Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, philosophische Autonomiedebatten miteinander zu verknüpfen, die im zeitgenössischen Diskurs oft unverbunden nebeneinanderstehen: Debatten um bioethische Fragestellungen und konzeptionelle Grundlagendebatten. Dass diese beiden Diskurse selten zueinander in Beziehung gesetzt werden, ist kein Zufall. Während der mit der angewandten Ethik beschäftigte Zweig der Philosophie in erster Linie daran interessiert ist, für vergleichsweise konkrete Problemkonstellationen vergleichsweise konkrete Handlungsanweisungen zu erarbeiten, ist der theoretische Grundlagendiskurs darum bemüht, in die entgegengesetzte Richtung zu argumentieren, das heißt die allgemeinen Bestimmungen des Denkens zu untersuchen, ohne diese unmittelbar in den Zusammenhang konkreter Entscheidungssituationen zu stellen. Mit diesen gegenläufigen Zielsetzungen gehen unterschiedliche Anforderungen an die jeweiligen philosophischen Debatten einher. Wo anwendungsbezogene ethische Arbeiten für gewöhnlich an weit verbreiteten, aber nicht hinreichend durchleuchteten moralischen und metaphysischen Intuitionen ausgerichtet sind, befassen sich Grundlagendiskurse damit, gerade solche intuitiven Plausibilitätserwägungen auf ihre Überzeugungskraft zu befragen sowie Widersprüche in den intuitiven Überzeugungssystemen aufzudecken und aufzulösen.1 So nachvollziehbar es für angewandte ethische Fragestellungen auch sein mag, sich nicht in den schier endlosen Grundlagendebatten der Philosophie verlieren zu wollen, um ihrem Zweck, konkrete Handlungsanweisungen erarbeiten zu können, gerecht zu werden, so problematisch erscheint dieses Vorgehen, wenn angewandte Ethik als philosophische Disziplin verstanden wird. Eine philosophische Ethik steht nicht für sich, sondern ist stets mit weiterführenden philosophischen Debatten verbunden. Eine ethische Position, die ihre begrifflichen Grundlagen nicht hinreichend klärt, muss dementsprechend aus philosophischer Perspektive suspekt erscheinen.
Umgekehrt ist festzuhalten, dass philosophische Grundlagenarbeit keine Erfolgsgarantie besitzt. Dass sich metaphysisches Denken in die absurdesten Sackgassen manövriert hat, ist ein geschichtliches Faktum. Schlechte metaphysische Positionen können dabei zu hochproblematischen moralischen Urteilen führen. Nicht ohne Grund erscheint uns heute die durch Descartes inspirierte These,2 Tiere seien nicht schmerzfähig, da sie reine automata ohne bewusstes Erleben seien, als offensichtlich falsch. Ein anderes, heute vermutlich weiter verbreitetes Beispiel betrifft die Freiheitsdebatte. Wer auf grundlegender Ebene davon ausgeht, dass Menschen ebenso wenig frei sind wie unbelebte Objekte, wird die Idee moralischer Verantwortlichkeit und mit ihr das Konzept der Schuld für unplausibel halten. Diese Beispiele zeigen: Metaphysik und ethische Überzeugungen hängen zusammen und die Frage, ob wir unseren Intuitionen oder unserer Reflexion zur Metaphysik Glauben schenken sollten, ist keine triviale. Es kann vorkommen, dass unsere Überlegungen uns auf Abwege führen, vor denen unsere Intuitionen uns, hätten wir ihnen Glauben geschenkt, bewahren würden. Manche unserer Intuitionen sind zurecht so durchschlagend, dass keine philosophische Reflexion sie ernsthaft in Zweifel ziehen könnte. Dieser Befund entbindet das philosophische Denken aber nicht davon, sich seiner Grundbegriffe zu versichern. Das gilt sowohl für die Grundlagendebatten der Metaphysik als auch die Grundlagendebatten der Ethik. Wir überwinden schlechte Metaphysik nicht, indem wir sie nicht mehr betreiben, ebenso wenig wie wir schlechte Ethik überwinden, indem wir die Ethik abschaffen.
Dabei gilt es, die vielfältigen Verknüpfungen von moralischer und metaphysischer Grundlagenbestimmung und unseren Alltagsintuitionen zu beachten. Konkrete moralische Intuitionen und Grundlagenfestlegungen stehen nicht unverbunden nebeneinander. Das, was wir für jeweils intuitiv überzeugend halten, ist oft maßgeblich davon abhängig, worauf wir uns im Grundsatz verpflichten. Wer etwa davon ausgeht, dass Moral etwas mit absoluter und unhintergehbarer Prinzipientreue zu tun habe – einem Prinzipienfetischismus, der bisweilen Kant vorgeworfen wird3 –, der wird es für intuitiv plausibel halten, dass wir selbst dann nicht lügen dürfen, wenn wir dadurch moralisch gebotene Konsequenzen hervorbringen. Wer hingegen mit konsequentialistischen Ethiken meint, dass allein konkrete Handlungskonsequenzen zählen, wird das allgemeine Lügenverbot für intuitiv unplausibel halten. Aus der allgemeinen Festlegung, welche Rolle Prinzipien oder Handlungskonsequenzen in unserem praktischen Denken spielen, folgt ein intuitives Verständnis darüber, was wir in einzelnen Situationen tun sollten. Dabei ist es wichtig, zu betonen, dass die genannten grundlegenden Feststellungen keineswegs von den intuitiv Urteilenden explizit erkannt worden sein müssen. Auch eine Person, die noch nie explizit grundlegende Reflexionen ausgeführt hat, hat grundlegende Überzeugungen, die ihr intuitives Verständnis prägen. Dieser Befund gilt auch für philosophische Diskurse. Insbesondere in Debatten der angewandten Ethik ist es nicht die Norm, dass metaphysische oder moralphilosophische Grundlagendebatten das explizite Fundament ethisch fundierter Handlungsleitung darstellen, was aber eben nicht bedeutet, dass keine impliziten Grundlagenannahmen die Intuitionen festlegen.
