2.1 Terminologie
Wer die bis vor wenigen Jahren noch spärliche Fachliteratur zum Thema „Antiquarianismus“ nach Anwendungen, Prägungen und Assoziationen des Begriffs durchsieht, wird einen recht uneinheitlichen Eindruck gewinnen. Innerhalb der modernen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit diesem Phänomen beschäftigen, ist es bisher nicht gelungen, eine befriedigende, allgemein akzeptierte Begriffskonzeption zu erarbeiten. Lexigraphische Unschärfen (im Deutschen im terminologisch unklaren Verhältnis zur „Altertumskunde“, im Französischen zur érudition) und semantische Negativkonnotationen (des englischen antiquary und des italienischen antiquario) stehen hier ebenso im Wege wie die im wissenschaftlichen Alltag aus unterschiedlichen Erkenntnisinteressen heraus entwickelten ad-hoc-Definitionen.1
Fasst man die verschiedenen Umschreibungen zusammen, so kristallisieren sich hinsichtlich des Gegenstands, des Interesses und der Methode drei Aspekte heraus, die für alle Epochen als verbindlich angesehen werden: Gegenstandsbezogen meint Antiquarianismus die Beschäftigung mit den antiquitates, verstanden als Summe der textlichen und materiellen Überreste vornehmlich einer ferneren Vergangenheit. Interessenbezogen bezeichnet der Begriff eine politikferne und im weiteren Sinne kulturgeschichtlich orientierte Motivation historischer Beschäftigung. Methodisch steht Antiquarianismus für eine systematisch-funktionale Beschreibungsform, die chronologisch-narrativen Darstellungen fern steht. Als Begleitphänomene werden häufig nostalgische curiositas, Selbstzweckhaftigkeit, Detailverliebtheit sowie ein mehr oder weniger differenzierter Sammeleifer attestiert.2 Bezugspunkt dieser drei Grundaspekte, deren einzelne Elemente in ihrem Verhältnis zueinander als variabel dargestellt werden, ist die Frühe Neuzeit. Wenn der Begründer der modernen Antiquarianismus-Forschung, der italienische Althistoriker Arnaldo Momigliano, sein analytisches Leitbild, den Antiquar des 16. und 17. Jahrhunderts, sowohl in die Antike als auch in die Moderne projizierte, so geschah dies zur Legitimation und Traditionsbekräftigung eines historiographiegeschichtlichen Modells (siehe oben Kap. 1.1). Darin wurden die von der Polemik der Aufklärung betroffenen Antiquare zwar von den „echten“, mit ereignisgeschichtlichen Kausalnarrativen arbeitenden Historikern abgegrenzt, zugleich aber durch ihre objektbezogene Forschung zu Vorläufern der modernen Geschichtswissenschaft aufgewertet. Am gleichen Epochenschema des frühneuzeitlichen Antiquars orientieren sich auch die in jüngerer Zeit im angelsächsischen Raum in Mode gekommenen kulturvergleichenden Ansätze, die antiquarisch-archäologische Praktiken als kulturanthropologische Universalie in Mesopotamien, Mittelamerika und dem vormodernen Europa, China und Indien einander gegenüberstellen.3 Diese Studien, die vom Archäologiehistoriker Alain Schnapp angeregt sind und sich in das allgemeine Bemühen um eine Aufwertung des „Archäologischen“ einreihen,4 konzentrieren sich auf den Aspekt der materiellen Kulturforschung und weisen den Antiquaren mit gleichem Recht einen Platz in der Geschichte der Archäologie zu, wie es Momigliano unter anderen Gesichtspunkten für die Geschichte der Historiographie getan hatte.5 Die heterogenen Bedeutungen des modernen Antiquarianismus-Begriffs erweisen sich damit einmal mehr als Ergebnis selbstreflexiver Forschungsdiskurse, in denen das „Antiquarische“ im Horizont fachspezifischer Selbstbestimmungsbestrebungen und Abgrenzungsprozesse erfasst und bestimmt wird.6
Dass die Rückprojektion einer semantischen Prägung des Renaissance-Humanismus mit seinen vielfältigen Implikationen auf den trotz starker Kontinuitätslinien stets in kreativem Fluss befindlichen griechisch-römischen Literaturbetrieb in vielerlei Hinsicht irreführend ist, wurde bereits angedeutet. Damit werden nicht nur wesentliche Unterschiede ausgeblendet, die sich im diachronen Vergleich eröffnen, sondern zugleich die hinsichtlich der beteiligten Akteure, Medien und Praktiken äußerst heterogene Strömung des frühneuzeitlichen Antiquarianismus gleichsam auf ein Rezeptionsphänomen reduziert. Eine antiken Mustern nacheifernde Konzeption antiquarischer Forschung mag zwar in humanistischen Kreisen durchaus einem publizistisch gepflegten Eigenbild entsprochen haben – so wurde Varro als Systembildner für klassische antiquarische Korpuswerke wie Biondo Flavios Roma triumphans (1473–1475), Onofrio Panvinios Antiquitatum libri (um 1560) oder John Rossfelds Romanarum antiquitatum libri (1583) in Anspruch genommen7 – , doch zeigt bereits die Heterogenität der antiken Quellen, aus denen diese Schriften ihren Stoff tatsächlich bezogen (unter anderem Pausanias, Plutarch, Strabon, Plinius der Ältere, Aulus Gellius, Macrobius, Servius und die spätrömisch-byzantinische Lexikographie),8 dass die terminologische Übertragung des Begriffs des Antiquarianismus auf die Antike mehr verdeckt als erhellt. Zudem ist fraglich, inwieweit sich das breite Feld der frühneuzeitlichen „Antiquare“ – abgesehen von den genannten Vertretern einer sich ostentativ in die Tradition von Varros Antiquitates stellenden antiquarischen Gesamtschau – in der Nachfolge antiker Vorbilder sah.
Trotz der geschilderten terminologischen Unwägbarkeiten erweist sich die Anwendung des frühneuzeitlichen Antiquarianismus-Begriffs auf scheinbar analoge Phänomene der griechisch-römischen Antike als alternativlos. Dazu sind einige begriffsgeschichtliche Vorbemerkungen notwendig: In der griechisch-römischen Antike gab es weder für das Abstraktum „Antiquarianismus“ noch für die personale Sammelbezeichnung „Antiquar“ ein semantisches Äquivalent. Die Nominalableitung antiquarius ist erstmals in den ersten beiden Jahrzehnten des zweiten Jahrhunderts n. Chr. fassbar, als sich die Modeströmung des Archaismus zu formieren begann. Sie bezeichnet eine Person, die sich als Kenner und Liebhaber der antiken Sprache und Literatur hervortut.9 Im vierten Jahrhundert erscheint der Begriff dann ausschließlich in der Bedeutung eines Kopisten (librarius), der die althergebrachte Buchkapitalis beherrschte (
Das frühneuzeitliche Verständnis der „Altertumskunde“ (antiquaria disciplina) war der Antike ebenso unbekannt wie die moderne disziplinäre Differenzierung zwischen der Alten Geschichte und der Klassischen Philologie. Kenner des Altertums unterschiedlicher Art (Grammatiker, Juristen, Redner oder Literaten) haben Griechen wie Römer unter allgemeinen Begriffen wie
Wenn in der vorliegenden Studie trotz der skizzierten Problematik an dem für Anachronismen anfälligen Begriff des „Antiquarianismus“ festgehalten wird, so hat dies in erster Linie pragmatische Gründe. Zum einen ist der Begriff durch eine lange wissenschaftliche Tradition fest etabliert, sodass eine Neubildung bestehende Forschungszusammenhänge und wissenschaftshistorische Traditionslinien durchtrennen würde, ohne dass damit viel gewonnen wäre. Andererseits bieten Alternativen wie „Altertumskunde“ oder „Kulturarchäologie“ nicht nur keinen lexikographischen Mehrwert, sondern sind ebenso modern oder anderweitig konnotiert wie der Begriff, den sie zu ersetzen versuchen. Aber auch mit einem radikalen Verzicht auf den Begriff und einer Subsummierung des Phänomens unter das Dach der Geschichtswissenschaft, wie jüngst vorgeschlagen wurde,15 ist nicht viel gewonnen. Damit wird lediglich die Diskursebene auf den Stand von Felix Jacoby zurückversetzt (siehe oben S. 15 f.), die kategorialen Probleme bleiben jedoch bestehen. Es ist daher angebracht, den Antiquarianismus-Begriff beizubehalten, ihn aber so zu fassen, dass er der Besonderheit der griechisch-römischen Kulturepoche methodisch und heuristisch gerecht wird. Ein analoges Beispiel bietet der in der Altertumswissenschaft häufig verwendete Begriff der „Enzyklopädie“, dessen Gattungsprägung im Sinne eines universalen Überblicks über das gesamte menschliche Wissen erst im späten 17. Jahrhundert erfolgte. Jason König und Greg Woolf haben jüngst gezeigt, wie sich das Phänomen des „Enzyklopädismus“ (encyclopaedism) durch eine offene, auf bestimmte Schreib- und Inszenierungstechniken fokussierte Definition für die Antike fruchtbar machen lässt: „we think in terms of an encyclopaedic spectrum, with different texts drawing on shared encyclopaedic markers to different degrees and for very different purposes.“16
Ein anwendungsorientierter literaturwissenschaftlicher Antiquarianismus-Begriff muss drei Anforderungen erfüllen: (1) Er muss transingent sein, das heißt gattungsübergreifend und durchlässig gegenüber den verwendeten Darstellungsformen; (2) er muss dynamisch sein, das heißt chronologische Entwicklungen berücksichtigen können; (3) er muss inklusiv sein, das heißt ein generisch divergentes Textkorpus abdecken können. An diesen theoretischen Grundvoraussetzungen orientiert sich die folgende Konzeption des antiken Antiquarianismus.
2.2 Das antiquarische Modell: Eine konzeptionelle Grundlegung
et certe cuiusque rei potissima pars principium est.
und gewiss ist der Anfang jeder Sache ihr vorzüglichster Teil
Gaius, Ad legem XII tabularum 1 (Dig. 1.2.1)
Auf der Grundlage der skizzierten Problemfelder wird als Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung „Antiquarianismus“ als Denkmodell einer gegenwartsbezogenen Vergangenheitsbefassung konzipiert, deren Praktiken, Medien und Akteure in ihren variablen zeitgebundenen Kontexten zu untersuchen sind. Die Unzulänglichkeit eines gattungsbezogenen Ansatzes wird durch die Vorstellung eines antiquarischen Spektrums ersetzt, das eine Vielzahl variabler Textformen umfasst, die in unterschiedlichem Ausmaß und mit unterschiedlichen Zielsetzungen eine Reihe klar definierter antiquarischer Praktiken umsetzen.17
2.2.1 Praktiken
2.2.1.1 Das epistemologische Spektrum: Ursprung und Herkunft des Gegenwärtigen
Antiquarianismus fragt nach den historischen Kausalitäten der gegenwärtigen Lebenswelt.18 Diese Fragestellung ist für das antike Wissensverständnis grundlegend. So ist die Erkenntnis der Ursachen einer bestimmten Sache (
Ausgangspunkt der Betrachtung sind stets die in die erlebbare Lebenswelt hineinragenden „Relikte“ der Vergangenheit, also im weiteren Sinne die komplexe Matrix der materiellen und immateriellen historischen Hinterlassenschaften.21 Als gegenwartsorientierte Herkunfts- und Ursprungsforschung ist der antiquarische Zugang zur Vergangenheit prinzipiell punktuell und episodisch; in seiner Funktion ist er erklärend: Gefragt wird nach den begründenden Prozessen und ursprünglichen Handlungsmotivationen, das heißt nach den genetisch-genealogischen Grundlagen des in die Gegenwart hineinragenden Vergangenen, weniger nach den Triebkräften, Ereignisfolgen oder dem Kontinuum komplexer (oder als bedeutsam erachteter) historischer Ereigniszusammenhänge.22 Gründungen sind exzeptionelle Ereignisse, doch können gegenstandsbezogene Narrative sie gleichwohl zu einer Reihe verweben: Ovids Geschichte des römischen Tieropfers in fast. 1.349–456 gestaltet sich als Kette mythologischer
Derselbe Zugang zur Vergangenheit bestimmt die Fragestellung der historischen Geographie eines Strabon, der sich nicht für die kontinuierliche Geschichte der einzelnen Orte im Sinne einer sukzessiv-evolutionären Abfolge von Ereignissen interessierte, sondern nur für die entscheidenden Momente, die für die gegenwärtige Identität eines Ortes bedeutsam waren.24 Antiquarisch ist in diesem Sinne auch der Vergangenheitsbezug der „naturkundlichen“ Metamorphosen Ovids, etwa der Aitiologie von der Entstehung der Korallen (Met. 4.740–752) oder der Inselgruppe der Echinaden (Met. 8.577–610).25 Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Weder die obsolete Funktionalität noch die wahrnehmbare „Altertümlichkeit“ eines Objektes sind entscheidend; prinzipiell kann das gesamte Spektrum der wahrnehmbaren Welt befragt werden (siehe unten S. 68–70).
Dieser Zugangsweise liegt eine Erwartungshaltung zugrunde, die eine eigene Erfahrungsform von Geschichtlichkeit erzeugt. Im Diskurs über die Vergangenheit liefert die antiquarische Fragestellung eine Deutung und Erklärung der kulturellen, das heißt: der sozialen, ökonomischen und geistigen Hervorbringungen und Entdeckungen, sowie der Naturphänomene, die den Menschen umgeben. Die Aufgabe besteht darin, jene konstitutiven Gründungsakte und Transformationsmomente zu erklären, die Wesen und Form des Gegenwärtigen und Wirklichen offenbaren und damit letztlich erst verständlich machen.26
Die antiquarische Fragestellung ist a priori neutral, ihre medienspezifischen Realisierungen sind es nicht (siehe unten Kap. 2.2.2.). Diese Unterscheidung ist entscheidend: sie löst das aufgeworfene Problem der Diskursabhängigkeit antiquarischer Texte. Innerhalb der römischen Geschichts- und Erinnerungskultur konnten politische Erwägungen antiquarische Forschungen auslösen oder beeinflussen, konnte die Suche nach handlungsleitender Exemplarität oder die Konstitution und literarische Verstetigung identitätsstiftender Memoria die Narrative bestimmen und verändern. Ursprungslegenden, Erfinder und Stammväter sind in ihrem Bestand kontingente Größen, die je nach Wirkungskontext, in dem sie kommuniziert wurden, politisch oder ideell unterschiedlich aktualisierbar waren.27 Ein Beispiel: Bei der etymologisch-aitiologischen Rückführung des römischen Circus auf Kirke nennt Tertullian (spect. 8.2) sie aus polemischen Gründen eine Zauberin (venefica), während Iohannes Lydos (mens. I.12 Wünsch) sie vierhundert Jahre später als verführerisch schöne Frau beschreibt, um die mythisch-sakrale Überhöhung der Institution im christlichen Konstantinopel nicht zu gefährden.28
Auch die Periodisierung der Anfangsmomente ist immer kontextgebunden; sie ist historisch variabel und bedarf nicht unbedingt einer exakten Datierung (apud veteres [„bei den Alten“], antiqui Romani [„die alten Römer“],
Grundlegend für den Antiquarianismus ist eine Distanzerfahrung und damit das Postulat einer Übergangsphase, die die lebendig erlebte Gegenwart vom begründenden „Altertum“ (antiquitas) durch eine (meist empirisch erfahrbare) Zäsur trennt. Viel wichtiger als die Dimension der trennenden Zeit ist für die antiquarische Fragestellung jedoch die Qualität der Verbindungslinien zwischen dieser Vorzeit und der Gegenwart. Die Paradoxie dieses Denkens ist in der „Brückenfunktion“ des aitiologischen Kausalitätsprinzips angelegt: Die imaginierte Präsenz der Vergangenheit ist zugleich Voraussetzung und Ergebnis ihrer kausalen Rückbindung an die erfahrbare Wirklichkeit. Dies wird zum Beispiel in genealogischen Zusammenhängen sichtbar, wenn erbcharismatische Eigenschaften und Fähigkeiten des Stammvaters auf gegenwärtige Persönlichkeiten einwirken. Topisch ist die aristokratische
Die Historisierung der menschlichen Lebenswelt rückt die historische Textur jener Felder in den Mittelpunkt, die in ihrer Gesamtheit das ausmachen, was (heute) als „Kultur“ verstanden wird, und zwar in ihren materiellen und immateriellen Manifestationen, das heißt in Bräuchen, Kulten, Institutionen, Bauwerken, Technologien usw. sowie in den zugehörigen Zeichensystemen „Sprache“, „Religion“, „Recht“ usw.32 Oder kulturwissenschaftlich formuliert: Die Ursprungsmatrix ist Ergebnis und Abbild des Selbsthistorisierungsprozesses der kodifizierten Vergesellschaftungsformen, also jener Marker, die Sozialität ausbilden und Gemeinschaft als solche konstituieren (Wehrgemeinschaft, Essgemeinschaft, Rechtsgemeinschaft, Kultgemeinschaft usw.). Von ihrer Funktion her können antiquarische Gründungs- und Erinnerungskonstruktionen vor dem Hintergrund schleichender Veränderungen den Eindruck von Dauer und Stabilität vermitteln, was identitätsstiftend wirkt. Umgekehrt kann die perspektivische Verengung der Zeitebenen auf Urgeschichte und Gegenwart in Krisenzeiten eine (gesellschaftskritische) Distanz zur eigenen Zeit und Kultur erzeugen und in einem weiteren Schritt zu einer erhöhten Sensibilität für kulturellen Wandel und sich verändernde soziale Normen und damit letztlich zu einem Bewusstsein historischer Kontingenz führen.33 Dabei ist es gerade das am Detail orientierte Interesse an der historischen Lebenspraxis in den vielen Bereichen des „Alltags“, das den inhärenten Vergangenheitsbezug vor allem in seinen aktuellen Abweichungen sichtbar macht. So werden auch Wunder und Kuriositäten als Teilbereiche einer versunkenen Lebenswelt meist in einer fernen und damit fremden Vergangenheit verortet. Die zusammenschauende Reflexion über ästhetisch-kulturelle Symbolbildungen, materielle Lebenswelten und Sozialorganisationen fördert darüber hinaus auch Überlegungen hinsichtlich der Lebensqualität und Zukunftsfähigkeit bestimmter Lebensweisen. Überschneidungen mit kulturgeschichtlichen und ethnographischen Fragestellungen und Argumentationen sind gegeben und ermöglichen die monographische Erweiterung zur kulturanthropologischen Welterforschung im Sinne von Herodots
2.2.1.2 Die Archäologie der Zeichen
Heuristischer Orientierungs- und Leitpunkt der antiquarischen Vergangenheitsforschung ist die „Spur“. Die gründende Vorzeit hat in der Gegenwart zeichenhafte Abdrücke oder Relikte (
Der Begriff des Relikts ist daher möglichst weit zu fassen: Er umfasst nicht nur erklärungsbedürftige Denkmäler, Artefakte und Sprachzeugnisse, die obsolet wurden und mitunter dem kulturellen Gedächtnis entfallen sind, aber per se eine Erinnerungsfunktion besaßen, sondern grundsätzlich alles, was aus der „schöpferischen“ Vergangenheit überliefert ist, auch wenn es sich in neuerer Form darstellt. Ein Beispiel: Nach einer in der Antike weit verbreiteten Erklärung war die Straße von Messina das Relikt einer prähistorischen Flut, die Sizilien vom italischen Festland trennte. Aus diesem Grund habe der Name dieser Küstenlinie Rhegion gelautete (von
Die meisten Bereiche der Gegenwart besitzen einen historischen „Zeitindex“.42 Offensichtlich ist er in den baulichen Denkmälern der Vergangenheit. Diese wären ohne erklärende Inschriften oder mündliche Überlieferungen und, wenn diese fehlen, ohne gelehrte antiquarische Erklärungen nicht verständlich.43 Abgesehen von den in der Geschichtskultur verankerten Memorialdenkmälern tritt dieser Zeitindex in der Regel erst durch die antiquarische Fragestellung in Erscheinung. Auf der Ebene der Dingwelt bedeutet dies, dass auch topographischen Phänomenen wie zum Beispiel Bergen oder (Agrar-)Landschaften sowie architektonischen Entitäten mit einer spezifischen Gegenwartsfunktion wie zum Beispiel Städten, Mauern, Dämmen oder Häfen Spuren der Vergangenheit zeichenhaft eingeschrieben sind. Der Reliktcharakter eines Gegenstandes hängt also nicht zwangsläufig von seiner erkennbaren Altertümlichkeit oder obsolet gewordenen Funktionalität ab – dies ist vielmehr der Sonderfall. Im Bereich des Geistigen bedeutet dies, dass auch einer Erfindung, einer Idee, einer Vorstellung oder einer Lehre Reliktcharakter zugesprochen werden kann, sofern ihre Ursprünge in der Vergangenheit liegen.
