Kapitel 6 Literaturgeschichtliche Entwicklungslinien in Rom (2. Jhd. v. Chr.–3. Jhd. n. Chr.)

In: Antiquarianismus in Rom
Author:
Raphael Schwitter
Search for other papers by Raphael Schwitter in
Current site
Google Scholar
PubMed
Close
Open Access

Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die Inhalte, literarischen Formate und wissenschaftlichen Methoden, in denen sich Antiquarianismus in Rom monographisch manifestierte. Wie in den vorangegangenen Kapiteln wird auch hier zunächst nur sporadisch auf die diskursiven Zusammenhänge, das heißt auf die politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontexte eingegangen, in denen diese Literatur zu verorten ist. Damit wird auch die wichtige Diskussion über die auktorialen Wirkungsintentionen antiquarischer Fachschriften vorerst suspendiert. Eine beispielhafte Behandlung dieser Frage erfolgt in der gebotenen Ausführlichkeit anhand der Literatur des ersten vorchristlichen Jahrhunderts (Kap. 6.2.3.).

Historisch lassen sich im untersuchten Zeithorizont drei Phasen unterscheiden: (1) eine Zeit der ersten Spezialisierung (2. und frühes 1. Jhd. v. Chr.), in der sich eine monographische Autonomisierung antiquarischer Wissensbestände innerhalb der historisch arbeitenden Fachgebiete der Grammatik und der Rechtskunde abzeichnet; (2) eine Zeit der Diversifikation und Synthese (1. Jhd. v. Chr.), die neben einer breiten thematischen Auffächerung erste große Überblickswerke aufweist, sowie (3) eine Zeit der Kompilation und Reorganisation des Wissens (1.–3. Jhd. n. Chr.), in der mit alten und neuen literarischen Präsentationsformen experimentiert wird.

6.1 Zweites und frühes erstes Jahrhundert v. Chr.: Im Prozess der Spezialisierung

6.1.1 Vorbemerkungen

Für keinen Bereich der in dieser Studie behandelten Literatur trifft das oben (Kap. 3) formulierte methodische Caveat besser zu als für die Rekonstruktion der sogenannten „archaischen“ Epoche.1 Innerhalb der altphilologischen Forschung ist die Archaik seit langem Gegenstand heftiger Kontroversen. Da historisch verlässliche Nachrichten fehlen, aus literaturgeschichtlicher Sicht aber entscheidende Prozesse ablaufen, treffen romantische Verklärung und Hyperkritik auf keinem Feld der Latinistik derart unversöhnlich aufeinander.2 Die Problemkreise sind vielfältig; zur Disposition steht nichts Geringeres als die literarische Gesamtkonzeption der Epoche. Debatten entzünden sich am Komplex „Mündlichkeit-Schriftlichkeit“, an der Entwicklungsgeschichte einzelner Gattungen und des Literaturbetriebs im Allgemein sowie an den gesellschaftlichen und politischen Kontexten der Literatur. Heftig umstritten ist das Verhältnis zwischen den „vorliterarischen“, römisch-autochthonen Vorstufen und den fremden Kulturimporten, besonders der hellenistischen Buchkultur, aber auch Einflüsse der Etrusker, Osker und anderer Völker.3 Für die vorliegende Fragestellung von gewissem Belang ist die Forschungsdiskussion über die in Prosa gehaltenen öffentlichen und privaten Aufzeichnungen (commentarii, fasti consulares, tabulae und annales pontificum usw.), die Funktion und Verwendung dieser Texte im (Rechts-)Alltag, ihren Einfluss auf die Buchliteratur sowie über das Problem möglicher Editions- und Redaktionsstufen.4

Erschwert wird die Analyse nicht nur durch die prekäre Überlieferungssituation, sondern auch durch literaturgeschichtliche Reflexionen seitens antiker Schriftsteller, etwa von Livius zum Drama (7.2) oder von Cicero zur lyrischen Kultur (Tusc. 4.3 f.) und zum Epos (Brut. 70–76). Jede Disziplin entwickelte ihr eigenes Ursprungsnarrativ, vermittelte ihre eigenen Anfänge und ihren sukzessiven Fortgang, teils innerhalb der artigraphischen Darstellung, wie in der Jurisprudenz, teils in anderen Formaten (etwa Suetons De grammaticis et rhetoribus), wobei stets zeitgeschichtliche Diskurse mitspielten.

Vor diesem Hintergrund bewegen sich die folgenden Überlegungen zwangsläufig im Bereich des Spekulativ-Hypothetischen und gelangen nur selten über den Status einer plausiblen Vermutung hinaus. Zudem konnte es kaum ausbleiben, dass das disparate Aufblitzen einzelner Fragmente und Testimonien gelegentlich zu Schlussfolgerungen führte, die der These der vorliegenden Studie zuträglich waren. Trotz der genannten Vorbehalte soll im Folgenden versucht werden, die literarischen Anfänge des römischen Antiquarianismus auf der Grundlage des vorhandenen Materials zu modellieren. Dass diese literaturgeschichtliche Skizze über weite Strecken im Schematischen verbleibt, ist im Zuge der thesenhaften Argumentation kaum zu vermeiden.