Sowohl im Bereich metaphysischer als auch im Fall moralischer Grundlagenannahmen gilt, dass das Vorliegen einer Intuition nicht hinreichend ist, um eine philosophische Position zu rechtfertigen. Zugleich gilt aber auch, dass die fraglichen Intuitionen dennoch als Orientierungspunkte und plausible Grenzen von Handlungsbestimmungen eine wichtige Rolle übernehmen. Das Wechselspiel der Orientierung an moralischen Intuitionen und an aus der Grundlagenforschung gewonnenen Prinzipien ist in ethischen Fragen entsprechend kein einfaches, bei dem von vornherein feststeht, welche Seite richtig liegt. Deshalb soll hier auch kein einseitiger Lobgesang auf die philosophische Grundlagenarbeit zum Zweck der moralischen Entscheidungsfindung gesungen werden. Es soll aber darauf hingewiesen werden, dass angewandte Ethik der philosophischen Grundlagenforschung bedarf. Wir dürfen uns im angewandten Raum der Ethik nicht allein auf unsere Intuitionen verlassen – und zwar weder auf unsere metaphysischen noch auf unsere ethischen Intuitionen. Ein angemessenes Verständnis der konzeptionellen Grundlagen, auf denen ethische Argumentation fußt, hilft uns dabei, zu verstehen, warum konkrete ethische Festlegungen gerechtfertigt sind, doch es hilft uns auch dabei, zu verstehen, warum das bei anderen nicht gilt, obwohl unsere Alltagsintuitionen es nahelegen. Zu verstehen, warum eine bestimmte Intuition falsch ist, führt dazu, dass diese Intuition sich auflöst, zumindest dann, wenn unsere grundlegenden Reflexionen Teil unserer Perspektive auf die Welt geworden sind. Dieser Prozess ist für gewöhnlich nicht instantan, sondern erfordert Zeit. Bleibt aber die Intuition bestehen, haben wir entweder nicht verstanden, warum sie falsch ist, oder sie ist nicht falsch und unsere Reflexionen haben uns fehlgeleitet.
Natürlich sollten wir unsere Intuitionen nicht nur dann einer philosophischen Prüfung unterziehen, wenn diese umstritten sind. Die Geschichte zeigt, dass sich auch solche Intuitionen, auf die sich die Mehrheit einigen kann, als unbegründet herausstellen können. Im angewandten ethischen Diskurs aber sind es gerade die umstrittenen Intuitionen, die drängende Probleme aufwerfen. Während beispielsweise kaum jemand ernsthaft behauptet, wir dürften nicht einwilligende erwachsene und kognitiv nicht eingeschränkte Personen einer Operation unterziehen, ist die Frage, ob es moralisch gerechtfertigt sein kann, dass eine Person sich freiwillig in die Sklaverei begibt, oder ob eine Person, die unkritisch einer nicht gerechtfertigten Autorität folgt, autonom genannt werden sollte, sehr wohl umstritten. In diesen umstrittenen Fällen kann nur eine Auseinandersetzung mit den konzeptionellen Grundlagen dabei helfen, über den bloßen Verweis auf Intuitionen und die damit einhergehende argumentative Pattsituation hinauszugelangen. Philosophische Bioethik erfordert Grundlagenarbeit zur Klärung intuitiver Urteile und im besten Fall zur Auflösung – oder zumindest zum besseren Verständnis – eines durch Intuitionen geprägten Dissenses.
Das Thema dieser Arbeit ist Autonomie. Die Intuitionen, die im Folgenden auf dem Prüfstand stehen, haben dementsprechend mit der Frage zu tun, was autonome, was freie menschliche Handlungen, kennzeichnet. Innerhalb und außerhalb der Philosophie ist die oftmals leitende Intuition dabei, dass Freiheit etwas ist, das an individuellen Maßstäben ausgerichtet ist. Frei ist demnach, wer den eigenen Wünschen, Präferenzen oder Neigungen entsprechend agiert. Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, dass die Fragen „Woher kommen meine Wünsche, Präferenzen und Neigungen, wie entstehen sie und auf welche Weise legen sie mein Handeln fest?“ diese erste Intuition zweifelhaft werden lassen. Wer diese Fragen zulässt, muss erörtern, ob es sein kann, dass wir in unserem Tun durch etwas festgelegt sein könnten, das uns in einem Sinn intern ist – wie unsere Wünsche oder wie das Neuronenfeuer unseres Gehirns uns intern ist –, in einem anderen aber wie eine externe Kraft auf uns einwirkt. Ein Wunsch etwa, beispielsweise der Wunsch einer süchtigen Person, eine Droge zu konsumieren, kann wie etwas erscheinen, das einerseits zur Person selbst gehört, ihr andererseits aber als entfremdete Gewalt gegenübersteht. Selbstbestimmung im Sinne des Bestimmtseins durch interne Determinationsfaktoren erscheint unter diesem Licht nicht mehr als selbstevidenter Ausdruck von Freiheit. Diese konzeptionelle Seite der Autonomiedebatte führt, wenn die genannten Gedanken und Fragen weiterverfolgt werden, in die Tiefen der Metaphysik. Auf der ethischen Seite verbinden sich die Intuitionen zur individuellen Autonomie mit der Idee des Werts einer solchen Selbstbestimmung. Offensichtlich, so scheint es, hat die absolute Freiheit des Individuums, auf Basis der eigenen Präferenzen entscheiden zu dürfen, einen hohen, vielleicht sogar den höchsten ethischen Rang. Wir alle wünschen uns doch, so könnte vermutet werden, tun zu dürfen, was wir je zu tun wünschen? Ist es nicht ein monströser Paternalismus, wenn wir anderen Personen absprechen, sie würden frei agieren, wenn sie ihren je eigenen Wünschen entsprechend handeln? Was gibt uns das Recht, die unabhängigen Entscheidungen anderer Personen zu kritisieren? Wie aber verhält es sich dann mit jenen Manifestationen individueller Freiheit, die moralisch fragwürdig sind? Wie verhält es sich mit Fällen, in denen diese Freiheit dazu genutzt wird, andere Personen zu foltern und zu töten? Und wie verhält es sich mit Fällen, in denen sich eine Person auf Basis einer Wahnvorstellung selbst verletzt? Wie gehen wir mit den Fällen um, in denen ganze Bevölkerungsgruppen durch Propaganda und Fehlinformationen konditioniert werden, den Tod anderer Bevölkerungen zu wünschen? Wer diesen Fragen nachgeht, kommt nicht umhin, den absoluten Wert der individuellen Selbstbestimmung in Zweifel zu ziehen. Individuelle Freiheit, so scheint es, mag einen Wert haben, aber dieser Wert kommt ihr nur dann zu, wenn sie sich in den Grenzen des ethisch rechtfertigungsfähigen Handelns bewegt.