Der historisierende Rückbezug hat für die Gegenwart je nach Kontext legitimierende, autoritative, kontrastierende oder andere Funktionen. So gibt beispielsweise die Kenntnis des Urhebers einer Erfindung Aufschluss über deren zeitgenössische Bedeutung: Wenn der athenische Sophist Kritias den daktylischen Hexameter auf Orpheus zurückführt, wird die in seiner Zeit empfundene Erhabenheit des Metrums im mythischen Ursprung aufgehoben.44 Aus ähnlichen epideiktischen Gründen begannen Schriften, die ihre Leser in intellektuelle, künstlerische oder technische Disziplinen einführen wollten, wie etwa Lukians Traktat über die Tanzkunst, mit einem historischen Exkurs über die mythischen Ursprünge ihrer ars.45
Der bevorzugte Vorgehensmodus der antiquarischen Zeichendeutung im Dienst der rational-spekulativen Rekonstruktion von „Schöpfungsakten“ war der des Indizienrückschlusses.46 Die Denkfiguren der Aitiologie, Etymologie und Genealogie lieferten dafür die epistemische Technik (siehe unten S. 72–80), während die Praxis in der Regel durch eine pragmatische Kombination von Real- und Sprachanalyse bestimmt war und das gelehrte Quellenstudium durch Autopsie ergänzte. Ein Beispiel: Bei der etymologischen Deutung des rätselhaften Festes der Poplifugia (5. Juli), verwies Varro auf die im Kult (in sacris) noch sichtbaren Spuren des Ursprungs – ein in den Antiquitates (und in anderen antiquarischen Fachschriften) übliches Verfahren der Beweisführung.47 Auch Verrius Flaccus gab im Hinblick auf die sacrificia publica der Etymologie von refriva (sc. faba; „die (zum Opfer) zurückgetragene Bohne“) des L. Cincius den Vorzug vor der des Aelius Gallus.48 Die Relikte der Alltagswelt wurden als Quellen ebenso herangezogen wie die Produkte der kollektiven Memoria (Votivgaben, Denkmäler, Mythen, Kulte) sowie – als deren immanenter Teilbereich – die Produkte der schriftlich fixierten Historie im weiteren Sinne: Konsularlisten, Kalender, Ehreninschriften, Dichtung, Historiographie.49 Einige beliebige Beispiele: Die Verifizierung der Etymologie meridies > medius dies fand Varro auf einem alten Solarium in Praeneste.50 Dem öffentlichkeitsrechtlichen Begriff inlicium („Einberufung des Volkes“) spürte er in den Amtsaufzeichnungen der Censoren (censoriae tabulae) und der Konsuln (commentarii consulares) sowie in einem alten Strafantragsformular (vetus commentarius anquisitionis) nach (ling. 6.86–92). Bei seiner Erörterung der kulturellen Errungenschaft der Wolle verwies er auf die im Tempel des Sancus aufbewahrten Rocken und Spindel der Tanaquil sowie auf die im Tempel der Fortuna erhaltene von ihr gefertigte Toga, die Servius Tullius getragen haben soll (Plin. nat. 8.194 = De vita populi Romani frg. 16 Riposati).51 Nach römischer Auffassung war es über die materiellen Hinterlassenschaften hinaus auch möglich, anhand der schriftlichen Überlieferung bis in die fundierende Königszeit zurückzugehen. So hatten die Könige nach gängiger Meinung sowohl im staatsrechtlichen wie im pontifikalrechtlichen Bereich Aufzeichnungen hinterlassen.52 Die Überreste der Vergangenheit waren aber nicht nur Quellen antiquarischer Forschung, sondern oft auch deren Auslöser, wie die zahlreichen lokalaitiologischen Ausführungen der griechisch-römischen Periegesen-Literatur zeigen.53
2.2.1.3 Verfahrensweisen: Aitiologie, Etymologie und Genealogie
Die Denkfigur der Aitiologie, das heißt der narrativen Erschließung der die Phänomene der Gegenwart bedingenden causae, ist für die antiquarische Fragestellung grundlegend.54 Nirgends tritt das dem antiquarischen Modell zugrunde liegende Prinzip der historisierenden Vergegenwärtigung ursprünglicher Zustände so deutlich hervor wie in der aitiologischen Phraseologie „auch heute noch“ (
Man könnte also versucht sein, den Begriff der Aitiologie, zumindest so, wie ihn die jüngere altertumswissenschaftliche Erzählforschung zu fassen gewillt ist, nämlich als Ursachenergründung verwurzelt im „Grundbedürfnis des Menschen nach Erklären, Organisieren, Bewältigen der ihn umgebenden Welt, besonders seiner Kleinwelt“,56 synonymisch für das Phänomen des Antiquarianismus in Anspruch zu nehmen.57 Wenn in dieser Studie stattdessen das Modell der Aitiologie als eine spezifische Anwendungsform antiquarischer Zeichendeutung vorgestellt und ihr als gleichberechtigte Denkfiguren die Etymologie und die Genealogie zur Seite gestellt werden, so bedarf dies einer näheren Begründung. Alle drei Praktiken, das aitiologische Erzählen, das etymologische Herleiten und das genealogische Ableiten, sind analoge Modelle einer historisierenden Deutung und Erklärung der Gegenwart. Die Spezialforschung neigt jedoch dazu, ihre jeweilige Fragestellung zu verabsolutieren. So ist in der literaturwissenschaftlichen Aitiologie-Forschung die Tendenz zu beobachten, die Etymologie als Technik der Aitiologie zu vereinnahmen und sie funktional in eine Reihe neben die mythologische, poetische, historische oder religiöse Aitiologie zu stellen.58 Tatsächlich ist die Grenze zwischen den beiden Verfahrensweisen nicht überall klar zu ziehen. Die (antike) Etymologie bezieht ihre Evidenz aus der Ähnlichkeit der in Beziehung gesetzten Wörter, die Aitiologie aus der Ähnlichkeit der in Beziehung gesetzten (Handlungs-)Muster. In der antiken Praxis ging beides vielfach zusammen: Auf der Suche nach der Benennungsursache schließen sich aitiologische Geschichten oft einer Etymologie an, so regelmäßig bei eponymen Eigen- und Ortsnamen, seltener auch bei Sachnamen wie etwa in Ovids Geschichte der Myrrha (Met. 10.499–502). Augusteische Dichter wie Vergil, Properz und Ovid zeigen in der Nachfolge ihrer alexandrinischen Vorbilder eine klare Tendenz zur Verbindung von Etymologie und Aitiologie, wobei erstere letzterer meist untergeordnet ist.59 Auf der anderen Seite ist aber nicht jede Etymologie an ein historisches Aition geknüpft. Sie ist gleichsam „zeitlos“, wenn Homer (Od. 19.518–519) die Nachtigall (
Die Beispiele zeigen, dass die Verengung der Etymologie auf den Phänotyp der „etymologischen Aitiologie“ auch im Kontext historischer Narrative nicht aufrechtzuerhalten ist. Die Beschränkung der antiquarischen Praktiken auf die Aitiologie verkennt denn auch den fundamentalen Wert, den die Etymologie als epistemisches Verfahren in der Antike besaß.67 Die Behauptung, die antiquarische Literatur sei „eine wissensvermittelnde Literatur ohne faktischen Objektbezug“,68 ist eine Folge dieser Verabsolutierung der Aitiologie. Dass in der Antike dem Wissenschaftsbereich der Etymologie (vgl. Varro ling. 5.2: de disciplina … quam vocant
Continet autem [sc. etymologia] in se multam eruditionem, sive ex Graecis orta tractemus, quae sunt plurima praecipueque Aeolica ratione, cui est sermo noster simillimus, declinata, sive ex historiarum veterum notitia nomina hominum locorum gentium urbium requiramus: unde Bruti, publicolae, Pythici? cur Latium, Italia, Beneventum? quae Capitolium et collem Quirinalem et Argiletum appellandi ratio?
Die Etymologie enthält viel gelehrtes Wissen, ob wir nun aus dem Griechischen stammende Wörter behandeln, die zahlreich und besonders aus dem Äolischen abgeleitet sind, das unserer Sprache am ähnlichsten ist, oder ob wir aus der Kenntnis der Geschichte früherer Zeiten nach den Namen von Menschen, Orten, Völkern und Städten forschen: Woher etwa die Bruti, Publicolae, Pythici stammen. Warum es Latium, Italien, Benevent heißt. Was der Grund für die Benennung des Capitols, des Quirinals und des Argiletum ist.
Quint. inst. 1.6.31
Die spezifische Fragestellung der Etymologie (unde, cur, quae ratio appellandi)70 konnte sich dabei den unterschiedlichen Bedürfnissen des Fragenden anpassen und wahlweise zur Beantwortung erkenntnistheoretischer, ethischer, historiographischer, grammatischer oder anderer Fragestellungen dienen. Die in der Praxis angewandte Suche nach der „Sachrichtigkeit“ (
‚Telum‘ volgo quidem id appellatur, quod ab arcu mittitur; sed non minus omne significatur, quod mittitur manu; ita sequitur, ut et lapis et lignum et ferrum hoc nomine contineatur: dictumque ab eo, quod in longinquum mittitur, Graeca voce figuratum
ἀπὸ τοῦ τηλοῦ . Et hanc significationem invenire possumus et in Graeco nomine: nam quod nos telum appellamus, illiβέλος appellantἀπὸ τοῦ βάλλεσθαι . Admonet nos Xenophon, nam ita scribit:καὶ τὰ βέλη ὁμόσε ἐφέρετο ,λόγχαι τοξεύματα σφενδόναι ,πλεῖστοι δὲ καὶ λίθοι . Et id, quod ab arcu mittitur, apud Graecos quidem proprio nomineτόξευμα vocatur, apud nos autem communi nomine telum appellatur.Telum [„Wurfgeschoss“] wird allgemein das genannt, was mit einem Bogen abgeschossen wird, aber auch alles, was von Hand geworfen wird. Daraus folgt, dass der Begriff auch einen Stein, einen Speer und ein Wurfeisen umfasst. Und es ist danach benannt, weil es in die Ferne geworfen wird, griechisch
Gaius, Ad legem XII tabularum 1 = Dig. 50.16.233(2))ἀπὸ τοῦ τηλοῦ . Und diese Bedeutung können wir auch im griechischen Wort finden, denn, was wir telum nennen, heißt im Griechischenβέλος [„Wurfgeschoss“], nämlichἀπὸ τοῦ βάλλεσθαι [„von geworfen werden“]. Darauf weist uns Xenophon hin, wenn er schreibt [Anabasis 5.2.14]: „und zusammen flogen die Geschosse: Speere, Pfeile und sehr viele geschleuderte Steine.“ Und das, was vom Bogen abgeschossen wird, heißt in griechischer Bezeichnungτόξευμα [„Pfeil“], bei uns allgemein telum.
Ausgehend von der Rechtsbedingung si se telo defendit72 wird die etablierte, enge Bedeutung von telum (sc. quod ab arcu mittitur) abgelehnt, um mithilfe einer gelehrten Etymologie eine breitere Deutung des Begriffs zu vertreten: dictum ab eo, quod in longinquum mittitur. Die klanglautliche Nähe des poetischen Ausdrucks
Die Arbeit des antiken Etymologen war schwierig und undankbar. Varros Apologien in den Vorreden zu den Büchern von De lingua Latina legen davon beredtes Zeugnis ab: Um zur voluntas impositoris, zum ursprünglichen Sinn der Benennung eines Wortes zu gelangen (7.1), müsse man „ausgraben, was die Zeit verdeckte“ (6.2). Um diachrone Veränderungen rückgängig zu machen, müssten Buchstaben hinzugefügt oder beseitig werden (5.3), „denn viele Wörter sind durch vertauschte Buchstaben entstellt“ (multa enim verba litteris commutatis sunt interpolata). Trotz dieser Techniken bleibe dem Etymologen vieles verborgen und nicht alle Wörter könnten auf ihr
Trotz aller Schwierigkeiten durfte die Tätigkeit des Wiederentdeckens nicht zu sehr in die Beliebigkeit abgleiten. So wurde die Einhaltung eines gewissen wissenschaftlichen Standards innerhalb der römischen Bildungsgemeinschaft gleichwohl gefordert, wie etwa die Kritik des Festus an einer Ableitung des Verrius Flaccus zeigt:
Orcum quem dicimus, ait Verrius ab antiquis dictum Urgum (codd. Uragum), quod et U litterae sonum per O efferebant et per C litterae formam nihilominus G usurpabant. Sed nihil adfert exemplorum, ut ita esse credamus: nisi quod is deus nos maxime urgeat.
Was wir den „Orcus“ nennen, nannten nach Verrius die Alten „Urgus“; denn sie verwendeten den Buchstaben U für das O und den Buchstaben C auch für G. Doch er führt keine Beispiele an, damit wir dem Glauben schenken, außer dass dieser Gott [Pluto] uns mächtig bedrängt [urgeat].
Fest. p. 222, 6–11 Lindsay
Um die vermutete Verbindung zwischen Orcus und urgere herzustellen, postulierte Verrius also offenbar die Urform *Urgus, gestützt auf seine Erfahrungen mit archaischen Inschriften, die altes O für U und das Graphem C für das Phonem G aufwiesen. Wie Festus’ Reaktion deutlich macht, waren bei solchen spekulativen Rekonstruktionen die Grenzen der Glaubwürdigkeit ohne weitere dokumentarische Belege aber schnell erreicht.75
Ein der Aitiologie und der Etymologie analoges Verfahren antiquarischer Gegenwartsdeutung liegt der Genealogie zugrunde, das heißt der Frage nach der Herkunft und Abstammung von Individuen (Menschen, Heroen oder Göttern), Geschlechtern und Volksstämmen. Die primäre Funktion der genealogischen Denkfigur liegt in der historisierenden Rückbindung kontingenter sozialer Wirklichkeiten, die durch die Suggestion von historischer Kontinuität und Stabilität legitimiert und verstetigt werden. Das spezifisch Antiquarische an dieser – oft mythisierenden – Selbsthistorisierung ist nicht die sinnstiftende Verkettung erinnerter Generationen, sondern die Imagination eines ursprünglichen, das heißt in der Regel auf einen spezifischen Ahnherrn oder Schöpfer zurückführbaren transitorischen Charismas, das sich, wie im oben zitierten Beispiel Kaiser Zenons (S. 67) oder im Falle „der sittenstrengen Cureten“ (siehe unten S. 211 f.), in den Angehörigen des Geschlechts oder des jeweiligen Volkes manifestiert.76 Der antike Gedanke einer dadurch begründeten Zusammengehörigkeit in Heil und Unheil äußerte sich im tragischen „Geschlechterfluch“ ebenso wie in philosophischen Reflexionen und strafrechtlichen Überlegungen.77 Genealogische Forschungen haben in der Späten Republik angesichts der meritokratisch orientierten Nobilität Roms eine reiche antiquarische Spezialliteratur hervorgebracht (siehe unten S. 326–348), stellen aber auch in der Kaiserzeit und Spätantike eine zentrale Form der individuellen und kollektiven Beschäftigung mit der Vergangenheit dar (siehe unten S. 437 f.). Genealogisches Denken äußert sich aber auch in der Verkettung begründender Aneignungsakte, etwa in einer als schrittweisen Prozess vorgestellten kulturgeschichtlichen Weitergabe spezifischer Sitten und Bräuche – ein Vorgang, der in Varros De gente populi Romani geradezu stammbaumartig gedacht und nachvollzogen wird, um das römische Volk genealogisch innerhalb einer universal-kollektiven „Völkerfamilie“ zu positionieren.78
Der durch die beschriebenen Operationen geschaffene antiquarische Wissensraum enthielt zunächst ein mehr oder weniger ausdifferenziertes Set von Daten und Informationen. Diese wurden in dem Moment zu antiquarischem Vergangenheitswissen, in dem sie in bestimmten Verwendungszusammenhängen medial kodiert und sozial validiert und damit als sinnstiftendes „Funktionswissen“ aktualisiert wurden.79 Derselben Mediatisierung und Validierung unterliegen auch die hermeneutischen Praktiken, das heißt die eigentliche Interpretationsarbeit, das „Erklären“ und „Kommunizieren“, durch die die generierten Daten und Informationen mit Sinn gefüllt und damit überhaupt erst als Wissen operationalisiert werden. Das beschriebene antiquarische Modell, verstanden als abstrakte Handlungsform, ist also begrifflich scharf von den Ergebnissen, das heißt den an bestimmte kommunikative Kontexte gebundenen textuellen Manifestationen zu trennen. Diese Konzeption entspricht einem kulturanalytischen Verfahren, das Wissensbestände mit den Formen ihrer Repräsentation korreliert und damit die Pluralität von Wissensformen in ihren Darstellungs- und Vermittlungsformaten in den Blick nimmt.80
2.2.2 Medien
Unter dem vielschichtigen Begriff der „Medien“ werden hier alle Formen der Kodifizierung im Sinne einer verschriftlichten, sprachlichen Manifestation der beschriebenen antiquarischen Praktiken zusammengefasst.81 Antiquarianismus ist nicht textsortengebunden: Er stellt sich medial in der Regel als Funktionswissen dar, das in zeitlich und kontextuell variablen Verwendungszusammenhängen generiert wird. Alle Rückschlüsse auf Erkenntnisinteressen, Handlungsintentionen und Zielfunktionen antiquarischer Tätigkeit, aber auch Fragen der Ordnung, Strukturierung, Darstellungsform und Vermittlung des produzierten Vergangenheitswissens sind nur in Bezug auf das jeweilige Speicher- beziehungsweise Trägermedium möglich. Diesem medienanalytischen Ansatz liegt die banale Erkenntnis zugrunde, dass „Wissen“ durch die Logik der speichernden, transportierenden oder darstellenden Medien (mit)geformt wird.82
Medienformate und ihre spezifischen Darstellungskonventionen fungieren gleichsam als Filter, die bestimmte Wissensbestände selektieren, verändern und mit anderen Wissensbeständen verknüpfen.83 Diese methodisch bedeutsame Feststellung legt die Grundlage dafür, Antiquarianismus als eigenständiges Diskursfeld zu konstituieren. Sie öffnet zum einen den Blick für die Vielfalt der unterschiedlichen medialen Aktualisierungen und zeitgebundenen Verwendungen antiquarischer Praktiken und hilft damit, das Phänomen aus der engen Umklammerung durch die moderne Historiographiegeschichte und dem Bannkreis der Cultural Memory zu lösen, ohne dadurch bestehende Verbindungen unnötig zu zertrennen. Zum anderen wird dadurch auch der immanente Erzähl- und Konstruktionscharakter (im Sinne von Hayden White) des vorliegenden Phänomens ins Zentrum gerückt: Es gibt keine Erfindungen und Gründungen, sondern nur Erzählungen von Erfindungen und Gründungen, nur Konstruktionen von den Ursprüngen von Wörtern, Völkern und Bräuchen. Diesem Wissen ist also schon im Moment seiner medialen Konstitution ein kontingenter Charakter eingeschrieben. Dass dies entscheidende Konsequenzen für die Rezeption hat, wurde am Beispiel des Spektrums der Lektüremöglichkeiten von Ovids Fasti aufgezeigt (siehe oben Kap. 1.2.).
Für die Struktur und den Argumentationsgang der vorliegenden Studie ist die pragmatische Unterscheidung zwischen der Monographisierung der antiquarischen Fragestellung und ihrer Realisierung in beliebigen literarischen Kontexten entscheidend. Entgegen der forschungsgeschichtlichen Privilegierung der antiquarischen Fachliteratur kann sich Antiquarianismus im hier definierten Sinne prinzipiell in allen literarischen Gattungen manifestieren. In monographischer Form manifestiert er sich vorzugsweise in den literarischen Formaten, in denen das Wissen fachwissenschaftlicher Praktiken erschlossen, vermittelt und gespeichert wird, vor allem in der Form des Fachtraktats, des Kommentars, des Katalogs und des Lexikons (siehe unten Kap. 4.1.). Die jeweiligen Medienformate bewegen sich in den ihnen zugehörigen Diskurs- und Denksystemen. Diesen entsprechen wiederum situativ unterschiedliche Nutzungskontexte und -anwendungen, in denen antiquarische Daten verarbeitet und in spezifisches kontextgebundenes Funktionswissen transformiert wurden.84 Antiquarisches Wissen ist in der Antike zwar häufig dekontextualisiert (z. B. in Enzyklopädien, Lexika und Sammelwerken), aber selten kontextlos, das heißt nicht situativ an einen bestimmten historischen Personenkreis, Ort oder Zeitpunkt gebunden. Die mediale Semantisierung antiquarischer Daten und Informationen und die damit verbundene Strukturierung und Repräsentation des generierten Vergangenheitswissens unterscheidet sich also nicht nur von Medienformat zu Medienformat, sondern auch hinsichtlich ihrer historischen Situierung und der ihr zugewiesenen Funktionsbereiche.85 Dasselbe gilt auch für das Spektrum der Wirkungs- und Handlungsintentionen antiquarischer Forschung:86 Diese sind insofern medial determiniert, als sie nur aus ihren medialen Manifestationen erschlossen werden können. Entsprechend vielfältig sind die Darstellungsformen, die, wie in Kap. 5 und 6 ausgeführt, narrativ oder deskriptiv, klassifizierend, katalogisierend oder lemmatisierend sein können.
Die Berücksichtigung der unterschiedlichen medialen Manifestationen antiquarischer Praktiken ist eine zwingende Voraussetzung für eine umfassende Neubewertung des Antiquarianismus und zentraler Punkt der damit einhergehenden Korrektur der oben beschriebenen forschungsgeschichtlichen Kurz- und Fehlschlüsse (Kap. 1). So bezieht sich die Vielzahl der in der Forschung kontrovers diskutierten Handlungsintentionen antiquarischer Arbeit, sei es Krisenbewältigung, Traditionssicherung, Nationalstolz, Lokalpatriotismus, Nostalgie, curiositas, Bildungsnachweis oder Selbstzweck, fast ausschließlich auf die antiquarische Monographie, also auf einen medialen Phänotyp, von dem aus der Antike kaum ein vollständiges Exemplar erhalten ist. Durch die ausschließliche Behandlung antiquarischer „Sammelliteratur“, die man – nach frühneuzeitlichem Vorbild – an eine bestimmte Darstellungsform bindet, gelingt es zwar, den Zielkonflikt mit der narrativ arbeitenden Geschichtsschreibung zu umgehen und das Phänomen zugleich der antiken Wissenschaftsliteratur anzunähern, doch verstellt dies zwangsläufig den Blick auf die Fülle medialer Anwendungsformen antiquarischer Praktiken. Der Prozess der medialen Ausdifferenzierung wird von den Akteuren gesteuert, die an der Produktion, Rezeption und Zirkulation antiquarischen Vergangenheitswissens beteiligt sind.
