Bevor der beabsichtigte literaturgeschichtliche Aufriss in Angriff genommen werden kann, ist mit dem desolaten Erhaltungszustand des antiquarischen Schrifttums ein grundlegendes Problemfeld zu bedenken, das zu methodischen Irrwegen und gravierenden inhaltlichen Fehlschlüssen führen kann. Im Folgenden findet die Überlieferungsproblematik zunächst eine kurze historisch-phänomenologische Betrachtung, dann wird sie im Kontext einer Wissensfragmentierung reflektiert, die als Ergebnis intendierter Selektionsprozesse sowie einer stufenweisen Überlagerung und komplexen Verschmelzung der Quellen im Zuge der Wissenstradierung herausgestellt wird.
3.1 Vorbemerkung: Eine misslungene Überlieferung?
Quid autem refert an statim an post centum
annorum millia pereat quod aliquando perire est necesse?
Petrarca, fam. 24.6.9
Alle vormodernen Literaturen Europas sind von Überlieferungsverlusten betroffen. Von der Literaturlandschaft der griechisch-römischen Antike ist der größte Teil der bekannten Autoren und Werke nur in Fragmenten und Zeugnissen erhalten.1 Der Umgang mit dem Fragmentarischen der Überlieferung gehört daher seit dem Humanismus zum notwendigen Tätigkeitsfeld einer Klassischen Philologie, die sich teils widerwillig, teils hingebungsvoll der Bestimmung, Sammlung und Interpretation von Fragmenten widmet. Das Bewusstsein der Lücke, die das historisch kaum durchschaubare Wechselspiel von Überlieferungsglück und Überlieferungsverlust hinterlassen hat, prägt die neuere Geschichte der Klassischen Philologie in eigentümlicher Weise.2
Einen frühen Ausdruck findet diese Verlusterfahrung bei Petrarca, dessen literarisches Werk von einer historisch bewusst gewordenen epochalen Diskontinuität zeugt, in der die eigene Zeit in direkter Ablehnung des translatio-Gedankens erstmals als eine von der klassischen Antike entfremdete dunkle Zwischenzeit aufgefasst wird.3 Petrarca schrieb bewusst gegen die Unkenntnis des von ihm identifizierten medium aevum an und versuchte, aus den verbliebenen Fragmenten der antiken Literatur zusammenzutragen, was noch auffindbar war. Dieses Bestreben hat ihm in der modernen Forschung den Ehrentitel eines Begründers des Renaissance-Antiquarianismus eingebracht.4 Trotz namhafter Erfolge seiner Handschriftenjagd kam er schließlich zu der Einsicht, dass die Zeit für eine Wiederbelebung der antiken Bildung noch nicht reif sei; zu viel sei verloren gegangen, zu verschlafen und geistig erstarrt seien seine Zeitgenossen.5
Die fragmentarische Überlieferung der antiken Literatur ist ein zentrales Thema im fingierten Briefwechsel, den Petrarca ab 1351 mit den von ihm bewunderten antiken Größen führte und der schließlich im 24. Buch der Epistolae familiares zusammengefasst wurde. Ausschlaggebend für die Abfassung der Sammlung war ein Brief, den Petrarca seinem großen Vorbild Cicero ins Jenseits schrieb – als emotionale Reaktion auf die Entdeckung der Briefe an Atticus, Quintus und Brutus in der Kathedralbibliothek von Verona im Jahr 1345.6 Ist die erste Epistel noch ganz von Petrarcas Enttäuschung über Ciceros politisches und persönliches Verhalten während der Bürgerkriege geprägt, so widmet sich die zweite in deutlich milderem Ton der Würdigung der sprachlichen und schriftstellerischen Leistungen des Römers, dessen Ruhm glücklicherweise die Zeiten überdauert habe. Mit Blick auf das Schicksal seines Werkes kann Petrarca den Adressaten beruhigen (fam. 24.4.11): Extant equidem preclara volumina, que ne dicam perlegere, sed nec enumerare sufficimus. („Es sind so viele deiner vortrefflichen Schriften erhalten geblieben, dass ich sie kaum alle aufzählen, geschweige denn lesen kann.“). Die Zahl derer, die seine Schriften noch studierten, sei allerdings gering. Vieles sei daher verloren, wenn auch vielleicht nicht für immer (nescio quidem an irreparabiliter). Außerdem würden den erhaltenen Werken wichtige Teile fehlen; einige seien sogar so verstümmelt (ita truncati et fedati), dass es fast besser wäre, sie wären ganz verloren.7
War im Falle Ciceros die Überlieferungsquote relativ hoch, sodass Petrarca, auch bestärkt durch eigene Entdeckungen, an der Überzeugung festhalten konnte, dass sich manches bisher Unentdeckte über die Zeiten gerettet habe und noch auftauchen werde, so ließ er in seinem Brief an Varro, den er nach Cicero und dem jüngeren Seneca an dritter Stelle der viri illustriores mit einem Schreiben ehrte,8 von vornherein keine falschen Hoffnungen aufkommen (fam. 24.6.2): etas nostra libros tuos perdidit („Unser Zeitalter hat deine Bücher unwiderbringlich ruiniert.“). Auf einen Rechenschaftsbericht über die verlorenen Werke wie im Brief an Cicero verzichtete er aus Rücksicht auf den großen Gelehrten, aber auch, um seiner eigenen Zeit die Schande zu ersparen: prestat igitur siluisse („Es ist daher besser, über dieses Thema ganz zu schweigen.“). Dieser Verlust wirkte sich unweigerlich auf die briefliche Kommunikation aus. Das Wenige, was Petrarca über die Biographie Varros in Erfahrung bringen konnte, hinderte ihn daran, dem intimen Briefwechsel jene persönliche Note zu verleihen, die die Episteln an Cicero und Seneca und an die Dichter Horaz und Vergil auszeichnet. Während Petrarca in den Briefen an die genannten Geistesgrößen die biobibliographische Skizze mit kritischen Reflexionen und Kommentaren zu Lebensweise und Charakter der bewunderten Schriftsteller verband und dabei „vielleicht unbedacht, aber freundlich, wehmütig und aufrichtig […] mit diesen großen Geistern“ sprach,9 fehlte ihm dafür bei einigen der adressierten Meister der lateinischen Prosa schlicht die dokumentarische Grundlage. So schreibt er an Livius: „Wer du warst, erkenne ich in deinen Büchern“ (te in libris tuis video: fam. 24.8.1). Die Schriften, wenn auch nur fragmentarisch, geben nach einem alten epistolographischen Topos Auskunft über den Menschen selbst. Dasselbe bekennt er auch gegenüber Quintilian, dessen Institutio oratoria dem Mittelalter nur in kleinen Teilen bekannt war.10 Doch Petrarca genügte gleichwohl das Wenige, um das ingenium des großen Rhetors zu erkennen.11 Auch mit Asinius Pollio kann er sich biographisch auseinandersetzen, obwohl „es nur wenig ist, was ich mit dir zu besprechen habe, da dein Ruhm beinahe ohne Zeugnisse von dir auf uns gekommen ist und mehr auf den Schriften anderer als auf deinen eigenen beruht“ (fam. 24.9.1). Allein von Varro, dem „nach einhelligem Urteil aller Gelehrten Gelehrtesten“ (doctorum omnium consensu doctissimus), blieb kaum mehr als der berühmte Name.12
Petrarcas Brief an Varro trägt denn auch unverkennbare Merkmale einer Trostschrift: Auf die Exordialklage über den Verlust des Werks und die insultatio der eigenen Zeit, deren Nachlässigkeit und Verschwendungssucht den Verlust verschuldet hätten (fam. 24.6.1–4), folgen die einzelnen Trostgründe: die Unsterblichkeit von Varros Ruhm und Namen (fam. 24.6.5: vivit nomen sepultis operibus [„Dein Name ist lebendig, auch wenn deine Werke zu Grabe liegen.“]), die anhand eines Katalogs von ebenso ruhmvollen Gewährsmännern beglaubigt wird (fam. 24.6.5–7);13 die Hoffnung auf die Bewahrung der Antiquitates, deren Wiederentdeckung Petrarca seit vielen Jahren erfolglos betreibt (fam. 24.6.8); der topische Verweis auf die conditio mortis, die Notwendigkeit des Todes (aliquando perire est necesse), über deren Einsicht Varro gemäß eigenem Bekennen ja hinlänglich verfüge (fam. 24.6.9). Mit einer tröstlichen allgemeinen Betrachtung über die Vergänglichkeit schließt Petrarca seine Argumentation. Die exempla, die er dazu auswählt, stammen allerdings nicht mehr aus der reichen Topik mittelalterlicher Konsolationsliteratur:
Est quidem illustris simili studio flagrantium cohors haudquaquam fortunatior laborum, quibus exemplis utcunque sortem tuam equanimius ferre debes […]. Sunt autem hi: Marcus Cato Censorinus, Publius Nigidius, Antonius Gnipho, Iulius Hyginus, Ateius Capito, Gaius Bassus, Veratius Pontificalis, Octavius Hersennius, Cornelius Balbus, Massurius Sabinus, Servius Sulpitius, Cloatius Verus, Gaius Flaccus, Pompeius Festus, Cassius Emina, Fabius Pictor, Statius Tullianus, multique alii quos enumerare longum est, olim clari viri nunc cinis ambiguus et preter primos duos vix cognita nomina.