Wollen wir grundsätzlich verstehen, was Autonomie ist, müssen wir eine Reihe von Fragen beantworten: Was ist eine Handlung und wie unterscheiden sich autonome von nichtautonomen Handlungen? Wie erklären wir Handlungen, das heißt, welche Erklärungsmuster nutzen wir, um sie zu erfassen? Können wir Handlungen erklären, wie wir die Bewegungen nichtbelebter Objekte erklären? Können wir das Handeln von Wesen wie uns erklären, wie wir das Handeln nichtvernünftiger Lebewesen erklären? Was unterscheidet einen Grund von einer bloßen Ursache? Was ist eine Person bzw. was ist ein praktisches Subjekt? Was ist der Wille und was unterscheidet einen autonomen von einem heteronom bestimmten Willen? Mit diesen vergleichsweise konkreten Fragen zur Natur der Handlung, der Person und des Willens sind grundlegendere verknüpft: Was ist der konzeptionelle Rahmen, der grundsätzlich begrenzt und strukturiert, wie wir diese Fragen beantworten? Die beiden für die Belange dieser Arbeit zentralen konzeptionellen Rahmen sind der des Empirismus bzw. Szientismus auf der einen Seite und der aristotelisch-kantischen Metaphysik auf der anderen.
Wer eine bioethische Debatte um den Autonomiebegriff führt, tut das immer schon auf der Grundlage konzeptioneller Vorannahmen – Annahmen darüber, welche Art von Wesen wir sind oder darüber, welche Art von Bewegungen es gibt. Das zeigt, dass auch das bioethische Denken trotz seines vorwiegenden Interesses an anwendungsbezogenen Fragestellungen von bestimmten grundsätzlichen konzeptionellen Festlegungen ausgehen muss. Wenn in der Bioethik von autonomen Personen und autonomen Handlungen oder dem autonomen Willen gesprochen wird, dann muss ein geklärtes Verständnis sowohl dieser Begriffe als auch des konzeptionellen Rahmens vorliegen, in den sie eingelassen sind. Und in Abhängigkeit davon, wie sinnvoll dieser Rahmen ist und wie sinnvoll die in diesem Rahmen zur Verfügung gestellten Deutungen jener Grundbegriffe sind, durch die wir Autonomie verstehen, kann die eine oder andere Interpretation der Selbstbestimmung überzeugen. Nur wenn beide Gesichtspunkte, also der anwendungsbezogene und der grundlegend konzeptionelle, untersucht und kritisch reflektiert werden, können beide richtig verstanden werden. Diesem Ziel widmet sich die vorliegende Arbeit. Dabei wird wie folgt vorgegangen:
Zunächst wird im ersten Kapitel der Begriff der Autonomie einleitend erörtert. Es wird erklärt, in welchen zeitgenössischen philosophischen Diskursen der Autonomiebegriff zur Anwendung kommt und welche Rolle ihm jeweils zugewiesen wird. Im Mittelpunkt stehen dabei die Debatten der politischen Philosophie, der Metaphysik und der Ethik, wobei die Verknüpfung der scheinbar voneinander unabhängigen Autonomiebegriffe von besonderem Interesse sein wird. Ziel ist es, zu zeigen, dass es nicht einen Autonomiebegriff für die politische Philosophie, einen für das ethische Denken und einen für die Metaphysik gibt, sondern dass jeweils bloß ein einziges Verständnis, das in unterschiedlichen Fragestellungen zum Einsatz kommt, verwendet wird.