2.2.3 Akteure
Die dritte Teilkategorie, mit welcher der Begriff des Antiquarianismus konzeptualisiert wird, betrifft die am Diskurs beteiligten „Akteure“. Mit dem Begriff des Akteurs wird die Gesamtheit der Rollen- und Funktionsträger bezeichnet, die in der Antike mit antiquarischen Wissensbeständen befasst waren.87 Ausgehend von der Produktion und Zirkulation von Wissen und den damit verbundenen Aufgaben und Funktionen ist aus kulturwissenschaftlicher und wissenstheoretischer Sicht eine weitere Kategorisierung notwendig: Das Spektrum der in den Blick zu nehmenden „Aktivitätsträger“ ist nicht auf Menschen beschränkt – seien es Juristen, Grammatiklehrer, Politiker, Freunde, Informanten, Kritiker, Förderer und Konkurrenten – , sondern umfasst prinzipiell auch die Mikrokultur der literarischen Praxis, insbesondere technische Errungenschaften und Bibliotheken.88 So hat etwa die Entwicklung des Bibliothekswesens in der Kaiserzeit den heuristischen Modus der antiquarischen Zeichenarchäologie nachhaltig verändert: Bibliotheken waren für Literaten wie Gellius und Rechtsgelehrte wie Gaius und Ulpian der natürliche Orientierungs- und Ausgangspunkt ihrer zeichenarchäologischen Spurensuche, deren Quellen fast ausschließlich in den dort reichlich vorhandenen schriftlich-literarischen Medien bestanden. Dies hatte, soweit noch erkennbar, drei nachhaltige Folgen: (1) Die alternativen Quellen, welche die kollektive Memoria bereithielt, fielen nach und nach aus dem Arbeitsprozess heraus oder wurden nur noch über Sekundärquellen rezipiert; damit wuchs (2) die Autorität der Referenzwerke, deren breite Verfügbarkeit wiederum (3) die antiquarische Arbeit über Rom nun auch außerhalb Roms ermöglichte (siehe unten Kap. 6.3.).
Für das hier definierte Zeichensystem ist die Handlungsorientierung wesentlich: Etwas wird erst dann zum Zeichen, wenn es in einem bestimmten Handlungskontext, das heißt in einer kommunikativen Interaktion, zu einem Zeichen gemacht wird.89 Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive orientieren sich die Akteure in diesem Handlungsprozess zwar primär an der traditionellen Rollenverteilung zwischen Produzent und Rezipient, also Autor und Leserschaft. Weitere Differenzierungen sind jedoch nicht nur hinsichtlich der Sinnproduktion und ihres weiteren Handlungsrahmens, das heißt im Zuge der situativen Semantisierungsprozesse der durch antiquarische Praktiken generierten Informationen, sondern auch hinsichtlich der (medialen) Zirkulation dieses Wissens notwendig.90 Die Produktion und Rezeption antiquarischer Wissensobjekte sind das Ergebnis komplexer kommunikativer Aushandlungsprozesse, die historisch kontingent sind, da sie sich situativ immer wieder neu konstituieren und somit einem stetigen Wandel unterliegen. Das generierte Wissen bleibt also nicht stabil, sondern entwickelt und verändert sich durch seine Zirkulation in verschiedenen sozialen Sphären oder zwischen verschiedenen kulturellen Codes (das heißt insbesondere: literarischen Gattungen). Dies zeigt sich immer dann, wenn Transkriptionsprozesse betroffen sind, wenn die Rollen von Rezipienten und Produzenten von Wissen zusammenfallen oder wenn durch „Vermittler“ bestimmte Informationen aus einer Argumentationskette herausgelöst und in einen neuen medialen Funktionszusammenhang eingebunden werden.91 Die Rezeptionsgeschichte von Ovids Fasti führt diesen komplexen Prozess der produktiven Re- bzw. Umsemantisierung exemplarisch vor Augen (siehe oben Kap. 1.2.) und verweist damit auf die inhärente Problematik einer modernen wissenschaftlichen Rekonstruktion des antiken Antiquarianismus. Plinius der Ältere, Sueton, Gellius, Nonius, Augustinus und viele andere haben sich mit ganz unterschiedlichen Interessen, Intentionen und Vorstellungen und unter verschiedenen medialen Bedingungen den Wissensbeständen genähert, die Varro in den Antiquitates zusammengetragen hatte; dasselbe gilt für mittelalterliche, humanistische oder moderne Leserinnen und Leser von Ovids Fasti. Entsprechend vielfältig sind die Formen, Funktionen und Kontexte, in denen das auf Varro beziehungsweise Ovid zurückgehende Wissen aktualisiert und validiert, das heißt sinnhaft gemacht wurde. Die im Hintergrund ablaufenden Interaktionen zwischen den beteiligten Wissensakteuren sind hochkomplex.
Ein anschauliches Beispiel für unterschiedliche kaiserzeitliche Lesehaltungen und ihre Auswirkungen auf die Wissensproduktion bietet Seneca im 108. Brief an Lucilius. Am Beispiel eines Grammatiklehrers (grammaticus), eines Philosophen (philosophiae deditus) und eines gelehrten Exegeten (philologus), werden unterschiedliche Rezeptionsweisen und -interessen bei der Lektüre von Ciceros De re publica vorgeführt:
Cum Ciceronis librum de re publica prendit hinc philologus aliquis, hinc grammaticus, hinc philosophiae deditus, alius alio curam suam mittit. Philosophus admiratur contra iustitiam dici tam multa potuisse. Cum ad hanc eandem lectionem philologus accessit, hoc subnotat: duos Romanos reges esse quorum alter patrem non habet, alter matrem. Nam de Servi matre dubitatur; Anci pater nullus, Numae nepos dicitur. Praeterea notat eum quem nos dictatorem dicimus et in historiis ita nominari legimus, apud antiquos ‚magistrum populi‘ vocatum. Hodieque id extat in auguralibus libris, et testimonium est quod qui ab illo nominatur ‚magister equitum‘ est. Aeque notat Romulum perisse solis defectione; provocationem ad populum etiam a regibus fuisse; […]. Eosdem libros cum grammaticus explicuit, primum ‚reapse‘ dici a Cicerone, id est ‚re ipsa‘, in commentarium refert, nec minus ‚sepse‘, id est ‚se ipse‘. Deinde transit ad ea quae consuetudo saeculi mutavit […]. Deinde Ennianos colligit versus et in primis illos de Africano scriptos:
‚cui nemo civis neque hostisquibit pro factis reddere opis pretium.‘Ex eo se ait intellegere ⟨opem⟩ apud antiquos non tantum auxilium significasse sed operam.
Wenn ein gelehrter Exeget, ein Grammatiklehrer und ein Philosoph Ciceros Buch Über das Staatswesen in die Hand nehmen, so richtet jeder sein Augenmerk auf einen anderen Punkt. Der Philosoph wundert sich, dass so viel gegen die Gerechtigkeit gesagt werden konnte. Wenn der gelehrte Exeget sich mit derselben Stelle befasst, notiert er folgendes: Dass es zwei römische Könige gäbe, von denen der eine keinen Vater, der andere keine Mutter habe. Denn über die Mutter des Servius bestünden Zweifel; bei Ancus ist von einem Vater keine Rede, er wird nur der Enkel des Numa genannt. Er bemerkt auch, dass der Mann, den wir „Diktator“ nennen und der auch in den Geschichtswerken so genannt wird, bei den Alten „Heermeister“ hieß. Noch heute steht der Begriff in den Auguralbüchern und es gibt das Zeugnis, dass der Mann, der von ihm benannt wird, „Reiteroberst“ heiße. Ebenso notiert er, dass Romulus bei einer Sonnenfinsternis gestorben sei; dass die Berufung an das Volk auch von den Königen erlaubt worden sei. […] Wenn dieselben Bücher der Grammatiklehrer erklärt, führt er in seinem Kommentar zunächst auf, dass Cicero reapse sage, das heißt re ipsa, ebenso sepse, das heißt se ipse. Dann geht er zu Begriffen über, welche die Gewohnheit der Zeit verändert hat […]. Dann sammelt er die Ennius-Zitate, besonders diejenigen, die über Africanus geschrieben wurden: „dem kein Bürger und kein Feind / für seine Taten den Preis seiner Bemühung vergelten konnte.“ Daraus will er erkennen, dass ops bei den Alten nicht nur „Hilfsmittel“ bedeute habe, sondern auch „Bemühung“.
Sen. epist. 108.30–33
Die Problematik lässt sich vielleicht am einfachsten anhand der vier Grundkomponenten der Kommunikation (Sender, Empfänger, Nachricht, Medium) veranschaulichen.92 Zunächst ist die Interaktion zwischen Sender und Empfänger, also zwischen Autor und Leserschaft, zu betrachten: Bei der Abfassung der Antiquitates hatte Varro – wie jeder Autor – ein internalisiertes „passives“ Zielpublikum vor Augen, mit dem er in selbstdefinierten „aktiven“ Kommunikationsrollen als Autor, Lehrer, Mahner usw. interagierte. Diesem auktorialen Selbstmodell setzt der Rezipient in der Interaktion mit Autor und Text ein eigenes Selbstmodell entgegen, das die Interpretation der im Werk transportierten Botschaften beeinflusst. Wird der virtuelle Varro als Philosoph, Historiker, Sprachlehrer, Römer oder Heide internalisiert, so ändert sich der jeweilige Bezugsrahmen der Zeichendeutung, was wiederum die interpretative Varianz derselben Wissensbestände zur Folge hat. Kompliziert wird es, wenn „Schichtungen“ vorliegen, wenn also Fulgentius seine virtuelle Projektion „Varros“ der Vermittlung Donats verdankt, der sich seinerseits auf Sueton oder Plinius den Älteren stützte, und so weiter.93 Die Botschaften des „Senders“ Varro, seine Appelle, Selbstaussagen und Sachinformationen, sind also – selbst in den seltenen Fällen, in denen leserlenkende Para- und Metatexte (noch) vorhanden sind (siehe unten Kap. 6.2.3.) – nie eindeutig und selbsterklärend, sondern werden zeit- und kontextabhängig variabel dechiffriert. Aus rezeptionsästhetischer Sicht wird der kommunizierte Text erst durch den Rezipienten mit Sinn gefüllt, werden bestimmte Bedeutungsaspekte vor dem Hintergrund des Erwartungshorizonts des Rezipienten auf Kosten anderer Bedeutungsaspekte aktualisiert.94 So lesen die Kirchenväter Varro aus apologetischem Interesse als Gewährsmann für die (moralische) Fehlerhaftigkeit des Polytheismus – eine Fokussierung, die bis in die moderne Antiquarianismus-Forschung hineinwirkt.95 Eine zweite Ebene der Komplexität in der Rezeption ergibt sich durch Veränderungen im Überlieferungsprozess, das heißt durch Verkürzungen, Auslassungen und Ergänzungen sowie durch Missverständnisse oder unbeabsichtigte Fehler bei der Abschrift. Eine dritte Form der Re- bzw. Neusemantisierung, die sich in späteren Texten immer wieder findet, betrifft den Wandel innerhalb des sprachlich vermittelten historisch-kulturellen Referenzsystems. Diese tritt auf, wenn der Zeichenvorrat des Senders nicht mehr mit dem Zeichenvorrat des Empfängers übereinstimmt.
Diese theoretischen Grundlagen sollen im Folgenden anhand eines konkreten Fallbeispiels näher erläutert werden.
2.3 Ein Fallbeispiel: Pecunia a pecore – Geschichten von der Entstehung des römischen Münzgeldes
2.3.1 Einstieg: Horaz, ars. 323–332
Zum bekannten, von den Römern selbst kolportierten Kulturklischee vom lebenspraktischen Pragmatismus der Römer gehört eine Affinität zum Rechnen und zum Umgang mit Geld. Dieses Selbstverständnis kommt an einer Stelle der Ars poetica zum Ausdruck, an der Horaz das römische utilitas-Denken satirisch mit dem ingenium der Griechen kontrastiert:
Grais ingenium, Grais dedit ore rotundoMusa loqui, praeter laudem nullius avaris.Romani pueri longis rationibus assemdiscunt in partis centum diducere. „Dicatfilius Albani: si de quincunce remota estuncia, quid superat? poteras dixisse.“ „Triens.“ „Eu!rem poteris servare tuam. Redit uncia: quid fit?“„Semis.“ An, haec animos aerugo et cura peculicum semel imbuerit, speremus carmina fingiposse linenda cedro et levi servanda cupresso?Den Griechen schenkte die Muse Begabung, den Griechen die Fähigkeit, mit rundem Mund zu sprechen; ihnen, die außer nach Ruhm keine Gier empfinden. Römische Knaben lernen ein As [= 12 Unzen] in hundert Teile zu zerlegen. „Es möge der Sohn des Albanus sagen: wenn man von fünf Unzen eine Unze abzieht, was bleibt übrig? Du hättest bereits antworten können.“ „Ein Triens [= ⅓ As = 4 Unzen].“ „Bravo! Du wirst dein Vermögen zusammenhalten können. Eine Unze wird [der quincunx] hinzugefügt. Was ergibt das?“ „Ein Semis [= ½ As = 6 Unzen].“ Hoffen wir etwa, dass, wenn einmal die Habgier und die Sparsamkeit die Gemüter erobert haben, noch Gedichte geschrieben werden, die es wert sind, mit Zedernöl eingerieben und in einem Kästchen aus Zypressenholz aufbewahrt zu werden?
Hor. ars. 323–332
Im Anschluss an die Szene mit den rechnenden Knaben, die unter den gestrengen Augen ihres Lehrers lernen, „den As in hundert Teile zu zerlegen“, äußert der Dichter eine moralisch gefärbte Kritik am römischen Materialismus und Kommerz.96 Gesellschaftskritik und poetologische Aussage vereinen sich in der komplexen Metaphorik, die die Passage abschließt: aerugo, wörtlich „Grünspan“, enthält nicht nur eine ethische („Habgier“), sondern auch eine literarästhetische Wertung: Die Korrosionsfähigkeit des Materials verweist einerseits auf die Vergänglichkeit dieser Form des Reichtums und stellt damit die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft in Frage, die sich ihm seit frühester Jugend verschrieben hat. Andererseits wird dadurch auf die der Feile bedürfende Defizienz der literarischen Produktion verwiesen. Das zweite Bild stammt ebenfalls aus dem Handwerksbereich, beschwört jedoch einen positiv konnotierten Reichtum: Kostbare konservierende Materialien (Zedernöl und Zypressenholz) gewährleisten die kulturell sanktionierte Fortdauer der poetischen Leistung, materialisiert in Form der Buchrolle.
Die Textstelle vermittelt verschiedene Vorstellungen von Geld. Einerseits wird mit Münzen beziehungsweise Gewichtseinheiten (as, uncia, triens, semis) operiert;97 Geld ist also normiert, zähl- und wägbar. Die eingeübten Kalkulationen sind im Alltag für den Haushalt, die Gutsverwaltung und die Zinsberechnung relevant. Der so unterwiesene Schüler (angeredet mit Patronymikon: filius Albini) wird das väterliche Erbe dereinst nicht verprassen (rem poteris servare tuam). Zugleich ist dieser an der augusteischen Gegenwart orientierten Schulszene eine historische Tiefenebene eingeschrieben, welche dem Kulturklischee zusätzlichen Nachdruck verleiht. Den Schlüssel dazu liefert die auffallend unpoetische Wendung cura peculi, deren tieferer Sinn erst durch die Etymologie erschlossen wird – ein Zugang, dem die anklingende Wortverwandtschaft zwischen aerugo und aes (in der alten Bedeutung „ungemünztes Geld“) bereits den Weg gewiesen hat: peculium war nach römischer Vorstellung ursprünglich der in Vieh bestehende Privatbesitz (Varro ling. 5.95; Fest. p. 290, 34–35 Lindsay), erst später dann spezifisch das zur freien Verfügung abgesondert vom Vermögen des Hausherrn besessene Vermögen einzelner Mitglieder des Haushaltes.98 So erklärt Servius zu einem einschlägigen Vers in den Eklogen Vergils (nec spes libertatis erat nec cura peculi [„Es gab keine Hoffnung auf Freiheit, keinen Wunsch, etwas zu ersparen.“]):
peculi autem antique dixit, quia omne patrimonium apud maiores peculium dicebatur a pecoribus, in quibus eorum constabat universa substantia, unde etiam pecunia dicta est a peculio.
peculium aber sagte er nach alter Redegewohnheit, denn bei den Alten hieß alles Vermögen nach dem Vieh [pecus] peculium; darin lag ihr ganzer Lebensunterhalt, daher kommt auch das Wort für Geld [pecunia] von peculium.
Serv. Verg. ecl. 1.32
Inwieweit Horaz, gestützt auf die semantische Ambivalenz, hier auf Vergil anspielt, um im Hintergrund einen Sklaverei-Kontext aufzurufen, sei dahingestellt.99 Für den vorliegenden Zusammenhang ist die vom Rezipienten zu leistende etymologische Verknüpfung von peculium mit pecunia und dem archaischen Sachgeld „Vieh“ einerseits und mit der bäuerlichen Lebenswelt andererseits relevant. Der Begriff gemahnt an die Frühzeit eines landwirtschaftlich geprägten Rom, wo Vermögen noch nicht in Form klingender Münzen berechnet wurde. Obwohl hier die in der augusteischen Literatur verbreitete Idealisierung des Landlebens anklingt, sucht die historische Projektion des Kulturklischees keinen Anschluss an den zeitgenössischen Dekadenzdiskurs. Die Pointe liegt darin, dass die frühen Römer zwar „überaus tapfere Männer und tüchtige Soldaten“ waren (fortissi viri et milites strenuissi: Cato de agr. praef. 4) und ein ehrbares Einkommen hatten (pius quaestus consequitur: idem), aber wegen ihrer cura peculi schon damals nicht zur Dichtkunst taugten.
Das Medium Geld war in Rom – wie andernorts auch – in verschiedenen kulturellen Subsystemen der Gesellschaft fest verankert und besaß neben der ökonomischen auch eine soziale, politische und ethische Komponente.100 Wie Geld wahrgenommen und bewertet wurde, hing also nicht nur von ökonomischen Faktoren ab, sondern auch von den gesellschaftlichen Dynamiken und Prozessen, in denen Geld in seinen Funktionen als Wertmaß, Zahlungsmittel und Wertaufbewahrungsmittel jeweils ausgehandelt wurde. Hintergründig klingen bei Horaz bestimmte Bereiche des römischen Geisteslebens an, die sich in unterschiedlicher Weise mit Geld und Geldwesen auseinandersetzen: das Rechtswesen (peculium), die Historiographie (Dekadenznarrativ) sowie der ethnographisch-kulturgeschichtliche Diskurs, in dem verschiedene Völker verglichen und ihre Wertschätzungs- und Wertschöpfungsverfahren gegeneinander abgewogen wurden (Grais … praeter laudem nullius avaris).101 Was die genannten Diskurse hinsichtlich ihrer Sinnbildungsprozesse verbindet, ist dasselbe heuristische Verfahren, das auch Horaz hier scheinbar reflexartig anwendet: die Aufrufung einer schöpferischen Vorzeit, um das semantische Verhältnis von Ding und Wort zu klären und den Interpreten gleichsam zur wahren Natur einer Sache vordringen zu lassen. Streng genommen macht also erst der Rückgriff auf die Uranfänge das Thema Geld diskursfähig. Die Etymologie leistet hier also dasselbe wie in vergleichbaren Zusammenhängen die Aitiologie. Beides sind Techniken der Zeichendeutung, die in der literarischen Praxis aus historischen Phänomenen Bedeutungsangebote für gegenwärtige Daseinszustände konstruieren.
Dieser bei Horaz fassbare Sinnbildungsprozess steht im Zeichen jenes Phänomens, das in dieser Studie als Antiquarianismus bezeichnet wird. Im Folgenden geht es vor allem darum, das antiquarische Modell der Wissensgenese als zeitspezifisches Denk- und Handlungsmuster innerhalb der antiken literarischen Praxis zu verorten. Das Thema „Geld“ bietet sich für eine solche Analyse in besonderer Weise an: Das heterogene Feld der am Diskurs beteiligten Wissensgebiete gewährleistet eine relativ breite Quellenbasis, an der exemplarisch gezeigt werden kann, wie variabel die Semantisierung antiquarischer Daten in unterschiedlichen funktionalen Verwendungszusammenhängen erfolgen konnte.102
2.3.2 Pecunia a pecore – Einst war das Vieh das Geld
Im Vergleich zu den Griechen und den hellenistisch beeinflussten Völkern der antiken Welt begannen die Römer erstaunlich spät mit der Münzprägung. Der archäologische Befund lässt darauf schließen, dass die Römer erst 450 Jahre nach dem mythischen Gründungsdatum ihrer Stadt und gut zweieinhalb Jahrhunderte nach den ersten Münzausgaben der griechischen Poleis in Süditalien mit der eigenen Münzprägung begannen.103 Wichtiger als die Prägung von Münzen ist für die Geschichte des Geldwesens jedoch die staatliche Festlegung metallischer Währungseinheiten.104 Gezeichnete Gussbarren dürften bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. bei den Römern in Gebrauch gewesen sein.105 Wirft man einen Blick auf die literarische Überlieferung, in der diese Prozesse nachgezeichnet und reflektiert wurden, so ergibt sich ein erstaunlich inkohärentes Bild. Mehrere, sich zum Teil widersprechende Überlieferungen stehen nebeneinander, was die Erforschung der römischen Numismatik seit der Frühen Neuzeit vor erhebliche Probleme stellt.
Die Vielfalt der Deutungsangebote liegt hier zum einen darin begründet, dass der Übergang von der Naturalwirtschaft zum normierten Münzsystem in der Antike nicht als einmaliger Akt, sondern als langer historischer Prozess zu verstehen ist. Zum anderen gehen die divergierenden Traditionen, wie noch zu zeigen sein wird, auf unterschiedliche Deutungskontexte zurück, in denen sie entwickelt und fortgeführt wurden. Und schließlich führte im Lateinischen die Überschneidung der Wortfelder „Besitz“ und „Geld“ schon früh zu einer Vermengung der verschiedenen historischen Entwicklungsstufen, was die Herausbildung eines einheitlichen und kohärenten Ursprungsnarrativs verhinderte. In der Antike war man durchaus fähig, die Entwicklung des Münzwesens historisch korrekt herzuleiten. So hat Aristoteles die Entwicklung des Münzgeldes mit der Intensivierung des überregionalen Handels in Verbindung gebracht.106 Die komplexe Herausbildung des eigenen Geldwesens, das mehrere Rationalisierungsphasen und Reformprozesse durchlief, war für die Römer in ihren Einzelschritten aber nicht mehr nachvollziehbar.