Eine große Schar von Männern war von einem ähnlichen Eifer entflammt wie du und ihre Werke hatten auch kein besseres Schicksal. Ihr Beispiel sollte dir helfen, dein eigenes Los gleichmütiger zu ertragen. […] Es handelt sich um folgende Autoren: Marcus Cato Censorinus, Publius Nigidius, Antonius Gnipho, Iulius Hyginus, Ateius Capito, Gaius Bassus, Veratius Pontificalis, Octavius Hersennius, Cornelius Balbus, Massurius Sabinus, Servius Sulpitius, Cloatius Verus, Gaius Flaccus, Pompeius Festus, Cassius Emina, Fabius Pictor, Statius Tullianus und viele andere, die ich hier nicht mehr aufzählen kann, einst berühmte Männer, jetzt gestaltlose Asche und bis auf die ersten beiden nur dem Namen nach bekannt.
Petrarca, fam. 24.6.9–10
Der Totalverlust von Varros Werk wird hier in einen größeren überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhang gestellt: Der große Gelehrte teilt sein Schicksal mit einer Gruppe gleichgesinnter Schriftsteller, deren Werke ebenfalls verloren gingen. Petrarca lässt die Art ihrer Studien offen und äußert sich auch nicht zu den Gründen für die schlechte Überlieferung. Die literaturgeschichtliche Verbindung zwischen den genannten Autoren wird jedoch deutlich. Dabei ist bezeichnend, dass die in ihrer Länge beachtliche Verlustliste, die zweifellos auf intensiven Recherchen beruht, nicht nur den durch die Testimonien von Tertullian, Arnobius, Lactanz und Augustinus nahegelegten religionsgeschichtlichen Themenbereich betrifft, sondern auch Autoren umfasst, die sich vorwiegend der grammatischen und juristischen Altertumskunde verschrieben hatten.
Im Brief an Varro geht es Petrarca aber noch um etwas anderes. Denn trotz der immanenten Todesthematik und der inszenierten Selbsttröstung ist der Brief kein wehmütiges Epitaph auf eine untergegangene Antike, keine letzte Grabrede für eine imaginierte Gattung, die sich nur noch schattenhaft auf den Trümmern der Überlieferung abzeichnet. Fam. 24.6 ist (wie die gesamte Sammlung an die „berühmten Alten“) exhortatio viventium und Memorialakt in einem. Im unüblich langen Namenskatalog, der die von Petrarca sonst befolgten formalen Richtlinien antiker Epistolographie sprengt, wird die konsolatorische Funktion des memento mori zu einer bewussten Erinnerungsleistung umgewandelt, „denn allein schon die Erinnerung an berühmte Namen ist angenehm“ (quoniam clarorum nominum vel sola commemoratio dulcis: fam. 24.6.10). Mit diesem Akt des Gedenkens reiht sich Petrarca in die lange Liste der Gewährsmänner ein, die die Erinnerung an große Namen dem Vergessen entreißen und weiter durch die Jahrhunderte tragen.14
Im Vergleich zu den in der griechisch-römischen Antike gebräuchlichen Gattungen scheint das hier interessierende Schrifttum in der Tat besonders stark von den Widrigkeiten der Überlieferung betroffen zu sein. Auch wenn in allen antiken Gattungen ein beträchtlicher Teil der ihnen zuzurechnenden Werke nur fragmentarisch oder gar nicht erhalten ist, so lassen sich doch in Epos, Drama, Lyrik, Geschichtsschreibung, Rhetorik, Philosophie und Fachliteratur die grundlegenden Formen, Motive und Konventionen anhand der erhaltenen Referenzwerke weitgehend rekonstruieren. Selbst für eine so schwer zu fassende antike Literaturgattung wie den Roman finden sich in den Werken von Heliodor, Longus, Achilles Tatius, Xenophon, Chariton und Apuleius die Vorbilder, die der Liste der fünfundvierzig deperditi, die einst Johann Albert Fabricius in seiner monumentalen Bibliotheca Graeca von 1726 bei der Behandlung der scriptores Graeci erotici anfügt, ein Gesicht geben. Von der antiquarischen Spezialliteratur Roms hingegen ist – abgesehen von den großen lexikographischen Kompilationen – kein einziges Werk vollständig erhalten, das als typologisches Vorbild für eine Rekonstruktion in Frage käme.15 Im griechischen Bereich setzt neben Plutarchs eigenwilligen Quaestiones nur Iohannes Lydos die jahrhundertealte römische Tradition fort (siehe unten Kap. 4.2. bzw. 6.3.2.), während aus der klassisch-hellenistischen Zeit nur schwer bestimmbare Relikte erhalten sind (siehe unten Kap. 5.).
Es ist hier nicht der Ort, sich in Erklärungsversuchen für den fast vollständigen Verlust eines dereinst so produktiven Literaturzweiges zu ergehen16 oder die literaturgeschichtlichen Umstände und überlieferungstechnischen Faktoren zu erörtern, die eine meist unausgesprochene Prämisse der Latinistik, nämlich dass die Zeit das Beste jeder Gattung bewahrt habe,17 scheinbar außer Kraft setzte. Für die vorliegende Untersuchung erscheint es gewinnbringender, das Verlorene mit dem Erhaltenen komplementär in Beziehung zu setzen und in einer Gegenprobe danach zu fragen, welche antiquarischen Werke im oben definierten Sinne (Kap. 2.2.) überhaupt und in welchen Kontexten bezeugt sind. Diese sowohl rezeptions- als auch literaturgeschichtlich wichtige Frage hilft, unsere Abhängigkeit von Zufallsnachrichten zu verringern und die mutmaßlichen Mechanismen und Filterprozesse hinter der Fragmentierung des Materials aufzudecken. Um eine solche Gegenprobe durchführen zu können, bedarf es zunächst einer Reflexion über den adäquaten wissenschaftlichen Umgang mit einer ausschließlich fragmentarisch vorliegenden Literatur. Denn die bezeugten, heute aber weitgehend verlorenen Schriften haben zwar unübersehbare Spuren in der Überlieferung hinterlassen, die auf einstmals bestehende Bezüge hinweisen, zugleich aber auch eine eifrige Quellen- und Interpolationsforschung zu spekulativen Ergänzungen und wirkmächtigen Imaginationen angeregt. In den folgenden beiden Kapiteln werden daher die Überlieferungssituation und die Transmissionsfilter kurz aus methodologischer Sicht beleuchtet, um damit die Grundlage für die anschließende literaturgeschichtliche Spurensuche zu legen.