An diese erste allgemein gehaltene Darstellung des Autonomiebegriffs anknüpfend folgt im zweiten Kapitel eine ausführlichere Darstellung der bioethischen Debatte. Im Rahmen dieses Abschnitts werden die beiden für die Bioethik zentralen Deutungen der menschlichen Selbstbestimmung mit dem Diskurs um die informierte Einwilligung verknüpft. Diese beiden Konzeptionen sind die hierarchische Deutung der Autonomie, wie sie von Harry Frankfurt und Gerald Dworkin entwickelt wurde, und ihr nichthierarchisches individualistisches Pendant, das in erster Linie von Ruth Faden, Tom Beauchamp und James Childress vertreten wird. Informierte Einwilligung und Autonomie sind in den auf diese Positionen bezugnehmenden Ansätzen so verknüpft, dass durch das Einholen einer informierten Einwilligung die Patientinnenautonomie respektiert wird. Dabei wird es entweder für selbstverständlich gehalten, dass Autonomie ethischen Respekt erfordert, oder es wird versucht, diesen Respekt durch den Verweis darauf zu begründen, dass nur ein selbstbestimmtes Leben ein gelungenes sein könne. Während die Idee, die Autonomie der Person begründe besondere Rechte und Pflichten, bereits im kantischen Denken zu finden ist, ist die Konzeption der Selbstbestimmung, der im bioethischen Diskurs ethische Bedeutsamkeit zugesprochen wird, eine andere als jene, die sich im kantischen Denken findet. Wo Kants Idee der Selbstbestimmung eine Selbstbestimmung durch allgemeingültige und damit zugleich vernünftige und ethische Prinzipien ist,4 sind im individualistischen Verständnis der zeitgenössischen Bioethik nicht nur vernünftige Vollzüge autonom, sondern auch solche, die auf kontingenten psychologischen und damit subjektiven Bestimmungen der handelnden Person fußen. Diese idiosynkratische Kombination der Akzeptanz kantischer Thesen und der zeitgleichen Zurückweisung der Systematik seiner Philosophie führt zu dem Problem, wie die moralische Relevanz von Autonomie erklärt werden kann. Onora O’Neill bemerkt dieses Problem, wenn sie schreibt:
Many contemporary proponents of ‚Kantian‘ ethics want the nicer bits of his ethical conclusions without the metaphysical troubles. They hope to base a ‚Kantian‘ account of justice and of rights on broadly empiricist conceptions of self, freedom and action.5
Wie O’Neill darlegt, sind individualistisch verstandene Formen des selbstbestimmten Handelns häufig nicht rechtfertigungsfähig, sodass es weder offensichtlich ist, dass diese Handlungen einen besonderen Schutz genießen sollten, noch, dass sie Elemente eines guten Lebens darstellen. Stimmt dies, wird das Insistieren der Vertreter einer individualistischen Autonomiedeutung, individualistisch selbstbestimmte Vollzüge würden ethischen Respekt erfordern, zumindest fragwürdig und eigens begründungsbedürftig. Das Ziel des zweiten Abschnitts besteht darin, darzulegen, dass das individualistische Autonomieverständnis ethisch problematisch ist und deshalb aus ethischen Gründen nicht die Rolle einnehmen kann, die ihm zugesprochen wird.
Auch das dritte und das vierte Kapitel haben zum Ziel, die individualistischen Autonomiekonzeptionen der Bioethik zu kritisieren. Diese Kritik richtet sich aber nicht auf die ethische Fragwürdigkeit der fraglichen Ansätze, sondern auf ihre konzeptionelle Überzeugungskraft. Im Mittelpunkt des dritten Kapitels steht der Begriff des Handelns, im Zentrum des vierten die Idee des praktischen Subjekts. Der Grundgedanke ist dabei dieser: Beide Formen der individualistischen Autonomiedeutung analysieren Autonomie als Merkmal entweder von Handlungen oder von Personen bzw. praktischen Subjekten. Damit nun erörtert werden kann, ob die individualistischen Autonomiebegriffe überzeugend sind, muss geprüft werden, welchen Begriff der Handlung bzw. der Handelnden sie vorschlagen. Erst wenn wir wissen, was eine Handlung ist, können wir verstehen, was eine selbstbestimmte Handlung kennzeichnet, und erst wenn wir verstehen, was ein handelndes Subjekt ist, können wir ein selbstbestimmtes Subjekt von einem fremdbestimmten unterscheiden. Im Rahmen dieser Untersuchung wird außerdem beleuchtet, welche konzeptionellen Grundannahmen das Handlungs- und Personverständnis prägen. Auf Basis dieser Analyse wird untersucht, ob und inwiefern die beiden individualistischen Autonomiekonzeptionen in die jeweiligen konzeptionellen Rahmenmodelle eingelassen sind. Dabei wird sich zeigen, dass das hierarchische Verständnis der Autonomie stark am szientistischen Denken ausgerichtet ist, während die nichthierarchische Autonomiedeutung auch als Spielart akteurskausalistischer Positionen aufgefasst werden kann.
Aufseiten der Autonomiedebatte sind die beiden mit dem Handlungs- und Personbegriff verknüpften Kernkonzepte jene der Handlungskontrolle und der Authentizität. Gemäß einer weit verbreiteten Annahme gilt, dass eine Handlung nur dann als autonom bezeichnet werden kann, wenn sie von der handelnden Person kontrolliert wird. Der Begriff der Kontrolle wird dabei aber, abhängig von der jeweiligen Strömung der Autonomiedeutung, unterschiedlich interpretiert. Wo nichthierarchische individualistische Autonomiekonzeptionen jeden Vollzug als von der handelnden Person kontrolliert interpretieren, der nicht durch manipulative oder nötigende Einflüsse Dritter zustande gekommen ist, sind hierarchische Deutungen restriktiver. Im hierarchischen Verständnis können auch Handlungen, die frei von Einflussnahmen durch andere Personen bleiben, der Kontrolle der Handelnden entzogen sein. Hierarchische Ansätze gehen davon aus, dass es Elemente der Psyche der handelnden Person gibt, das heißt Wünsche, die zu ihrem psychischen System gehören, die gleichwohl als dem Willen der Person extern gedeutet werden müssen. Hierarchische Autonomiekonzeptionen argumentieren also, dass nur andere Personen als externe Kontrollfaktoren des Willens der Handelnden gelten können, während im hierarchischen Verständnis etwas der in einem bestimmten Sinn Person Inneres – das bedeutet in diesem Verständnis ihre Psyche – ihre Kontrolle über das eigene Tun untergraben kann. Im hierarchischen Verständnis können Personen durch ihre eigenen Wünsche kontrolliert werden. Diese Festlegung weisen nichthierarchische Positionen emphatisch zurück. Beide Theorietypen sind aber grundsätzlich darin geeint, dass sie die These akzeptieren, in der individuellen psychologischen Konstitution einer Person sei der Maßstab ihrer Autonomie zu finden. Das bedeutet, dass der letzte Bezugspunkt einer Handlungserklärung innerhalb individualistischer Autonomiedeutungen die Psyche der handelnden Person ist, bzw. ein Element ihrer Psyche, ein besonders stark ausgeprägter Wunsch oder derjenige Wunsch, der in der Wunschhierarchie die Identität der handelnden Person konstituiert.