Einen guten Einstieg in das komplexe Diskursfeld „Geld“ bietet die vielfach belegte antike Vorstellung, dass im Rom der Königszeit und der Frühen Republik Vermögen in Stückvieh und nicht in Edelmetall oder Münzgeld gemessen wurde. Sie kann als Indiz dafür gewertet werden, dass sich die Römer zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt ihres späten numismatischen Debüts durchaus bewusst waren.107
Dass die alten Römer Reichtum in Vieh bemaßen, war spätestens im augusteischen Rom Allgemeingut der Gebildeten. Wann genau die Ableitung pecu/pecus > pecunia entstanden ist, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Es ist denkbar, dass bereits der ältere Cato, der gerne und häufig auf Etymologien zurückgriff (siehe unten S. 208–212), sie im Zusammenhang mit seiner Idealisierung des bäuerlichen Lebens (orig. 7.12) oder seiner Luxus-Kritik (orig. 7.9) verwendet hat. Die frühesten erhaltenen Zeugnisse stammen jedoch aus spätrepublikanischer und augusteischer Zeit: Cicero (rep. 2.16), Varro (ling. 5.92 und 95; rust. 2.1.11), Ovid (fast. 5.279–281) sowie Verrius Flaccus.108 Es lohnt sich, zunächst einen kritischen Blick auf die heterogenen Verwendungszusammenhänge zu werfen, in denen diese Ableitung jeweils auftaucht. Die folgende Synopse soll die Bandbreite der am Diskurs beteiligten Wissensbereiche sowie die Varianz und Pluralität der Aktualisierungsmöglichkeiten des antiquarischen Modells aufzeigen. Für eine solche Analyse sind die einschlägigen Etymologien, die wir über Festus und Paulus Diaconus auf Verrius Flaccus zurückführen können, nicht aussagekräftig. Das hier gespeicherte Wissen ist dekontextualisiert, ein entscheidender Vorgang, der in der Lexikographie generell zu beobachten ist und dessen Folgen uns noch mehrfach beschäftigen werden.
(1) Cic. rep. 2.16:
Multaeque dictione ovium et boum – quod tunc [sc. aetate Romuli] erat res in pecore et in locorum possessionibus, ex quo pecuniosi et locupletes vocabantur – non vi et suppliciis coercebat.
Und indem er die Buße in Schafen und Rindern festsetzte – denn damals bestand der Reichtum im Besitz von Vieh und Land, weshalb man sie wohlhabend [„viehreich“] und begütert nannte – , und nicht durch Gewalt und körperliche Züchtigung, hielt er das Volk im Zaum.
Der Abschnitt steht am Ende von Scipios Zusammenfassung der innenpolitischen Leistungen des Romulus während seiner Alleinherrschaft nach dem Tod des Titus Tatius (rep. 2.14–16). Konkret geht es um die Einführung der Buße in Form von Rindern und Schafen (multa ovium et boum) anstelle der archaischen Körperstrafen (vi et supplicia). Der Kontext ist also ein rechtshistorischer, die etymologische Erläuterung eine in den Text integrierte Begriffserklärung, die die Argumentation unterstützt, aber keine erkennbare Relevanz für den weiteren Gedankengang hat. In De re publica 2.60 geht Cicero erneut auf Bußen in Form von Stückvieh ein und erwähnt unter anderem die Maßnahme der Konsuln C. Iulius und P. Papirius (430 v. Chr.), welche die Viehbuße durch eine feste Geldstrafe ersetzten, wobei sie das Vieh sehr billig taxiert hätten (levis aestumatio pecudum).109 Das scheint aus der eigenen Zeit heraus gesprochen, in welcher der As kein Pfund mehr wog, einen geringen Nominalwert hatte und im Zahlungsverkehr längst vom Sesterz abgelöst worden war. Wie eine von Gellius erzählte Anekdote zeigt, steht dahinter ein juristischer Diskurs. Im Kommentar zum Zwölftafelgesetz des augusteischen Juristen Antistius Labeo sei der Fall des Lucius Veratius besprochen worden, der zum Zeitvertreib jedem freigeborenen Menschen, dem er begegnete, mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen habe. Sein Sklave habe dem Geschädigten dann sofort aus einem zu diesem Zweck mitgeführten Beutel die nach dem Zwölftafelgesetz geforderten lächerlichen 25 As ausgezahlt (Gell. 20.1.12–13).110 Die Geschichte ist alt und stammt aus einer Zeit, als die festen Geldbeträge für iniuria noch nicht vom Prätor aufgehoben worden waren.111 Der spätere pragmatisch-rationalistische Ansatz zeigt sich in den Institutionen des Gaius, in denen die im Zwölftafelgesetz vorgesehenen Strafen für iniuria historisch kontextualisiert und damit für die Gegenwart entwertet werden (inst. 3.223): et videbantur illis temporibus in magna paupertate satis idoneae istae pecuniariae poenae, sed nunc alio iure utimur („damals, als große Armut herrschte, waren diese Geldstrafen durchaus angemessen, aber heute wenden wir eine andere Rechtsprechung an.“). Die fachjuristische Reflexion betrifft die Probleme einer streng traditionalistischen Rechtsprechung im Umgang mit historischen Entwicklungen, im vorliegenden Fall der Geldentwertung und Inflation.112 Demgegenüber hat die historiographische Tradition, auf die sich Cicero offenbar stützte, den für damalige Verhältnisse erstaunlich niedrigen Umrechnungskurs der Konsuln von 430 v. Chr. in offenkundig anachronistischer Weise als „populare“ Maßnahme interpretiert.113
(2) Varro ling. 5.92 und 95:
Pecuniosus a pecunia magna, pecunia a pecu; a pastoribus enim horum vocabulorum origo […]. Quod in pecore pecunia tum pastoribus consistebat.
Pecuniosus [„reich an Geld“] ist abgeleitet von einer Menge pecunia [„Geld“], pecunia ist von pecu [„Vieh“] abgeleitet; der Ursprung dieser Begriffe stammt nämlich von den Hirten […]. Denn das Vermögen der Hirten bestand damals im Vieh.
Die Ableitung steht an letzter Stelle einer Liste von Sachbegriffen, die Besitz und Vermögen bezeichnen (vocabula a fortuna). Das fünfte Buch von De lingua Latina hat – nach den der Theorie gewidmeten dialektischen Büchern 2–4 – die etymologische Praxis zum Thema, deren Bedeutung am Beispiel konkreter Gegenstände und Orte vorgeführt wird. So dienen die nach Sachgruppen geordneten Etymologien nicht (nur) wie in einem Lexikon der Speicherung grammatischen Funktionswissens, vielmehr sind sie zugleich argumentativer Gegenstand einer fachwissenschaftlichen Debatte, die Grammatiker und Philosophen über die stoisch-etymologische Methode führten.114 Die offensichtlichen Redundanzen zwischen § 92 und § 95 gestatten darüber hinaus einen Einblick in die kompilierende Arbeitsweise Varros.
(3) Varro rust. 2.1.11:
a quibus [pecoribus] ipsa pecunia nominata est; nam omnis pecuniae pecus fundamentum.
von ihnen [den Rindern] stammt der Begriff des Geldes, denn das Vieh ist die Grundlage allen Vermögens.
Die Etymologie steht am Beginn der Ausführungen, die die Dialogfigur Scrofa über die Viehzucht macht. Die Sachkenntnis der Herdenhaltung (scientia pecoris parandi et pascendi) bestehe im größtmöglichen Gewinn, der daraus gezogen werden könne. Vermögen (pecunia) habe vom Vieh seinen Namen, denn dieses sei die Grundlage allen Vermögens. Diese Notiz, durch die Scrofa in erster Linie die Bedeutung des von ihm referierten landwirtschaftlichen Teilbereichs im Gegensatz zum Ackerbau des ersten Buches und zur Hoftierhaltung des dritten Buches betonen will,115 schließt an die kursorischen Ausführungen an, welche Varro zuvor über Ursprung und Ansehen (origo et dignitas) des Hirtenberufs gemacht hatte (rust. 2.1.6–10). Wie bei Cicero ist die Etymologie also in erster Linie eine gelehrte Worterklärung, die der dialoginternen Argumentation zusätzliche Evidenz verleihen soll. Auf den inneren Zusammenhang zwischen Vieh und Besitz hatte Varro zuvor indirekt hingewiesen, als er in einer katalogartigen Aufzählung von Sprachrelikten, welche die frühgeschichtliche Bedeutung des Viehs in der Gegenwart bezeugten (mons Taurus, Aegaeum pelagus, Italia, die Gens der Porcier, der Ovinier, der Caprilier usw.), nicht nur auf das „älteste Bronzegeld“ der Römer (aes antiquissimum) zu sprechen kam, das durch eine Viehgravur gekennzeichnet gewesen sei, sondern auch erwähnte, dass die Buße „noch heute nach altem Brauch in Rindern und Schafen bemessen“ werde (etiam nunc ex vetere instituto bubus et ovibus dicitur: rust. 2.1.8–10).
(4) Ov. fast. 5.279–281:
Cetera luxuriae nondum instrumenta vigebant,aut pecus aut latam dives habebat humum.Hinc etiam locuples, hinc ipsa pecunia dicta est.Andere Luxusgüter hatten noch keine Bedeutung; wer reich war, besaß Vieh und große Ländereien. Hiervon kommt auch das Wort locuples [„begütert“], hiervon auch das Wort pecunia [„Geld“].
Auch bei Ovid wird die Etymologie einer literarischen Figur in den Mund gelegt. Nach den Ursprüngen der Floralia befragt, verweist die Göttin Flora auf das Aition ihres Festes (fast. 5.279–294). Dieses gehe auf die Stiftung der Brüder Lucius und Publius Publicius zurück, die während ihrer Ädilität (um 240 v. Chr.) die missbräuchliche Nutzung des ager publicus geahndet hatten. Ein Teil der eingezogenen Bußgelder sei für die Festspiele, ein anderer Teil für den Bau des clivus Publicius aufgewendet worden.116 Der Beginn der Erzählung lässt aufhorchen: cetera luxuriae nondum instrumenta vigebant; / aut pecus aut latam dives habebat humum (fast. 5.279–280). Der Anachronismus irritiert – Vieh und Land waren nach dem Geschichtswissen des augusteischen Publikums am Ende des Ersten Punischen Krieges längst nicht mehr die maßgeblichen Wertmaßstäbe, an denen sich das römische Sozial- und Wirtschaftsgefüge orientierte (aus Varro zitiert Plinius nat. 18.17 Lebensmittelpreise von 250 v. Chr. in As). Die in Parenthese nachgereichte Authentifizierung („sHiervon kommt auch das Wort ‚begütert‘, hiervon auch das Wort ,Geld‘.“) verstärkt die Irritation nur noch. Zuverlässiger erscheint dagegen die Verknüpfung des spätrepublikanischen Dekadenzdiskurses mit den Punischen Kriegen, deren siegreiches Ende 146 v. Chr. Sallust bekanntlich zum innenpolitischen Wendepunkt bestimmt hatte (Catil. 10.1).117 Auf Sallust scheint die Wendung luxuriae instrumenta auch wörtlich anzuspielen.118 Die Aussage, dass zur Zeit der Publicii Luxusgüter noch keine Bedeutung gehabt hätten, suggeriert somit historiographische Autorität. Das implizit aufgerufene Bild der „guten alten Zeit“ (vgl. Catil. 9.1: domi militiaeque boni mores colebantur; concordia maxuma, minima avaritia [„in Krieg und Frieden lebte man anständig, in größter Eintracht und ohne jede Habsucht“]) wird im Bericht der Flora jedoch sogleich wieder ironisch gebrochen, wenn sie im Folgenden von der widerrechtlichen Nutznießung des ager publicus berichtet, wodurch man sich damals ungestraft bereicherte (282–284: sed iam de vetito quisque parabat opes / […] idque diu licuit, poenaque nulla fuit [„aber schon ging jeder daran, sich unrechtmäßig zu bereichern […] lange Zeit war das erlaubt und wurde nicht bestraft“]). Ovids unterschwellige Dekonstruktion des vielgepriesenen mos maiorum, welche die Fasti auch hier in eine Grauzone zwischen Ernsthaftigkeit und Ironie führt, hat nicht nur politische Implikationen, sondern auch epistemologische Konsequenzen. Persifliert wird nämlich das angewandte Verfahren literarischer Sinnbildung, das heißt in diesem Fall das antiquarische Modell: Vordergründig erfüllt der in Parenthese geäußerte Kommentar (5.281: hinc etiam locuples, hinc ipsa pecunia dicta est) dieselbe didaktische Funktion wie bei (1) Cicero, rep. 2.16 und (3) Varro, rust. 2.1.11. Er gibt dem Rezipienten en passant ein altertumskundliches Expertenwissen in die Hand, dem in den zitierten Kontexten argumentative Beweiskraft zukommt – in diesem Fall, dass für die alten Römern „Vieh“ und „Vermögen“ dasselbe waren. Der Umstand, dass Flora in ihrem Bericht auf etymologische Erläuterungen zurückgreift, entspricht dabei durchaus der Erwartungshaltung des anvisierten Publikums (siehe oben Kap. 1.2.1). Irritierend ist nur, dass sich die Göttin in ihrer Beweisführung in der Chronologie „irrt“, also die Technik „falsch“ anwendet und damit nicht nur ihre eigene Aussage („damals gab es noch keine Luxusgüter“), sondern auch die hermeneutische Valenz der etymologischen Zeichendeutung untergräbt. Diese Bloßstellung zeigt die zeitgenössische Bedeutung des antiquarischen Modells: Es war zu Ovids Zeiten bereits derart etabliert, dass es Persiflagen ermöglichte.
Diese kursorische Analyse der frühesten Belege für die Etymologie pecunia a pecore hat die unterschiedlichen literarischen Verwendungskontexte aufgezeigt, in denen diese in Erscheinung trat. Die Etymologie selbst ist relativ stabil geblieben. Dies ist bei antiquarischen Wissensbeständen eher die Ausnahme. Im Folgenden soll am Beispiel der heurematologischen Frage nach den pecuniae inventores gezeigt werden, wie in unterschiedlichen Diskursräumen konkurrierende Ursprungserzählungen entwickelt wurden, die sich in einem hochkomplexen Traditionsprozess allmählich überlagerten und durchdrangen.
2.3.3 Von der Viehwährung zum Edelmetall – Auf der Suche nach den πρῶτοι εὑρεταί
Antiquarianismus operiert mit einem festen Inventar von Prämissen und Denkfiguren. Eine davon ist die Überzeugung, dass jede Einrichtung der menschlichen Kultur auf einem zeitlich fixierbaren Gründungsakt beruht. Diesem Gründungsakt kann in der Regel ein schöpferischer inventor oder fundator zugewiesen werden, der in einem bestimmten historischen Handlungskontext die Gründung oder Erfindung vollzogen hat. Wer als erster in Rom Metallgeld (in Form von Barren oder Münzen) herstellen ließ, war schon im zweiten vorchristlichen Jahrhundert eine vieldiskutierte Frage. Die griechischen Ursprungslegenden und -theorien, von denen seit der Antike mehrere widersprüchliche Varianten kursierten, dürften in diesem Zusammenhang nicht unbedeutend gewesen sein.119 Direkte Einflüsse und Entlehnungen lassen sich jedoch nur schwer nachweisen. Die verfügbaren Quellen erlauben nur einen bruchstückhaften Einblick in die im Umlauf befindlichen Erzählungen. Zudem erschweren (wie noch zu zeigen sein wird) die Kontamination von Traditionen und die Dekontextualisierung von Wissensbeständen konkrete Zuschreibungen. Die aus verschiedenen Epochen erhaltenen Mikronarrative belegen zumindest, dass die Frage in verschiedenen Bereichen des literarischen und kulturellen Lebens diskutiert wurde. Dies im Einzelnen nachzuweisen, ist eines der zentralen Anliegen dieses Kapitels.
Der ausführlichste Bericht zur Sache stammt aus dem der Metallurgie gewidmeten 33. Buch der Naturgeschichte des älteren Plinius (33.42–47). Sein Exkurs über die Geschichte des römischen Geldwesens ist ein Paradefall für die eklektische Vermischung divergenter antiquarischer Wissensbestände, die aus unterschiedlichen Diskursbereichen stammen. Dieser Locus classicus der römischen Münzgeschichte ist in Plinius’ Darstellung Bestandteil einer fast buchfüllenden Diatribe gegen die Habgier. Diese ethische Zielsetzung ist bei der Beurteilung der Auswahlprinzipien, die Plinius’ Kompilationsmethode zugrunde liegen, zu berücksichtigen.120 Vorangestellt ist ein längerer kulturkritischer Exkurs über den Gebrauch von Fingerringen (nat. 33.8–41), der den Leser in beeindruckender enzyklopädischer Breite von den ersten Ringbelegen in der frühen und mittleren Republik (nat. 33.8–13 und 16–25) über die kulturelle Praxis des Siegelns und Zinsleihens (nat. 33.25–28) bis zur Geschichte des römischen Rittertums (nat. 33.29–36) führt. Das Ganze steht also unverkennbar im Zeichen des römischen auri sacra fames-Diskurses, was dem Leser auch immer wieder durch entsprechende Hinweise des Autors vor Augen geführt wird.121 Die „gute alte Zeit“ (prägnant: apud antiquos), die hinsichtlich ihrer Periodisierung bewusst in der Schwebe gelassen wird, wird als positive Kontrastfolie zur dekadenten Gegenwart entwickelt, die sich über verschiedene „Innovationsstufen“ kontinuierlich zum Schlechteren entwickelt habe. Folgerichtig verurteilt Plinius die Urheber dieser Innovationsschübe auch als Verbrecher.122 Obwohl das Verfallsnarrativ die präsentierten Wissensbestände thematisch verbindet, ist es nicht die treibende Kraft des dahinterstehenden antiquarischen Modells. Denn schon in den Quellen, aus denen Plinius seinen Stoff zusammenstellte, war der Rückgriff auf die Frühzeit angelegt. Inkonsistenzen und Doppelungen in der Darstellung deuten darauf hin, dass er das Material nicht völlig neu strukturiert hat, sondern bestehende Argumentationsstrukturen und Verwendungszusammenhänge übernommen hat.123 Im Exkurs zur Geschichte des Geldes kann dieser für die Interpretation der Ursprungserzählungen bei Plinius wichtige Arbeitsprozess exemplarisch aufgezeigt werden. Die Identifizierung seiner Quellen ist im vorliegenden Zusammenhang weniger interessant als die Akzentuierung der literarischen Kontexte, in denen dieses Wissen generiert wurde:
§ 42. Proximum scelus fuit eius, qui primus ex auro denarium signavit, quod et ipsum latet auctore incerto. Populus Romanus ne argento quidem signato ante Pyrrhum regem devictum usus est. Libralis, unde etiam nunc libella dicitur et dupondius, adpendebatur assis; quare aeris gravis poena dicta, et adhuc expensa in rationibus dicuntur, item inpendia et dependere, quin et militum stipendia, hoc est stipis pondera, dispensatores, libripendes, qua consuetudine in iis emptionibus, quae mancipi sunt, etiam nunc libra interponitur.
§ 43. Servius rex primus signavit aes; antea rudi usos Romae Timaeus tradit. Signatum est nota pecudum, unde et pecunia appellata. Maximus census CXX assium fuit illo rege, et ideo haec prima classis.
§ 44. Argentum signatum anno urbis CCCCLXXXV, Q. Ogulnio C. Fabio cos., quinque annis ante primum Punicum bellum. Et placuit denarium pro X libris aeris valere […]. Librale autem pondus aeris inminutum est bello Punico primo, cum inpensis res publica non sufficeret, constitutumque ut asses sextantario pondere ferirentur. […]
§ 45. Nota aeris eius fuit ex altera parte Ianus geminus, ex altera rostrum navis, in triente vero et quadrante rates. […]
§ 42. Das nächste Verbrechen beging derjenige, der als erster einen Denar aus Gold prägte; auch dieses bleibt verborgen, da der Urheber unbekannt ist. Das römische Volk benutzte vor dem Sieg über Pyrrhus nicht einmal geprägtes Silber. Der As wurde als ein Pfund gewogen, woher auch heute noch die Bezeichnung libella [„kleines Pfund“] und dupondius [„Zwei-As-Stück“] kommt. Deshalb wird auch eine Geldstrafe als „schwer“ bezeichnet, und man sagt bei Rechnungen [den Ausgaben] das „Ausgewogene“, ebenso [den Kosten] das „Aufgewogene“, und [für bezahlen] sagt man „abwägen“; ja deshalb spricht man auch von den stipendia der Soldaten, das heißt „den Pfunden von Geld“, von den „Abwägern“ [Kassierern], von „Waagehaltern“, und nach dieser Gewohnheit wird noch heute bei jenen Käufen, die das Eigentum betreffen, eine Waage dazwischen gestellt.
§ 43. König Servius prägte als erster Bronzemünzen. Gemäß Timaios wurden vorher in Rom ungeprägte Bronzebarren (als Zahlungsmittel) verwendet. Die Münze wurde mit dem Zeichen eines Stückes Vieh versehen, woher auch der Name pecunia [„Geld“] stammt. Der höchste Zensus unter jenem König betrug 120 000 Asses, und dies entsprach somit der ersten Vermögensklasse.
§ 44. Silber wurde erstmals im Jahr 485 der Stadt (269 v. Chr.) unter dem Konsulat von Q. Ogulnius und C. Fabius geprägt, fünf Jahre vor dem Ersten Punischen Krieg, und man beschloss, dass ein Denar den Wert von zehn Pfund Bronze haben sollte […]. Das Pfundgewicht der Bronze wurde im Ersten Punischen Krieg reduziert, als der Staat die Kosten nicht mehr tragen konnte. Und es wurde festgelegt, dass der As zum sechsten Teil seines Gewichts geschlagen werden soll. […]
§ 45. Die Prägung dieser Bronzemünze zeigte auf der einen Seite das Doppelgesicht des Ianus, auf der anderen einen Schiffsschnabel, auf dem Triens und dem Quadrans jedoch Flöße. […]
Plin. nat. 33.42–45
Der erste Satz (§ 42) macht deutlich, dass auf die Behandlung der Goldringe ein Bericht über die Golddenare folgt. Der erwartete Bericht wird zunächst zugunsten der chronologisch älteren Silbermünze aufgeschoben und erst in § 46 wieder aufgenommen. Aber auch die Behandlung der Silbermünzen wird zurückgestellt und Plinius referiert einige ihm wichtig erscheinende Fakten über das früheste römische Metallgeld aus Bronze. Seine überwiegend etymologischen Ausführungen, in denen ein beachtliches Wissen in gedrängter Kürze verdichtet ist, beziehen sich zunächst auf einen rechtlichen Kontext. Aus diesem Bereich dürfte ohnehin ein Großteil der Lemmata zum Wortfeld „Geld“ in der römischen Lexikographie stammen.124 Die Klärung von Währungs- und Gewichtssystemen gehörte zu den natürlichen Aufgaben der römischen Jurisprudenz, die sich traditionell mit Rechtsgeschäften per aes et libram befasste (Gaius, inst. 1.122).125 Auch die wenigen theoretischen Überlegungen zum „ontologischen“ Status des Geldes, die aus der Antike überliefert sind, stehen in einem rechtswissenschaftlichen Zusammenhang.126 Die umfassendste Erörterung dazu liefert der spätklassische Jurist Iulius Paulus in den Vorbemerkungen zum Kapitel über Kaufverträge und formlose Vereinbarungen zwischen Käufer und Verkäufer:
Paulus libro trigensimo tertio ad edictum: Origo emendi vendendique a permutationibus coepit. Olim enim non ita erat nummus neque aliud merx, aliud pretium vocabatur, sed unusquisque secundum necessitatem temporum ac rerum utilibus inutilia permutabat […]. Sed quia non semper non facile concurrebat, ut, cum tu haberes quod ego desiderarem, invicem haberem quod tu accipere velles, electa materia est, cuius publica ac perpetua aestimatio difficultatibus permutationum aequalitate quantitatis subveniret. Eaque materia forma publica percussa usum dominiumque non tam ex substantia praebet quam ex quantitate nec ultra merx utrumque, sed alterum pretium vocatur.