3.2 Fragment und Fragmentierung: Eine Phänomenologie
Wenn man das Studium von literarischen Fragmenten als einen „hochsensiblen Gradmesser für eine mehr oder weniger radikale kulturelle Diskontinuität“ annimmt,18 erscheint diese Arbeit a priori als ein Exklusivrecht der Moderne, zumal der moderne Begriff des „Fragments“ – soweit er sich auf textliche Bruchstücke bezieht – in der Antike unbekannt war.19 In den Wortfeldern, die Bruchstücke, Fetzen oder Trümmer bezeichnen, fehlt die im heutigen Sprachgebrauch übliche metaphorische Bedeutung. Begriffe wie fragmentum, fragmen oder
Im römischen Literaturbetrieb lassen sich zwei Arten der Fragmentarizität (im oben definierten Sinne eines textlichen Nicht-Ganzen) unterscheiden: Fragmentarizität infolge fehlender Vollendung durch den Autor und Fragmentarizität infolge eines Textverlusts. Unvollendete Prosawerke und Gedichte muss es in der Antike in großer Zahl gegeben haben. Sie bildeten nicht nur den Ausgangspunkt für redaktionelle und editorische Arbeiten, die sich im Werk vieler klassischer Autoren nachweisen lassen, sondern auch den Kern einer philologischen Authentizitätskritik, die gerade diese nachträglichen Ergänzungen, Interpolationen und Umarbeitungen zu bereinigen suchte.22 Für den zweiten Typus, die Unvollständigkeit eines literarischen Werkes durch Textverlust, sind die Zeugnisse kaum aussagekräftiger. Hier ist festzuhalten, dass der unwiederbringliche Verlust eines Textes zumindest keine die antike Bildungskultur prägende Erfahrung war. Die Erkenntnis, dass mündlich überliefertes Wissen bei mangelndem Rezeptionsinteresse unweigerlich verloren geht, hatte zwar schon Aristoteles dazu veranlasst, eine Doxographie der verschiedenen philosophischen Lehrmeinungen zusammenzustellen.23 Derartige Kompilationen, von denen es auch in späterer Zeit viele gab, lassen jedoch ein tieferes Bewusstsein für tatsächliche Textverluste vermissen.24 Dies gilt auch für die berühmte legendäre Geschichte über das Schicksal der aristotelischen Bibliothek, die von Strabon (13.1.54) und Plutarch (Sulla 26) erzählt wird, selbst wenn sie einen wahren Kern enthalten sollte.25 Nicht der Textverlust an sich, sondern die dem antiken Literatur- und Publikationsbetrieb inhärente Begrenztheit der Verbreitungsmöglichkeiten von Texten und des in ihnen gespeicherten Wissens ist der zentrale Punkt, der dieser Erzählung zugrunde liegt. Die Verfügbarkeit kann zeitlich und räumlich variieren und von begünstigenden oder hemmenden Faktoren abhängen. Wollte man ein bestimmtes Werk besitzen, musste man aktiv danach suchen. Wurde man nicht fündig, bedeutete dies keineswegs, dass es nirgendwo mehr eine Abschrift gab. So sind Berichte über nur teilweise überlieferte oder nicht mehr auffindbare Werke – im Gegensatz zu Klagen über schlecht abgeschriebene oder korrumpierte Texte – in der Antike selten.26 In einem Brief an Atticus (Att. 12.3.1) äußert Cicero seine Verärgerung darüber, dass ihm die Historiae des Vennonius (2. Jhd. v. Chr.) nicht zur Verfügung stehen – ohne jedoch zu implizieren, dass das Werk nirgends mehr auffindbar und damit verloren sei.27 Dass Cicero ihn im Historikerkatalog in De legibus 1.6 erwähnt, setzt voraus, dass Vennonius zeitgenössisch bekannt und entsprechend zugänglich war.28
Die im frühen Prinzipat einsetzende Institutionalisierung öffentlicher Bibliotheken in weiten Teilen des Reiches erhöhte die Überlieferungschancen literarischer Werke in einer Weise, dass selbst durch Brand oder Proskription keine heute nachvollziehbaren Verluste zu verzeichnen waren. Ersatz scheint stets gefunden worden zu sein:29 Die Entscheidung Caligulas, den Besitz der durch Senatsbeschluss vernichteten Werke des Titus Labienus, Cremutius Cordus und Cassius Labienus wieder zuzulassen (Suet. Calig. 16.1), sowie die Wiederherstellung der durch Brand zerstörten Bibliotheken durch Domitian setzten voraus, dass irgendwo noch entsprechende Abschriften vorhanden waren (Suet. Dom. 20: exemplaribus undique petitis [„Abschriften wurden von überall herbeigeschafft“]). Zwar berichtet Tacitus von den beim Brand Roms vernichteten „alten und unverfälschten Werken großer Autoren“ (monumenta ingeniorum antiqua et incorrupta: ann. 15.41), doch zeigen die heute verfügbaren Zeugnisse, dass bis in die hohe Kaiserzeit hinein der größte Teil der vorklassischen Literatur vielerorts noch erhalten und zugänglich war. Als ergiebige Quelle erweist sich hier die archaistisch geprägte Bibliophilie des Aulus Gellius, der nicht nur die altehrwürdigen Annalen des Fabius Pictor bei einem Buchhändler in Rom gesehen haben will (Gell. 5.4.1–3), sondern auch die Odusia des Livius Andronicus in der Bibliothek von Patras (Gell. 18.9.5), die Annales des Claudius Quadrigarius in Tibur (Gell. 9.14.3) und den entlegenen Commentarius de proloquiis des Aelius Stilo in der Bibliothek des Vespasian (Gell. 16.8.2) gefunden und gelesen haben will.30 Dabei soll es sich nicht nur um jüngere Abschriften gehandelt haben, sondern auch um Schriftrollen „von hohem und ehrwürdigem Alter“ (summae atque reverendae vetustatis: 18.5.11).31 Auch wenn es sich dabei mit einiger Wahrscheinlichkeit um das Werk gewiefter Fälscher handelte, die das Interesse der Zeitgenossen an „alten Originalen“ in bare Münze umzusetzen wussten,32 so sind Zeugnisse dieser Art doch indirekt ein Garant für eine ungebrochene Überlieferung.
Vieles spricht dafür, dass sich die Situation bis zum Ende der Spätantike nicht wesentlich geändert hat. Diese umstrittene Frage ist für die spätantike Intertextualitätsforschung von besonderer Relevanz, insofern sie mit der Prämisse arbeitet, dass die Vorbilder, auf die sich die spätantiken Autoren beziehen, für das zeitgenössische Publikum erkennbar und rezipierbar waren. Da für die Rekonstruktion der antiquarischen Fachliteratur Roms die spätantiken Autoren heute eine wichtige Rolle spielen, erscheint an dieser Stelle ein kurzer Exkurs zum vermuteten Erhaltungszustand der antiquarischen Literatur in dieser Epoche angebracht. Es ist wahrscheinlich, dass Varros Antiquitates zu Beginn des fünften Jahrhunderts n. Chr. noch vollständig vorhanden waren. Augustinus selbst liefert wohl den Beweis dafür.33 Aber was war mit den anderen antiquarischen Fachschriften? Zur Beantwortung dieser Frage sei exemplarisch auf Macrobius verwiesen, dessen Saturnalia eine bedeutsame Quelle für die Überlieferung des antiquarischen Schrifttums der römischen Republik darstellen. Hier sind besonders jene Stellen aussagekräftig, an denen Macrobius seine Leser auffordert, die zitierte Passage im Original weiterzulesen.34 So wird der interessierte Leser an einer Stelle auf das einschlägige Werk des Trebatius Testa verwiesen:35
Disputat de hoc more etiam Trebatius religionum libro nono [= frg. 8 Bremer 1, 406], cuius exemplum, ne sim prolixius, omisi. Cui cordi est legere, satis habeat et auctorem et voluminis ordinem esse monstratum.
Von diesem Brauch handelt auch Trebatius [Testa] im neunten Buch von De religionibus, den ich aber, um nicht zu ausschweifend zu werden, nicht zitiert habe. Wer die Stelle nachlesen will, möge mit der Angabe des Autors und des Buches zufrieden sein.
Macr. Sat. 3.7.8
An anderen Stellen verweist er auf ein Buch des Granius Licinianus (Sat. 1.16.30 = T1A Criniti 1981): Causam vero huius varietatis apud Granium Licinianum libro secundo diligens lector inveniet („Den Grund für diese abweichenden Meinungen findet der aufmerksame Leser im zweiten Buch des Granius Licinianus.“), oder auf Varro (Sat. 3.13.15): quod idem Varro in eodem libro refert. Verba ipsa qui volet legere, ubi quaerere debeat indicavi („Dasselbe berichtet Varro in demselben Buch. Für diejenigen, die Varros Worte selbst nachlesen wollen, habe ich die Stelle angegeben.“). Der Habitus derartiger Quellenverweise, den Macrobius auch bei Vergil anwendet (Sat. 6.6.20) und der in dieser Form auch für Augustinus belegt ist (z. B. civ. 2.1: quae Sallustius … describat, in eius historia legi potest [„Was Sallust … schreibt, das kann man in seinem Geschichtswerk nachlesen“]; vgl. ferner 2.23; 20.23), verleiht der bisher wenig rezipierten These von Egbert Türk Gewicht, dass Macrobius einen beträchtlichen Teil der von ihm zitierten Gewährsautoren eigenständig benutzt und kompiliert hat und nicht, wie die ältere Quellenforschung annahm, sein Wissen lediglich aus zweiter oder dritter Hand bezogen hat (vor allem aus Gellius, Plutrach und Athenaeus).36 Allerdings fehlt es nicht an drastischen Gegenbeispielen, etwa wenn Macrobius in Sat. 6.9.5–7 Gellius (16.6.12–13) fast wörtlich zitiert und dabei auch dessen Lektürehinweis in der ersten Person übernimmt: in commentariis ad ius pontificium pertinentibus legi … („In den Schriften über das Pontifikalrecht habe ich gelesen …“). Wenn wir dennoch bereit sind, Türks These im Großen und Ganzen zu folgen, würde dies bedeuten, dass Macrobius und andere spätantike Autoren noch Zugang zu einem beachtlichen Korpus antiquarischer Fachliteratur aus der Zeit der Späten Republik und der Kaiserzeit hatten.37
Für die Verfügbarkeit großer fachwissenschaftlicher Korpora in der Spätantike gibt es neben Macrobius noch weitere Hinweise: In den Digesten, die Justinian 533 n. Chr. im Anschluss an die Sammlung der Kaiserkonstitutionen (Codex Iustinianus) in Auftrag gab, wurden in fünfzig Büchern die klassische juristische Literatur vom ersten vorchristlichen bis zum dritten nachchristlichen Jahrhundert gesammelt. Die zuständige Kommission unter der Leitung von Tribonianus hat nach eigenen Angaben innerhalb von drei Jahren fast zweitausend Rollen mit über drei Millionen Zeilen gelesen, exzerpiert und geordnet; davon seien etwa vierzig Autoren aus der Zeit vom ersten vorchristlichen bis zum dritten nachchristlichen Jahrhundert berücksichtigt und in die Sammlung aufgenommen worden.38 Die Angaben mögen – wie wohl auch bei Plinius, praef. 17 – eher die erschöpfende Fülle als reale Zahlen bezeichnen, aber schon von der Grundintention her müssen die Aussagen Justinians für die anvisierte Leserschaft als realistische Größen vorstellbar gewesen sein.