Um das Kontrollkriterium verstehen und bewerten zu können, ist es notwendig, es zur Handlungstheorie in Bezug zu setzen. Eine Person gilt schließlich nur dann als autonom, wenn sie ihr Handeln selbst kontrolliert. In der zeitgenössischen, an empiristischen und szientistischen Modellen orientierten Handlungstheorie wird davon ausgegangen, dass menschliches Handeln erstens formal auf dieselbe Weise erklärt werden könne, wie wir die Bewegungen unbelebter Materie erklären – nämlich durch die Verknüpfung von Ereignissen als Ursache und Wirkung – und zweitens, dass eine solche Erklärung frei von normativen Festlegungen bleibe. Diese Position ist in unterschiedlichen Hinsichten mit der zeitgenössischen Philosophie des Geistes verknüpft. In den für die Handlungstheorie relevanten Aspekten sind die in der empiristischen bzw. szientistischen Philosophie des Geistes zentralen Fragestellungen die, ob mentale Zustände bzw. mentale Ereignisse mit körperlichen und damit raumzeitlichen Zuständen bzw. Ereignissen identisch sind, und, sollte diese Frage verneint werden, wie die eine menschliche Handlung verursachenden mentalen Prozesse andernfalls konzipiert werden müssten. In jedem Fall gilt in einem szientistischen bzw. empiristischen Verständnis, dass der letzte Bezugspunkt einer kausalistischen Handlungserklärung ein Element der Psyche bzw. das System der Psyche der handelnden Person ist. Es sind die Wünsche einer Person, die ihre Handlung verursachen. Wird eine Bewegung von den mentalen Zuständen einer Person bestimmt, so gilt sie als Handlung, statt ein bloßes Ereignis zu sein. Wird von einer solchen handlungstheoretischen Position ausgegangen, ist es kaum vermeidbar, dass der mit ihr verknüpfte Autonomiebegriff ein individualistischer ist, da die handlungsverursachenden Wünsche von vornherein als subjektive Elemente der Psyche der handelnden Person gedeutet werden. Die eine Handlung verursachenden Wünsche gehören zu der Person, sind dem empiristischen und szientistischen Verständnis folgend ihrer Psyche oder ihrem Gehirn intern. Es ist klar, dass die so gedeuteten Wünsche einer Person partikulare, subjektrelative Handlungsbestimmungen sind. Und es ist naheliegend, davon auszugehen, dass solche subjektrelativen Handlungsbestimmungen allein für die handelnde Person als gültige Handlungsgründe fungieren können.
Wenn allerdings angenommen wird, dass psychische Prozesse der letzte Bezugspunkt einer Handlungserklärung sind, ist fraglich, inwiefern sich die so erklärte Bewegung von den Bewegungen unbelebter Objekte unterscheiden sollte. Auch innerhalb empiristischer und bestimmter Spielarten des Szientismus wird nicht bestritten, dass menschliches Handeln einen Vollzug einer besonderen Art darstellt. Das wird gemeinhin so zum Ausdruck gebracht, dass ein Handeln sich von einem bloßen Ereignis unterscheide und dass ein menschliches Handeln auf Gründen und nicht bloß auf Ursachen basiere. Diese beiden Gedanken scheinen auf den ersten Blick der empiristischen und szientistischen Festlegung entgegenzulaufen, dass Handlungen nicht grundsätzlich von allen anderen Ereignissen der Welt unterschieden sind. Radikale Formen des Szientismus, so etwa verschiedene Spielarten der Identitätstheorie sowie der eliminative Reduktionismus, wie er zeitweise von Richard Rorty oder Paul Churchland vertreten wurde, akzeptieren explizit die in den szientistischen Grundannahmen implizite Konsequenz, dass menschliches Handeln sich im Grunde nicht von den Bewegungen unbelebter Objekte unterscheidet, während gemäßigte Spielarten des Szientismus, wie sie etwa in den Arbeiten Donald Davidsons zu finden sind, diese Konsequenz zu meiden versuchen. Davidson und die sich an ihn anschließende Handlungstheorie argumentieren zwar, dass das ereigniskausalistische Erklärungsmodell auch für Handlungen gelte, doch erstens unterscheide sich menschliches Handeln von den Bewegungen unbelebter Objekte darin, dass es nicht durch strikte Gesetze festgelegt sei, und zweitens sei menschliches Handeln dadurch gekennzeichnet, dass diejenigen mentalen Zustände, die Handeln erklären, nicht nur die Ursachen, sondern auch die Gründe der Handlung seien. In Davidsons Augen ist eine ereigniskausalistische Handlungserklärung zugleich eine Form der Rationalisierung, das heißt der Erklärung des Vollzugs als Ergebnis eines praktischen Schlusses. Unabhängig davon aber, ob eine radikale oder eine gemäßigte Form der szientistischen Handlungstheorie akzeptiert wird, sieht sich eine solche Handlungskonzeption grundsätzlichen Schwierigkeiten ausgesetzt. In dieser Arbeit stehen dabei zwei Probleme in besonderem Maße im Mittelpunkt.
