Letztens fragte mich eine Kollegin, wie es eigentlich um die feministische Philosophie in Deutschland stehe. Habe sich der Hype, den diese im Zuge der #MeToo-Bewegung erfahren hat, mittlerweile wieder erledigt oder gebe es immer noch Bedarf dafür? Fragen wie diese zeigen, wie traditionell die Philosophie in Deutschland nach wie vor aufgestellt ist. Offenbar hat sich immer noch nicht überall herumgesprochen, dass unsere allgemeinen Debatten – etwa darüber, was es überhaupt gibt, was unsere Begriffe bedeuten und wie eine gerechte Gesellschaft aussehen sollte – einseitig zu verzerren drohen, wenn sie nicht auch um eine feministische Perspektive angereichert werden, und dass wichtige Themen der Gegenwart – etwa wie strukturelle Ungerechtigkeit funktioniert oder ob die Zustimmung aller Beteiligten wirklich alles ist, was wir brauchen, um Sex moralisch erlaubt zu machen – überhaupt erst durch feministische Interventionen auf die To-do-Liste der akademischen Philosophie gekommen sind.
Carol Hays Feministisch Denken liefert den perfekten Einstieg, wenn man sich einen Überblick über die zahlreichen intellektuellen Errungenschaften der feministischen Philosophie verschaffen möchte. Denn nicht nur erhält man als Leser*in umfassend Informationen dazu, wie feministische Philosoph*innen aktuell über soziales und biologisches Geschlecht und über sexuelle Gewalt nachdenken und wie all das mit struktureller Ungerechtigkeit zusammenhängt – zudem bekommt man exemplarisch vorgeführt, dass Philosophie nicht abstrakt und trocken sein muss, sondern dicht am Leben, mitreißend und gleichzeitig analytisch klar und präzise sein kann. Damit verwirklicht Hays Buch eine der grundlegenden Einsichten feministischer Philosophie, nämlich dass die Kluft zwischen Seminarraum und Aktivismus eine künstliche ist, die intellektuellen Fortschritt eher hemmt als befördert und die wir deswegen überwinden sollten.
Und auch in anderen Hinsichten schlägt Hays Buch Brücken. So hält sie sich nicht weiter mit der Unterscheidung zwischen eher analytisch und eher kontinental geprägten feministischen Autor*innen auf, sondern zeigt, dass man unterschiedliche philosophische Traditionen fruchtbar miteinander ins Gespräch bringen kann, wenn man nur ihre thematischen Verbindungslinien offenlegt. So genannte klassische Texte (wie etwa die Überlegungen von John Stuart und Harriet Taylor Mill zur Unterdrückung von Frauen oder Simone de Beauvoirs Theorie des zweiten Geschlechts) werden genauso fruchtbar in die Argumentation eingebaut wie zeitgenössische Aufsätze von Talia Mae Bettcher, Sally Haslanger und Quill Kukla. Vor allem aber betrachtet Hay alle Phänomene, die sie ihren Leser*innen näher bringen will, auch unter intersektionaler Perspektive und vermeidet so den Fehler früher feministischer Autor*innen, ihre persönliche Lebenswirklichkeit für die einzig mögliche zu halten.
Drei wichtige Einsichten aus Hays Buch möchte ich besonders hervorheben: Zum einen zeigt Hay, dass feministisches Engagement immer trans inklusiv sein muss, weil es anderenfalls faktisch falsche und vor allem sexistisch aufgeladene Auffassungen zum Zusammenhang von biologischem und sozialem Geschlecht mitschleppt. Zum anderen betont Hay zurecht, dass es wenig produktiv ist, einzelne Personen für die sexistischen Strukturen verantwortlich zu machen, die wir tagtäglich unabsichtlich reproduzieren, wenn wir ohne groß darüber nachzudenken so handeln, wie es gesellschaftlich von uns als Frauen und Männern erwartet wird. Vor allem aber betont Hay, dass wir gemeinsam durchaus Handlungswirksamkeit entwickeln können und dass es deswegen unsere Aufgabe ist, gemeinsam und solidarisch gegen strukturelle Unterdrückung vorzugehen.
Auf die Frage meiner Kollegin würde ich daher folgendermaßen antworten: Ja, feministische Philosophie braucht es nach wie vor – und zwar insbesondere solche wie die von Carol Hay.
Christine Bratu
Professur für Philosophie mit einem Schwerpunkt in der Genderforschung, Georg-August-Universität Göttingen
Präsidentin SWIP (Society for Women in Philosophy) Germany