Im Grunde wird für die allmähliche Herausbildung einer Spezialliteratur im Laufe des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts plädiert, die auf die monographische Speicherung eines gegenwartsorientierten und in seiner Funktion erklärenden Vergangenheitswissens abzielte, in Form und Systematik aber vorläufig noch in einem experimentellen Status verharrte. Es wird sich zeigen, dass sich das antiquarische Schrifttum bis in die nachsullanische Zeit weitgehend in den Bahnen fachwissenschaftlicher Diskurse bewegte, vor allem im Bereich der Jurisprudenz und der Grammatik. In der sich ausbildenden Geschichtsschreibung dieser Epoche hatte das antiquarische Modell seit den Anfängen im dritten vorchristlichen Jahrhundert einen festen Platz. Antiquarische Akzentuierungen sind daher zu verzeichnen, doch kam es im Prozess der Ausdifferenzierung dieser Literaturgattung, soweit erkennbar, nicht zu einer Verselbständigung antiquarischer Wissensbestände.

6.1.2 Antiquarianismus in der Formierungsphase der römischen Literatur (Epos, Drama und Historiographie)

Literarische Umsetzungen des antiquarischen Denkmodells sind so alt wie die römische Literatur selbst.5 Nach Maßgabe der hellenistischen Modelle begleitete die aitiologische, etymologische und genealogische Herkunftsforschung – mit besonderem Blick auf die Ursprungslegende (origo) bis und mit Königszeit – die Arbeit der ersten römischen Dramatiker, Epiker und der frühen, anfangs noch auf Griechisch schreibenden Prosa-Historiographen.6 Die antiquarische Konzeption der Urgeschichte als Grundlage und Erklärung der Gegenwart tritt als epochales Charakteristikum hervor, als im Zuge der universal ausgreifenden römischen Expansion und der damit einhergehenden Konfrontation mit den alternativen Wirklichkeiten der Magna Graecia die eigenen Ursprünge für die Etablierung eines sich selbstvergewissernden kollektiven Orientierungsrahmens immer wichtiger wurden.7 Die vielleicht in diese Zeit fallende emphatische Rückbindung traditionaler sozialer Verhaltensweisen (mos) an die maiores beruht ebenso auf diesem vielschichtigen Prozess wie das erstmals in der Literatur des ersten Jahrhunderts v. Chr. voll greifbare, aber viel ältere Phänomen der historisierenden Rückprojektion fast aller Kulturinstitutionen auf die mythistorische Königszeit.8

Eine wichtige Rolle bei der Konstituierung und kollektiven Verstetigung historischer Traditionen, besonders bei der Ausformung der römischen Gründungsphase, spielte seit dem letzten Drittel des dritten Jahrhundert das Geschichtsdrama (fabula praetexta).9 Soweit die wenigen Zeugnisse repräsentativ sind, bezogen sich die Inszenierungen vor allem, aber nicht ausschließlich, auf zwei bestimmte historische Epochen: die formierende Gründungszeit (das heißt Romuluslegende und Königszeit) sowie die nähere Zeitgeschichte. Die mythistorischen Ursprünge Roms wurden von Cn. Naevius (Lupus oder Romulus) und Q. Ennius (Sabinae) in einem Bühnenstück verarbeitet. Die Gründungsphase der Republik hat Accius dramatisiert (Brutus).10 Nach dem Zeugnis Varros (ling. 6.18) scheint die Aufführung solcher Geschichtsdramen vorzugsweise bei öffentlichen Festen wie den ludi Apollinares erfolgt zu sein, wobei das Stück in diesem Fall in didaktischer Weise die Aitien der an den Nonae Caprotinae praktizierten Kulte und Riten erläuterte. Ob daraus auf die Existenz einer „aitiologischen Praetexta“ antiquarischer Prägung geschlossen werden kann, lässt sich aus Varros Formulierung nicht mit letzter Sicherheit feststellen.11 Es gibt jedoch Indizien, die für die Stücke mit gründungsgeschichtlichen Themen das Funktionsmuster einer didaktisch-aitiologischen Kultauslegung bestätigen.12 Auch dem zweiten Phänotyp, der einen zeitlich näherliegenden Ausschnitt der römischen Geschichte dramatisierte – meist zeitnahe Siege römischer Feldherren: Naevius’ Clastidium (= Sieg des M. Claudius Marcellus, 222 v. Chr.); Ennius’ Ambracia (= Sieg des M. Fulvius Nobilior, 189 v. Chr.); Pacuvius’ Paullus (= Sieg des L. Aemilius Paullus, 168 v. Chr.) – ist eine aitiologische Funktion zuzuschreiben, wenn der intendierte Aufführungskontext dieser Stücke tatsächlich die von den siegreichen Feldherren gelobten Festspiele (ludi votivi) und Tempeldedikationen waren.13 Dass beide Phänotypen auch miteinander verbunden werden konnten, zeigt ein Stück wie Accius’ Brutus, in dem fundierende Vorzeit und erlebte Gegenwart über ein Netz von aitiologischen Querverweisen und Prophezeiungen in einen kausal-genealogischen Zusammenhang gebracht wurden.14 In ganz ähnlicher Weise bindet Naevius’ Epos Bellum Punicum, obwohl einem zeitgeschichtlichen Thema gewidmet, die formierende römische Urgeschichte aitiologisch so in den Erzählrahmen ein, dass sich eine geschichtsteleologische Entwicklung abzeichnet.15 Inwiefern der sich hier manifestierende gegenwartsorientierte Vergangenheitszugang ein Muster römischer oral tradition fortsetzte, ist unklar. Die Tatsache, dass im Zuge dieser Verklammerung von Frühzeit und Gegenwart unter anderem auf gelehrte Etymologien zurückgegriffen wurde, spricht aber wohl (auch) für hellenistische Einflüsse.16