Angesichts einer weitgehend ungebrochenen literarischen Überlieferung in den kulturellen Zentren des Reichs mag es daher nicht erstaunen, dass sich in der Antike kein tieferes Bewusstsein für den Zusammenhang von Fragmentarizität und Textverlust entwickelt hat. Dies bedeutet nicht, dass es keine Textfragmente gab oder dass sie nicht als solche erkannt wurden. Vielmehr entsprach die absichtliche Fragmentierung von Texten der routinierten Arbeitsweise aller wissensvermittelnden literarischen Texttypen – vom grammatischen Lehrbuch über die Enzyklopädie bis zur historischen Epitome – , die durch Praktiken des Selektierens, Exzerpierens und Kompilierens beständig jene Fragmente produzierten, aus denen sich die modernen Fragmentsammlungen zusammensetzen.39 Dieses Verfahren war ein allgegenwärtiges Phänomen des literarischen Schreibens in der Antike, das sich entlang stilistischer und formaler Konventionen, Gattungstraditionen und Vorbilder bewegte und in unterschiedlichen Formen und Kontexten zum Einsatz kam.40 Solange es noch Abschriften der Vorlagen gab, hatte diese Praxis aber keine erkennbaren Auswirkungen auf den Literaturbetrieb.41
Während also in der Antike ununterbrochen Fragmente produziert wurden, gab es keine Bemühungen, die auf die Rekonstruktion von partikularisierten Werkganzen abzielten. In der langen Geschichte der Klassischen Philologie wurde das Identifizieren und Sammeln von literarischen Fragmenten erst mit Friedrich August Wolf (1759–1824) zu einer spezialisierten Praxis, die das Ziel verfolgte, „das durch den Verlust so vieler Werke zerrüttete Gebäude nach seinem Grundrisse zu construieren.“42 Zwar hatten bereits in den Jahrhunderten vor Wolf humanistische Gelehrte Fragmente antiker Autoren gesammelt und ediert, doch handelte es sich bei diesen Unternehmungen meist um reine Sentenzensammlungen oder um mehr oder weniger willkürlich zusammengestellte Sammlungen bestimmter Autoren oder Gattungen, aber nicht um den systematischen Versuch, ein bestimmtes verlorenes Werk oder Korpus nach kritischen Gesichtspunkten zu rekonstruieren.43 In der Nachfolge seines Lehrers Christian Gottlob Heyne (1729–1812) hatte Wolf das Ziel einer universal konzipierten Altertumswissenschaft vor Augen, in der jedes noch so kleine Fragment der Antike seinen Beitrag zur angestrebten „Kenntnis des altertümlichen Menschen“ leisten sollte. Der positivistische Grundgedanke einer notwendigen Berücksichtigung jedes Überlieferungspartikels zur Rekonstruktion des Ganzen wird von Friedrich Schlegel, in seiner Geschichte der Poesie der Griechen und Römer von 1798 aufgegriffen: „Nichts ist unwichtig, denn nichts ist einzeln […]. Darum muß der Altertumsforscher auch das Bruchstück eines Bruchstücks heilig halten, und auch bei der fast verloschnen Spur mit Andacht weilen.“44 Die mit der pragmatischen Neuorientierung der Altertumswissenschaften unter Heyne und Wolf einhergehende Faszination der deutschen Romantik für das Fragment, die neben der Ruine als philosophischer Denkform und lyrischem Sinnbild auch das Unvollendete als literarische Ausdrucksform für sich entdeckte, gab zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht nur der Arbeit an systematischen und philologisch exakt gearbeiteten Fragmentsammlungen – etwa Schleiermachers Heraklit-Ausgabe von 1807 – weiteren Auftrieb, sondern erhöhte auch den epistemologischen Status des Fragments.45 Die romantisch verklärte Hochschätzung des Fragmentarischen, wie sie bei Wolf, Schlegel, Schleiermacher und anderen zum Ausdruck kommt, ist jedoch kein exklusives Merkmal der Moderne. Bekanntlich gab es in der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte immer wieder Strömungen, in denen bald das Ganze, bald das Fragmentarische und Partikuläre stärker ästhetisch aufgeladen war.
3.3 Im Trümmerfeld der Überlieferung: Eine Literatur zwischen Dokumentation und Imagination
Die Feststellung, dass der trümmerhafte Erhaltungszustand des antiquarischen Schrifttums eine literaturgeschichtliche Rekonstruktion vor besondere Schwierigkeiten stellt, ist zunächst trivial.46 Die fragmentarische Überlieferung vormoderner Kulturobjekte zwingt alle wissenschaftlichen Disziplinen, die von solchen Verlusten betroffen sind, notgedrungen zu Ableitungen, die auf einer Kette von Hypothesen beruhen. Das Problem ist bekannt, Lösungsvorschläge liegen vor: So operieren Archäologie und Kunstgeschichte seit langem erfolgreich mit einem Modell, das nach dem Prinzip des nihil semel repertum Analogien, Homologien und Symmetrien herstellt und überlieferungsbedingte Lehrstellen entsprechend ergänzt.47 Auch in der Klassischen Philologie wird diese typologische Methode mit nicht minder großem Erfolg angewandt, so in der Dramenforschung, in der Rekonstruktion der hellenistischen Philosophie oder in der Rekonstruktion der vorliterarischen Phase Roms. Sie kann aber nur funktionieren, wenn die Basis an Referenzwerken groß genug ist, um eine kanonische Typologie zu erstellen. Außerhalb der bekannten Typen werden Analogien schnell spekulativ – ein Problem, das sich beispielsweise bei der Erforschung der römischen Geschichtsschreibung des 3. und 2. Jahrhunderts v. Chr. zeigt, weil in dieser Epoche die Herausbildung des Formenkanons noch in vollem Gange war. Spätestens im Falle des Totalverlustes einer Textfamilie führt dieses Vorgehen selten über bloße Spekulation hinaus. Auf welche literarischen Comparanda soll man bei der Rekonstruktion der antiquarischen Monographien am besten zurückgreifen, wenn die bezeugten Titel und wenigen Fragmente keine wirkliche Hilfestellung bieten?48 Arnaldo Momigliano hat den Weg aufgezeigt, wie auf der Basis der überlieferten Fragmente durch Ausschlussverfahren (gegenüber den antiken Historikern) und Annäherungsverfahren (gegenüber den frühneuzeitlichen Antiquaren) durchaus Ergebnisse erzielt werden können. Auf die Problematik dieses Vorgehens wurde hingewiesen (siehe oben Kap. 1.1.), ohne dass dabei näher auf die Frage eingegangen wurde, ob und inwieweit die vorhandenen Fragmente überhaupt zuverlässige Rückschlüsse auf das verlorene Ganze zulassen. Eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Problem ist, wie im Folgenden gezeigt wird, eine methodische Notwendigkeit, die jeder Rekonstruktionsarbeit vorausgehen muss.
Es sind vor allem zwei Kernprobleme, die einer Reflexion bedürfen: Das erste (1) betrifft die Herkunft der erhaltenen Fragmente, das zweite (2) die allmähliche Überlagerung und komplexe Verschmelzung der Quellen im Prozess der Wissenstradierung.
