ort und die Akteure der Handlung seien in der Brudererzählung nicht unbestimmt. Die Handlung spiele hauptsächlich in Thun in den Jahren 2011 und 2012 zwischen Lukas Bärfuss und seinem Bruder. Dies sei auf der Basis der textinternen Informationen unschwer zu entschlüsseln und durch das Einbeziehen kontextueller Informationen zu bestätigen. Aufgrund der Übereinstimmungen der erzählten Ereignisse mit Bärfuss’ Biografie sei es folglich plausibler, davon auszugehen, dass der Autor zu Überzeugungen über seinen Bruder und sich selbst auffordere.
(2) Ein zweiter, damit verwandter Einwand könnte lauten, eine Identifizierung des Autors Bärfuss mit dem Koala-Erzähler – wie sie in der Klassifikation nun vorgenommen wurde – impliziere ebenfalls Nichtfiktionalität. Falls es sich um den Autor handle, der erzähle, sei es wiederum plausibler, davon auszugehen, dass Bärfuss zu Überzeugungen über seinen Bruder und sich selbst auffordere.
Auf die Einwände kann wie folgt geantwortet werden.
(1) Auf den ersten potenziellen Einwand kann auf zwei Weisen reagiert werden. – Erstens lässt sich auf den Text als definitive Zeichenfolge verweisen. Obwohl die Handlung durch die Ergänzung sachlich-biografischer Kontextinformationen lokalisiert werden kann, sind die textinternen Unbestimmtheiten eine philologische Tatsache, die nicht zu übergehen ist. Dabei stellt die Klassifikation der Erzählung als fiktional eine plausible Erklärung für das Vorgehen bereit. Weil Bärfuss zu Vorstellungen auffordert, ist das genaue Wo, Wann und Wer der erzählten Ereignisse von untergeordneter Wichtigkeit. – Zweitens lässt sich entgegnen, dass selbst dann, wenn die Prämisse des Einwandes als korrekt angesehen wird, die Konklusion nicht korrekt ist. Auch wenn die Ereignisse lokalisiert werden, beeinflusst dies nach der vorgeschlagenen Theorie den Fiktionalitätsstatus der Erzählung nicht. Die Brudererzählung ist fiktional, weil die Sätze der Pfadfindertaufe – als Teile der zu verknüpfenden Satzmenge – auch isoliert betrachtet das Ergebnis fiktionaler Äußerungen sind. Was sich durch eine Lokalisierung der Ereignisse verändert, ist hingegen die Bewertung der durch den Autor ausgeführten Sprechakte. In einem solchen Fall kann argumentiert werden, dass Bärfuss in der Brudererzählung durchgehend zu Vorstellungen sowie über weite Strecken (aber nicht durchgehend) auch zu Überzeugungen auffordert.
(2) Der zweite potenzielle Einwand beruht auf einer unbegründeten fiktionstheoretischen Vorannahme. Die Identifizierung des Koala-Erzählers mit dem Autor Bärfuss, wie sie an diesem Punkt der Argumentation nun ausdrücklich vorgenommen wird, hat keinen Einfluss auf den Fiktionalitätsstatus. Eine Unterscheidung bzw. Identifizierung beeinflusst allein den Gegenstand, über den zu Vorstellungen aufgefordert wird. Bei einer Unterscheidung würde Bärfuss zu Vorstellungen über einen von ihm verschiedenen fiktiven Erzähler auffordern. Wird der Erzähler mit dem Autor identifiziert, wie es der sachlich-biografische Kontext, der paratextuelle Kontext und der Text selbst nahelegen, fordert Bärfuss (unter anderem) zu Vorstellungen über sich selbst auf.
Nichtfiktional: Binnenerzählung: Das Tier
Die Tiererzählung kann auf der Basis des folgenden Clusters von Nichtfiktionssignalen nach (NFE) als nichtfiktional klassifiziert werden:
(9) Die relativ präzisen zeitlichen, örtlichen und personellen Lokalisierungen der Ereignisse.
(10) Die Verweise auf nichtfiktionale Quellentexte.
(11) Die Korrektheit der Zitate und sinnhaften Übernahmen aus nichtfiktionalen Quellentexten.
(12) Die Nähe zu nichtfiktionalen Gattungen.
(16) Die Übereinstimmung der erzählten Ereignisse mit der historisch-wissenschaftlichen Forschung.
