Es hat sich was getan!
Noch vor ein paar Jahren hatten wir uns alle mit Mitmenschen abgefunden, die die Frauen*feindlichkeit jenes Mannes*, der dereinst einmal Präsident* der Vereinigten Staaten von Amerika werden sollte, als ›Altherren-Geschwätz‹i abtaten. Die Läuterung, die wir uns von den Frauen*märschen erhofften, drohte, sich totzulaufen; sie verliefen einfach im Sande. Binnen weniger Monate verkamen Pussyhatsii und Sicherheitsnadelniii vom angesagten Must-have zum abgehalfterten Ladenhüter. Politiker*innen fuhren munter fort, Frauen* das Recht auf Sex abzusprechen, solange unser gruseliger Uncle Penceiv nicht ganz offiziell sein Einverständnis gegeben hatte, während sich Frauen* weiterhin in der hoffnungsvollen Erwartung abrackerten, dass sich die Lohnlücke bis zum Jahr 2119 irgendwie schließen würde.
Dann aber wurde es, scheinbar aus dem Nichts, geradezu unmöglich, die Anhäufung männlicher Sünden zu ignorieren. Das Fass lief über. Urplötzlich trauten sich viele von uns mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit. Die #MeToo-Bewegung war nicht mehr aufzuhalten: Von jetzt auf gleich wurde der Elefant im Raum unübersehbar, aus allen möglichen Kellern kamen Leichen hervor, schmutzige Geheimnisse hallten durch alle Gassen. Schauspielerinnen* Hollywoods schlossen sich zusammen und verkündeten, das Spiel sei aus: ›Time’s Up‹,v in ihrem Fahrwasser alle Arbeitsrechtsaktivist*innen und Organisator*innen betrieblicher Mitbestimmung, die sich mit solchem Kram schon seit Jahrzehnten herumschlagen. Gefühlt vergeht seitdem kein Tag, an dem das Tribunal der öffentlichen Meinung nicht mit einer weiteren hochkarätigen Anklage konfrontiert wird. Wir sind die Geschworenen, die angehalten sind, sich eine Meinung zu bilden – und zwar ohne dass wir die Faktenlage wirklich überblicken können und ohne dass wir, wenn wir ehrlich sind, irgendeine Ahnung von den moralischen und juristischen Theorien haben, die uns in die Lage versetzen könnten, uns auf all das einen verlässlichen Reim zu machen. Jahrhundertelang bahnte sich der Fortschritt seinen Weg im Schneckentempo, und nun entwickeln sich die Dinge urplötzlich so wahnsinnig schnell, dass kaum jemand wirklich sagen kann, was zur Hölle da gerade eigentlich abgeht.
In diesem Buch geht es darum, das Aufbegehren von Frauen* gegen sexuelle Belästigung und sexuelle Übergriffe vor einen breiteren theoretischen Hintergrund zu stellen. Es geht darum, das, womit wir Frauen* uns tagtäglich herumschlagen müssen, in einen größeren historischen und gesellschaftspolitischen Zusammenhang zu stellen, der all den Kämpfen Rechnung trägt, die Feminist*innen seit Hunderten von Jahren ausfechten.
Ich bin Philosophin von Beruf. Das bedeutet, dass meine wissenschaftlichen Arbeiten in der Regel von so ungefähr neun anderen Menschen zur Kenntnis genommen werden. Die meisten davon teilen meine intellektuellen und politischen Werte und wollen lediglich über die Details streiten. Solche wissenschaftlichen Debatten können heftig werden, keine Frage. Aber in der Regel bleiben sie sachlich: Selbst bei echten Meinungsverschiedenheiten geht es nicht unter die Gürtellinie. Leider musste ich im Laufe der Jahre erfahren, dass es nicht immer so anständig zugeht, wenn man sich mit seinen Ansichten an die Öffentlichkeit wagt. Vor einigen Jahren beispielsweise vertrat ich in einem Leitartikel die Auffassung, unsere Kultur habe schlicht deshalb ein Problem mit Frauen* in Führungspositionen, weil es so etwas bis vor recht Kurzem noch nicht gab. Ich fand das eigentlich ziemlich harmlos; was ich sagte, fasste – so dachte ich zumindest – nur für ein allgemeines Publikum jene Einsichten zusammen, zu denen die soziale und politische Philosophie in den letzten hundert Jahren durch sorgfältige Untersuchungen gelangt war. Unter anderem wies ich darauf hin, dass es für Professorinnen* nicht leicht ist, eine vernünftige Beziehung zu männlichen Studierenden aufzubauen, die sich nicht in den abgedroschenen Bildern der hingebungsvollen Mutter* oder des Sexobjekts erschöpft – beides aus pädagogischer Sicht nicht sonderlich zweckdienlich.