(1) Bekanntlich sind Fragmente als Ergebnis eines positiven Selektionsprozesses weder neutral noch repräsentativ für das Gesamtwerk. Der Fall des kaiserzeitlichen Schriftstellers Fenestella zeigt exemplarisch die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn man ohne typologische Referenz (und mit dem Modell der „wahren“ Geschichtsschreibung im Hinterkopf) versucht, aus den erhaltenen Fragmenten ein sinnvolles Ganzes zu rekonstruieren.49 Das Geschichtswerk dieses vermutlich unter Tiberius tätigen Autors ist zwar in gut dreißig Fragmenten erhalten, lässt sich aber nur schwer in die modernen, wissenschaftlich etablierten Gattungskategorien einordnen. Mit Titel bezeugt sind Annales in mindestens zweiundzwanzig Büchern (FRHist 70 F1–4). Fenestella wird von Hieronymus als historiarum scriptor et carminum bezeichnet (chron. 172 = FRHist 70 T5), während Seneca ihn unter die gelehrten philologi50 zählte (epist. 108.30–31 = FRHist 70 F8). Sein Geschichtswerk war offenbar weit verbreitet und wurde auch in späterer Zeit rezipiert. So lag dem spätantiken Grammatiker Diomedes eine Epitome in mindestens zwei Büchern vor (GL 1, 365, 6–9 = FRHist 70 F31). Ohne explizite Werkangabe wird er von einer Reihe unterschiedlicher Autoren bezeugt, darunter Plinius der Ältere, Sueton, Gellius, Censorinus, Tertullian, Lactanz, Macrobius und Fulgentius. Die Inhalte und Themen sind so vielfältig wie die Liste der zitierenden Autoren: neben Staatsrechtlichem (F7) stehen literatur- und kulturgeschichtliche Anekdoten (F11), Luxuskritik (F14; F25; F28), Etymologien (F6; F27), Kalendarisches (F5) und Religiosa (F19). Der Großteil der modernen Forschung akzeptierte den erratischen Befund und wertete die Schrift als Beispiel für den Enzyklopädismus der Zeit, der auch die Geschichtsschreibung erfasst hatte.51 Daneben gab es vereinzelte Versuche, den Autor und sein Werk aus der gattungsgeschichtlichen Grauzone zu retten, indem man die Mehrzahl der erhaltenen Fragmente auf sonst nicht belegte antiquarische Werke desselben Autors zurückführte.52
Bezeichnend für die Vorgehensweise der Forschung ist die Art und Weise, wie Fenestellas „kulturgeschichtliche“ Neigung mit dem Verweis auf die ältere Annalistik begründet wurde, deren Fragmente ein ähnliches Interesse am gelehrten Detail, an Aitiologien und Etymologien erkennen lassen (siehe unten S. 204–214). Ein Blick auf die zitierenden Autoren mahnt jedoch zur Vorsicht: Wie würden wir einen Annalisten wie Cassius Hemina oder Calpurnius Piso beurteilen, wenn der Zufall gewollt hätte, dass die politisch-militärische Perspektive ihrer Werke nicht belegt wäre? Klärendes Licht erfährt die Diskussion um Fenestella daher mit Blick auf die hinter den Fragmenten stehenden Selektionsprozesse. Zunächst fällt auf, dass sich unter den zitierenden Autoren kein einziger Historiker befindet. Dies mag ein Zufall sein oder ein Hinweis darauf, dass Fenestella für die politische Geschichte nie die autoritative Stellung der kanonischen Autoren der Späten Republik erreichte. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass die politische Geschichte nicht auch im Mittelpunkt von Fenestellas Darstellung gestanden hätte. Was wir von diesem mehr als zwanzigbändigen Geschichtswerk wissen, ist kein objektiver Gesamteindruck, sondern das Ergebnis eines zielgerichteten Auswahlprozesses, bei dem politische und militärische Aspekte offenbar bewusst ausgeblendet und stattdessen Bereiche fokussiert wurden, die die Annales des Fenestella im Vergleich zu Livius oder Sallust als Quelle interessant machten. Es ist daher kein Zufall, dass die Fragmente sehr häufig Themen behandeln, die bei anderen Historikern fehlen oder von deren Darstellung abweichen. Einige Beispiele:53
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FRHist 70 F5: Censorinus (20.2) notiert, dass gemäß Licinius Macer und Fenestella der römische Kalender von Anfang an zwölf Monate umfasst habe. Diese Information steht in Widerspruch zur traditionellen Auffassung, die zehn Monate postuliert und durch Varro, Livius und Ovid repräsentiert wird.
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FRHist 70 F6: Plutarch (Quaest. Rom. 41) notiert bei Fenestella sonst nicht bezeugte Details zum frühen römischen Münzwesen.
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FRHist 70 F7: Ulpian (De officio quaestoris 1 = Dig. 1.13.1) führt Fenestella neben Iunius Gracchanus und Trebatius als Gewährsmann der (bei Livius fehlenden) etymologischen Ableitung quaestores a genere quaerendi auf.
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FRHist 70 F9: Plinius (nat. 15.1) notiert, dass gemäß Fenestella in der Zeit des Tarquinius Priscus der Olivenbaum in Spanien, Afrika und Italien noch nicht heimisch war.
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FRHist 70 F12: Frontin (aq. 7.4) entnahm Fenestella die Kosten für die Wasserleitungen der Aqua Marcia (und die der Reparatur der Aqua Appia und des Anio).
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FRHist 70 F20: Für seinen Kommentar zu Ciceros Pro Cornelio durchsuchte Q. Asconius Pedianus die Historiker nach Informationen über einen Gesetzesvorstoß des C. Cotta. Dabei sei er weder bei Sallust noch bei Livius oder Fenestella fündig geworden. Dies zeigt (1), dass Fenestellas Annales sehr wohl Politisches enthielten, und (2), dass Asconius in diesem Werk Details zu finden hoffte, die bei Sallust und Livius nicht enthalten waren.
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FRHist 70 F24–28: Plinius (nat. 33.146; 9.123; 8.195; 9.65; 35.162) entnimmt Fenestella Details über das Aufkommen und die Entwicklung des römischen Tafel- und Kleiderluxus.
Dieses Muster wiederholt sich bei anderen Autoren: Das einzige Fragment des Bellum Carthaginiense des Alfius (FRHist 69, erste Hälfte/Mitte 1. Jhd. v. Chr.) enthält eine nur hier bezeugte alternative Aitiologie der oskischen Mamertini, die in den Ausbruch des Ersten Punischen Krieges verwickelt waren (Fest. p. 150, 13–36 Lindsay). Aus der Autobiographie (De vita sua) des M. Aemilius Scaurus, eines führenden Optimaten der Zeit nach den Gracchen (FRHist 18, um 163–89 v. Chr.) sind sieben Fragmente erhalten, von denen fünf von Grammatikern stammen, die das Werk aufgrund sprachlicher Besonderheiten zitieren. Frontin (strat. 4.3.13) entnimmt daraus eine militärische Anekdote (F5), Valerius Maximus die Notiz über die geringe Erbschaft, die Scaurus’ Vater dem Sohn hinterlassen hatte (F1). Die Schrift war zweifellos eine wichtige Quelle für die Kriege, an denen Scaurus teilgenommen hatte, doch fehlt in der Überlieferung jede Spur davon.
Auch die überlieferten Fragmente hellenistischer Autoren, die sich zur Frühgeschichte Italiens äußerten, legen nahe, dass erhalten ist, was ungewöhnlich war:
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Antigonos (3. Jhd. v. Chr.?), FGrHist 816 F1 (= Fest. p. 328, 2–5 Lindsay): Antigonus, Italicae historiae scriptor, ait Rhomum quendam nomine, Iove conceptum, urbem condidisse in Palatio Romaeque ei dedisse nomen.
Antigonos, der über die Geschichte Italiens schrieb, behauptet, dass ein Mann namens Rhomus, ein Sohn Jupiters, die Stadt auf dem Palatin gegründet und ihr den Namen Rom gegeben habe.
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Galitas (3. Jhd. v. Chr.?), FGrHist 818 F1 (= Fest. p. 329, 15–19 Lindsay): Galitas scribit, cum post obitum Aeneae imperium Italiae pervenisset ad Latinum, Telemachi Circaeque filium, isque ex Rhome suscepisset filios, Rhomum Romulumque, urbi conditae in Palatio causam fuisse appellandae potissimum Rhom⟨…⟩
Galitas schreibt, dass, nachdem Latinus, der Sohn des Telemachos und der Kirke, nach dem Tode des Aeneas die Herrschaft über Italien erhalten und mit Rhome zwei Söhne, Rhomus und Romulus, hatte, sei Rhom<…> der Grund gewesen, die auf dem Palatin gegründete Stadt zu benennen.
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Kleinias (3. Jhd. v. Chr.?), FGrHist 819 F1 (= Serv. auct. Verg. Aen. 1.273): sed de origine et conditore urbis diversa a diversis traduntur. Clinias refert Telemachi filiam Romen nomine Aeneae nuptam fuisse, ex cuius vocabulo Romam appellatam.
Aber über den Ursprung und den Gründer der Stadt geben verschiedene Autoren unterschiedliche Versionen. Kleinias berichtet, eine Tochter des Telemachos namens Rhome sei mit Aeneas verheiratet worden. Nach ihr sei die Stadt benannt.
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Zenodotos von Troizen (um 150 v. Chr.), FGrHist 821 F1 (= Solin. coll. 2.9): Praeneste, ut Zenodotus, a Praeneste Ulixis nepote Latini filio; ut Praenestini sonant libri, a Caeculo, quem iuxta ignes fortuitos invenerunt, ut fama est, Digidiorum sorores.
Praeneste, wie Zenodot sagt, hat seinen Namen von Praeneste, einem Enkel des Odysseus und Sohn des Latinus. Die Bücher von Praeneste verkünden, dass der Name von Caeculus stammt, welcher der Legende nach von den digidischen Schwestern neben einem natürlich entstandenen Feuer gefunden wurde.
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Xenon (?), FGrHist 824 F1 (= Macr. Sat. 1.9.3): Xenon quoque primo Italicon tradit Ianum in Italia primum dis templa fecisse et ritus instituisse sacrorum; ideo eum in sacrificiis praefationem meruisse perpetuam.
Auch Xenon berichtet im ersten Buch der Italika, Ianus habe als erster in Italien den Göttern Tempel errichtet und Opferriten eingeführt. Ihm gebühre daher das Recht, im Opferdienst stets als erster genannt zu werden.
Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Vielleicht noch ein Wort zu den erkennbaren Selektionsmustern in der antiken Kommentarliteratur, ohne dies hier vertiefen zu wollen: Es lässt sich folgende Typologie von Zitaten aufstellen, die in den einzelnen Lemmata häufig kombiniert auftreten: Zitate, die eine bestimmte Wortwahl oder Aussage des Dichters erklären,54 Zitate, die eine bestimmte Wortwahl oder Aussage des Dichters authentifizieren,55 Zitate, die einer bestimmten Wortwahl oder Aussage des Dichters widersprechen.56 Nach diesen drei Kategorien erfolgte im Wesentlichen die Auswahl aus der gelehrten Literatur.