Das erste dieser Schwierigkeiten ist das Problem abweichender Kausalverläufe. Handlungstheorien, die sich eines ereigniskausalistischen Erklärungsmusters bedienen, können ein alltägliches Phänomen nicht erklären, den Fall nämlich, in dem eine Person ein geeignetes Wunsch-Überzeugungs-Paar aufweist, das die von der handelnden Person bezweckte Handlung auch verursacht, dies aber nicht auf die richtige Weise tut. Weil szientistische Handlungstheorien darum bemüht sind, ohne normative Bestimmungen auszukommen, ist es rätselhaft, wie so etwas wie eine abweichende Kausalkette denkbar ist, das heißt, wie eine Handlung auf die falsche Weise kausal bestimmt werden kann. Im Verständnis des Szientismus können Kausalketten nicht richtig oder falsch sein, sie können nur vorliegen oder eben nicht. Bereits Davidson erkannte, dass seine Handlungstheorie das Problem abweichender Kausalketten nicht lösen konnte, ohne angemessen auf diese Einsicht zu reagieren, und auch die zeitgenössischen Versuche von szientistischer Seite, dieses Problem innerhalb ihres Theorierahmens zu beheben, können nicht überzeugen. Das zweite Problem der szientistischen Handlungstheorie kann in der Frage zum Ausdruck gebracht werden, welche Rolle die Akteurin in ihrem eigenen Handeln ausfüllt. Wenn die Überzeugungen und Wünsche einer Person in einem ereigniskausalistischen Sinn die Ursache ihrer Bewegung sind, scheint es nicht so, als bleibe in diesem Bild Platz für den Gedanken, dass die Person ihr eigenes Handeln aktiv beeinflussen könnte. Wird dieser Gedanke radikalisiert, etwa dadurch, dass auch die Genese der Wünsche und Überzeugungen einer Person nach einem psychologisch-mechanistischen Muster erklärt wird – etwa durch Formen sozialer Prägung oder Konditionierung –, wird vollends unverständlich, wieso sich die ereigniskausal erklärte Bewegung von einer unterscheiden soll, die ein unbelebtes Objekt ausführt. In beiden Fällen wirken externe Kräfte auf das Objekt bzw. das Individuum ein und bedingen einen Output, eine bestimmte Bewegung. Dabei spielt es keine Rolle, dass im menschlichen Organismus zwischen Input und Output kognitive Prozesse ablaufen, etwa neuronale Aktivitäten. Die Idee, menschliches Handeln sei von den Bewegungen unbelebter Materie durch besondere Ursachen, namentlich durch mentale Ursachen, bestimmt, löst dieses Problem nicht, wie in dieser Arbeit mit Blick auf die Arbeiten David Vellemans argumentiert wird. Das Problem abweichender Kausalketten und das Problem der Rolle der Akteurin in ihrem eigenen Handeln machen die szientistische Handlungstheorie unverständlich, wodurch der so gewonnene Handlungsbegriff wenig mit dem zu tun hat, was wir für gewöhnlich unter einer Handlung verstehen.
Wo das Kontrollkriterium und der Handlungsbegriff zusammenhängen, hängt das Authentizitätskriterium mit dem Begriff des Selbst bzw. des „wahren“ Selbst zusammen. Dabei spielt das Selbst insbesondere innerhalb der hierarchischen Autonomiekonzeption eine zentrale Rolle. Weil in hierarchischen Autonomiekonzeptionen davon ausgegangen wird, dass Personen sich als von ihren eigenen Wünschen entfremdet erleben können, gelten nur bestimmte Elemente des psychischen Systems als Bestandteile des wahren Selbst. Diese Elemente sind jene Wünsche, mit denen Personen sich höherstufig identifizieren bzw. von denen sie sich nicht als entfremdet erleben können. Während dabei die Idee, ein willkürlicher Akt der Identifikation zeichne das wahre Selbst aus, zum Teil auch vonseiten derjenigen, die grundsätzlich bereit sind, dem hierarchischen Verständnis der Autonomie zu folgen, zurecht Kritik erfährt, wird in dieser Arbeit ein noch grundlegenderes Problem in den Blick genommen. Bevor sich eine Person mit denjenigen Elementen ihrer Psyche identifizieren kann, die gemeinsam ihr wahres Selbst kennzeichnen, muss sie diese erkennen können. Die Idee des wahren Selbst setzt damit eine Theorie des Selbstbewusstseins voraus. Wenngleich innerhalb der hierarchischen Autonomiekonzeption keine explizite Theorie des Selbstbewusstseins entwickelt wird, ist es naheliegend, etwa Harry Frankfurt als Vertreter eines Subjekt-Objekt-Modells zu deuten. In diesem Modell steht das Selbst als Objekt dem erkennenden Subjekt gegenüber. Dabei sind zwei Arten denkbar, wie sich das Subjekt auf sich selbst als Objekt beziehen könnte. Erstens könnte es sich per Introspektion auf ein Objekt der inneren Anschauung beziehen, zweitens könnte das Selbst ein Objekt sein, das der naturwissenschaftlichen Forschung offensteht. Beide Ansätze werden in der Arbeit besprochen und zurückgewiesen. Während die Idee der Introspektion, wie etwa Ernst Tugendhat im Anschluss an Wittgenstein erörtert, im Zuge der sprachanalytischen Auseinandersetzung mit dem Erste-Person-Pronomen zurecht in Verruf geraten ist, ist der Gedanke, das Selbst könne ein der naturwissenschaftlichen Forschung offenstehendes Objekt sein, dem zeitgenössischen Diskurs nicht unbekannt. Wenn wir das Selbst als eine Art System psychischer Zustände oder Ereignisse deuten und weiterhin davon ausgehen, dass diese Zustände neuronal realisiert sein müssen, dann könnte argumentiert werden, das Selbst sei die Gesamtheit dieser neuronalen Ereignisse. Damit wäre das Selbst ein natürliches Objekt, das von der Psychologie bzw. den Neurowissenschaften untersucht werden könnte.