Als Sigmund Freud die Auffassung vertrat, man könne Frauen* als Madonnen oder Hurenvi betrachten, blieben die Drohbriefe aus. Was er zu sagen hatte, ging als objektive Darstellung der Wahrheit durch. Was ich sagte, allem Anschein nach nicht. Die Hassbriefe nahmen kein Ende: Ich sei unreif. Neurotisch. ›Ihre Kinder tun mir leid‹, hieß es. ›Ihre Studierenden tun mir leid. Ihr Ehemann* auch.‹ Die Mehrzahl der negativen Rückmeldungen, die ich auf meinen Leitartikel hin erhielt, stempelte mich als narzisstische Heulsuse ab, die einen Kampf gegen Windmühlen führt. So schlimm seien die zwanghaften Rollen doch gar nicht, die Frauen* in unserer Kultur aufgezwungen werden, hieß es, und von Unterdrückung könne ja nun wirklich keine Rede sein. ›Hab’ dich nicht so! Find’ dich damit ab!‹, schrieb jemand. ›Und wenn sich Studierende unangemessen verhalten, hau halt mal auf den Tisch! Tu, was du als Professorin zu tun hast‹.
Ähnlich gute Ratschläge wurden den Anhänger*innen der #MeToo-Bewegung zuteil. »Offenbar weiß keine junge Frau* im ganzen Land, wie man ein Taxi ruft«, witzelte Caitlin Flanagan (2018). Dave Chappelle bezeichnete die Frau*, die seinen Freund* Louis C.K.vii beschuldigte, während eines Telefonats masturbiert zu haben, als ›Weichei‹ und höhnte: »Alter, weißt du noch nicht mal, wie man das Telefon auflegt?« Katie Roiphe (2018) beklagte: »Es scheint, als diene die Frauen*bewegung zuweilen als Deckmantel für Rachegelüste, persönliche Rachefeldzüge, Büropolitik und alltägliche Enttäuschungen, als sei das, was in unseren Augen ein positiver sozialer Wandel ist, für andere ein Kampf aufs Blut. Solche feministischen Tweets sind ihren patriarchalen Rivalen zwar verbal überlegen, dem Ton nach aber immer noch deutlich Trumpistisch.« Durch das gesamte politische Spektrum hindurch vertreten Meinungsmacher*innen ähnliche Ansichten: die #MeToo-Bewegung sei unvermeidlich ins Hysterische abgeglitten; ab sofort sollten ›Vollblutmänner‹ bis zum Beweis ihrer Unschuld als schuldig gelten; wir hätten eine ganze Generation von politisch korrekten, prüden Mimöschen herangezogen, deren geziertes Gehabe sich an der Opferrolle von Frauen* ergötze und Sex ruiniere, indem es ihm all die heiße, schmutzige Zweideutigkeit nehme.