Dieselbe epochenübergreifende Kausalverknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart ist auch für die als Gesamtgeschichte konzipierten Annales des im Handwerk hellenistischer Philologie selbstbewusst auftretenden Q. Ennius (dicti studiosus: ann. 209 Skutsch) konstitutiv.17 Das Werk muss neben zahlreichen etymologischen Anspielungen auch viele aitiologische und genealogische Vergegenwärtigungen enthalten haben.18 Es ist bemerkenswert, dass der Dichter an einer Stelle explizit das gesellschaftliche Ansehen thematisiert, das einer antiquarischen Gelehrsamkeit – der „Kenntnis des Altertums und der alten und neuen Bräuche“ (rerum antiquarum morumque veterum ac novorum scientia), wie Gellius sich zur Stelle ausdrückt (Gell. 12.4.1) – in seiner Zeit offenbar zukam.19 Die beiläufige Notiz ist jedenfalls das erste greifbare Zeugnis für die Wertschätzung altertumskundlichen Wissens in der römischen Oberschicht. Die berühmte „nationale“ Sentenz moribus antiquis res stat Romana virisque („Auf alten Sitten und Männern beruht das römische Staatswesen“: ann. 156 Skutsch) verweist auf das traditionsverbundene aristokratische Wertesystem der Zeit, vor dessen Hintergrund diese Information zu sehen ist.20

Keine antiquarische Fachschrift, aber eine konsequente literarische Umsetzung des antiquarischen Modells ist Ennius’ Euhemerus,21 die lateinische (Prosa-)Übersetzung der Ἱερὰ ἀναγραφή des Euhemeros von Messene (siehe oben S. 195 f.), weil hier die olympischen Götter als Könige der Vorzeit und die Theogonie als genealogische Abfolge von Fürstengeschlechtern dargestellt sind. Wie bereits erwähnt, entsprach Euhemeros’ Verfahren der Mythenrationalisierung der etablierten Methodik antiquarischer Zeichenarchäologie, bei welcher von lokalen Kultnamen und mythischen Erzählungen historisierend auf politische Ereignisse und kulturelle Gründungen der Vorzeit geschlossen wurde. Die Denkfigur des urgeschichtlichen Ursprungs der Gegenwart, die paradigmatisch für die religionsgeschichtliche Reflexion des Euhemeros erscheint, war in der römischen Literatur der Folgezeit, insbesondere in der Historiographie, zwar durchaus präsent, wurde aber in dieser Abstraktionshöhe wohl erst wieder an der Wende vom zweiten zum ersten Jahrhundert v. Chr. realisiert.