Beide Versuche, das Selbst zu erkennen, werden in dieser Arbeit zurückgewiesen. Mithilfe der in den Arbeiten Sebastian Rödls entwickelten Argumente wird dargelegt, dass Selbstbewusstsein nicht das Erkennen eines von der Erkennenden unterschiedenen Objekts ist. Das äußert sich darin, dass wir uns im Fall des gedanklichen Selbstbezugs auf eine bestimmte Art und Weise auf uns selbst beziehen, nämlich auf uns als auf uns selbst. Hierbei handelt es sich um eine Art der Bezugnahme, die sich von der Bezugnahme auf externe Objekte und Ereignisse unterscheidet. Anhand von Rödls Arbeiten wird argumentiert, dass das Verständnis dieser Form des Selbstbewusstseins mit einer bestimmten Konzeption des praktischen Subjekts verknüpft ist, die sich von derjenigen unterscheidet, die im Szientismus bzw. Empirismus besprochen wird. In dieser Konzeption ist das, worauf wir uns mithilfe des Pronomens der ersten Person beziehen, weder ein Gegenstand der inneren noch der äußeren Anschauung. Wenn wir uns auf uns selbst beziehen, beziehen wir uns zwar auf eine körperliche Existenz, ein Wesen, das eine raumzeitliche Position einnimmt, doch wir beziehen uns auf dieses Wesen nicht wie auf die anderen Gegenstände der Welt, nicht auf Basis einer Wahrnehmung. Rödl erklärt, dass der im Selbstbewusstsein ausgedrückte Selbstbezug eine Bezugnahme „von innen“ darstelle. In dieser Bezugnahme versteht sich die Person sowohl als Handelnde als auch als Erkennende. Indem sie sich so versteht, verortet sie sich im Raum der Gründe, nicht allein im Raum der Ursachen. Ihre Handlungen und Überzeugungen sind in diesem Bild nur dann verständlich, wenn sie als Konklusionen vernünftiger Schlüsse, praktischer und theoretischer Art, gedeutet werden. Etwas zu glauben, bedeutet demnach, es als wahr vorzustellen, und das heißt, es rechtfertigen zu können, ebenso, wie auf eine bestimmte Weise zu handeln, bedeutet, die Handlung als gut vorzustellen und diese rechtfertigen zu können. Indem auf diese Weise das praktische Subjekt in erster Linie als selbstbewusstes Wesen gedeutet wird, das sich selbst im Zuge der Rechtfertigung der eigenen Handlungen und Überzeugungen erkennt, wird eine Alternative zum empiristischen und szientistischen Verständnis desselben entwickelt, die die Probleme derselben vermeidet.
Wenn sowohl das Kontroll- als auch das Authentizitätskriterium im individualistischen Verständnis der Autonomie mit problematischen Handlungs- und Selbstkonzeptionen verknüpft ist, kann dieser Ansatz aus konzeptionellen Gründen nicht überzeugen. Um Autonomie, Handeln, das praktische Subjekt und den Willen richtig zu verstehen, ist es notwendig, den szientistischen und empiristischen Rahmen zu verlassen und einen anderen metaphysischen Standpunkt einzunehmen. Zu diesem Zweck wird sowohl ein zum Szientismus alternativer Begriffsrahmen besprochen als auch erörtert, wie innerhalb dieses Rahmens Handlungen, praktische Subjekte und Autonomie aufzufassen sind. Dieses alternative Begriffssystem ist das aristotelisch-kantische. Damit ist nicht gesagt, dass zwischen der aristotelischen und der kantischen Traditionslinie keine Unterschiede bestehen, sondern nur, dass sie durch eine Vielzahl von Schnittpunkten geeint sind, durch die sie als alternative Strömung zum Empirismus und Szientismus verstanden werden können. Wie die Arbeiten Christine Korsgaards, Sebastian Rödls oder auch Rosalind Hursthouses zeigen, stimmen aristotelische und kantische Positionen in wesentlichen Aspekten überein. Sowohl das aristotelische als auch das kantische Denken interpretieren Handlungen wesentlich normativ, kennen neben rezeptivem Wissen auch Wissen durch Spontaneität bzw. praktisches Wissen und akzeptieren, dass zwischen der unbelebten Natur, nichtvernünftigen Lebewesen und Wesen wie uns selbst grundsätzliche Unterschiede bestehen. Sowohl im aristotelischen als auch im kantischen Denken wird ein ereigniskausalistisches Verständnis der Handlung zurückgewiesen, ebenso wie ein psychologistisches Verständnis der Person und ein individualistisches Verständnis der Selbstbestimmung. Der Begriff des Willens verweist im aristotelisch-kantischen Denken nicht auf eine individuelle psychologische Struktur, eine subjektive Ordnung von Wünschen, sondern auf eine objektive Ordnung, die als praktische Vernunft bezeichnet wird. In beiden Ansätzen lässt sich darüber hinaus der Gedanke finden, dass es nicht nur eine Form der Kausalität gibt. Wollen wir menschliches Handeln verstehen, so müssen wir diese besondere Form der Aktivität durch ein bestimmtes Erklärungsmuster erfassen. In dieser Form der Erklärung sind normative Erwägungen keine von der Erklärung der Handlung unabhängigen Bestimmungen, sondern unmittelbar mit ihr verknüpft. Eine absichtliche Handlung ist demnach diejenige, die von der Handelnden Selbst im praktischen Denken auf ein allgemeines Element zurückgeführt wird. Wird der Begriff der Handlung auf diese Weise normativ gedeutet, ist klar, dass auch die mit dieser Deutung verknüpfte Konzeption der Autonomie eine normative ist und damit eine, die nicht an individuellen Maßstäben ausgerichtet sein kann. Um diese Form der Handlungserklärung und der Autonomiedeutung zu verstehen, ist es notwendig, einige grundlegende Erörterungen zum sogenannten aristotelischen Naturalismus voranzustellen.