Paulus im 33. Buch zum Edikt: Kaufen und Verkaufen haben ihren Ursprung im Warentausch. Denn einst gab es noch kein Geld wie heute, und man nannte nicht das eine „Ware“ und das andere „Preis“, sondern ein jeder tauschte nach dem Bedürfnis der Zeiten und der Umstände Unnützliches gegen Nützliches […]. Da es aber nicht immer und nicht leicht war, dass, wenn du etwas hast, was ich gerne hätte, ich auch etwas bekäme, was du dafür haben möchtest, wurde ein Stoff gewählt, dessen öffentliche und immerwährende Wertschätzung die Schwierigkeiten des Austausches durch die Gleichheit der Menge beheben sollte. Und dieser mit einem staatlichen Zeichen geprägte Stoff verleiht uns Gebrauchswert und Besitz weniger durch seine Beschaffenheit als durch seine Menge, und man nennt nicht mehr beides „Ware“, sondern das eine „Preis“.
Dig. 18.1.1
Münzgeld ist nach Paulus das Ergebnis einer Vereinbarung. Sein Wert ist also weniger materieller Art, sondern besteht kraft offizieller Beglaubigung. Die Ausführungen über den Ursprung von Kaufen und Verkaufen (origo emendi vendendique) lassen die Leserschaft die prekäre Situation ihrer eigenen Gegenwart gleichsam genealogisch nachvollziehen.127 Die hier problematisierte Aufspaltung der genetischen Verbindung zwischen Zeichen und Sache war denn auch Keimzelle juristischer Debatten. So diskutiert Gaius (inst. 3.139–141) die Frage, ob in einem Kaufvertrag der ausgemachte Preis ausschließlich in Münzgeld (numerata pecunia) oder auch in Sachleistungen (homo, toga, fundus) bestehen könne, was die von ihm eingesehenen Rechtsautoritäten offenbar unterschiedlich beantworteten. Einem anderen Bereich, den arithmetischen Teilbeträgen des römischen Münzgeldes, widmete der zu seiner Zeit hoch angesehene Jurist Volusius Maecianus eine eigene Abhandlung. Auch hier wird eine historische Dimension eröffnet, um die Willkür des geltenden Währungs- und Gewichtssystems erklärend zu thematisieren.128
In der römischen Jurisprudenz, in der mos vetus und consuetudo antiqua natürliche Bezugsgrößen darstellten, war das antiquarische Modell ein Verfahren, auf das gewohnheitsmäßig zurückgegriffen wurde (siehe unten S. 215–229). Es ist kein Zufall, dass Justinians Digesten mit denselben Worten beginnen, mit denen auch Ulpian sein erstes Buch der Institutiones eingeleitet hatte: Iuri operam daturum prius nosse oportet, unde nomen iuris descendat (Dig. 1.1.1). Die etymologische Erklärung gehörte wohl schon bei Sex. Aelius Paetus, spätestens aber seit L. Aelius Stilo zum Handwerkszeug der römischen Rechtsexegese. Neben den Begriffen, die in der zitierten Plinius-Stelle explizit einem Kauf- oder Handelskontext zugehören (pendere und Ableitungen, libra, emptio, mancipium), ist auch poena ein juristischer Schlüsselbegriff. Die Erörterung der oben zitierten Stellen bei Cicero (rep. 2.16 und 2.60) und Varro (rust. 2.1.9) ließ bereits erkennen, dass juristische Überlegungen zum Geld häufig im Zusammenhang mit Strafverfahren und Bußgeldern angestellt wurden. Dass Bußgelder (multae) ursprünglich in Schafen und Rindern gemessen und später in Rohkupfer gewogen wurden, war in der Kaiserzeit allgemein bekannt. Zwar gelangen die verfügbaren Quellen hinsichtlich der exakten Beträge zu keinem Konsens,129 doch war im Alltag der Römer dieser Sachverhalt in vielfacher Weise auch symbolisch präsent: neben strafrechtlichen Formularen in fast allen Begriffen und ritualisierten Handlungen, die mit Zahlvorgängen zu tun hatten.130
Etwas abrupt erfolgt bei Plinius im nächsten Satz (§ 43) der Übergang zu einem anderen Diskursbereich. Dass Servius Tullius der schöpferische primus inventor der römischen Münzprägung gewesen sei, entsprach offenbar einer sehr alten historiographischen Tradition. Plinius’ Verweis auf den westgriechischen Historiker Timaios von Taormina (FGrHist 566) als Gewährsmann ist Gegenstand forschungsgeschichtlicher Kontroversen, die hier nicht weiter interessieren.131 Aus numismatischer Sicht scheint jedenfalls ein Missverständnis vorzuliegen, da Timaios als vermeintlicher Zeitgenosse der ersten römischen Münzprägung diese sicher nicht in die Zeit des Servius Tullius zurückdatiert hatte. Vielmehr dürfte er den König als Begründer der ersten normierten römischen Geld- und Gewichtseinheit (in Form von gestempelten Metallbarren) angesehen haben (antea rudi usos).132 Der Zeitpunkt der späteren Verwechslung ist nicht mehr feststellbar.133 Sie war jedenfalls nicht alternativlos. Eine andere Tradition erwähnte Varro in den Annalen (Char. gramm. 1, p. 133, 26–134, 2 Barwick = frg. 1 HRR): idem III annali „nummum argenteum flatum primum a Servio Tullio dicunt. Is IIII scripulis maior fuit quam nunc est“ („Ebenso im dritten Buch der Jahrbücher: Die erste Silbermünze soll von Servius Tullius geprägt worden sein. Sie war vier Skrupel schwerer als heute.“).134 Diese Version widerspricht der von Plinius in § 44 mit ungewöhnlicher Sorgfalt vorgebrachten dreifachen Datierung der ersten Silberprägung auf das Jahr 269 v. Chr., die auch in der historiographischen Literatur bezeugt ist.135 Wie die Fortsetzung in § 43 zeigt (census, prima classis), lag das numismatische Interesse von Historikern wie Timaios, Calpurnius Piso und Livius ganz offensichtlich in der servianischen Verfassungsreform begründet. Die ihm zugeschriebene Einführung der Zenturiatskomitien setzte nämlich aufgrund der vermögensrelevanten Einteilung der Bevölkerungsklassen ein Metallgeld zwangsläufig voraus.136 Die historiographische Tradition hat den Anachronismus weiter ausgestaltet.137 So berichtet Dionysius von Halikarnassos, dass unter Servius Tullius zwecks Volkszählung Männer, Frauen und Kinder eine jeweils unterschiedliche Münze an den Paganalia abgeben mussten (ant. 4.15.4). Er führt noch eine andere Version an, die in den Annalen des L. Calpurnius Piso Frugi nachzulesen sei (FRHist 9 F16). So hätte unter Servius bei der Geburt, bei der Volljährigkeit und beim Tod eines Mannes eine Münze in einem bestimmten Tempel geweiht werden müssen (ant. 4.15.5). Letztere Erzählung ist möglicherweise ein griechischer Import, denn Aristoteles (oec. 2.1347a) schreibt dieselbe Geschichte dem Hippias zu. Der funktionale Zusammenhang ist jedenfalls in beiden Fällen derselbe: Es geht um die Feststellung der Zahl der wehrfähigen Männer (ant. 4.15.5:
Vielleicht sind es diese auf Servius Tullius bezogenen sozial- und institutionsgeschichtlichen Kontexte, in denen die etymologische Herleitung von pecunia bei Plinius ihre bemerkenswerte Modifikation erfuhr (signatum est nota pecudum, unde et pecunia appellata [„Die Münze wurde mit dem Zeichen eines Rindes versehen, woher auch der Name pecunia stammt.“]).139 Dies wird auch durch andere literarische Quellen bestätigt, in denen die Rindergravur auf der ersten Münze erwähnt wird.140 Die Existenz einer archaischen Viehwährung wird zwar logisch noch impliziert, ihre Ablösung durch die Metallwährung aber in die Königszeit vorverlegt. Dadurch wird die Viehwährung nicht nur als Argument innerhalb des Luxusdiskurses entwertet (siehe oben S. 97 f. zu Ov. fast. 5.279–281), sondern auch in klaren Widerspruch zu den rechtsgeschichtlichen Ausführungen über das Bußwesen gebracht. Chronologische Inkonsistenzen ergaben sich ferner mit Blick auf die militärischen stipendia (§ 43 militum stipendia, hoc est stipis pondera [„den stipendia der Soldaten, das heißt ‚den Pfunden von Geld‘ “]), ein weiteres wichtiges Thema der römischen Historiographie, das geldgeschichtliche Reflexionen nötig machte, weil es eng mit der Einführung von staatlichen Steuern und Tributen verknüpft war.141 Ein Reflex darauf zeigt etwa die Definition des spätklassischen Rechtsgelehrten Ulpian:142
„Stipendium“ a stipe appellatum est, quod per stipes, id est modica aera, colligatur. Idem hoc etiam „tributum“ appellari Pomponius ait. Et sane appellatur ab intributione tributum vel ex eo quod militibus tribuatur.
Das Wort stipendium [„Sold“] kommt von stips [„Münze“], weil es sich aus stipes, das sind kleinere Bronzemünzen, ergibt. Pomponius sagt, stipendium werde auch tributum [„Abgabe“] genannt. Und genauso leitet sich das Wort tributum von intributio [„Grundstücksteuer“] ab, oder weil es den Soldaten „zugeteilt“ [tribuatur] wird.
Dig. 50.16.27(1)
Dass historiographische Konstruktionen in der Rechtskunde und der Grammatik argumentatives Gewicht besaßen, verdeutlicht auch die Diskussion um die Etymologie von adsiduus/assiduus. Nach Cicero (top. 10) führte L. Aelius Stilo den im Zwölftafelgesetz erscheinenden Rechtsbegriff auf den Prozess des Bezahlens zurück („assiduus“, ut ait L. Aelius, appellatus ab aere dando). Die Begründung, die Stilo gegen die überlieferte Schreibart adsiduus (und die korrekte Herleitung von ad-sidere) angeführt haben könnte, liefert der Grammatiker Charisius:
Assiduus quidam per d scribunt, quasi sit a sedendo figuratum, sed errant. Nam cum a Servio Tullio populus in quinque classes esset divisus, ut tributum prout quisque possideret inferret, ditiores, qui asses dabant, assidui dicti sunt.
Das Wort assiduus [„fortwährend“] wird von manchen mit einem D geschrieben, als sei es von sedere [„sitzen“] gebildet, aber sie irren sich. Denn als Servius Tullius das Volk in fünf Klassen eingeteilt hatte, damit jeder nach seinem Vermögen Steuern zahlen konnte, nannte man die Wohlhabenderen, die mit Assen zahlten, assidui [„Assegeber“].
Char. gramm. 1 p. 95, 11–15 Barwick
Außerhalb der engeren historiographischen Diskussion um die servianischen Reformen war Servius Tullius als pecuniae inventor nicht zwingend gesetzt und die Position konnte anderweitig vergeben werden. Möglicherweise einem sakralrechtlichen oder zumindest religionsaffinen Kontext entstammt die Tradition, dass Numa Pompilius als erster Münzen prägen ließ.143 Numa galt gemeinhin als Stifter der römischen Sakralgesetzgebung und des römischen Staatskults (sacra publica: Liv. 1.32.2) und mindestens eine der vier Bezeugungen dieser Tradition, nämlich die des Iohannes Lydos, gehört in einen religionsgeschichtlichen Zusammenhang.144 Im Gegensatz zum christlich geprägten Diskurs über Religion, für den monetäre Aspekte nie ein relevantes Thema waren, besaß Geld in der Antike durchaus eine religiöse Semantik.145
Für Rom, wo Münzgeld als Weihegabe diente und das Schatzhaus im Tempel des Saturn untergebracht war, ist der Fall der Iuno Moneta bezeichnend.146 Im Kontext der hier diskutierten Fragestellung erscheint daher ein weiterer Exkurs sinnvoll, da sich im Umgang mit der Iuno Moneta im Kleinen dieselben komplexen heuristischen und hermeneutischen Mechanismen und Prozesse entfalten, die auch das von uns verfolgte antiquarische Modell bestimmen. Zugleich deutet sich bei dieser Mikrobetrachtung bereits eine methodische Schwierigkeit an, die uns im weiteren Verlauf dieser Studie immer wieder beschäftigen wird.
Der Tempel der Iuno Moneta auf dem Kapitol befand sich seit dem frühen 3. Jahrhundert v. Chr. in unmittelbarer Nähe einer römischen Münzstätte, was ein erhebliches symbolisches Potenzial mit sich brachte und schließlich zu einer semantischen Assimilation führte, wie die Metonymie moneta „Münzstätte“ (Cic. Phil. 7.1) beziehungsweise „Münze“ (Ov. fast. 1.222) bezeugt. Bereits in spätrepublikanischen Prägungen als Personifikation des Münzwesens nachweisbar, tritt uns Moneta in flavischer Zeit mit ausgeprägter Ikonographie (stehend mit Füllhorn und Münzwaage) entgegen.147 Zum Tempel und dem Beinamen Moneta waren in der Späten Republik mehrere Aitien im Umlauf. Auch hier stehen die unterschiedlichen Deutungsangebote in einem offenkundigen Kausalzusammenhang mit den Diskursen, in denen sie entstanden sind: Auf der einen Seite steht die bei Livius, Cicero, Ovid, Valerius Maximus und anderen fassbare, im Detail jedoch stark variierende Tradition der römischen Annalistik, welche die Tempelgründung mit einer militärischen Notsituation in Verbindung brachte (moneta [„die Mahnerin“]).148 Ihr gegenüber steht eine alte, offenbar griechisch beeinflusste Tradition, die seit Livius Andronicus fassbar ist und die Göttin mit der griechischen
Wie die bisherigen Ausführungen zeigen, war in Rom die Erforschung der Anfänge grundsätzlich diskursorientiert, wobei das antiquarische Modell lediglich die dafür notwendige heuristisch-interpretative Kombinatorik zur Verfügung stellte. Eine offene Konkurrenzsituation entstand, sobald die jeweiligen Wissensbestände aus den sie bedingenden Verwendungszusammenhängen herausgelöst und einander gegenübergestellt wurden. Wenn verschiedene zirkulierenden Deutungen eines konkreten Sachverhalts isoliert und miteinander verglichen wurden (sei dies im Prozess historiographischer „Quellenforschung“, für eine monographische Abhandlung, einen enzyklopädischen Aufriss oder einen Katalog), kam es zum Phänomen der Mehrfacherklärung.153 Die Pluralität der Deutungen wurde dabei entweder unterdrückt oder offengelegt, wobei ein Autor wiederum seine persönliche Meinung einbringen oder sich in sachlicher Distanz zurückhalten konnte. In der Regel wird der vorangegangene Selektionsprozess nicht transparent gemacht. In literarischen Kommunikationszusammenhängen, die keine argumentative Absicht verfolgen, wie etwa in der Lexikographie, in „Wissenskatalogen“ (siehe unten S. 455–464) oder in der Kommentarliteratur, sowie in Kontexten, in denen Alternativen bewusst als rhetorische oder poetische Technik eingesetzt wurden (etwa der Dichtung), konnen unterschiedliche Traditionen bewusst kontrastierend gegenübergestellt werden. In der Lexikographie werden widersprüchliche Varianten jedoch häufig geglättet, etwa wenn versucht wird, divergierende Wissensbestände in Einklang zu bringen. Ein lehrreiches Exempel bietet in diesem Fall Isidor (orig. 16.18.8): Moneta appellata est, quia monet, ne qua fraus in metallo vel in pondere fiat („Sie heißt Moneta, weil sie davor warnt (monet), mit Geld oder Gewichten zu betrügen.“). Ähnlich wie bei der oben diskutierten Ableitung pecus > pecunia führt auch hier die lexikographische Traditionsvermischung zu einer Harmonisierung konkurrierender aitiologischer Varianten, ohne diese jedoch konkret zu benennen. Ein ähnliches Phänomen scheint auch in einer in der Suda (III,
Die Harmonisierung divergierender Wissensbestände war eine Möglichkeit, den fragwürdig gewordenen Wahrheitsanspruch der eigenen Vergangenheitsdeutung zu bewältigen. Eine andere war es, die Deutungspluralität gleichsam als epistemische Grundkonstante der Wissensgenese zu akzeptieren und Mehrfacherklärungen in diesem Sinne als fachwissenschaftliches Autoritätssignal oder als Ausdruck eines enzyklopädischen Vollständigkeitsanspruchs in Anspruch zu nehmen. Daher sollte das Phänomen der Mehrfacherklärung stets nur mit Blick auf spezifische Medienformate (und ihre Überlieferungszusammenhänge) gedeutet und nicht – im Zuge klischierter Vorstellungen, etwa vom „Sammeleifer“ der Antiquare (siehe oben Kap. 1.2.3.) – mit dem Phänomen des Antiquarianismus gleichgesetzt werden.154
Bei der weiteren Suche nach dem Urheber der römischen Münzprägung stößt man noch auf eine vierte Variante, in der Ianus beziehungsweise Saturn diese Rolle zugeschrieben wird. Auch hier ist der diskursive Entstehungszusammenhang nicht mehr eindeutig zu klären, doch liegt dieser Deutung auf den ersten Blick ein realienkundlicher, genauer: ein „numismatischer“ Zugang zugrunde: In § 45 berichtet Plinius von der Gewichtsverschlechterung des as libralis bei gleichbleibendem Nominalwert, die zur Zeit des Ersten Punischen Krieges zur Schuldentilgung vorgenommen wurde. Diese Münzen hätten auf dem Avers das Doppelgesicht des Ianus (Ianus geminus), auf dem Revers einen Schiffsschnabel (rostrum) aufgewiesen. Tatsächlich sind Münzen mit einer solchen Prägung erhalten.155 Ihr Bildmotiv hat spätestens im ersten Jahrhundert v. Chr. zu aitiologischen Spekulationen geführt. Im Fall des Ianus-rostra-Motivs ist das früheste literarische Zeugnis Ovid, fast. 1.229–254. Vom Dichter gefragt, warum die Münze auf der einen Seite ein Schiff und auf der anderen ein Doppelgesicht zeige (cur navalis in aere altera signata est, altera forma biceps?), erzählt Ianus die Geschichte von der Ankunft des Saturn in Italien. Doch wird hier explizit darauf hingewiesen, dass die Prägung der Münze erst später zur Erinnerung an dieses Ereignis erfolgte (at bona posteritas puppem formavit in aere: 1.239). Auch bei Plutarch (Quaest. Rom. 41), der dieselbe Frage wie der Ich-Erzähler der Fasti stellt (
Cum primus [Ianus] quoque aera signaret, servavit et in hoc Saturni reverentiam, ut quoniam ille navi fuerat advectus, ex una quidem parte sui capitis effigies, ex altera vero navis exprimeretur, quo Saturni memoriam in posteros propagaret. Aes ita fuisse signatum hodieque intellegitur in aleae lusu, cum pueri denarios in sublime iactantes capita aut navia lusu teste vetustatis exclamant.
Als Ianus als Erster Geld prägte, bewahrte er auch hier die Ehrfurcht vor Saturn: Da Saturn mit einem Schiff [in Italien] angekommen war, ließ Ianus auf der einen Seite der Münze seinen eigenen Kopf und auf der anderen Seite ein Schiff prägen, um die Erinnerung an Saturn für die Nachwelt zu bewahren. Dass die Münze so geprägt war, erkennen wir noch heute am Würfelspiel, bei dem Knaben Denare in die Luft werfen und „Kopf“ oder „Schiff“ rufen; so ist das Spiel ein Zeugnis der alten Zeit.
Macr. Sat. 1.7.22
Ianus in Ianiculo habitavit. Qui quod una navi exul venit, in pecunia eius ex una parte Iani caput, ex altera navis signata est.
Ianus lebte auf dem Ianiculum. Denn weil er als Verbannter mit einem Schiff [nach Italien] kam, wurde auf seinem Geld auf der einen Seite der Kopf des Ianus und auf der anderen Seite ein Schiff abgebildet.
Serv. auct. Verg. Aen. 8.357
Saturnia aera Saturno enim in Italia regnante aes in usu fuit, quod etiam postea in aede Saturni condebatur. Unde aerarium dictum est. Nondum enim fuerat argentum atque aurum […]. Illud autem aes una parte capite Iani notatum erat, altera nave, qua Saturnus fugiens ad Italiam vectus est. Bene autem in illo geminum erat signum et hospitalitatis Iani et adventus Saturni.
Saturnische Bronzen Als Saturn nämlich in Italien herrschte, war Bronzegeld in Gebrauch, das auch in späterer Zeit im Saturntempel aufbewahrt wurde. Deshalb nannte man den Tempel aerarium [„Schatzkammer“]. Geld aus Silber und Gold gab es ja noch nicht. […] Diese Bronzemünze war auf der einen Seite mit dem Kopf des Ianus und auf der anderen Seite mit dem Schiff, auf dem Saturn nach Italien flüchtete, geprägt. So trug die Münze in kunstvoller Weise das doppelte Symbolbild von der Gastfreundschaft des Ianus und der Ankunft des Saturn.