Nutzen manche Frauen* wirklich den Moment gesellschaftlicher Aufruhr aus, um überzureagieren und unschuldigen Männern* etwas anzuhängen? Natürlich. Aber deswegen mit geheuchelter Verzweiflung nach Ordnung und Gerechtigkeit zu rufen und all jenen, die auf den #MeToo-Zug aufgesprungen sind, pauschal zu unterstellen, sie erwiesen ihm einen Bärendienst, ist unfair und wenig hilfreich. Leider ist es zu einem typischen Schachzug unter Linken geworden, vermeintlich Gleichgesinnte als Außenseiter*innen und Extremist*innen, sich selbst aber als die einzigen Vernünftigen hinzustellen. (Bedauerlicherweise ist die Linke erschreckend gut darin, sich selbst zu zerfleischen.) Natürlich ist nicht jede Frau*, die zum MeToo-Hashtag gegriffen hat, perfekt – einige haben überreagiert, andere haben unabsichtlich Fehler gemacht, wieder andere sind zweitklassige Schauspielerinnen*, die egoistisch und unmoralisch versuchen, die #MeToo-Bewegung auszunutzen, um das Leben unschuldiger Männer* zu ruinieren. Das bedeutet aber nicht, dass wir uns vorwerfen lassen müssen, dass diese wenigen faulen Äpfel die Glaubwürdigkeit des gesamten Rests von uns untergraben.
Die #MeToo-Bewegung wirft einige große Fragen auf: Wie passt sich diese Bewegung in die Geschichte der feministischen Theorie und der Frauen*bewegung ein? Worum genau geht es bei der feministischen Theorie und der Frauen*bewegung? Warum ist so etwas überhaupt notwendig? Ich habe Feministisch Denken für all jene geschrieben, die mehr über das wissen möchten, was da gerade geschieht, die die Grundlagen besser verstehen wollen, auf denen die #MeToo-Bewegung und vergleichbare soziale Strömungen aufbauen.
Feministisches Gedankengut weist eine lange Tradition auf, die uns gute Dienste leisten kann. Feministisch Denken wird deutlich machen, dass der Feminismus die Vorstellung zurückweist, dass alles Fehlverhalten nur in der persönlichen Verantwortung von Einzelnen liegt. Wir werden sehen, dass der Sexismus dem Drahtgeflecht eines Vogelkäfigs ähnelt: Scheinbar kleine und unzusammenhängende Probleme können in Wirklichkeit so miteinander verwoben sein, dass sie sich gegenseitig ergänzen und verstärken. Wir werden verstehen, wieso zwischen einem ungeschickten Flirt und einer sexuellen Belästigung natürlich ein moralisch bedeutsamer Unterschied besteht. Uns wird aber auch klar werden, wieso das eine durchaus mit dem anderen zusammenhängt.
Entgegen dem klassischen Klischee, dass Feminist*innen nichts anderes als ›Männerhasserinnen‹ sind, wird im Folgenden eines der zentralen Themen die Mitschuld sein, die wir Frauen* an dem ganzen Schlamassel tragen. Ich möchte verständlich machen, warum es für Frauen* oft sehr gute Gründe gibt, mit dem Strom zu schwimmen, und warum es oft verdammt schwierig ist, dagegen anzustrampeln. Zum Teil liegt dies daran, dass es nahezu unmöglich ist, sich die Erwartungen nicht zu eigen zu machen, die die Gesellschaft bezüglich dessen hegt, was Frauen* zu wollen haben und wie wir uns verhalten sollen. Wenn wir uns jedoch unhinterfragt zu einem Teil eines Systems machen, das Menschen schadet, dann sind wir mitverantwortlich dafür, dass dieses System am Laufen gehalten wird. Ich werde dafür argumentieren, dass wir Frauen* Verantwortung dafür übernehmen sollten, dass wir uns in Rollen drängen lassen, die ein System verfestigen, das nicht nur uns selbst, sondern auch allen anderen Frauen* schadet. Ich werde allerdings auch eine gehörige Portion Nachsicht uns und anderen Frauen* gegenüber einfordern. Wir dürfen nämlich nicht vergessen, wie mächtig das System ist, mit dem wir es zu tun haben. Wir alle versuchen nur, es irgendwie bis zum nächsten Tag zu schaffen.