In der römischen Geschichtsschreibung, die etwa zeitgleich mit Epos und Drama einsetzte, waren altertumskundliche Wissensbestände schon aufgrund der konzeptionellen Breite des zu behandelnden Stoffes, nämlich der Gesamtgeschichte des römischen Staates von seinen Anfängen bis in die eigene Zeit, natürlicherweise präsent. Die ersten Historiker waren wie die Dichter mit der Präsenz des Vergangenen in Form der Monumente der Stadt Rom konfrontiert, deren Ursprünge, Kontexte und Bedeutungen sie erforschen und in ihre Darstellungen integrieren mussten.22 Zu diesen Relikten gehörten auch archaisch anmutende Bräuche wie die der Luperci, deren Nacktheit etwa C. Acilius damit erklärte, dass Romulus und Remus sich einst nackt auf die Suche nach ihrem entlaufenen Vieh gemacht hätten, um nicht vom Schweiß behindert zu werden.23 Wie der griechischen Lokalgeschichte war damit auch der römischen Historiographie die antiquarische Fragestellung von Beginn an eingeschrieben. Dies scheint sich auch in der inhaltlichen Gewichtung niedergeschlagen zu haben. Zumindest zeigt die Disposition des Stoffes eine ähnliche strukturelle Akzentuierung wie bei der fabula praetexta. So hat nach dem Zeugnis des Dionysios von Halikarnassos (ant. 1.6.2) der bereits in der Antike als Archeget der Gattung geltende Q. Fabius Pictor (FRHist 1; spätes 3. Jahrhundert v. Chr.) ebenso wie der kurz nach ihm schreibende L. Cincius Alimentus (FRHist 2; Prätor 210 v. Chr.) sowohl der Zeitgeschichte als auch der Urgeschichte verhältnismäßig breiten Platz eingeräumt.24 Nach Plutarch (Rom. 8.9) konnte sich Fabius für letztere auf die Gründungsgeschichte Roms (κτίσις Ρώμης) des Diokles von Peparethos (FGrH 820; frühes 3. Jahrhundert v. Chr.?) stützen. Ob beide Epochen aitiologisch miteinander verbunden waren, lässt sich nicht mehr feststellen; Heuremata, mythische Genealogien, Etymologien von Ortsnamen sowie Gründungsgeschichten sind jedoch belegt.25 Auf Fabius könnte auch das Aition hinter der etymologischen Herleitung Capitolium < caput Oli zurückgehen, das mit einer Prophezeiung von der Größe Roms verbunden war.26 Fabius scheint in einigen Fällen bestimmten römischen Institutionen, wie der pompa circensis und den damit verbundenen Wettkämpfen von 490 v. Chr. (FRHist 1 F15), besondere Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Inwieweit er seine Beschreibung mit kausalgenetischen Erklärungen angereichert hat, wie es für die antiquarische Fachliteratur späterer Zeit charakteristisch ist (siehe unten Kap. 6.2.1.), kann nicht entschieden werden. Die Tatsache, dass die referierende Quelle diese nicht erwähnt, muss nichts besagen. Dionysios von Halikarnassos hat die Vorlage interpoliert und die Paraphrase an seinem eigenen Darstellungsinteresse ausgerichtet.27 In jedem Fall gab Fabius vor, ein archaisches Festzeremoniell zu beschreiben, das dreihundert Jahre vor seiner Zeit stattfand.28 Die aitiologischen Erläuterungen, die Fabius dabei allenfalls machte, etwa zu den „zwei besonders alten Bräuchen“ bei den Pferderennen (Dion. Hal. ant. 7.73.2), könnte Dionysios in seiner auf phänomenologische Beschreibung ausgerichteten Paraphrase bewusst ausgespart haben.29

Wie solche kommentierenden Notizen im Einzelnen ausgesehen haben könnten, erhellt ein Blick auf die Überreste der Gesamtgeschichte des L. Cincius Alimentus. Von den neun oder zehn Fragmenten, die diesem Autor (mit Vorbehalt) zugeschrieben werden können, enthalten drei eine etymologische Erklärung:30

  • FRHist 2 F4 (= Dion. Hal. ant. 12.4.5): […] ἐκ τούτου καὶ τὴν ἐπωνυμίαν τὸν Ἄλαν αὐτῷ τεθῆναι λέγουσιν, ὅτι τὸ ξίφος ἔχων ὑπὸ μάλης ἦλθεν ἐπὶ τὸν ἄνδρα. ἄλας γὰρ καλοῦσι Ῥωμαῖοι τὰς μάλας.

    Wegen dieser Tat, sagen sie [sc. Cincius und Calpurnius], habe man ihm den Beinamen „Ala“ [sc. Ahala] gegeben, weil er sein Schwert unter der Achsel hielt, als er zu dem Mann [sc. Maelius] hintrat. Denn die Römer nennen die Achseln alae.

  • FRHist 2 F6 (= OGR 18.1): Tiberius Silvius, Silvi filius […] inter proeliantes depulsus in Albulam flumen deperiit mutandique nominis exstitit causa ut scribunt Lucius Cincius libro primo, Lutatius libro tertio.

    Tiberius Silvius, Sohn des Silvius […] fiel im Kampf in die Albula und ertrank. Der Fluss wurde nach ihm ⟨in Tiber⟩ umbenannt, wie Lucius Cincius im ersten und Lutatius im dritten Buch schreiben.

  • FRHist 2 F10 (= Serv. auct. Verg. georg. 1.10): Cincius et Cassius aiunt ab Euandro Faunum deum appellatum ideoque aedes sacras faunas primo appellatas, postea fana dicta, et ex eo qui futura praecinerent fanaticos dici.