Schol. Pers. 2.59, Tradition A, Scholz/Wiener 2009, 70
Eine Quellenangabe bei Macrobius und Parallelen zu Ovid deuten auf dessen Freund Iulius Hyginus, der das Thema möglicherweise in seinem Vergilkommentar oder in einer antiquarischen Fachschrift (De urbibus Italicis?; siehe dazu unten S. 322–325) behandelt hatte.157 In dieselbe Tradition gehört wohl auch eine Passage bei Paulinus von Nola (carm. 32.73–77), die deutliche Parallelen zu Macrobius aufweist, aber wie bei Servius auctus Saturn unterdrückt und Ianus zum alleinigen Ankömmling macht.158
Eine weitere, in ihrer Herkunft schwer zu bestimmende Variante bietet Tertullian, der im Zuge seiner euhemeristischen Deutung der antiken Götter Saturn als menschlichen Kulturbringer darstellt (Tert. apol. 10.8): ab ipso [Saturno] primum tabulae et imagine signatus nummus. Et inde aerario praesidet („Von ihm stammen die Schrifttafeln und die Münzen mit Bildprägung. Deshalb ist er der Schirmherr des Staatsschatzes.“). Dahinter mag eine aitiologische Erklärung des Umstandes stehen, dass sich die römische Schatzkammer nach uraltem Brauch im Tempel des Saturn befand.159 Tertullian war sicher nicht der Urheber dieser Deutung; seine Beweisführung überzeugt nur, wenn dieses Wissen seinem Publikum einigermaßen geläufig war. Die Erwähnung des Aerarium scheint, wie Schol. Pers. 2.59 zeigt, als Quelle erneut auf die grammatische Dichterauslegung hinzudeuten. Allerdings hat Tertullian kurz zuvor verschiedene Historiker als Zeugen aufgeführt.160 Aus der Poesie stammt auch die Erzählung vom Kulturbringer Saturn,161 die bei Tertullian zur Behauptung führt, dass nicht nur die Münze, sondern auch die Schrifttafeln beziehungsweise die Schrift selbst (tabulae) auf ihn zurückgingen. Diese Ansicht findet sich sonst nur noch bei Minucius Felix, der die bei Tertullian genannten kulturellen Errungenschaften Schrift und Münze noch um die Werkzeuge (instrumenta) zu einer Dreierreihe ergänzt (traditionell ist nur der Ackerbau), im übrigen aber die Passage in Stoff und Formulierung eng ans achte Buch der Aeneis Vergils anschließen lässt.162 Im Kontext unserer Fragestellung ist die Art und Weise interessant, in der die beiden christlichen Apologeten die Technik der Aitiologie und der Etymologie zur Rationalisierung des Saturn-Mythos einsetzten. Wie später bei Arnobius und Augustinus wurde antiquarisches Wissen so aktualisiert, dass es die Plausibilität der christlichen Beweisführung erhöhte. Der Wirkungskontext ist also ein ganz anderer als in der grundsätzlich pluralitätsaffinen Dichterexegese, aus der Tertullian und Minucius ihren Stoff mutmaßlich bezogen haben.
Neben der Ianus-rostra-Emission erwähnt Plinius in § 45 noch die Gravur zweier anderer Münzeinheiten, die des Drittelas (triens) und des Viertelas (quadrans). Beide hätten das Motiv eines Floßes oder Kahns (ratis) getragen.163 Die Analyse dieses scheinbar unbedeutenden Details führt uns einmal mehr den Modus antiquarischer Wissensgenese vor Augen und verweist zugleich auf die Schwierigkeiten, die uns die fragmentarische Überlieferung der Texte bereitet (siehe unten Kap. 3.). Es ist zunächst unwahrscheinlich, dass Plinius eine solche Münze selbst gesehen hat. Zwar hat er sein Wissen nachweislich mit ihm zugänglichen Realien abgeglichen, auch mögen „alte“ Münzen als Sammelobjekte beliebt gewesen sein,164 ob es aber tatsächlich eine Prägung mit dem Floßmotiv gegeben hat, ist aufgrund des archäologischen Befundes fraglich. Wie kommt Plinius dann zu dieser Behauptung, die er ohne die in strittigen Sachfragen übliche Verwahrungsklausel (dicunt, putant o. ä.) aufstellt? Zwei grammatisch-etymologische Notizen bieten eine mögliche Lösung für dieses Problem. Die ältere findet sich in Varro, ling. 5.44. Die uns betreffende Information steht im Kontext der Etymologie des Aventin, den Varro nach der Diskussion verschiedener Alternativen auf advectus „Hinfahrt“ zurückführt.165 Der Hügel sei damals von Sümpfen umgeben und nur mit einem Floss erreichbar gewesen, woran auch der Name des Velabrum erinnere.166 Die Kosten für die Überfahrt hätten sich auf einen Quadrans belaufen:
Velabrum a vehendo. Velaturam facere etiam nunc dicuntur qui id mercede faciunt. Merces (dicitur a merendo et aere) huic vecturae qui ratibus transibant quadrans. Ab eo Lucilius scripsit: … quadrantis ratiti.
Das Velabrum leitet sich von vehere [„fahren“] ab. Velaturam facere [„ein Fuhrwesen betreiben“] sagen auch heute noch die, die das von Berufs wegen tun. Merces [„Lohn“] (genannt von merere [„verdienen“] und aes [„Geld“]) für jene Überfahrt, die man mit Flößen [zum Velabrum] unternahm, war ein Quadrans. Daher schrieb auch Lucilius: „für einen Flößerquadrans“.
Varro ling. 5.44
Im Hintergrund des beweiskräftigen Lucilius-Zitats scheint eine auf archaische Lexik spezialisierte grammatische Fachschrift zu stehen. Der Ausdruck quadrans ratitus war jedenfalls zur Zeit Varros nicht mehr gebräuchlich und auch nicht ohne weiteres verständlich. Aus Varros Formulierung geht allerdings nicht hervor, ob er meinte, dass man zur Zeit des Lucilius noch mit dem Floß zum Aventin übersetzte, oder ob er den Ausdruck nur als Reminiszenz an diese altrömischen Verhältnisse auffasste.167
Ein anderer Erklärungsansatz liegt der zweiten Notiz zugrunde (Paul. Fest. p. 341, 2–3 Lindsay): ratitum quadrantem dictum putant, quod in eo et triente ratis fuerint effigies, ut navis in asse („Man nimmt an, dass es ratitus quadrans heisst, weil darauf und auf dem Triens das Bild eines Floßes zu sehen war, so wie das eines Schiffes auf dem As.“). Die etymologische Deutung erfolgt hier nicht aus dem Begriff selbst, sondern aus der Gravur der Münze, die nach Verrius Flaccus, aus dessen Reallexikon die Stelle exzerpiert ist, ein Floß oder einen Kahn darstellte. Die Ähnlichkeit mit der Plinius-Stelle ist offensichtlich. Die Analogie mit dem Schiffsbug des As sowie die Erwähnung des Triens, der den gleichen Bildtypus getragen haben soll, deuten darauf hin, dass sich Plinius in § 45 auf Verrius gestützt hat.168 Wie kamen die beiden gelehrten Augusteer zu so unterschiedlichen Ergebnissen? Die Erklärung liegt in der angewandten Methode. Das Beispiel veranschaulicht die beiden kombinatorischen Praktiken, die das antiquarische Modell dem antiken Interpreten an die Hand gab: Im ersten Fall beruht die Zeicheninterpretation auf einer rein philologischen Ableitung, im zweiten Fall auf einem induktiven Verfahren, das die Vergangenheit aus materiellen Überresten erschließt. Aufschlussreich ist die nur fragmentarisch erhaltene Festus-Stelle, auf der die oben zitierte Passage der Paulus-Epitome beruht (Fest. p. 340, 7–11 Lindsay): ut navis in as⟨se⟩ … quoque ratitum … ratiti Antonius … trientes putat … („wie ein Schiff auf dem As … auch [quadrans] ratitus … ratiti Antonius … hielt für Drittelas-Münzen …“). Der Eintrag lässt auf Autopsie schließen: Angeregt durch die mit einem Schiffsmotiv versehene Münzemission der Flottenpräfekten des Marcus Antonius169 und vielleicht in Kenntnis republikanischer rostra-Prägungen scheint Verrius Flaccus den ihm nur als Begriff fassbaren quadrans ratitus im Analogieprinzip rückwirkend als Realie erschlossen zu haben. An beweiskräftigem Parallelmaterial hat es ihm nicht gemangelt, wie die bei Plinius erwähnten (nummi) quadrigati, victoriati und bigati zeigen, die mit entsprechenden Abbildungen versehen waren. Trotz der beachtlichen hermeneutischen Leistung dürften jedoch beide Deutungsansätze fehlgehen: Hinter dem quadrans ratitus verbirgt sich mit großer Wahrscheinlichkeit eine poetische Wortschöpfung des Lucilius, die in der grammatischen Fachliteratur, auf die sich Varro und Verrius Flaccus hier vermutlich stützten, als Beschreibung eines konkreten Münztyps missverstanden wurde.170
2.3.4 Fazit
Der römische Diskurs über die Anfänge und die Herkunft des Geldes bietet noch weitere Bereiche, auf deren Aufweis hier verzichtet wird.171 Die Fallstudie hat ihren Sinn erfüllt, wenn sie die heuristische Valenz und das analytische Potential des definierten antiquarischen Modells in ihren einzelnen Kategorien hervortreten lässt. Die Frage nach den Ursprüngen des Geldwesens und den Archegeten der römischen Münzprägung hat die variablen literarischen Gebrauchs- und Gattungszusammenhänge offengelegt, in denen antiquarische Praktiken innerhalb von variablen poetischen, historiographischen, juristischen und ökonomischen Diskursen zur Anwendung kamen. Eine inhaltliche Kohärenz ist bei einem derart diskursorientierten Vergangenheitswissen nicht zu erwarten; die vorgeführte Deutungsvarianz ist das natürliche Ergebnis unterschiedlicher situativer Aktualisierungen und Vergegenwärtigungen. Zugleich hat die Analyse exemplarisch die methodischen Schwierigkeiten hervortreten lassen, die sich durch den bruchstückhaften Erhaltungszustand des antiquarischen Schrifttums und die komplexen Mechanismen der antiken Wissensproduktion und Wissenstransmission für die vorliegende Studie ergeben werden. Diesem Themenkomplex ist das folgende Kapitel gewidmet.
Exemplarisch ist der Sammelband von Schnapp/Falkenhausen/Miller/Murray 2013, in dem jeder Beiträger eine eigene passgenaue ad-hoc-Definition entwirft; dazu kritisch MacRae 2017a, 342 Anm. 25. Pragmatisch ist auch der Zugang von Drijvers/Focanti/Praet/Van Nuffelen 2018, die von einem „antiquarian archipelago“ ausgehen und „different antiquarianisms for different needs“ bestimmen (919). In anderen Fällen ist Antiquarianismus schlichtweg bedeutungsgleich mit einer Hinwendung zur Antike, vgl. z. B. Melzak 1990, 629: „antiquarian activities […] that is the collection, reuse, and copying of late antique works.“ An der Frühen Neuzeit ausgerichtet ist die Definition von Stenhouse 2010, der den Begriff, wie Momigliano, auch auf die Antike appliziert. Zur Problematik dieses Vorgehens siehe oben Kap. 1.1.
Das dem Antiquarianismus immer wieder nachgesagte Sammeln aller greifbaren Dinge aus der Vergangenheit (vgl. z. B. Moatti 2015, 95: „[the antiquarian] was simply a great collector of everything from the past“) ist ein Merkmal der synoptisch ausgerichteten Korpuswerke der Frühen Neuzeit. Pointiert Schnapp 2009, 72: „Der Antiquar unterscheidet sich also insofern vom Historiker, als er von der Sammlung von Fakten oder Objekten ausging, während Letzterer Fragestellungen aufwarf, die ihn dann zu den Gegenständen und Fakten führten. Das ist ein feiner Unterschied, der fortan einen dauernden Einfluss auf die Organisation und Entwicklung der historischen Wissenschaften und die Einstellung der Menschen gegenüber der Vergangenheit nahm.“
Hung 2010; Miller/Louis 2012; Schnapp/Falkenhausen/Miller/Murray 2013; Schnapp 2020; Anderson/Rojas 2017; Devecka 2020.
Siehe dazu Ebeling/Altekamp 2004.
Schnapp 2009. Der komparatistische Ansatz des World Antiquarianism hat trotz der damit verbundenen Einengung auf materiale Sachobjekte die Begriffsbestimmung weiter verwässert, vgl. Anderson/Rojas 2017, 1: „people who are interested in and knowledgeable about the material traces of the past.“
Siehe dazu oben Kap. 1.1.
Z. B. Onofrio Panvinio, De his qui Romanas antiquitates scripto comprehenderunt, § 2 (ed. Ferrary 1996, 49–62): Vetustissimus igitur omnium (ut in libro De Civitate Dei, cap. iii tradit Divus Augustinus) est M. Varro […]. Quum vero hi libri [scil. Antiquitates] interciderunt, hunc laborem, et vetusta haec quae a recentioribus praeterita sunt, renovanda suscepi; Iohannes Rosinus, Antiquitates Romanae, Epistola dedicatoria (Basel 1583, unpaginiert): Apud veteres quidem Romanos plurimi eruditione et prudentia clari et praestantes viri certatim hoc egerunt, ut veterum morum, rituum et ceremoniarum origines et causas scriptis comprehenderent, et posteritati proderunt: quorum nomina apud Grammaticos antiquos, et alios Scriptores Miscellaneos passim reperiuntur, monumenta interciderunt. In primis autem Marcus Terentius Varro, cuius illustria Elogia apud Ciceronem, et illud lumen Ecclesiae Aurelium Augustinum extant, tum alia de hac materia literis mandavit, tum quadraginta et unum libros Antiquitatum ad C. Iul. Caesarem Pontificem Maximum scripsit quos in res humanas divinasque divisit. […] Post obitum Varronis, humaniores literae et antiquitatis studia sensim labi coeperunt, et tandem prorsus iacuerunt, donec patrum nostrorum memoria Flavius Blondus Foroliviensis ea ex tenebris eruere, et ab interitu vindicare primus studuit, cuius vestigia multi sunt secuti. Zur Tradition siehe Herklotz 1999, 240 ff. und MacRae 2018, 139 ff. mit weiterer Literatur.
Exemplarisch für die Bandbreite der Quellen der frühneuzeitlichen Antiquare mag hier die Liste der Gewährsmänner aus De inventoribus rerum des Polydorus Vergil gelten (155 Titel von 88 klassischen, patristischen und frühmittelalterlichen Autoren); eine tabellarische Auflistung bietet Copenhaver 1978, 204–205.
Tac. dial. 21.4: compositio et […] sensus redolent antiquitatem; nec quemquam adeo antiquarium puto, ut Caelium ex ea parte laudet, qua antiquus est; 37.2: nescio an venerint in manus vestras haec vetera quae et in antiquariorum bibliothecis adhuc manent; 42.2; Iuv. 6.454: ignotosque mihi tenet antiquaria versus; Suet. Aug. 86: cacozelos et antiquarios … pari fastidio sprevit.
Lyd. mens. I.33 Wünsch:
Sawilla 2009, 238 mit der einschlägigen Literatur.
Ein Beispiel bietet Salmeri 2001, 265–266.
Vgl. Gell. 5.4.1: vir memoria nostra doctissimus; Gell. 7.5.1: rerumque antiquarum non incuriosus; Cic. Brut. 81: et iuris et litterarum et antiquitatis bene peritus; Macr. Sat. 3.9.2: vetusta persequentibus. Vgl. Moatti 2015, 95: „Antiquarian study implies a state of mind, a particular method rather than a branch of learning: one is ‚expert in ancient things‘ (litteratus, eruditus, curiosus, peritus antiquitatis), but specifically as a jurist, an orator or a grammarian.“
Dies gilt bereits für das erste Buch des Thukydides, siehe dazu Täubler 1927, 3 ff. Gesonderte „Frühgeschichten“ (
MacRae 2018.
König/Woolf 2013a, 1.
Die im Folgenden aus pragmatischen Gründen getroffene Engschließung der medialen Realisierungen auf „Texte“ soll nicht besagen, dass sich antiquarische Handlungsmuster in der Antike nicht auch in anderen Medien nachweisen lassen.
Antiquarianismus ordnet sich damit nahtlos in die römische Geschichtsbetrachtung ein, die generell die Tendenz aufweist, die Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Siehe dazu etwa Klingner 1965, 69 sowie die Ausführungen weiter unten Kap. 6.1.2. Eine Grundkonstante des historischen Denkens sieht darin Wiersing 2007, 19: „Immer ist Gegenwart zwangsläufig eine Fortsetzung von Vergangenheit und immer befindet sich jede Veränderung zur Zukunft hin im Strom der Zeit.“ Dass das in der Vergangenheit angesiedelte Wissen stets gegenwartsfixiert und damit Veränderungen ausgesetzt ist, hat die systemische Gedächtnistheorie hervorgehoben (u. a. Assmann 1999, 17). Auch die Mythologie hat, als Teil des antiken Vergangenheitsdiskurses, eine imminente vergegenwärtigende Funktion, indem sie die Komplexitäten menschlicher Gegenwart in direkte Verbindung mit der „sinnfälligen“ Welt der Götter und Heroen bringt. Siehe dazu Kirk 1970, 258.
Plat. Phaid. 96a:
Dass das Interesse an den causae und origines ein wichtiges Element des römischen Antiquarianismus darstellt, ist innerhalb der Fachdebatte unbestritten, siehe z. B. Rawson 1985, 233; Cornell 1995a, 18 („Whatever the particular subject, antiquarians almost invariably investigated the meaning and origins of technical words, personal names, place-names, archaic expressions […]“); Stevenson 2004, 124 („a tendency to explain matters by looking at the origins of whatever is under discussion“); Volk 2021, 185–186. Der hier vorgeschlagene Neuansatz besteht in der Verabsolutierung der kausalen Herkunfts- und Ursprungsfrage zum explikativen Denkmodell.
Siehe dazu weiter unten S. 68–72. Eine Universalgeschichte dieser Relikte im weiteren Sinn („ruines“) und der sie betreffenden gesellschaftlichen Diskurse hat Schnapp 2020 vorgelegt.
Das narrative Vorgehen entspricht damit im Wesentlichen dem Verfahren, das Glenn Most als „Historisierung“ beschrieben hat, vgl. Most 2001, viii: „what is specific about the act of historicization is that it resituates the defamiliarized element within the context of its origins and asserts that its essence is determined by where it came from historically, its moment of origin. This removal of an element from the present and its recontextualization within the situation of its origins creates a temporal gap between two moments, the present in which one finds oneself and the past which one has reconstituted as an origin.“
Harder 2003, 304.
Clarke 1999, 304: „Strabo was not interested in the continuous history of each place, but in significant moments of transformation and redefinition which formed part of the place’s present identity“ und 306: „The past is crucial, but only in so far as it created the present world.“ Siehe unten S. 472 f.
Ovids Metamorphosen ist – ebenso wie seinen Vorbildern, etwa Nikanders Heteroioumena – als Sammlung aitiologischer Verwandlungssagen das antiquarische Denkmodell eingeschrieben. Zur aitiologischen Dichtung als Phänomen der hellenistischen und augusteischen Literatur siehe unten S. 125 und 398–414.
Damit unterscheidet sich die antiquarische Zielsetzung fundamental von jenen Zugängen, die in erster Linie eine Orientierung innerhalb der Vergangenheit bieten wollten, wie es etwa die Priesterlisten griechischer Heiligtümer oder die Annalen der römischen Pontifices tun, in denen die Gegenwart als das Ergebnis einer kontinuierlich nachvollziehbaren Vergangenheit erscheint.
Zur Instabilität von Gründungsgeschichten und Ursprungslegenden, die sich verändern konnten, wenn sie mit den sozialen Realitäten nicht mehr kommensurabel waren, siehe u. a. Hölscher 1993. Grundlegend ist Bruner 1998, 69: „Erzählungen vermitteln ein Echo sich verändernder Normen auf eine Art und Weise, wie es andere Formen der Sinnbildung nicht vermögen.“
Siehe dazu Agnosini 2018.
Die Vorstellungen vom „Altertum“ änderten sich zudem mit fortschreitender Zeit: Im republikanischen Rom war es die Königszeit; in der Kaiserzeit die Republik (vgl. Quint. inst. 4.1.9; 9.3.1: ut omnes veteres et Cicero praecipue); in der Spätantike die Republik und frühe Kaiserzeit (sichtbar etwa in den justinianischen Novellen: Nov. 24 praef.; 25 praef. – In Procop. hist. 4.3.26 bezog sich
Z. B. in Tert. spect. 5.4–8: Libero a rusticis primo fiebant […]. Exinde ludi Consualia dicti […]. Dehinc Equiria ab equis Marti Romulus dixit […]. Dehinc idem Romulus Iovi Feretrio ludos instituit […]. Post Numa Pompilius Marti et Robigini fecit […]; dehinc Tullus Hostilius, dehinc Ancus Martius et ceteri; zur diachronen Sequenz
Zur dahinterstehenden genealogischen Denkfigur siehe unten S. 79–80; zu Zenon und dem negativen Kulturklischee der kleinasiatischen Isaurier in der Spätantike De Cicco 2018, 998–999. Zur Genealogie in Enkomion und Invektive siehe Speyer, RAC 9 (1976), 1170–1172 und 1190–1193.
Zum hier angewandten „kulturwissenschaftlichen“ Kulturbegriff siehe Böhme 1996.
In der Antike äußert sich letztere als unmittelbare empirische Erfahrung neben der Sprache auch im Bereich des Rechts. Siehe dazu unten S. 102–104. Ein Beispiel einer derartigen Kontingenzerfahrung findet sich in Varros Kommentar über den Grund, warum der Gott Summanus in Vergessenheit geriet (Aug. civ. 4.23 = Ant. rer. div. I frg. 42 Cardauns): Romani veteres nescio quem Summanum, cui nocturna fulmina tribuebant, coluerunt magis quam Iovem, ad quem diurna fulmina pertinerent. Sed postquam Iovi templum insigne ac sublime constructum est, propter aedis dignitatem sic ad eum multitudo confluxit, ut vix inveniatur qui Summani nomen, quod audire iam non potest, se saltem legisse meminerit. Zu Varros Krisennarrativ siehe unten Kap. 6.2.3, bes. S. 382–394.