(17) Die Referenzialisierbarkeit von Eigennamen.
Diese Text- und Kontextmerkmale legen isoliert betrachtet zunächst wiederum nahe, dass die Bedingungen von (NFE) in der Tiererzählung erfüllt sein könnten. Die summarische Berücksichtigung der Nichtfiktionssignale begründet in einem zweiten Schritt die Klassifikationshypothese.
In ihrer Summe lassen die Nichtfiktionssignale den Schluss zu: Bärfuss intendiert reflexiv, dass der Leser glaubt, die temporal geordnete und sinnhaft verknüpfte Propositionsmenge der Tiererzählung sei insgesamt wahr. Dies unabhängig davon, ob sie tatsächlich wahr ist. Allfällige Fehler oder Ungenauigkeiten, die möglicherweise auf die benutzte Sekundärliteratur zurückzuführen wären, haben dabei keinen Einfluss auf den Fiktionalitätsstatus. Eine Bewertung des Wahrheitswerts der Äußerungen würde hier den Bereich der Fiktionstheorie verlassen und in jenen der historischen Forschung übergehen. Kurz: Die Tiererzählung ist eine literarische, historische nichtfiktionale Erzählung. Bärfuss fordert zu Überzeugungen über die mit der Geschichte Australiens verknüpfte Geschichte des Koalas auf.
Aufgrund der Dichte an Nichtfiktionssignalen scheint diese Klassifikationshypothese von relativ großer Sicherheit. Gleichwohl lassen sich potenzielle Einwände formulieren.
(1) Ein erster Einwand könnte lauten, die intern fokalisierten Passagen (etwa über Ralph Clark, Arthur Phillip und Francis Barrallier) wiesen auf Fiktionalität hin. Bärfuss könne über diese mentalen Ereignisse nicht Bescheid wissen. Der Einblick in ihr Innenleben zeige folglich an, dass Bärfuss in diesen Passagen nicht zu Überzeugungen, sondern zu Vorstellungen auffordere.
(2) Ein zweiter Einwand könnte lauten, die paratextuelle Bezeichnung des Werks als ‚Roman‘ gelte für alle Werkteile gleichermaßen. Die Gattungsangabe auf der Makroebene zeige folglich an, dass Bärfuss auch in der Tiererzählung zu Vorstellungen auffordere.
(3) Ein dritter Einwand könnte lauten, die Tiererzählung werde nicht vom Autor Bärfuss erzählt, sondern von einem von Bärfuss verschiedenen fiktiven Erzähler. Folglich könne es sich bei den Sätzen nicht um das Ergebnis nichtfiktionaler Äußerungen durch Bärfuss handeln. Vielmehr fordere Bärfuss zu der Vorstellung auf, ein fiktiver Erzähler schildere die Ereignisse.
Diese Einwände sind von unterschiedlicher Berechtigung.
(1) Zum ersten potenziellen Einwand lässt sich wiederholen, dass intern fokalisierte Passagen zwar ein Fiktionssignal, aber für sich genommen nicht hinreichend für die Fiktionalität einer Erzählung sind. Wie die Rekonstruktion des intertextuellen Kontextes gezeigt hat, beruhen auch die intern fokalisierten Passagen auf Recherchen. Der Gehalt der geschilderten mentalen Ereignisse ist aus Quellentexten – vor allem historischen Tagebüchern – übernommen. Insofern sind auch diese Sätze das Ergebnis nichtfiktionaler Äußerungen. Bärfuss fordert den Leser zu der Überzeugung auf, dass die Akteure die geschilderten Gedanken, Gefühle und Empfindungen hatten.
(2) Dem zweiten potenziellen Einwand lässt sich erstens entgegnen, dass er von einer unbegründeten Vorannahme einer Homogenität von literarischen Werken ausgeht. Es gibt keinen zwingenden Grund dafür, dass ein durch den Autor und/oder Verlag paratextuell als ‚Roman‘ bezeichnetes Werk keine nichtfiktionale Erzählung enthalten kann. Zweitens gilt auch hier, dass die Gattungsbezeichnung nur ein Fiktionssignal und kein hinreichendes Merkmal für Fiktionalität ist.