    Cincius und Cassius sagen, dass Euander den Faunus einen Gott genannt habe, und dass deshalb die Tempel zuerst faunae, später fana [„Heiligtümer“] hießen, und dass deshalb diejenigen, fanatici genannt werden, welche die Zukunft voraussagen.

Sollten diese Passagen tatsächlich vom Historiker Cincius Alimentus stammen, was nicht mit letzter Sicherheit geklärt werden kann,31 so ist eine auf das gelehrte, antiquarische Detail fokussierte Darstellungsweise unverkennbar. Auf den entscheidenden Selektionsmechanismus, der hinter den überlieferten Fragmenten und Zeugnissen steht, wurde am Beispiel von Fenestella hingewiesen (siehe oben S. 134–137): Tendenziell wurden jene Wissensbestände exzerpiert, die in den späteren kanonischen Werken nicht zu finden waren oder von ihnen abweichende Informationen lieferten. Sollte hier ein analoger Fall vorliegen,32 so wäre dies in der Tat ein gewichtiges Argument für die – im Vergleich zur „klassischen“ römischen Historiographie – antiquarische Akzentuierung der Gesamtgeschichte des Cincius. Dasselbe Argument lässt sich generell für die ab der Mitte des zweiten Jahrhunderts sprunghaft ansteigende Produktion römischer Geschichtswerke anführen,33 deren spärliche Überlieferung ebenfalls auf ein stärkeres Interesse an antiquarischen Details hindeutet, als dies für die spätrepublikanisch-augusteische Zeit zu konstatieren ist. Dass eine solche Akzentuierung im zweiten Jahrhundert mit der angesprochenen Traditionsorientierung und dem Wunsch nach kultureller und identitätsstiftender Selbstvergewisserung in engem Zusammenhang stand, ist kaum von der Hand zu weisen. Dieses Orientierungsbedürfnis gilt zwar auch für die Späte Republik, doch war im ersten Jahrhundert die antiquarische Fachliteratur bereits so weit entwickelt, dass dieses Spezialwissen auf anderen Wegen vermittelt werden konnte und nicht mehr in vollem Umfang von den die res gestae behandelnden Geschichtswerken abgedeckt werden musste. In der frühen Kaiserzeit scheinen die Grenzen wieder durchlässiger geworden zu sein, sodass nun, soweit erkennbar, zwei Phänotypen – die politische Geschichtsschreibung (in der Art von Sallusts Monographien oder Livius’ Ab urbe condita) und die antiquarisch akzentuierte Geschichtsschreibung (in der Art des Fenestella) – gleichberechtigt nebeneinander existierten (siehe unten S. 467–470). Einen anderen Weg ging bekanntlich das historische Epos: Vergils Aeneis und die in seiner Tradition stehende flavische Epik setzten die historisierende Gegenwartsdeutung von Naevius und Ennius ungebrochen fort.34

Dass sich die für die griechisch schreibenden Archegeten aufgezeigten Muster in der lateinischen Geschichtsschreibung des zweiten Jahrhunderts nicht nur fortsetzten, sondern vermutlich von Anfang an noch verstärkten, zeigen die Origines des M. Porcius Cato (234–149 v. Chr.).35 Die Programmatik des Titels legt die Ursprungsforschung als Methode einer gegenwartsorientierten Geschichtsdeutung fest; allerdings wurde bereits in der Antike auf die Diskrepanz zwischen der durch den Titel vorgegebenen thematischen Ausrichtung und den transportierten Inhalten des Werkes hingewiesen.36 Die Vergegenwärtigung der Anfänge betraf nicht nur Rom, sondern alle Völker und Städte Italiens: unde quaeque civitas orta sit Italica („woher jede italische Bürgerschaft ihren Anfang nahm“: Nep. Cat. 3.3 = FRHist 5 T1). Die Bedeutung dieser innovativen Neuorientierung der „römischen“ Geschichte für die Herausbildung einer eigenständigen politischen und kulturellen Identität der italischen Halbinsel ist von der Forschung hinreichend unterstrichen worden.37 Catos Darstellungsinteresse ging offensichtlich weit über die mythistorischen Ktiseis der gesamtitalischen Völkerschaften hinaus. Das beachtliche Spektrum ethnographischer (FRHist 5 F30, F33, F43 usw.), geographischer (F62, F111), klimatischer (F116, F141), paradoxographischer (F46, F75 usw.) und kulturgeschichtlicher Ausführungen (F35, F81, F85, F112 usw.), die das Werk insgesamt ausgezeichnet zu haben scheinen, geht in einer langen Tradition über Timaios auf Herodot und Hekataios zurück.38 Inwieweit sich diese „wissenschaftliche“ Ausrichtung auf die innere Struktur des Werkes ausgewirkt hat, lässt sich nicht mehr eindeutig feststellen. In den ersten drei Büchern, die der Frühgeschichte gewidmeten waren, war der Stoff vermutlich nicht oder nur in groben Zügen chronologisch, sondern vielmehr – wie in der Periegese – κατὰ γένος nach geographischen Regionen geordnet. Aber auch hier gehen die Indizien kaum über Hypothesen hinaus: So sind im „periegetischen“ dritten Buch der Naturgeschichte des Plinius mehrere Kataloge belegt, in denen Cato Völker- und Städtenamen in langen Reihen auflistet. (F56, F59). Denkbar ist aber auch ein chronologischer Aufbau, innerhalb dessen Cato das in den Fragmenten überlieferte Material in Form von Exegesen im Rahmen einer großen romzentrierten Erzählung verarbeitet hat.39