Häufiger bei Varro, vgl. z. B. ling. 5.42: Antiquum oppidum in hoc [sc. monte] fuisse Saturniam scribitur. Eius vestigia etiam nunc manent tria; ling. 5.183: vestigium etiam nunc manet in aede Saturni; ling. 6.18: vestigia fugae in sacris apparent; ling. 6.28: harum rerum vestigia apparent in sacris nonalibus in arce.
Varro ling. 6.2: quae obruta vetustate ut potero eruere conabor. Siehe dazu mit weiteren Beispielen Moatti 2015, 150. Zum modernen Paradigma der „Spurensicherung“ (Indiziensuche und Abduktion) siehe Volli 2002, 178–182.
Z.B. Schnapp 2009, 72 und 78: „Die Beschreibung der Menschen, ihrer Handlungen, Institutionen und Produkte war zugleich Mittel und Zweck der antiquarischen Studien. Die Frage nach Sinn und Bedeutung des Unternehmens wurde beim Sammeln der Einzelheiten und der Aufstellung des Katalogs nicht im Vorhinein gestellt, sondern folgte diesen Tätigkeiten.“
Dies gilt noch für die Späte Republik, siehe Cornell 1995a, 23: „Some modern books give the impression that in the late Republic very little survived from the city’s ancient past. This absurd view is the exact opposite of the truth. The amount of evidence available to anyone in the late Republic who wished to investigate the archaic period was simply overwhelming.“
Liv. 1.9.11; Plut. Quaest. Rom. 31. Siehe dazu Wiseman 1983, 446.
So schon belegt bei C. Acilius, einem Zeitgenossen des älteren Cato: FRHist 7 F5; vgl. ferner Diod. 4.85.3; Dion. Hal. ant. 19.2.2; Strab. 6.1.6; Plin. nat. 3.86.
Ein anschauliches Beispiel ist die pseudo-plutarchische Schrift De fluviis. Siehe dazu unten S. 463 f.
Wichtig ist dieser Ansatz für die Sprach- und Institutionsforschung. Für Varro wurde diese genealogisch-rekonstruktive Methode kürzlich von Piras 2017 und Leonardis 2019, 125–139 herausgestellt.
Dies impliziert nicht, dass jedes Objekt deswegen auch eine erinnerungsstiftende Funktion besaß, siehe Walter 2004, 155–156; Hartmann 2010, 21–22.
Annius Fetialis erklärte (möglicherweise in einer antiquarischen Fachschrift; siehe unten S. 31 f.) die Statue eines Mädchens zu Pferd (Plin. nat. 34.29) und wich dabei von der etablierten Meinung des Calpurnius Piso Frugi ab. Zur grundsätzlichen Erklärungsbedürftigkeit von Monumenten in der Antike siehe Walter 2004, 215 mit weiterführender Literatur.
Frg. 3 Battegazzore/Untersteiner 1962 (= Mall. Theodor. de metr. p. 19): metrum dactylicum hexametrum inventum primitus ab Orpheo Critias asserit.
Zur origo artis als rhetorischer Topos siehe Thraede, RAC 5 (1962), 1201–1204; zu Lukian Herklotz 1999, 191.
Zu diesem Prozess des „reverse engineering“ siehe mit Blick auf die Etymologie Sluiter 2015, 904.
Varro ling. 6.18: Dies poplifugia videtur nominatus, quod eo die tumultu repente fugerit populus. Non multo enim post hic dies quam decessus Gallorum ex urbe, et qui tum sub urbe populi, ut Ficuleates ac Fidenates et finitimi alii, contra nos coniurarunt. Aliquot huius diei vestigia fugae in sacris apparent, de quibus rebus Antiquitatum libri plura referunt. Alternative Auslegungen des Anlasses bieten Macr. Sat. 3.2.14 (ein Angriff der Etrusker); Dion. Hal. ant. 2.56.5 und Plut. Rom. 29 (die Entrückung des Romulus). Die varronische Etymologie ist mit Blick auf das Regifugium („die Vertreibung des Königs“) nicht unproblematisch. Rose 1934, 158 argumentierte daher dafür, dass das Fest einem „Iuppiter Poplifugus“ galt, qui fugat exercitum. Vgl. ferner Latte 1960, 128; Schulz 2011, 59–74. Ein anderes Beispiel eines antiquarischen Indizienrückschlusses aufgrund einer gegenwärtigen Kultpraktik findet sich bei Fest. p. 150, 36–152, 3 Lindsay: Murrata potione usos antiquos indicio est, quod etiam nunc aediles per supplicationes dis addunt ad pulvinaria, et quod XII tabulis cavetur, ne mortuo indatur, ut ait Varro in Antiquitatum lib. I (= Ant. rer. hum. I frg. 12 Mirsch).
Fest. p. 344, 3–11 Lindsay: Refriva faba dicitur, ut ait Cincius quoque, quae ad sacrificium referri solet domum ex segete auspici causa; quasi revocant fruges, ut domum †datantes tevirtico† ad rem faciendam. Aelius dubitat, an ea sit, quae prolata in segetem domum referatur, an quae refrigatur, quod est torreatur. Sed opinionem Cinci adiuvat, quod in sacrificiis publicis, cum puls favata dis datur, nominatur refriva.
Zu den möglichen Quellen Varros äußerte sich Rawson 1985, 238–340. Als Fundort schriftlicher Quellen in der Späten Republik macht Culham 1989, 112–114 nicht das staatliche aerarium, sondern in erster Linie private Archive aristokratischer Familien wahrscheinlich. Zu den Archiven der Republik siehe die Beiträge in Moatti 1998.
Varro ling. 6.4: Meridies ab eo quod medius dies. D antiqui, non R in hoc dicebant, ut Praeneste incisum in solario vidi. Vgl. zur Sache auch Quint. inst. 1.6.30: nonnumquam etiam barbara ab emendatis conatur [sc. etymologia] discernere, ut cum ‚Triquetram‘ dici Siciliam an ‚Triquedram‘, ‚meridiem‘ an ‚medidiem‘ oporteat, quaeritur.
Anders als Riposati hat Pittà 2015, 122–123 die Stelle aus Plinius’ Exkurs zum römischen Kleiderwesen (nat. 8.194–197) nicht unter die Fragmente der De vita populi Romani aufgenommen. Wie im Exkurs zum Ursprung des Weins (nat. 14,89–97) stützte sich Plinius hier zwar nachweislich auf Varro, doch könnte er die verwendeten Informationen auch in den Antiquitates rerum humanarum oder einem anderen von Varros Werken gefunden haben. Zum Problem der fragmentarischen Überlieferung siehe unten Kap. 3.3; zu De vita populi Romani siehe unten S. 337–342.
Vgl. Cic. Rab. perd. 15 (ex annalium monumentis atque ex regum commentariis); Liv. 1.60.4; Fest. p. 290, 17–20 Lindsay (commentarii des Servius Tullius, die bei der Abhaltung der Zenturiatskomitien zu Grunde gelegt wurden). Zur Affäre um den angeblichen Fund der Schriften Numas, an deren Echtheit offenbar weder Varro noch sonst jemand Zweifel hegte, siehe unten S. 238–244.
Siehe dazu unten S. 194 f. (Polemon von Ilion); S. 246–248 (Cincius’ libri
Zur Verbindung von Historisierung und Narrativisierung siehe Most 2001, viii. Die Ubiquität der Denkfigur in der Antike ist seit einigen Jahren in den Fokus der Forschung gekommen, siehe dazu aus unterschiedlichen Perspektiven Delattre 2009; Walter 2019a; Walter 2020 sowie die Beiträge Chassignet 2008; Reitz/Walter 2014; Mac Sweeney 2015; Wessels/Klooster 2022.
Bing 1988, 71.
Binder 1988, 264; vgl. Loehr 1996, 25–31.
Zum Beispiel Chassignet 1999, 85: „les préoccupations […] pour l’étymologie et l’éponymie, qui, de fait, ne sont que des cas particuliers de l’étiologie.“; ebenso Chassignet 1998 passim. In diese Richtung geht auch der Ansatz von Badura 2021 und Badura 2022.
„Etymologische Aitiologie“, so z. B. Vergados 2014, passim; auch Walt 1997, 174.
Siehe dazu u. a. Shechter 1963; Miller 1982; Myers 1994; O’Hara 1996, 21–23; zu etymologischen Wortspielen in der augusteischen Dichtung im Allgemeinen Ahl 1985; Cairns 1996; Michalopoulos 2001; Michalopoulos 2002; Hinds 2006.
In ihrem Bestreben nach der Offenbarung einer grundsätzlich immerwährenden Wahrheit ist die stoische Etymologie hier nicht deckungsgleich mit der antiquarischen Praxis, welche auch punktuelle und damit historisch kontingente „Schöpfungen“ akzeptierte.
So z. B. in ling. 5.41: Capitolinum dictum, quod hic, cum fundamenta foderentur aedis Iovis, caput humanum dicitur inventum; 6.13: Ecurria ab equorum cursu. Eo die enim ludis currunt in Martio campo; 6.20: Vinalia rustica dicuntur ante diem XII Kalendas Septembres, quod tum Veneri dedicata aedes et horti ei deae dicantur. Dass die antike Etymologie in erster Linie auf eine Gegenwartsdeutung abzielt, betont Sluiter 2015, 898: „ancient etymology is about understanding the present.“
Z. B. Gaius, Ad legem XII tabularum 1 (= Dig. 50.16.233 praef.): „Si calvitur“: et moretur et frustretur. Inde et calumniatores appellati sunt, quia per fraudem et frustrationem alios vexarent litibus: inde et cavillatio dicta est. Siehe dazu Babusiaux 2014, 42.
Serv. auct. Verg. Aen. 7.631: Cassius Hemina tradidit Siculum quendam nomine uxoris suae Clytemestrae condidisse Clytemestrum, mox corrupto nomine Crustumerium dictum. Beispiele aus Herodot bietet Dougherty 1993, 106–107; zu Hekataios siehe Woodhead 1928, 31.
Beispiele nennt Thraede, RAC 5 (1962), 1236–1237.
Beispiele nennen Thraede, RAC 5 (1962), 1236–1238 und Opelt, RAC 6 (1966), 807–809.
Gute Beispiele hat Woodhead 1928, 26 ff.; eine exemplarische Analyse bietet Ambrose 1980.
Zur Etymologie als Denkform siehe Curtius 1978 (Exkurs XIV); Sluiter 2015; für die spätere Zeit Amsler 1989; speziell zur Jurisprudenz Babusiaux 2014. Zur antiken Etymologie siehe ferner Bernecker 1994, 1544–1549; Lallot 1991; Herbermann 1991; Willer 2003, 28–40 sowie die Einleitungen in Nifadopoulos 2003 und Zucker/Le Feuvre 2021.
Badura 2022, 30.
Quintilian behandelt die Etymologie in inst. 1.6.28–38; siehe dazu den Kommentar bei Ax 2011, 273–282.
Vgl. auch Cic. ac. 1.32: verborum etiam explicatio probabatur, id est, qua de causa quaeque essent ita nominata, quam
Amsler 1989, 29.
So Babusiaux 2014, 44; alternativ bezog Völkl 1984, 87–88. die Stelle auf den Rechtssatz si telum manu fugit magis quam iecit.
Zur römischen Vorstellung des Einflusses der solonischen Gesetze auf die XII-Tafelgesetzgebung siehe unten S. 225.
Vgl. seine verhaltene Kritik an Aelius Stilo, weil dieser ein griechisches Lehnwort irrtümlicherweise auf latinische Wurzeln zurückgeführt habe. Dennoch verdiene dessen Fleiß Lob, denn „der Erfolg selbst hängt vom Glück ab, Lob wird dem Versuch zuteil.“ Gell. 1.18.1–2 (= Ant. rer. div. XIV frg. 89 Cardauns): In XIIII rerum divinarum libro M. Varro doctissimum tunc civitatis hominem L. Aelium errasse ostendit, quod vocabulum Graecum vetus traductum in linguam Romanam, proinde atque si primitus Latine fictum esset, resolverit in voces Latinas ratione etymologica falsa. Verba ipsa super ea re Varronis posuimus: „In quo L. Aelius noster, litteris ornatissimus memoria nostra, erravit aliquotiens. Nam aliquot verborum Graecorum antiquiorum, proinde atque essent propria nostra, reddidit causas falsas. Non enim ‚leporem‘ dicimus, ut ait, quod est levipes, sed quod est vocabulum anticum Graecum. Multa vetera illorum ignorantur, quod pro his aliis nunc vocabulis utuntur; et illorum esse plerique ignorent ‚Graecum‘, quod nunc nominant
Spekulationen dieser Art waren keine Seltenheit, vgl. Festus’ Polemik gegen Verrius Flaccus in Fest. p. 476, 36–478, 2 Lindsay: Satis verbum Verrio melius fuit praeterire, ut mihi videtur, quam tam absurdi (codd. absuri qui) opiniones suas de eo recitare (codd. restare); quas sciens praeteri⟨i⟩, tam hercules, quam de scabro, quod proximum sequebatur. Zu seiner wiederholten Kritik an Verrius Flaccus und ihrer Bewandtnis siehe unten S. 376–378.
Zur genealogischen Konstruktion von Vergangenheit liegt eine Reihe neuerer Studien vor, siehe u. a. Möller 1996; Heck/Jahn 2000; Renger/Toral-Niehoff 2014. Einen konzisen Überblick des Phänomens in der nichtchristlichen und christlichen Antike bietet Speyer, RAC 9 (1976), 1145–1268.
Vgl. z. B. Dion. Hal. ant. Rom. 8.80 (zur Frage, wie Griechen und Römer mit den Söhnen von Tyrannen und Hochverrätern rechtlich verfahren) und Plut. mor. 559A–D (zur Polis als Schicksalsgemeinschaft, die unweigerlich Teile ihres Ursprungs in sich trägt). Siehe dazu Speyer, RAC 9 (1976), 1151–1152.
Vgl. Serv. Verg. Aen. 7.176 (= frg. 37 Fraccaro): Maiores enim nostri sedentes epulabantur. Quem morem a Laconibus habuerunt et Cretensibus, ut Varro docet in libris de gente populi Romani, in quibus dicit quid a quaque traxerint gente per imitationem. Siehe dazu unten S. 337–341.
„Funktionswissen“ im Sinne eines „bedeutungsgeladenen Wissens“ wie Assmann 1999, 135.
Siehe dazu Vogl 2011, bes. 54–55.
Medientheoretisch wird also nur der Bereich der zeitlich persistenten „Sekundärmedien“ berücksichtigt. Mit der pragmatischen Engschließung des Medienbegriffs auf Texte sei hier nicht ausgeschlossen, dass sich antiquarische Handlungsmuster in der Antike auch in bildlichen Medien nachweisen lassen.
Zur medialen Transmission von Wissen und der Korrelation zwischen Wissensgegenständen und den Formen ihrer Darstellung siehe Raible 2006, 15–16; Vogl 2011; Sarasin 2011, 168–169 mit weiterer Literatur.
Viel zitiert wird in diesem Zusammenhang ein Diktum des Thomas von Aquin: Sed omne quod recipitur in aliquo, est in eo per modum recipientis (Summa theologiae, pars prima et prima secundae, ed. Caramello 1952, 360).
Ein Beispiel mag dies verdeutlichen, es geht um die Herkunft des Namens des Aventinus, eines der sieben Hügel Roms. Varro scheint hier den Gattungskontext berücksichtigt und seine Antwort entsprechend nuanciert zu haben: in ling. 5.43 bevorzugt er eine rein etymologische Erklärung (ego maxime puto, quod ab advectu), während er in De gente populi Romani offenbar einer aitiologischen Erzählung den Vorzug erteilte: Varro tamen dicit in gente populi Romani Sabinos a Romulo susceptos istum accepisse montem, quem ab Avente, fluvio provinciae suae, Aventinum appellaverunt (Serv. Verg. Aen. 7.657 = frg. 35 Fraccaro).
Die Annahme, dass die Funktion eines Textes seine Gestalt (mit)bestimmt, ist in der Gattungstheorie mittlerweile geläufig. Die Bandbreite der medialen Manifestationen des Antiquarianismus ist immens: In der Antike reicht sie von Einzelwort-Etymologien in juristischen Glossen, topographischen Namenserklärungen in philologischen Kommentaren, Kultaitien in literarisierten Tischgesprächen und fachwissenschaftlichen Traktaten, über genealogische Erläuterungen in politischen Reden und Gelegenheitsschriften, „Archäologien“ in Geschichtswerken und Ursprungsmythen in historischen Epen, bis hin zu antiquarischen Spezialabhandlungen.
Die Erkenntnisziele des Antiquarianismus werden von der Forschung in der Regel ex negativo erfasst: untersucht werden all jene Bereiche der Vergangenheit, die nicht oder nicht primär die histoire événementielle betreffen, so etwa Herklotz 1999, 9.
Wie bereits festgestellt, wurde in den uns hier interessierenden Epochen niemand als „Antiquar“ bezeichnet, auch Varro nicht, vgl. Appian. 4.6.47:
Die verwendete Terminologie ist an den Begriffen der Akteur-Netzwerktheorie von Bruno Latour orientiert, siehe Latour 2007.
Neuere semiotische Ansätze beruhen auf einer handlungstheoretischen Grundlegung des Zeichenbegriffs, was diesen in den Kontext der Begriffe „Interaktion“ und „Kommunikation“ stellt. Siehe dazu Trabant 1996, 86–145.
Diese Differenzierung ist wichtig, weil dadurch die komplexen Rezeptionsprozesse von medial kodiertem antiquarischen Vergangenheitswissen erfasst werden können.
Latour 2007, 70: „Mittler […] übersetzen, entstellen, modifizieren und transformieren die Bedeutung oder die Elemente, die sie übermitteln sollen.“
Die Zeichenverwendung zwischen den Handelnden ist unmittelbar an kommunikative Zusammenhänge gebunden, auch wenn Produktions- und Rezeptionssituationen zeitlich weit auseinanderfallen.
Für Beispiele siehe unten Kap. 3.3.
Zur Text-Leser-Auseinandersetzung siehe Iser 1979; Eco 1990.
Zur Kritik des Augustinus an Varro und ihren Folgen für die Rezeptionsgeschichte siehe etwa O’Daly 1996; Hadas 2017.
Geld ist ein häufig wiederkehrendes Motiv bei Horaz, vgl. sat. 1.1.62 (tanti quantum habeas sis); carm. 2.2.17–24 (Geld macht nicht glücklich); carm. 3.16.9–16 (nichts kann dem Geld widerstehen); epist. 1.1.53 (pecunia primum est; virtus post nummos); epist. 1.6.36–38 (Geld kauft Freunde und Frauen).
Alle römischen Münznamen, ebenso wie die Terminologie des Zählens, stammen vom abgewogenen Gewicht des Kupfers bzw. der Bronze, des frühesten metallischen Wert- und Tauschmittels, ab. Einzige Ausnahme ist pecunia. Siehe dazu weiter unten S. 92 ff.
ThLL 10.1.1, 928–929.
Vgl. die Fortsetzung in Serv. Verg. ecl. 1.32: aut certe et hoc ad morsum temporum pertinet; nam modo servi tantum peculium dicimus, ut invidiose patrimonium suum dixerit peculium, ac si servus esset, quia se diu apud Mantuam servisse memoravit. An eine Sklaverei-Anspielung dieser Stelle bei Horaz denken etwa Kiessling/Heinze 1961, 346 ad loc.
Für die Frühzeit aufschlussreich, jedoch nicht unumstritten, ist Zehnacker 1990. Zu Bedeutung und Funktion von Münzgeld in der antiken Gesellschaft siehe Howgego 2011, 14–26.
Ein weiterer locus classicus ist Cic. Tusc. 1.4.
Ein anderes Beispiel ergäbe die Erfindung und Einführung der Schrift, doch ist hier der Diskurs bedeutend enger gefasst, da die historische Entwicklung auf Einführung und vereinzelte Reformversuche beschränkt ist und sich dazu in erster Linie die Historiographie, die Grammatiker und die enzyklopädische Sammelliteratur äußern. Einen tabellarischen Überblick der überlieferten Tradition bietet Garcea 2013, 138–139. Zu Varros De origine litterarum siehe unten S. 264–266. Eine analoge Untersuchung, aber stärker phänomenologisch und mit anderer Zielsetzung, bietet Wolkenhauer 2011, 48–66 anhand der Erfinder und Lehrer der Zeitordnungen. Zur Münzkunde als „antiquarischer“ Tätigkeit am Beispiel Varros siehe Rawson 1985, 241–242. Dass bei der Erklärung von Zahlwörtern, Gewichten, Münzeinheiten nicht zwangsläufig auf das antiquarische Modell zurückgegriffen werden musste, zeigt Priscians Traktat De figuris numerorum.
Die Chronologie ist heftig umstritten, siehe dazu Thomsen 1957; Zehnacker 1970, 197–321; Crawford 1985, 1–51; Burnett 1987, 1–16; Burnett 2012.
Crawford 1985, 19: „It is as true for the Roman world as for the Greek that the most important stage in the early history of money is the designation by the state of a fixed metallic unit, not the invention of coinage.“
Die Zuweisung der erhaltenen Funde gestaltet sich schwierig, siehe dazu Crawford 1985, 3–6 und 20–22; Burnett/Craddock 1986.
Arist. polit. 1.3.13–14 (1257a):
Inwieweit auch griechische Einflüsse geltend gemacht werden können, ist fraglich. Rinder waren für Homer (neben Gerätegeld wie Beile oder Gefäße) der primäre Wertmaßstab (vgl. u. a. Od. 1.430 f.), ein Umstand, der in juristischen Kreisen Roms durchaus als Argument nutzbar gemacht wurde. Vgl. Dig. 18.1.1.(1): Sabinus Homero teste utitur … illis versibus; ferner auch Plin. nat. 33.6: quanto feliciore aevo, cum res ipsae permutabantur inter sese, sicut et Troianis temporibus factitatum Homero credi convenit.