Das abschließende Kapitel dieser Arbeit ist zu diesem Zweck so gegliedert, dass zunächst einige Grundbestimmungen des sogenannten aristotelischen Naturalismus erörtert werden. Zu diesen Bestimmungen zählen generische Urteile, Bewegungen und Zustände sowie ihre logische Form, der Begriff der Lebensform, die Idee des praktischen Wissens bzw. der Spontaneität sowie eine bestimmte Deutung des Begriffs des Guten. Im Anschluss an die Darstellung dieser Bestimmungen erfolgt eine Besprechung derjenigen Elemente der aristotelisch-kantischen Tradition, die für die Belange dieser Arbeit relevant sind. Der Grundgedanke ist dabei dieser: Personen sind Wesen einer bestimmten Art, nämlich theoretisch wie praktisch vernünftige und, was dasselbe bedeutet, selbstbewusste Lebewesen. Wie im Fall anderer Lebewesen gilt, dass es Gesetze gibt, die die Autonomie dieser Lebewesen zum Ausdruck bringen. Um diesen Gedanken verstehen zu können, ist es notwendig, das wissenschaftliche Vokabular um generische Urteile sowie Formen der Teleologie zu erweitern. Lebewesen sind demnach Seinsformen, die sich grundsätzlich von unbelebten Objekten unterscheiden und die durch eine eigene Wissenschaft sowie eine eigene wissenschaftliche Ausdrucksweise erfasst werden müssen. Dasselbe gilt für den Übergang von der nichtvernünftigen zur vernünftigen Natur. Mit dieser Festlegung werden zunächst szientistische Reduktionsversuche zurückgewiesen und es wird allgemein festgelegt, dass eine Wissenschaft des vernünftigen Lebewesens sich grundsätzlich von einer Wissenschaft der unbelebten Materie unterscheidet. Darüber hinaus wird durch diesen Gedanken verständlich, wie der Begriff der Autonomie in Bezug auf Personen gedacht werden kann: Eine Person handelt genau dann selbstbestimmt, wenn sie jenen Prinzipien entsprechend handelt, die ihrem Denken bzw. ihrer Lebensform intern sind.
Die Idee der konstitutiven bzw. inneren Norm wird mithilfe der Arbeiten Andrea Kerns, Sebastian Rödls und Christine Korsgaards erörtert. Dabei wird sich zeigen, dass es Prinzipien gibt, die dergestalt sind, dass sie das, was unter sie fällt, konstituieren und einen allgemeinen Maßstab ihrer Güte vorgeben. Wenn es solche Maßstäbe für das menschliche Handeln gibt und wenn diese Maßstäbe dem Denken selbst innerlich sind, dann verweist die Erklärung eines selbstbestimmten Akts auf nichts anderes als das Denken der handelnden Person. Wir müssen nicht auf ihr soziales Umfeld oder ihre psychologische Disposition Bezug nehmen, um ihr Tun zu erklären. Eine Handlung ist in diesem Verständnis selbstbestimmt, wenn die handelnde Person ihren Vollzug aus der Vorstellung allgemeiner und universal gültiger Prinzipien ableitet.
Im aristotelisch-kantischen Denken entfaltet sich also das folgende Bild: Personen sind selbstbewusste und vernünftige Wesen, die in der Lage sind, ihr Handeln an praktisch vernünftigen und ihrem Denken selbst internen Prinzipien auszurichten. Tun sie dies, ist die von ihnen ausgeführte Bewegung eine autonome Handlung. Eine solche Handlung ist damit nicht etwas, das wir erklären, indem wir Ereignisse als Ursache und Wirkung miteinander verbinden. Eine Handlungserklärung ist vielmehr eine Erklärung, die auf der Idee der Kausalität des Denkens fußt. Indem eine Person praktische Schlüsse aus ihrem apriorischen Wissen ihrer eigenen Lebensform zieht, bestimmt sie sich selbstbewusst und denkend zum Handeln. Eine solche Handlungserklärung ist wesentlich normativ. Autonom zu handeln, bedeutet demnach, praktisch vernünftig, das heißt auf Basis von Rechtfertigungen, zu handeln. Wer so handelt, handelt ethischen Maßgaben entsprechend. Damit zeigt sich, dass der Maßstab der Autonomie und die Prinzipien der Ethik dasselbe Thema sind. Ethische Prinzipien bilden den Maßstab der Autonomie.
Das bedeutet nicht, dass zwischen grundlegender ethischer Theoriearbeit und unseren Alltagsintuitionen kein gegenseitig befruchtendes Verhältnis gedacht werden kann, wie die von John Rawls eingeführte Figur des Reflexionsgleichgewichts belegt. Vgl. Rawls (1999).
Während Descartes für gewöhnlich so gelesen wird, dass er selbst diese These vertreten habe, gibt es auch differenziertere und weniger empörende Interpretationen von Descartes’ tatsächlicher, Peter Harrison zufolge agnostischer Position zu diesem Thema. Vgl. Harrison (1992).
Vgl. Herman (1993). 27ff.
Etwas genauer ausgedrückt sind die Grundlage autonomen Handelns im kantischen Denken jene subjektiven Maximen, die mithilfe des durch den kategorischen Imperativ bereitgestellten Prüfverfahrens verallgemeinerbar sind.
O’Neill (1995), ix.