Feministisch Denken zeigt, warum der Feind* nicht der Mann* als solcher ist, sondern ein komplexes System sexistischer Normen, Gewohnheiten, Erwartungen und Institutionen. Vieles davon spielt sich unbewusst ab, und auch Frauen* sind nicht davor gefeit. Ich möchte die Fehler, die Feminist*innen in der Vergangenheit gemacht haben, ganz offen ansprechen – nur allzu oft sind unsere Solidaritätsaufrufe nämlich in Vorwürfe von Rassismus, Klassismus, Ableismus, Homophobie oder Transphobie abgeglitten. Ich werde mich zwar hauptsächlich auf die Ideen und die Geschichte der Frauen*bewegung konzentrieren, möchte aber auch einige praktische Ratschläge beisteuern, wie sich in dem Chaos, in dem wir uns vorfinden, etwas verändern lässt. Ich verspreche, dabei das Klischee der humorlosen feministischen Zicke zu widerlegen: Wenn ich im Folgenden einige der zentralen Einsichten der feministischen Theorie vorstelle, soll es so zugänglich, einfach, amüsant, frech und so wenig schulmeisterlich wie nur irgend möglich geschehen.
Ein bisschen Polemik muss sein. Wer behauptet, irgendein Thema abschließend behandelt zu haben, macht sich zum Narren. Das gilt insbesondere für ein so vielschichtiges und kontroverses Thema wie den Feminismus. Ich verspreche, mein Bestes zu tun, um so viele Facetten des Feminismus wie möglich zu beleuchten, und ich werde mich bemühen, mich nicht in internen Grabenkämpfen zu verzetteln. Ich werde aber nicht so tun, als wären mir einige Spielarten des Feminismus nicht lieber als andere oder als wären alle gleichermaßen gültig. Ich werde beispielsweise keinen Hehl daraus machen, dass sogenannte ›TERFs‹viii (trans*-ausschließende Radikalfeminist*innen) meiner Meinung nach keine Feminist*innen sind – wem nicht an allen Frauen* gelegen ist, verdient es nicht, als ›Feminist*in‹ bezeichnet zu werden, und trans* Frauen sind nun mal Frauen. In meinen Augen sind Entgleisungen wie Susan B. Anthonysix Bekundung, sie würde sich ›lieber den rechten Arm abhacken, statt jemals das Wahlrecht für Neger*, aber nicht für Frauen* zu fordern‹, oder Betty Friedans Versuch, eine Lavender Menacex herbeizureden, um den Feminismus gegenüber LGBTQ-Anliegen abzugrenzen, dunkle Flecken in der Geschichte der Frauen*bewegung, die nach wie vor noch nicht richtig aufgearbeitet wurden.
Ich schreibe Feministisch Denken, nachdem ich mich mehr als zwanzig Jahre mit feministischer Theorie beschäftigt habe, sowohl in der Lehre als auch in meinen Veröffentlichungen. Ich werde die wichtigsten Überlegungen vorstellen, die von Frauen* (und auch dem einen oder anderen Mann*) im Laufe der Zeit angestellt wurden, die nicht willens waren, sich mit dem Status quo abzufinden – Denker*innen, die erkannten, wie wichtig es ist zu verstehen, warum Frauen* im Grunde schon immer den Kürzeren gezogen haben, und die die eine oder andere Idee hatten, was man dagegen tun könnte. Ich habe unzählige Stunden mit der Sisyphusarbeit zugebracht, mit falschen Vorstellungen von Feminismus aufzuräumen, im Hörsaal, in den sozialen Medien und im Kreis der Familie. Inzwischen verfüge ich über einen ganzen Sack voller Tricks, mit denen man Skeptiker*innen aus dem Konzept und dazu bringen kann, sich endlich einmal anzuhören, was es mit dem Feminismus wirklich auf sich hat. Dieses Buch ist das Resultat dieses hart erarbeiteten Repertoires. Ich werde deutlich machen, warum es im Kampf gegen die Unterdrückung der Frau* mehr braucht als Hashtags, Pussyhats und privilegierte, weiße,xi reiche und gebildete Frauen* als Mitläuferinnen*, die ›sich reinhängen‹.xii Ich möchte aufzeigen, warum wir nicht darum herumkommen, uns mit der Geschichte der Frauen*bewegung auseinanderzusetzen, mit ihren Erfolgen ebenso wie mit ihren Misserfolgen. Und ich werde darlegen, wie erstaunlich vielfältig feministisches Gedankengut heutzutage im Lichte neuer Ansichten über Gender, Geschlecht und Sexualität ist.