Am praktischen Nutzen seiner gelehrten Ausführungen ließ Cato keinen Zweifel. Mit eindringlichen Worten unterstrich er die an moralischen Kategorien gemessene Bedeutung, die das Wissen um die eigenen historischen Wurzeln für ein Volk seiner Meinung nach besaß – und die seine eigene literarische Innovation legitimierte: Ligures autem omnes fallaces sunt („die Ligurer aber sind alles Betrüger“: F34 a = Serv. auct. Verg. Aen. 11.700); ipsi, unde oriundi sunt, exacta memoria, inliterati mendacesque sunt et vera minus meminere („vergessen wurde, woher sie kommen; ungebildet und verlogen sind sie, und die Wahrheit behalten sie weniger im Gedächtnis.“: F34 b = Serv. auct. Verg. Aen. 11.715–717). Die Passage gibt auch einen wertvollen Einblick in die Quellen Catos und seine quellenkundlichen Methoden.40 Die von ihm kritisierte Schriftlosigkeit (inliterati) der Ligurer, die es ihm nicht erlaubte, den mündlichen Überlieferungen verlässliche schriftliche Dokumente zur Seite zu stellen, dürfte sich in erster Linie auf das Fehlen von Inschriften bezogen haben.41 Über seine sorgfältige Erforschung der lokalen Überlieferung hinaus vertraute Cato auf die bewährte griechische Methode der Etymologie; nicht wenige der erhaltenen Etymologien sind wohl seiner eigenen Kreativität zuzuschreiben.42 In der Praxis dürfte das Ergebnis von Catos Altertumsforschungen ein Amalgam aus etymologischen Ableitungen, aitiologischen Lokallegenden, genealogischen Konstruktionen und psychologischen Wahrscheinlichkeiten gewesen sein, gelegentlich angereichert mit geographischen Details aus eigener Autopsie – damit war die Methodik der varronischen Altertumskunde im Kern bereits weitgehend ausgebildet.43 Ein Beispiel mag dies im Detail verdeutlichen. Es handelt sich um einen Auszug aus Probus’ Bericht über die Anfänge der Hirtendichtung (origo bucolicorum), den er seinem Kommentar zu Vergils Eklogen vorangestellt hat. Eine der drei Varianten, auf die er sich bezieht, betrifft die Sage vom wahnsinnigen Orestes, dem das Orakel antwortete, er werde genesen, wenn er seine Schwester finde und in einem Fluss bade, der von sieben Armen gespeist werde. Die Identität der Methode wird durch die von Probus nacheinander wiedergegebenen Berichte von Varro und Cato deutlich:

Huius autem fluminis, apud quod purgatus est Orestes, Varro meminit Humanarum XI sic: „Iuxta Rhegium fluvii sunt continui septem: Latapadon, Micotes, Eugiton, Stracteos, Polie, Molee, Argeades. In his matris nece purgatus dicitur Orestes ibique ahenum eius diu fuisse ensem et ab eo aedificatum Apollinis templum, e cuius luco Rheginos, cum Delphos proficiscerentur, re divina facta lauream decerpere solitos, quam ferrent secum.“

Diesen Fluss, in dem sich Orestes reinigte, erwähnt Varro mit folgenden Worten im 11. Buch der Res humanae: „In der Umgebung von Rhegion gibt es sieben nahe beieinander liegende Flüsse: Latapadon, Micotes, Eugiton, Stracteos, Polie, Molee, Argeades. In ihnen soll sich Orestes nach dem Muttermord gereinigt haben, und dort soll lange sein eherner Dolch gelegen haben; von ihm soll auch der Apollo-Tempel erbaut worden sein, in dessen Hain die Rhegier, sooft sie nach Delphi zogen, nach einem Opfer einen Lorbeerzweig zu schneiden pflegten, den sie mit sich trugen.“