(2) Das Beispiel des Fenestella lehrt, dass sich die Tendenzhaftigkeit fragmentarischer Überlieferung in jenen Fällen besonders gravierend auswirkte, in denen eine Rekonstruktion per analogiam auf keine typologische Vergleichsgröße zurückgreifen kann. Obwohl vor diesem Hintergrund eine methodische Differenzierung zwischen Ziel- und Ursprungskontext angezeigt wäre, lässt man sich in der Regel von der zitierenden Instanz leiten: Wird ein bestimmtes Werk oder ein bestimmter Autor in einem historischen, grammatischen oder juristischen Kontext zitiert oder scheint das Zitat aus einem solchen Kontext zu stammen, so wird vermutet, dass auch die betreffende Schrift zu diesem Segment gehörte. Dies ist einer der Gründe, warum Fragmente vermeintlich antiquarischer Werke oft gleichzeitig in grammatische, juristische und historiographische Fragmentsammlungen aufgenommen wurden.
Der aus der Not geborene Rückschluss vom thematischen Kontext des Zitats auf den Inhalt des Werkes führt zum zweiten quellenkritischen Kernproblem, nämlich dem der graduellen Überlagerung verschiedener Zitatzusammenhänge im Prozess der Überlieferung beliebiger Wissensbestände.57 Analog zu den Aphorismen und Sinnsprüchen der antiken Philosophen haben die noch heute erhaltenen Zitate und Testimonien ansonsten verlorener Autoren meist mehrere Überlieferungsstufen durchlaufen. Besonders deutlich zeigt sich dieses Phänomen in den literarischen Verschriftlichungsformen der antiken philologischen Praxis, namentlich der grammatischen Artigraphie, der Lexikographie sowie der Kommentarliteratur. Zwei Beispiele aus der Spätantike sollen diesen komplexen Prozess veranschaulichen:
Der von der modernen Quellenforschung für seine transparente Zitierpraxis geschätzte spätantike Grammatiker Charisius (4. Jhd. n. Chr.) hat seine Ars grammatica derart mit Zitaten angereichert, dass in seinem Werk gleichsam „eine Stufenfolge der grammatischen Tradition Roms aufgehoben“ ist.58 Für die Besprechung von Varianten in der Nominalflexion hat Charisius sein Material größtenteils aus der einschlägigen Fachschrift De analogia des Iulianus Romanus exzerpiert (c. XVII: De analogia, ut ait Romanus: Char. gramm. 1, pp. 149–187 Barwick). Romanus wiederum hatte seinen alphabetisch angeordneten Stoff hauptsächlich aus Capers De Latinitate (um 200 n. Chr.) und den Dubii sermonis libri des älteren Plinius bezogen. Caper und Plinius haben ihrerseits die Werke der älteren Tradition kompiliert.59 Charisius öffnet also, ohne selbst mit ihr in Berührung gekommen zu sein, ein Fenster in eine auf Varro (De sermone Latino) und Verrius Flaccus (De orthographia) zurückgehende, heute fast vollständig verlorene Fachliteratur zum Thema de Latinitate, die sich mit Entscheidungen zur Sprachrichtigkeit und Orthographie befasste.60
Erscheint der beschriebene schematische Überlieferungsprozess noch relativ unproblematisch, so ändert sich dies mit Blick auf die Kommentarliteratur. Dies zeigt sich besonders deutlich bei der Vergilkommentierung, deren komplexe vierhundertjährige Tradition nur noch als diffuses variorum auctorum-Rudiment im Kommentar des Servius und in einer Handvoll anonymer Glossatoren erhalten ist.61 Wie Charisius eröffnet auch Servius ein Fenster in eine ungebrochene Linie von Grammatikern und Exegeten, die über mehrere Zwischenstufen von der augusteischen Zeit (C. Iulius Hyginus) über das erste (Asconius, Cornutus und Valerius Probus) und zweite nachchristlichen Jahrhundert (Scaurus und Aemilius Asper) bis zu Aelius Donatus im vierten Jahrhundert reicht.62 Servius’ eigenwillige, abbreviierende Arbeitsweise macht exakte Zuweisungen schwierig. Darüber hinaus blühte in allen Epochen in Ergänzung zu den Kommentaren eine heute vollständig verlorene grammatisch-philologische Fachliteratur, die sich mit allen möglichen Aspekten des vergilischen Werks auseinandersetzte. Je nach behandeltem Gegenstand orientierten sich diese Schriften an der gelehrten antiquarischen Literatur. Das in der Fülle dieser Spezialschriften gespeicherte Wissen ist auf nicht näher bestimmbare Weise in Donats variorum auctorum-Kommentar eingeflossen.
Ein Beispiel mag hier genügen: Macrobius kommt im Zuge seiner Ausführungen über Herkules auf den Opferritus an der Ara Maxima zu sprechen (Macr. Sat. 3.6.16): Cornelius Balbus
Asper „
κατὰ διαστολὴν “ inquit „Potitiorum, qui ab Appio Claudio praemio corrupti sacra servis publicis prodiderunt.“ Sed Veranius pontificalium eo libro quem fecit de supplicationibus ita ait: Pinariis, qui novissimi comeso prandio venissent, cum iam manus pransores lavarent, praecepisse Herculem, ne quid postea ipsi aut progenies ipsorum ex decima gustarent sacranda sibi, sed ministrandi tantum modo causa, non ad epulas convenirent; quasi ministros ergo sacri custodes vocari.Asper sagt, [Vergils Formulierung ziele] „zur Unterscheidung von den Potitiern, die von Appius Claudius bestochen wurden und daher den Staatssklaven den Opferkult überließen.“67 Aber Veranius sagt in jenem Buch der Priesterlichen Dinge, das er zu den Dankfesten geschrieben hat [frg. 4 Bremer 2.1, 7], dass Herkules, nachdem die Pinarier als letzte zum Mittagsmahl erschienen waren, als sich die Speisenden bereits die Hände wuschen, ihnen und ihren Nachkommen verboten habe, von dem Zehnten zu kosten, der ihm geopfert werden sollte. Sie dürften nur kommen, um zu dienen, nicht um am Mahl teilzunehmen; so werden sie [bei Vergil] gleichsam in dienender Stellung ‚Wächter des Opferdienstes‘ genannt.
Macr. Sat. 3.6.13–14
An dieser Stelle muss es genügen, anhand verstreuter Einzelfälle auf eine eigentlich hinlänglich bekannte Problematik aufmerksam gemacht zu haben. Um die komplexen Selektionsprozesse, die die literarische Überlieferung antiquarischer Wissensbestände durchlaufen hat, verstehen zu können, müssten diese für die identifizierten Teilbereiche und Autoren im Detail nachvollzogen werden.68
Vgl. die vielleicht etwas zu pointierte Formulierung von Bardon 1, 13: „Il faut en convenir: nous ne connaissons pas la littérature latine.“ Indes sind bedeutende Funde im Sand Ägyptens oder im Tuffstein von Herculaneum ebenso wie Neuentdeckungen in Bibliotheken kaum noch zu erwarten. Die wissenschaftliche Bemühung um aktualisierte und verbesserte Fragmentsammlungen ist allenfalls zu mikroskopischen Fortschritten fähig.
Die wissenschaftliche Arbeit mit Fragmenten wird in jüngerer Zeit verstärkt methodisch reflektiert; aus altertumswissenschaftlicher Perspektive insbes. durch die Arbeiten von Glenn W. Most: Most 1997; Most 1998; Most 2009; Most 2010; Most 2011; siehe ferner Obbink/Rutherford 2011 (hier bes. der Beitrag von Dirk Obbink) und die Beiträge in Neuerburg/Tsiampokalos/Wozniczka 2024; speziell zu Varro Salvadore 2012; eine kritische Wegleitungen aus papyrologischer Sicht bieten Youtie 1974 und Parson 1982. Allgemein zum Fragment in Literatur und Kunst siehe die Beiträge in Tronzo 2009 und Berning/Jordans/Kruschwitz 2015.
Zu Petrarcas Ablehnung der mittelalterlichen translatio-Idee, die noch Dantes Werk prägte, siehe Stierle 2012, 272 ff.
Acciarino 2017, 489: „founding father of Renaissance antiquarianism“; vgl. ferner Weiss 1964; Mazzocco 1977; Miller 2012, 247–248.
Den Zeitgeist widerspiegelt die Schrift De sui ipsius et multorum ignorantia von 1367; vgl. auch seine diesbezüglichen Klagen in fam. 24.4.11 und rer. mem. 1.19.3 ff. Handschriftensuche: Petrarca hatte 1333 auf einer Reise in Lüttich Ciceros Pro Archia entdeckt, vgl. Petrarca, Sen. 16.1; fam. 13.6.22 f.
Es handelt sich um fam. 24.3. Zu den Umständen, die zur Veröffentlichung führten, äußert sich Petrarca in fam. 24.2.
Petrarca, fam. 24.4.11–14.