(3) Der dritte potenzielle Einwand beruht auf einer narratologisch unbegründeten Vorannahme. Das Vorhandensein eines vom Autor verschiedenen fiktiven Erzählers müsste begründet werden, indem gezeigt wird, inwiefern Bärfuss zur Vorstellung eines solchen auffordert. Im Falle von Koala ist die Annahme eines fiktiven Erzählers weniger gut zu begründen als die Annahme, dass es sich beim Erzähler um den Autor handelt. Der Einwand wäre, ließe er sich begründen, jedoch berechtigt. Könnte nachgewiesen werden, dass die Tiererzählung von einem fiktiven Erzähler präsentiert wird, ließe sich argumentieren, die Tiererzählung sei fiktional, weil Bärfuss zur Vorstellung eines von ihm zu unterscheidenden Sprechers auffordere.
Die Klassifikationshypothese scheint damit den Einwänden standzuhalten. Gleichwohl weisen sie darauf hin, dass die Hypothese zumindest von größerer Unsicherheit ist als jene zur Klassifikation der Brudererzählung.
Fiktional: Rahmenerzählung: Das Buch
Die Bucherzählung kann auf der Basis des folgenden Clusters an Fiktionssignalen nach (FE) als fiktional klassifiziert werden:
(1) Die achronische Erzählweise und Zirkelstruktur.
(4) Die fehlenden zeitlichen, örtlichen und personellen Lokalisierungen der Ereignisse.
(5) Der Hinweis auf die Nutzung der Imagination als Erkenntnisinstrument.
(6) Der Untertitel „Roman“.
In ihrer Summe lassen diese Fiktionssignale den Schluss zu: Bärfuss intendiert reflexiv, dass sich der Leser vorstellt, die temporal geordnete und sinnhaft verknüpfte Menge der durch die Äußerungen der Bucherzählung ausgedrückten (komplexen) Propositionen sei insgesamt wahr. Dabei beruht der Gehalt mindestens einer Teilmenge der Äußerungen nicht auf einem Wahrheitsbemühen von Bärfuss. Die textintern geschilderte Ordnung der erzählten Ereignisse kann nicht wahr sein. Hier tritt der Autor als mimetisch unzuverlässiger Erzähler seiner eigenen Geschichte auf.26 Die Sätze wären auch isoliert betrachtet das Ergebnis fiktionaler Äußerungen. Kurz: Bärfuss fordert zu Vorstellungen über seinen Verarbeitungs- und Erkenntnisprozess nach dem Suizid seines Bruders auf.27
Die Klassifikationshypothese scheint relativ sicher. Zu zwei Fiktionssignalen, die auch für die Brudererzählung signifikant sind, kommen zwei weitere hinzu. Die achronische Erzählweise und der textinterne Hinweis auf die Nutzung der Imagination als Erkenntnisinstrument stärken die Hypothese und zeichnen eine Klassifikation der Bucherzählung als nichtfiktional als weniger plausibel aus.
Es ließen sich zwar dieselben potenziellen Einwände formulieren, die bereits bei der Klassifikation der Brudererzählung diskutiert wurden. Für die Bucherzählung wären diese Einwände aufgrund der starken Fiktionssignale im Text und Kontext jedoch weniger berechtigt. Insbesondere hat wiederum die Identifizierung des Koala-Erzählers mit dem Autor Bärfuss keinen Einfluss auf den Fiktionalitätsstatus, sondern weist darauf hin, dass Bärfuss statt über einen namenlosen, fiktiven Ich-Erzähler zu Vorstellungen über sich selbst auffordert.
6.2.4 Klassifikation II
Fiktional: Koala
Koala kann auf der Basis der folgenden These zur Werkbedeutung nach (FW) als fiktional klassifiziert werden.28
Im Kern ist Koala eine Auseinandersetzung mit dem Suizid. Bärfuss konfrontiert den Leser mit der radikalpessimistischen These: Der Selbstmörder rettet sich aus einem unwürdigen Dasein aus angeborener Angst und sinnloser Arbeit – und dies zu Recht.