Item Cato Originum III: „Thesunti Tauriani vocantur de fluvio, qui propter fluit. Id oppidum Aurunci primo possederunt, inde Achaei Troia domum redeuntes. In eorum agro fluvii sunt sex, septimus finem Rheginum atque Taurinum dispescit: fluvii nomen est Pecoli. Eo Orestem cum Iphigenia atque Pylade dicunt maternam necem expiatum venisse et non longinqua memoria est, cum in arbore ensem viderint, quem Orestem abiens reliquisse dicitur.“

Ebenso berichtet Cato im dritten Buch der Origines: „Die taurianischen Thesuntier sind nach dem Fluss benannt, der an ihnen vorbeifließt. Diese Stadt hatten zuerst die Auruncer inne, dann Achaier, die auf dem Rückweg von Troia waren. In ihrem Gebiet gibt es sechs Flüsse, ein siebter trennt das Gebiet von Rhegion und das von Taurinum; dieser Fluss heißt Pecoli. Dorthin soll Orestes zusammen mit Iphigenie und Pylades gekommen sein, um den Muttermord zu sühnen, und vor nicht allzu langer Zeit konnte man an einem Baum den Dolch sehen, den Orestes bei seiner Abreise dort zurückgelassen haben soll.“

Prob. Verg. ecl. praef. Hagen, 326 = FRHist 5 F45

Dass das lehrhafte Potential des hier angewandten antiquarischen Vergegenwärtigungsmodells vom römischen Publikum verstanden und diese Erkenntnis in praktisches Wissen umgesetzt wurde, verdeutlicht ein weiteres einschlägiges Rezeptionszeugnis:

severis […] aut severis disciplina, aut rem hoc verbo reconditam dixit, quia Sabini a Lacedaemoniis originem ducunt, ut Hyginus ait […]. Cato autem et Gellius a Sabo Lacedaemonio trahere eos originem referunt. Porro Lacedaemonios durissimos fuisse omnis lectio docet. Sabinorum etiam mores populum Romanum secutum idem Cato dicit: merito ergo severis, qui et a duris parentibus orti sunt, et quorum disciplina victores Romani in multis secuti sunt.

Den sittenstrengen [Cureten] […] entweder „sittenstreng“ wegen ihrer Lebensweise, oder der Dichter will mit diesem Wort auf eine entlegene Geschichte anspielen, weil die Sabiner ihren Ursprung auf die Lakedaimonier zurückführen, wie Hygin sagt […]. Cato und Gellius berichten jedoch, dass sie von dem Lakedaimonier Sabus abstammen. Aus jeder Lektüre geht hervor, dass die Lakedaimonier einst besonders hart waren. Derselbe Cato sagt auch, die Römer hätten die Sitten der Sabiner übernommen. Der Dichter nennt sie also zu Recht „sittenstreng“, weil sie von harten Vorfahren abstammten, und weil die siegreichen Römer vieles von ihrer Lebensweise übernommen haben.

Serv. auct. Verg. Aen. 8.638 = FRHist 5 F51

Ziel der Anmerkung ist es, die semantische Tiefe der vergilischen Wortwahl in ihrer Intentionalität und Funktionalität aufzuzeigen und dabei die anspielungsreiche Gelehrsamkeit des Dichters hervorzuheben. Für die grammatischen Arbeitsschritte, die hier am Text vollzogen wurden (enarratio und iudicium), musste die Aktualität der ererbten spartanischen virtus der Sabiner und Römer zwar nicht eigens vom Kommentator authentifiziert, das heißt für seine Leser lebensweltlich erfahrbar gemacht werden – die „Valenz“ des Wissens blieb gleichsam an die Historizität des Textes gebunden – , doch setzt die gelehrte Erläuterung den logischen Nachvollzug des antiquarischen Denkmodells voraus.