Vgl. Petrarca, Triumphus Famae III. 37–39: Qui vid’io nostra gente aver per duce / Varrone, il terzo gran lume Romano, / che, quando il miri più luce.
Petrarca, fam. 24.2.16: Lusi ego cum his magnis ingeniis, temerarie forsitan sed amanter sed dolenter sed ut reor vere; aliquanto, inquam, verius quam vellem.
Die Auffindung eines vollständigen Quintilian im Kloster St. Gallen erfolgte im Jahr 1416 im Umfeld des Konstanzer Konzils durch den apostolischen Sekretär Poggio Bracciolini (1380–1459). Siehe dazu Classen 1994.
Petrarca, fam. 24.7.1: sero ingenium tuum novi: oratoriarum institutionum liber, heu, discerptus et lacer, venit ad manus meas.
Petrarca, fam. 24.6.2–3. Zum Epitheton doctissimus, das Varro seit Seneca (Helv. 8.1) zugelegt wird, siehe Cardauns 2001, 83–84. Vgl. Aug. civ. 6.2: Iste igitur vir tam insignis excellentisque peritiae et, quod de illo etiam Terentianus elegantissimo versiculo breviter ait: „Vir doctissimus undecumque Varro“ […].
Petrarca nennt Cicero, Lactanz und Augustinus (fam. 24.6.5–7). Die vollständig erhaltenen Rerum rusticarum libri und die erhaltenen Bücher von De lingua Latina finden keine Erwähnung.
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die ähnliche Klage über den Verlust des Großteils von Varros Schriften, die Leonardo Bruni in den Dialogi ad Petrum Paulum Histrum Niccolò Niccoli in den Mund legt: Nonne videmus quam amplo pulcherrimoque patrimonio haec nostra tempora spoliata sint? Ubi sunt M. Varronis libri qui vel soli facere possent sapientes, in quibus erat linguae latinae explicatio, rerum humanarum divinarumque cognitio, omnis sapientiae ratio omnisque doctrina? (c. 28, ed. Baldassarri 1994, 248).
Teile von Censorinus’ De die natali und Tertullians De spectaculis (siehe unten S. 450–454) weisen ebenso wie Ovids Fasti das antiquarische Modell in prägnanter Weise auf, stehen aber nur bedingt in der Tradition der im Folgenden als antiquarische „Fachliteratur“ im engeren Sinne definierten Textgruppe. Traditionslinien antiquarischer Wissensspeicherung zeigen sich in der Lexikographie, etwa in Festus’ De verborum significatu oder Isidors Etymologiae.
Begründete Mutmaßungen über den möglichen Grund für den Verlust von Varros Antiquitates erstellt Hadas 2017.
Vgl. Boyancé 1953, 202 in seiner Rezension zu Bardons La littérature latine inconnue: „Dans une large mesure, la tradition s’explique par la hiérarchie des valeurs admise dans l’antiquité et ce que nous avons l’habitude d’appeler la littérature latine en reste tout de même la meilleure part.“
So Most 2011, 28.
„Fragment“ hier verstanden als Gegensatz zu „Werk“ wie bei H. Thomé, Werk, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, 2003, 832: „Im Kontext von Literatur und Literaturwissenschaft – für die bildende Kunst ist der Gebrauch analog – meint Werk […] das fertige und abgeschlossene Ergebnis der literarischen Produktion, das einem Autor zugehört und in fixierter, die Zeit überdauernder Form vorliegt, so daß es dem Zugriff des Produzenten ebenso enthoben ist wie dem Verbrauch durch den Rezipienten. Texte, allgemeine Kunstgebilde, die vom Urheber nicht vollendet oder durch die Überlieferung verstümmelt wurden, bezeichnet man im Gegensatz dazu als Fragmente.“ Für einen rein materiellen Definitionsansatz aus kunsthistorischer Perspektive siehe Lichtenstein 2009. Reflexionen über Bedeutung und Stellenwert fragmentierter und unvollständiger Objekte in antiken Kulturen bieten die Beiträge in Martin/Langin-Hooper 2018.
Vgl. ThLL 6.1, 1232 s. v. fragmentum. In Att. 2.1.3 verwendet Cicero
Most 2009, 11. Vgl. Platon, Phaedr. 264c.
Ein bekanntes Beispiel ist Lukrez, dessen Lehrgedicht über epikureische Physik nach dem Zeugnis des Hieronymus unvollendet geblieben und von Cicero postum herausgegeben wurde (Hier. chron. 1923, vgl. Cic. ad Q. fr. 2.9.3). Während die ältere Lukrezforschung die auf Lachmann zurückgehende Prämisse des unvollendeten Werkabschlusses vertrat, führt die neuere Forschung die textinternen Probleme auf Interpolationen zurück; einen Forschungsüberblick bietet Deufert 1996, 15–26. Auf dokumentarisch relativ sicherer Basis befindet man sich bei Vergils Aeneis, die gemäß Sueton von Varius und Tucca gegen den Willen des Autors postum in der unfertigen Form herausgegeben wurde, sowie beim Satirenbuch des Persius (Suet. Vita Verg. ed. Rostagni, p. 165, 25–166, 31: Scriptitavit et raro et tardo. Hunc ipsum librum imperfectum reliquit. Versus aliqui dempti† sunt ultimo libro, ut quasi finitus esset. Leviter correxit Cornutus et Caesio Basso petenti, ut ipse ederet, tradidit edendum). Caesars commentarii wurden postum von seinen Gefolgsleuten ergänzt und fortgesetzt (Caes. Gall. 8 praef. 2); siehe zur komplexen Forschungssituation Damon 2015, 10–15. Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Debatten ist die Frage, ob Ovids Fasti, Lucans Pharsalia und die Argonautica des Valerius Flaccus unvollendet abbrechen oder ob deren ungewöhnlicher Schluss doch auf eine Entscheidung des Autors zurückzuführen ist.
Arist. top. 1.14.105b12–18.
Zu den Unterschieden im Vergleich mit modernen Fragmentsammlungen siehe Most 1998, 2.
Dazu Barnes 1997; Tutrone 2013.
Die wenigen einschlägigen Beispiele stammen aus dem griechischen Bereich: Plutarch äußert im Zusammenhang seiner Diskussion der Multiversum-Theorie des Petron von Himera (5./4. Jhd. v. Chr.), dass er dessen Traktat nie gelesen habe und nicht sicher sei, ob sich überhaupt eine Abschrift erhalten habe:
Cic. Att. 12.3.1: ego me interea cum libellis; ac moleste fero Vennoni historiam me non habere. Cicero hatte im Mai/Juni 45 v. Chr. den Plan einen
Von seinem Werk hat sich nichts erhalten. Zu seiner Person siehe HLL 1, 430; FRHist I, 250–251. Weitere Erwähnungen finden sich in Dion. Hal. ant. 4.15.1 und in der Origo gentis Romanae 20.1 (beide zur Königszeit).
Voraussetzung war, dass ein Werk die Zirkulation im Freundeskreis erfolgreich durchlaufen hatte. Die Verbreitung des unveröffentlichten Frühwerks eines Dichters konnte durch Freunde und Familie unterdrückt werden, vgl. Suet. Pers. (ed. J.C. Rolfe, Suetonius, Bd. II, p. 474): Scripserat in pueritia Flaccus etiam praetextam et hodoeporicon librum unum et paucos in socrum Thraseae versus, quae se ante virum occiderat. Omnia ea auctor fuit Cornutus matri eius ut aboleret.
Nach Fronto, epist. 4.5 konnte Marc Aurel die Reden des alten Cato aus der Palatinischen Bibliothek entleihen.
Z. B. Gell. 1.7.1 (Ciceros In Verrem aus der Hand Tiros); 2.3.5 (eine nach allgemeiner Ansicht aus der Hand des Vergil stammende Aeneis-Ausgabe); in Gell. 1.21.2; 9.14.7 und 13.21.4 werden Textausgaben erwähnt, die aus dem Haus Vergils stammen und zu denen Hyginus und Valerius Probus Zugang gehabt hätten. Glaubt man Plinius, waren Autographe aus der Hand der Gracchen, des Augustus, Ciceros und Vergils noch häufig zu finden: Tiberi Gaique Gracchorum manus apud Pomponium Secundum vatem civemque clarissimum vidi annos fere post ducentos; iam vero Ciceronis ac Divi Augusti Vergilique saepenumero videmus (nat. 13.83).
Zetzel 1981, 14; Holford-Strevens 1988, 139–141.
Siehe unten S. 387 ff. Zu Zweifeln an der Hypothese, dass Augustinus Varro im Original gelesen hat, siehe Piras 1998, 29–32 und Salvadore 2012, 95–96.
Im Vorwort an seinen Sohn lässt er keine Zweifel daran, dass er diese selbst gelesen und exzerpiert hat: nec mihi vitio vertas, si res quas ex lectione varia mutuabor ipsis saepe verbis quibus ab ipsis auctoribus ennarratae sunt explicabo (Sat. praef. 4).