Paul. Fest. p. 21, 23–25 Lindsay: cum apud antiquos opes et patrimonia ex his [pecoribus] praecipue constiterint, ut adhuc etiam pecunias et peculia dicimus; Fest. p. 232, 30 Lindsay: peculatus … inductum est a pecore, ut pecunia; Paul. Fest. p. 233, 6–7 Lindsay; Fest. p. 290, 34–35 Lindsay; Paul. Fest. p. 291, 3 Lindsay. Für spätere Bezeugungen siehe Maltby 1991, 459; Thomsen 1957, 20–22.
Schon die von Cicero ebenfalls erwähnte Lex Aternia Tarpeia von 454/452 v. Chr. machte die Zahlung von Bronze statt Vieh möglich. Das Zwölftafel-Gesetz taxierte die Bußen bereits nur noch in gewogener Bronze (as), vgl. Gaius, inst. 3.223; Gell. 20.1.12–13. Die genaue Chronologie und der Inhalt der Gesetze ist aber infolge der dünnen Quellenlage ungewiss. Klar ist, dass Mitte des 5. Jhd. eine längere Phase eines Übergangs von Viehbuße zur Geldstrafe anzusetzen ist. Siehe dazu Flach 1994, 98–101 und 248–250.
Vgl. die Diskussion in Gell. 11.1.2–3 über die Gründe, weshalb die suprema multa (dazu RE Suppl 6, 544–545) den Wert von zwei Schafen mit dem von dreißig Ochsen gleichstellt.
Vgl. die Fortsetzung in Gell. 20.1.13: Propterea, inquit, praetores postea hanc abolescere et relinqui censuerunt iniuriisque aestumandis recuperatores se daturos edixerunt. Zur frühen Datierung der Episode siehe Watson 1970, 112; Birks 1974, 39; Crawford 1985, 151.
Zum Changieren zwischen Tradition und Innovation in der römischen Jurisprudenz siehe mit guten Beispielen Moatti 1999, bes. 7–10.
Liv. 4.30.3. Zur „popularen“ Tendenz der ersten Dekade des Livius siehe Hodgkinson 1997.
In ling. 5.95 wird im Zusammenhang der Erläuterung der Etymologie von pecus auch peculium und peculatus besprochen und – wie bei Cicero – auf die rechtliche Komponente hingewiesen: Hinc peculatum publicum primo ⟨dixerunt⟩ cum pecore diceretur multa et id esset coactum in publicum, si erat aversum.
Wie auch in Colum. de agr. 5 praef. 1–4.
Vgl. Varro ling. 5.158; Vell. 1.14.8; Fest. p. 276, 3–7 Lindsay.
Siehe dazu Vretska 1976, 200 ff.
Sall. Cat. 25.2: psallere saltare elegantius quam necesse est probae, multa alia, quae instrumenta luxuriae sunt.
Vgl. Herodot. 1.94 (Lyder prägen als erste Gold- und Silbermünzen); Arist. polit. 1.3.13–14 (ohne erste Erfinder); Pollux 9.83 (Pheidon, König von Argos); Strab. 8.3.33. Zur Frage nach der Entstehung des Geldes bei den Griechen und der griechischen Gelderfahrung siehe Christ 1964.
Zu Plinius’ „Moralismus“ siehe u. a. Citroni Marchetti 1991.
In nat. 33.6 nimmt Plinius Vergils berühmte Worte „auri sacra fames“ (Aen. 3.57) direkt auf.
Plin. nat. 33.8: pessimum vitae scelus fecit, qui primus induit digitis; 33.26: quae fuit illa vita priscorum, qualis innocentia, in qua nihil signabatur. Dabei werden Innovationsstufen unterschieden: Primo … mos fuerat; hic nunc …; sunt qui … (33.24–25); proximus scelus fuit eius, qui primus ex auro denarium signavit (33.42) usw.
Inkonsistenzen: Plin. nat. 33.20: id anno 449 a condita urbe gestum est et primum anulorum vestigium exstat, obwohl er zuvor von Cn. Flavius berichtet hatte. Plinius hatte hier offensichtlich aus unterschiedlichen Quellen kompiliert. Ein weiteres Beispiel ist die Doppelung des Motivs des Giftrings in nat. 33.15 und 33.26.
Gewiss fand das Material auch Eingang in lexikographische Kompendien wie Verrius’ De verborum significatu, auf die Plinius an dieser Stelle möglicherweise zurückgegriffen hat. Siehe in diesem Sinne etwa Sallmann 1975, 307. Dafür spricht auch die Zusammenstellung einer Reihe von Ableitungen, vgl. Varro ling. 5.183 (dispensator, expensum, impendium, aerarium). Dass die Lexikographie sich jedoch ihrerseits auf die juristische Fachliteratur stützte, zeigt sich etwa darin, dass fast alle einschlägigen Stellen, die das archaische Viehgeld besprechen oder voraussetzen, dies im Zusammenhang des Bußwesens tun, vgl. Cic. rep. 2.16 und 2.60, Varro rust. 2.1.9; Gell. 11.1.2; Paul. Fest. p. 21, 23–25 Lindsay: cum apud antiquos opes et patrimonia ex his [pecoribus] praecipue constiterint, ut adhuc etiam pecunias et peculia dicimus; Fest. p. 232,30 Lindsay: peculatus … inductum est a pecore, ut pecunia; Paul. Fest. p. 233, 6–7 Lindsay; Fest. p. 290, 34–35 Lindsay; Paul. Fest. p. 291, 3 Lindsay.
Die historische Tiefendimension, welche die römische Rechtsbetrachtung generell auszeichnet (siehe unten S. 215–229), wird auch hier deutlich: ideo aes et libra adhibetur, quia olim aereis tantum nummis utebantur (inst. 1.122).
Lo Cascio 1996, 273–274. In der Philosophie finden sich diesbezügliche Reflexionen bereits bei Aristoteles, vgl. eth. Nic. 1133a20–b15.
Zur Kontextualisierung dieser Vorstellung zur Zeit der Severer siehe Nicolet 1984.
Mit dem Titel Distributio, item vocabula ac notae partium in rebus quae constant pondere, numero, mensura, ed. Hultsch 1866, 61–71. Vgl. hier bes. c. 39: Has quoque partes in quantum libet dividere possis; verum infra eas neque notas neque propria vocabula invenies praeter ea; c. 44: Sicut autem assis appellatio ad rerum solidarum hereditatisque totius, divisio autem eius ad partium demonstrationem pertinet, ita enim ad pecuniam numeratam refertur, quae olim in aere erat, postea in argento feriri coepit ita, ut omnis nummus argenteus ex numero aeris potestatem haberet. Siehe dazu die Diskussion bei Cuomo 2007.
Vgl. die widersprüchlichen Angaben bei Dion. Hal. ant. 10.50.2; Gell. 11.1.2; Fest. p. 129, 8–11 Lindsay; Fest. p. 220, 22–30 Lindsay sowie Fest. pp. 268, 33–270, 5 Lindsay.
Plin. nat. 33.43: qua consuetudine in iis emptionibus, quae mancipi sunt, etiam nunc libra interponitur. Zum Rechtsvorgang per aes et libram vgl. Gaius, inst. 1.122; zum libralen Solutionsakt, der zu einem symbolischen Wägeakt ritualisiert worden war, siehe Behrends 1974, 131 ff. Nach Varro lauteten die förmlichen Worte bei der Verhängung einer multa in seiner Zeit immer noch auf Stückvieh, vgl. Gell. 11.1.4: Quando igitur nunc quoque a magistratibus populi Romani more maiorum multa dicitur vel minima vel suprema, observari solet, ut oves genere virili appellentur; atque ita M. Varro verba haec legitima, quibus minima multa diceretur, concepit: „M. Terentio, quando citatus neque respondit neque excusatus est, ego ei unum ovem multam dico“; ac nisi eo genere diceretur, negaverunt iustam videri multam. Auch beim mancipium wurde eine von einer altertümlichen Formel begleitete Handlung vollzogen, vgl. Gaius, inst. 3.173–175 und Fest. p. 320, 34–322, 2 Lindsay: quia in mancipando, cum dicitur: „rudusculo libram ferito“, asse tangitur libra. Neben den bei Plinius erwähnten Begriffen gehören hierher auch die bereits erwähnten peculium und peculatus, vgl. zu letzterem Fest. p. 232, 28–33 Lindsay: Peculatus est nunc quidem qualecunque publicum furtum, sed inductum est a pecore, ut pecunia quoque ipsa. Iam etiam noxii pecore multabantur, quia neque aeris adhuc, neque argenti erat copia. Itaque suprema multa etiam nunc appellatur.
Siehe dazu den Forschungsbericht von Sallmann 1975, hier 247–248. Die Stelle wurde von Jacoby unter die Timaios-Fragmente aufgenommen (FGrHist 566 F1).
Diese Tradition scheint in Ps.-Aurelius Victor vir. illustr. 7.8 vorzuliegen: [Servius Tullius] mensuras pondera classes centurias constituit.
Crawford 1985, 19.
Siehe dazu die Diskussion in FRHist III, 513–514.
Dass Plinius im Kontext seines Luxusdiskurses daran interessiert war, die Prägung von Silber so spät wie möglich zu datieren, geht aus nat. 34.1 hervor: Docuimus quamdiu populus Romanus aere tantum signato usus esset. Die chronologische Zäsur liegt auch hier bei den Punischen Kriegen. Livius’ Bericht ist nicht erhalten, doch zeigt Perioch. 15, dass die Darstellung den ersten Gebrauch von Silber nach der Gründung der Kolonie bei Beneventum (268 v. Chr.) enthielt: coloniae deductae […] Beneventum. Tunc primum populus Romanus argento uti coepit. Zur modernen Debatte über den Beginn der römischen Silberprägung siehe zusammenfassend Burnett 2012, 303–304.
Vgl. Liv. 1.42.4–5: Adgrediturque inde ad pacis longe maximum opus, ut quemadmodum Numa divini auctor iuris fuisset, ita Servium conditorem omnis in civitate discriminis ordinumque quibus inter gradus dignitatis fortunaeque aliquid interlucet posteri fama ferrent. Censum enim instituit, rem saluberrimam tanto futuro imperio, ex quo belli pacisque munia non viritim, ut ante, sed pro habitu pecuniarum fierent. Livius rechnet bereits mit einem festen Betrag von 100 000 As (43.1). Vgl. Dion. Hal. ant. 4.15–17. Das fortdauernde Interesse an der Aitiologie der politischen Institutionen spiegelt ein Papyrus-Fragment aus Oxyrhynchus (P. Oxy. 2088), das eine vielleicht in die Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. zu datierende Liste der politischen Leistungen enthält, die auf Servius Tullius zurückgeführt wurden. Siehe dazu unten S. 281 f. Zur Zenturiatsreform des Servius Tullius siehe Thomsen 1980, 144–211 mit den Quellen.
Wie Crawford 1985, 17 beklagt, ist das Problem systemisch: „Relentlessly modernising, they persistently discuss the early Republic in terms of the monetary conventions of their own times, including, of course, the use of coinage, and in terms of the economic thought, if that is not too grand a term, of the late Republic and early Empire, heavily influenced by Greek experience.“ Die auch in anderen Bereichen, z. B. der Institutionsgeschichte, feststellbaren Anachronismen und Rückprojektionen der römischen Historiographie entstehen durch das „Bemühen, sich die Geschichte anzueignen und verständlich zu machen.“ (Walt 1997, 104).
Vgl. Liv. 1.44.2: Milia octoginta eo lustro civium censa dicuntur; adicit scriptorum antiquissimus Fabius Pictor, eorum qui arma ferre possent eum numerum fuisse. Entsprechend urteilt Crawford 1985, 18: „The … version is redolent of the concern with Roman military manpower of the Gracchan age.“ Andere Erklärungen setzen bei den Realien an: Piso habe archaische stipes in den genannten Tempeln gesehen und entsprechend gedeutet, vgl. Rawson 1991, 262.
Dieselbe Zuweisung erfolgte schon in nat. 18.12, jedoch ohne Hinweis auf die Etymologie: Servius rex ovium boumque effigie primum aes signavit. Plinius’ Formulierung ist hier missverständlich. Ging er tatsächlich davon aus, dass pecunia sich von der Gravur ableitet? So scheinen ihn zumindest Cassiodor var. 7.32.3 (pecunia … a pecudis tergo nominata) und Isid. orig. 16.18.3 (pecunia prius de pecudibus et proprietatem habebat et nomen; de corio enim pecudum nummi incidebantur et signabantur) verstanden zu haben.
Vgl. Varro rust. 2.1.9 und De vita populi Romani frg. 11 Riposati (= 20 Pittà). Eine weitere Variante hat Plutarch (Quaest. Rom. 41, fast identisch Pupl. 22.6–7):
Der Begriff impliziert, dass der Sold ursprünglich in Bronze bzw. Kupfer ausgewogen, also nicht „ausbezahlt“ wurde. Die historiographische Tradition lässt militärische Soldzahlungen im Jahr 406 v. Chr. beginnen (Liv. 4.59.11–60.8; Dion. Hal. ant. 14.16.5). Siehe dazu Crawford 1985, 22–24.
Vgl. auch Varro ling. 5.182: Hoc ipsum stipendium a stipe dictum, quod aes quoque stipem dicebant. Nam quod asses librae pondo erant, qui acceperant maiorem numerum non in arca ponebant, sed in aliqua cella stipabant, id est componebant, quo minus loci occuparet; ab stipando stipem dicere coeperunt. Stips ab
Aufgrund der Etymologie Numa > nummus, vgl. Isid. orig. 16.18.10: Nummi autem a Numa Romanorum rege vocati sunt, qui eos primum apud Latinos imaginibus notavit et titulo nominis sui praescripsit. Alternative Etymologien für nummus liefern Varro ling. 5.173: in argento nummi, id ab Siculis; Fest. p. 176, 35–178,1 Lindsay: nummum ex Graeco nomismate existimant dictum; Char. gramm. 1, p. 96, 11–12 Barwick: id nummum appellamus quod Graeci ⟨
Lydos erwähnt Numas Münzprägung im Anschluss an dessen religiös motivierte Kalenderreform und vor dessen Begründung des Palatium
Ob Geld ursprünglich eine magische Funktion besaß oder ob im Altertum der religiöse Kult allgemein als „Schöpfer normierter Entgeltungsmittel“ anzusehen ist, wie Laum 1924 und Sedillot 1992 argumentieren, sei dahingestellt. Geld, Kult und Religion waren für die Römer in jedem Fall sich eng überlagernde Lebensbereiche.
Einschlägig neben den Handbüchern sind Assmann 1906; Lake 1933; Meadows/Williams 2001. Vgl. auch Walter 2004, 29–31.
LIMC VIII.1 (1997), Supplementum, s. v. Moneta, 852–854.
Cic. div. 1.101; Liv. 7.28.4–6; Val. Max. 1.8.3; Ov. fast. 6.183–186.
Liv. Andr. frg. 21 FPL Blänsdorf: Nam diva Monetas filia docuit, basierend auf Od. 8.480–481. Spuren dieser Identifikation finden sich bei Hygin. praef. 27: Ex Iove et Moneta, Musae.
Maedows/Williams 2001, 28–30 mit einer Diskussion der Auffindung der libri lintei durch Licinius Macer. Die Erinnerungs-Funktion, die bereits Theodor Mommsen hervorgehoben hat (Römische Geschichte 1, 1920, 216), wird von der modernen Forschung mittlerweile ins Zentrum gerückt, siehe dazu Walter 2004, 29–30; Heusch 2011, 32–34; zu ihrem Kult Ziolkowski 1993.
Evident bei Cic. div. 2.69: Quod idem dici de Moneta potest; a qua praeterquam de sue plena quid umquam moniti sumus? und Schol. ad Lucan. 1.380 ed. Usener: Moneta Iuno dicta est. Cum enim Senones a Capitolio removisset, Moneta dicta est, quod mo⟨n⟩uisset ut Capitolium tuerentur.
Skepsis an einer militärischen Aitiologie, jedoch ohne Angabe einer alternativen Deutung äußert Cic. div. 2.69.
Zu etymologischen Mehrfacherklärungen im Sinne einer komplementären Annäherung an komplexe Sachverhalte, bes. im Bereich der Religion, siehe oben S. 50–52.
So aber wieder Badura 2021, 252–253. Wie der literaturhistorische Aufriss in Kap. 6. zeigt, haben sich die Verfasser antiquarischer Fachschriften in Auseinandersetzung mit Vorgängern häufig dezidiert für eine Variante entschieden bzw. eigene Hypothesen aufgestellt. Die Erwähnung älterer Meinungen, die dann widerlegt werden, entsprach ohnehin einer in der Antike etablierten Praxis historiographischen und fachwissenschaftlichen Schreibens.
Aus späterer Zeit: RAC 36/1 (Bronze-As, ca. 225–217 v. Chr.); RAC 56/2 (Bronze-As, nach 211 v. Chr.); RRC Nr. 36–530 mit der Diskussion auf pp. 718–719.
Ebenso Lact. inst. 1.13.7 (im Anschluss an ein Zitat aus Ov. fast. 1.233 f.): Hunc [Saturnum] errantem atque inopem Ianus excepit. Cuius rei argumenta sunt nummi veteres, in quibus est cum duplici fronte Ianus et in altera parte navis, sicut idem poeta subicit (es folgt als Zitat Ov. fast. 1.239 f.).
Dass Macrobius’ Bericht ein Referat aus Hyginus sein könnte, zeigt der Anfang: Macr. Sat. 1.7.19: regionem istam quae nunc vocatur Italia, regno Ianus obtinuit, qui, ut Hyginus, Protarchum Trallianum secutus, tradit, cum Camese aeque indigena terram hanc ita participata potentia possidebant, ut regio Camesene, oppidum Ianiculum vocitaretur. Parallelen zu Ovids Fasti ergeben sich durch das Epitheton für Ianus (falcifer: fast. 1.234; Macr. Sat. 1.7.23) sowie die Vorstellung des Ianiculum als Königssitz (fast. 1.245–247; Macr. Sat. 1.7.23). Zur Zuweisung des Fragments zu Hygins De urbibus Italicus siehe die Diskussion in FRHist III, 556–558.
Paul. Nol. carm. 32.73–77: Hic quia navigio Ausonias advenit ad oras, / nummus huic primum tali est excussus honore, / ut pars una caput, pars sculperet altera navem. Cuius nunc memores quaecumque nomismata signant, / ex veteri facto, ⟨capita⟩ haec ⟨et navia⟩ dicunt. Vgl. Macr. Sat. 1.7.22: Cum primus quoque aera signaret, servavit et in hoc Saturni reverentiam, ut quoniam ille navi fuerat advectus, ex una quidem parte sui capitis effigies, ex altera vero navis exprimeretur, quo Saturni memoriam in posteros propagaret. Aes ita fuisse signatum hodieque intellegitur in aleae lusu, cum pueri denarios in sublime iactantes capita aut navia lusu teste vetustatis exclamant.
Angeblich seit P. Valerius Poplicola (5. Jhd. v. Chr.), vgl. Plut. Popl. 12; Quaest. Rom. 42. Als aerarium populi Romani besprochen u. a. bei Paul. Fest. p. 2, 14–15 Lindsay; Macr. Sat. 1.8.3.
Tert. apol. 10.7: Saturnum itaque, si quantum litterae docent, neque Diodorus Graecus aut Thallus neque Cassius Severus aut Cornelius Nepos neque ullus commentator eiusmodi antiquitatum aliud quam hominem promulgaverunt. Dass Tertullian sich in der antiquarischen Fachliteratur gut auskannte bzw. auf gut informierte Kompendien zurückgreifen konnte, zeigt auch De spectaculis, siehe dazu unten S. 450–452.
Zu Saturnia regna und der Vorstellung vom „Goldenen Zeitalter“ in der lateinischen Literatur vgl. Verg. ecl. 4.6; Aen. 6.792; 8.319 ff.; 11.252; Ov. fast. 1.235 ff.; Sil. Ital. 3.184; Calp. Sic. ecl. 1.64.
Min. Fel. Oct. 23.10: Is itaque Saturnus Creta profugus Italiam metu filii saevientis accesserat, et Iani susceptus hospitio rudes illos homines et agrestes multa docuit ut Graeculus et politus: litteras imprimere, nummos signare, instrumenta conficere. Zu den Vergilreminiszenzen siehe Schubert 2014, 437.
Siehe zum Folgenden die Analyse von Zehnacker 1969.
Bei der Frage, wer als erster Goldringe trug, orientiert sich Plinius an den Standbildern der Könige auf dem Kapitol: die des Romulus tragen keinen Ring, die des Numa und des Servius Tullius aber schon. Plinius wundert sich darüber, dass die Tarquinier keine tragen: quorum e Graecia fuit origo, unde hic anulorum usus venit (nat. 33.8–10). Laut Suet. Aug. 75 soll Augustus nummos veteres regios als Geschenk ausgeteilt haben.
Eine andere Variante scheint er in De gente populi Romani bevorzugt zu haben, vgl. Serv. Verg. Aen. 7.657 (= frg. 35 Fraccaro): Varro tamen dicit in gente populi Romani, Sabinos a Romulo susceptos istum accepisse montem, quem ab Avente, fluvio provinciae suae, Aventinum appellaverunt.
Vgl. Tibull, carm. 2.5.33–34: At qua Velabri regio patet, ire solebat / exiguus pulsa per vada linter aqua.
Mommsen 1850, 289–290 spricht hier von „einer ganz unverzeihlichen Faselei.“ Den Anachronismus bemängelt auch Sallmann 1975, 251: „angesichts der schon zu Lucilius’ Zeit vorhandenen vier Tiberbrücken grotesk“; siehe Charpin 1991, 305 zu frg. 173.
Münzer 1897, 307.
So Zehnacker 1969, 703–704. Die Präfekten waren L. Sempronius Atratinus, L. Calpurnius Bibulus und M. Oppius Capito. Für Abbildungen siehe RPC I, 1992, 284 ff. und von Bahrfeldt 1905.
Gemäß Zehnacker 1969, 701 stand beim Satiriker etwa Folgendes: „Non, je ne puis payer un nummus bigatus ni un victoriatus, mais seulement un quadrans … ratitus.“
So arbeitet auch der ethische Diskurs über Armut mit einer historischen Perspektive, vgl. etwa Val. Max. 4.4 (De paupertate); Apul. apol. 18; Sen. cons. ad Helv. 12.5–7.