Dabei hängt die Werkbedeutung in entscheidender Weise von der fiktionalen Bucherzählung ab. In der Brudererzählung schildert Bärfuss die gegebene ‚Antwort‘: den Suizid seines Bruders. Die Tiererzählung dient der Suche nach einer Frage auf die Antwort. Bärfuss geht dem Pfadfindernamen des Bruders und damit dem Tier nach. In der Bucherzählung schildert er seinen Erkenntnisprozess und formuliert die „Frage auf die Antwort, die er uns allen gegeben hatte“:29 „Warum seid ihr noch am Leben? Warum verkürzt ihr nicht die Mühsal? Warum nehmt ihr jetzt nicht gleich den Strick, das Gift oder den Revolver, warum öffnet ihr nicht das Fenster, jetzt gleich?“30
Um zu dieser Frage und zu einer Erklärung für den Suizid seines Bruders zu gelangen, hat Bärfuss die Geschichte des Koalas und Australiens nachrecherchiert und der „Imagination […] die Funktion einer erkenntnistheoretischen Maßnahme zugewiesen“.31 Auf der Basis der historischen Tatsachen kommt er zu einem vorzustellenden Fazit: Der Suizid ist eine rationale Handlung. Wer die Angst mit Arbeit zudeckt, hinterlässt Abfall:
Auch ich war der Arbeit verfallen, stand bei Tagesanbruch auf, erledigte mein Soll, legte mich nur schlafen, damit ich wieder frisch war für das nächste Tagwerk. Was ich damit schuf, war Abfall, ein großer Haufen Vergeblichkeit, eine Beschäftigung um der Beschäftigung willen. Es ist unnütz, rief mir etwas zu, was du tust, ist Ablenkung, es wird nicht helfen, nicht dir, nicht deinen Kindern, nicht der Welt. Und ich lernte, woher das Wort Arbeit kam, dass es einst eine Waise bezeichnet hatte, ein Kind ohne Eltern, das sein Brot selber verdienen musste, in Knechtschaft, in Sklaverei. Und so lebten wir, so lebte ich. Außerhalb der Schöpfung.32
Der Koala würde eine „andere Möglichkeit der Existenz“33 vorleben. Doch für ein „Dasein, das der Faulheit gewidmet war“,34 ist – wie für seinen Bruder – in der Arbeitswelt der Menschen kein Platz. Auch Bärfuss kann sich diesem ewigen Streben nicht entziehen:
Es würde einem nichts übrigbleiben, als von hier wegzugehen und zu vergessen und sich treu an die Routinen zu halten, die man übernommen hatte. Nicht zu spät nach Tagesanbruch aus dem Bett zu steigen und die Arbeit aufzunehmen, die man am Tag zuvor niedergelegt hatte. Und der nächste Tag und der übernächste würden genau so sein, von Vergeblichkeit, die man verdrängen musste, damit man an seinem Leben eine Freude finden konnte, die wiederum nötig war, um bei Kräften zu bleiben, damit man die Pflicht erfüllen konnte – ein ewiger Kreislauf, den zu durchbrechen bedeutete, sich aus der Gesellschaft der Menschen zu verabschieden und die Einsamkeit anzunehmen.35
Lukas Bärfuss macht sich also an die Arbeit und schreibt Koala. Damit endet die Bucherzählung mit ihrem Anfang und bringt den ‚ewigen Kreislauf‘ zum Ausdruck. Die Arbeit ist nie abgeschlossen. Kurz: Koala als Werk ist ein fiktionales, existenzphilosophisches Essay über den Suizid. Ein literarischer Anschlag auf die Existenz des Menschen ‚außerhalb der Schöpfung‘.36
Die Klassifikationshypothese scheint relativ sicher. Um das Werk begründet als nichtfiktional zu klassifizieren, müsste ein umgekehrter Funktionszusammenhang zwischen den fiktionalen und nichtfiktionalen Werkteilen behauptet werden. Es wäre zu erläutern, inwiefern die Werkbedeutung von der nichtfiktionalen Tiererzählung abhängt und die fiktionalen Bruder- und Bucherzählungen dazu beitragen. Eine solche Umkehrung wäre insofern schwierig zu begründen, als die Tiererzählung Bärfuss dazu dient, die existenzphilosophische These von Koala zu entwickeln.
6.2.5 Fazit: Eine Imagination als Essay
Koala ist nach der vorgeschlagenen Theorie zunächst ein Mischfall: Die Brudererzählung ist fiktional, die Tiererzählung ist nichtfiktional, die Bucherzählung ist fiktional.
Im Rahmen einer Interpretation kann das Werk in einem zweiten Schritt sinnvoll als fiktional klassifiziert werden: Die Werkbedeutung, so die These, hängt in entscheidender Weise von den fiktionalen Werkteilen ab. Das Werk Koala ist demnach eine fiktionale Erörterung: eine Imagination als Essay.