Die Expertise des Trebatius, eines angesehenen Juristen unter Augustus, wurde auch in Sat. 3.3.8 herangezogen. Zu seinen libri de religionibus siehe unten S. 293. In Sat. 3.7.10 verwirft Macrobius die Erklärung des Vergilkommentators Asper bei der Frage, warum Vergil Mezentius als contemptor deorum bezeichnet hatte, und verweist den Leser auf Cato: Sed veram huius contumacissimi nominis causam in primo libro Originum Catonis diligens lector invenient. Ait enim […] usw.
Türk 1961. Wegweisend für die Quellenforschung waren Linke 1880; Wissowa 1880 sowie Wessner, RE 14,1 (1928), 182–196. Zu Macrobius Zitiertechnik siehe Goldlust 2010, 328–360 und Goldlust 2016 (mit Fokus auf Varro).
Nach Türk 1961, 278–281 (Annex II) hat Macrobius folgende Autoren aus eigener Lektüre gekannt: Ateius Capito (Sat. 7.13.11 f.), Granius Licinianus (Sat. 1.16.30), Octavius Hersennius (Sat. 3.12.7), Masurius Sabinus (Sat. 1.4.15; 3.6.11), Serenus Sammonicus (Sat. 3.17.4), Tarquitius Priscus (Sat. 3.7.7), Trebatius Testa (Sat. 3.7.8), M. Terentius Varro, Veranius (Sat. 3.2.3; 3.20.2), Verrius Flaccus (Sat. 1.4.7). Trifft seine Analyse von Macrobius’ Arbeitsweise zu, ist die Liste erweiterbar: Gavius Bassus (Sat. 1.9.13; 3.6.17), Cornificius Longus (Sat. 1.9.11), Nigidius Figulus (Sat. 1.9.6 f.), Iulius Modestus (Sat. 1.10.9), M. Valerius Messalla Rufus (Sat. 1.9.14). Zur Bekräftigung dieser Annahme könnte man weitere Zeugnisse heranziehen, z. B. das nach 360 n. Chr. entstandene Proömium zum sogenannten Corpus Aurelianum, das neben der Kaisergeschichte des Aurelius Victor die Origo gentis Romanae und eine Schrift De viris illustribus umfasst.
Constitutio Tanta § 1; der ebenfalls den Digesten vorangestellte Index auctorum nennt die exzerpierten Autoren und Werke. Die Texte sind gesammelt von Behrends/Knütel/Kupisch/Seiler 1995.
Fragmentierung als eine Form der Wissensgenerierung ist ein breit diskutiertes Forschungsfeld, auf das hier nur exemplarisch verwiesen sei, siehe etwa König 2007; zur Fragmentierung als natürlichem Prozess in der Entstehung mittelalterlicher Handschriften siehe Bamford 2018.
Horster/Reitz 2010; Dusil/Schwedler/Schwitter 2017. Eine exemplarische Analyse mit Fokus auf die antike Heurematographie bietet Schwitter 2023b.
Die aus heutiger Sicht drängende quellenkundliche Frage lautet daher, wie lange diese Vorlagen noch konsultiert wurden, und an welchem Punkt die Namen und Titel nur noch in und durch die Exzerpte existierten.
Programmatisch in den Prolegomena ad Homerum von 1795, ed. Most/Grafton/Zetzel 1985. Das Zitat stammt aus F.A. Wolf, Darstellung der Altertumswissenschaft, in: Museum der Altertumswissenschaft 1 (1807), iii–ix, 3–145, 61 (= Kleine Schriften, II, 845).
Z. B. Henri Étienne, Poesis Philosophica, 1573 (Fragmente griechischer Philosophen) und Guilelmus Morelius, Ex veterum comicorum fabulis, quae integrae non extant, sententiae, Paris 1553, weitere Beispiele bietet Kassel 1991. Dasselbe gilt sowohl für entsprechende Bemühungen der hellenistischen Textphilologie als auch für die spätantiken Florilegien, Anthologien und Apophthegmata-Sammlungen. Siehe dazu Most 2009, 13–14.
Schlegel 1979, 398. Siehe dazu Kassel 1991, 250–251; Most 1998, 7–9.
Most 2009, 15–17. Zur Ästhetik des Fragments in der Vormoderne Ostermann 1991.
Das Referenzwerk für die Unwägbarkeiten der Arbeit mit Fragmenten ist Brunt 1980.
Obbink 2011, 41–43.
Zu den schlecht bezeugten, häufig irreführenden Titeln antiquarischer Fachschriften siehe unten Kap. 4.1.
Siehe zum Folgenden die ausgewogene Diskussion von Andrew Drummond in FRHist I, 490–496.
In der Bedeutung eines historisch interessierten Exegeten; siehe oben S. 85 f.
HRR 2, cx–cxi; Bardon 2, 147–148; Accornero 1978, 55–60. Siehe dazu die Diskussion unten Kap. 6.3.2.
So Reitzenstein 1900. Mazzarino (GRF Mazzarino pp. 29–36) rechnet mit einer grammatischen Fachschrift.
Für Hintergrundinformationen ist zur Stelle jeweils der ergiebige Kommentar in FRHist III zu konsultieren.
Zum Beispiel: Serv. auct. Verg. Aen. 10.76: pilumnus avus comparat genus Turni cum Aeneae, dicens etiam avum eius deum esse. Varro Pilumnum et Pitumnum infantium deos esse ait eisque pro puerpera lectum in atrio sterni, dum exploretur an vitalis sit qui natus est.
Zum Beispiel: Serv. auct. Verg. Aen. 7.682: altum praeneste Cato dicit: quia is locus montibus praestet, Praeneste oppido nomen dedit; ergo ‚altum‘, quia in montibus locatum; Serv. auct. Verg. Aen. 1.277: Romanos suo de nomine dicet perite non ait Romam, sed Romanos. Urbis enim illius verum nomen nemo vel in sacris enuntiat. Denique tribunus plebei quidam Valerius Soranus, ut ait Varro et multi alii, hoc nomen ausus enuntiare […]; Serv. auct. Verg. Aen. 3.148: effigies sacrae Varro sane rerum humanarum secundo ait, Aeneam deos penates in Italiam reduxisse, quaedam lignea vel lapidea sigilla, quod evidenter exprimit dicendo ‚effigies sacrae divum‘ et reliqua.
Zum Beispiel: Serv. auct. Verg. Aen. 1.273: […] sed de origine et conditore urbis diversa a diversis traduntur. Clinias refert Telemachi filiam Romen nomine Aeneae nuptam fuisse, ex cuius vocabulo Romam appellatam; Serv. Verg. Aen. 4.682: Varro ait, non Didonem, sed Annam amore Aeneae impulsam se supra rogum interemisse.
Die kritische Erkenntnis, dass das Wissen über die Vergangenheit sich durch den Transmissionsprozess zwangsläufig verändert, hat – nach der schlüssigen These von Howley 2014 – Gellius seinen Lesern auf den Weg geben wollen.
HLL 5 § 523.2., p. 127.
Vgl. HLL 4 § 438., pp. 234–235 und § 439.1., pp. 236–237.
Die Stufung zeigt sich etwa darin, dass (durch die Vermittlung des Romanus) Plinius zum Gewährsmann für Zitate aus Varro wird: mare Varro de gente populi Romani III „a mare operta oppida“, pro a mari, ut refert Plinius. Idem, inquit, antiquitatium humanarum libro XII „ab Erythro mare orti“ (gramm. 1, p. 174 Barwick = Ant. rer. hum. XII frg. 2 Mirsch); oxo Varro ad Ciceronem XIII „olivo et oxo putat fieri“, inquit Plinius sermonis dubii libro VI (gramm. 1, p. 176 Barwick = Varro ling. 13 frg. 24 Kent); „ ‚Tanaidis‘ Varro antiquitatum humanarum XIII, non huius Tanais ut Tiberis“ inquit Plinius (gramm. 1, p. 183 Barwick = Ant. rer. hum. XIII frg. 18 Mirsch).
Einführend Zetzel 2018, 131–142 mit weiteren Verweisen.
Zur antiken Vergilkritik siehe immer noch grundlegend Georgii 1891; vgl. ferner Ribbeck 1866, 114–200 und Stok 2012, 464–469; zur Arbeitsweise der Vergil-Kommentatoren siehe u. a. Murgia, 2004; Stok 2010, 107–120.
Fragmente: GRF pp. 540–542 – Literatur: Schanz/Hosius 1, 141, 146, 351; Groag, RE 4, 1268–1271. Siehe unten S. 297 Anm. 275.
Macr. Sat. 3.6.16: Non vacat quod dixit „sedili“. Nam propria observatio est in Herculis sacris epulari sedentes.
In Serv. auct. Verg. Aen. 4.127 wird Cornelius Balbus als Quelle zitiert: Cornelius Balbus Hymenaeum ait Magnetis filium. Ob hier dasselbe Werk vorliegt, ist ungewiss.
Zu diesen Werken siehe unten S. 282–301.
Vgl. dazu Fest. p. 270, 8–14 Lindsay; Livius 1.7.14.
Unlängst wurde dieses ambitionierte Projekt von den Autoren in Arena/Piras 2018 angegangen. Zu ähnlichen Bestrebungen für Verrius Flaccus siehe Glinister/Woods 2007.