Vgl. Kapitel 1.1.1.1 Handlung.
Vgl. Kapitel 1.1.3.1 Signale.
Frisch 1975, 156; GW VI, 720.
Frisch 1975, 155; GW VI, 719.
Frisch 1975, 80; GW VI, 670.
Frisch 1975, 82. (In GW VI, 671: „irgend etwas“.)
Frisch 1975, 156; GW VI, 720.
Frisch 1975, 156; GW VI, 720.
Frisch 1975, 197; GW VI, 747.
Insofern als Frisch unter anderem zu Vorstellungen über sich selbst auffordert, könnte die Erzählung auch als autofiktional klassifiziert werden. Dabei ist der Ausdruck ‚autofiktional‘ für diesen bestimmten Typ von fiktionaler Erzählung zu reservieren: Eine fiktionale Erzählung ist autofiktional, wenn der Autor zu propositionalen Vorstellungen über sich selbst auffordert. Vgl. dazu auch Lindblom 2020, 45. Für Übersichten und alternative Verwendungsweisen des Autofiktionsbegriffs vgl. insbesondere Zipfel 2009; Wag-ner-Egelhaaf 2013. Zum fiktionalen Erzählen ohne einen vom Autor zu unterscheidenden fiktiven Erzähler vgl. zudem Köppe/Stühring 2011.
Auf einige marginale Unterschiede zwischen den beiden zitierten Textfassungen (die Erstausgabe von 1975 sowie die Werkausgabe von 1976) wurde im Laufe der Annäherung hingewiesen.
Zu dieser reflexiven Intention sowie weiteren ‚Regeln der Referenz‘ vgl. Searle 1969, 94–96.
Inwiefern Frisch in einigen hier als nichtfiktional klassifizierten Passagen eine Täuschungsabsicht unterstellt werden könnte, zeigt Affolter 2019, 33–41, 49. Auch wenn die Frage nach der Glaubwürdigkeit von Frischs Selbstdarstellung fiktionstheoretisch nicht relevant ist, ist sie insofern grundsätzlich berechtigt. Vgl. zum „Thema der Selbstzensur“ auch Vogel 2002, hier: 123. Zur Theorie der literarischen Selbstdarstellung vgl. Schröter 2018 (zur täuschenden Selbstdarstellung vgl. 186–197).
Frisch 1975, 156; GW VI, 720.
Frisch 1975, 24; GW VI, 633.
Frisch 1975, 185; GW VI, 739.
Frisch 1975, 155; GW VI, 719.
Frisch 1975, 195; GW VI, 746.
Frisch 1975, 103; GW VI, 684.
Frisch 1975, 202. (In GW VI, 750 ohne „den“ vor „Tod“.)
Im Sinne dieser Interpretation argumentieren insbesondere auch Bucheli 2013, 8 („rabiate Selbsterforschung“), Arnold 2002, 47 („Selbstentlarvung“) und Petersen 2002, 151 (‚Selbstbewältigung‘).
Vgl. Kapitel 1.2.1.1 Handlung.
Vgl. Kapitel 1.2.3.1 Signale.
Bärfuss 2014, 57.
Insofern könnte die Erzählung (wie die Lynn-Erzählung in Montauk) auch als autofiktionale Erzählung klassifiziert werden – wiederum verstanden als eine fiktionale Erzählung, in der ein Autor zu propositionalen Vorstellungen über sich selbst auffordert.
Zum unzuverlässigen Erzählen mit und ohne fiktiven Erzähler vgl. Köppe/Kindt 2011.
Auch die Bucherzählung könnte demnach als autofiktionale Erzählung klassifiziert werden, in der Bärfuss zu Vorstellungen über sich selbst auffordert.
Vgl. für das Folgende auch Lindblom 2020.
Bärfuss 2014, 21.
Bärfuss 2014, 169–170.
Bärfuss 2014, 57.
Bärfuss 2014, 169.
Bärfuss 2014, 181.
Bärfuss 2014, 167.
Bärfuss 2014, 176–177.
In eine ähnliche Richtung zielen etwa die Interpretationen von Lubrich 2020, 34; Detken 2020, 64; Süselbeck 2017, 42–44; Meilaender 2017, 223–224; Steeg 2017, 235; Košenina 2014, 13; Bucheli 2014, 50. Für eine äußerst kritische Koala-Auslegung vgl. hingegen Zimmermann 2017.