Waren Catos Origines in ihrer umfassenden römisch-italischen Doppelperspektive vermutlich ein Unikum, so blieb die antiquarisch-kulturgeschichtliche Prägung auch nach der Mitte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. für die lateinischen Gesamtgeschichten insgesamt konstitutiv – zumindest in den Teilen, welche die Urgeschichte und die Königszeit behandelten. Starke individuelle Akzente scheinen hier L. Cassius Hemina (FRHist 6) und Cn. Gellius (FRHist 14) gesetzt zu haben.44 Für beide gilt, was auch für Cato hervorgehoben wurde: Im kulturgeschichtlichen Themenspektrum, dem sie – wie der Frühgeschichte überhaupt – offenbar breiten Raum einräumten,45 traten vermehrt auch religions- und kultgeschichtliche Themen in den Vordergrund, die offenbar mit euhemeristischen und rationalistischen Verfahren behandelt wurden. Die Methoden der antiquarischer Zeichenarchäologie scheinen dabei im Vergleich zu Cato im Laufe der Zeit einen Professionalisierungsschub erfahren zu haben. Die Fragmente zeigen außerdem ein ausgeprägtes Interesse an Heuremata, besonders bei Gellius.46 Seine Annales gelten denn nach allgemeiner Einschätzung auch als Höhepunkt der frühen „antiquarischen Geschichtsschreibung“ Roms (Schanz/Hosius). In der weiteren historiographischen Entwicklung scheint das Werk jedoch kaum Resonanz gefunden zu haben. Der Grund dafür, dass der antiquarisch akzentuierten römischen Gesamtgeschichte in der Tradition des Q. Fabius Pictor zumindest mittelfristig kein Erfolg beschieden war, wird heute oft in der scheinbar mangelhaften sprachlich-stilistischen Ausgestaltung sowie in der fehlenden sozialen auctoritas ihrer (späteren) Vertreter gesucht. Auch entsprach in einer Zeit gesellschaftlicher Unruhen die bei Gellius sich abzeichnende politikfreie Verabsolutierung „etablierte[r] Teilaspekte historiographischer Sinnbildung und Authentifizierung wie Aitiologie, Etymologie, Mythenrationalisierung“47 gewiss nicht dem wachsenden Bedürfnis nach einer innenpolitischen Fokussierung, zumal bei ihm offenbar auch die bei Cato (und L. Calpurnius Piso) erkennbare Moralisierung ausgespart blieb.48 Eine Zunahme rhetorischer Stilisierung, parteipolitischer Positionierung und moralischer Paränese ist dann in der Annalistik des frühen ersten Jahrhunderts (der sog. „jüngeren Annalistik“) zu verzeichnen.

Um 100 v. Chr. etablierten sich mit der historischen Monographie, der Autobiographie und der Zeitgeschichtsschreibung weitere zukunftsträchtige Gattungstypen geschichtlicher Reflexion.49 Dass diese generische Ausdifferenzierung faktisch einer Verselbständigung konstitutiver Elemente der Gesamtgeschichte gleichkam,50 weist aber noch auf einen weiteren Grund für den sinkenden Stern der Gesamtgeschichte antiquarischer Prägung hin. Ausschlaggebend für ihren allmählichen Rückgang – von einem abrupten Kontinuitätsbruch sollte man nicht sprechen51 – dürfte die Entstehung und Entwicklung einer an fachwissenschaftlichen Kategorien orientierten Spezialliteratur gewesen sein, die in der Lage war, Wissensbestände dieser Art in corpore zu absorbieren.52 Dass dann die wissenschaftlich-systematische Zugriffsweise, die in Varros Antiquitates kulminierte, letztlich nicht in der Lage war, die kaiserzeitliche „Renaissance“ der antiquarisch profilierten Geschichtsschreibung zu verhindern, lag möglicherweise auch daran, dass ihr fachwissenschaftlicher Zuschnitt schon aus rein formalen Gründen nicht fähig war, das mit diesem Wissen einhergehende Unterhaltungsbedürfnis des Publikums vollauf zu befriedigen. Bei einer solchen Skizzierung historischer Entwicklungslinien darf man allerdings die Launen der Überlieferung nicht aus den Augen verlieren. Die Tatsache, dass Schriften wie De adventu Aeneae des Postumius (Albinus, cos. 151 v. Chr.?) oder die Communis historia (oder Communes historiae) eines Lutatius (= Q. Lutatius Catulus, cos. 102 v. Chr., oder eher sein Freigelassener Lutatius Daphnis?) von der Forschung in keinen identifizierbaren literaturgeschichtlichen Zusammenhang gestellt werden können, sagt viel über die Leerstellen aus, über die hinweg wir unsere Hypothesen aufstellen müssen.53

6.1.3 Die Herausbildung einer antiquarischen Spezialliteratur auf dem Gebiet der Jurisprudenz, der Grammatik und der Philologie

Die antiquarische Frage ist untrennbar mit dem menschlichen Grundbedürfnis nach Deutung und Erklärung der Welt verbunden. Wie bereits erwähnt (Kap. 2.2.1. und 5.1.), ging in der Antike ein populärer erkenntnistheoretischer Ansatz von den Begriffen selbst aus. Die philosophische Reflexion des fünften und vierten Jahrhunderts v. Chr. hatte den Weg aufgezeigt, wie von den Signifikanten auf die ursprünglichen Signifikate, das heißt auf das „eigentliche Wesen“ der Dinge geschlossen werden kann. Die hellenistische Gelehrsamkeit, besonders die stoische Sprachtheorie, hat dann die Hermeneutik und Methodik systematisiert und verwissenschaftlicht.

Zwei wissenschaftliche Disziplinen waren in Rom besonders sensibilisiert für den epistemischen Gehalt von Begriffen. Grammatik und Jurisprudenz verband seit ihren Anfängen ein konstitutives Streben nach terminologischer Klärung: bei Grammatikern und Philologen, um Sinn und Bedeutung literarischer Texte zu entschlüsseln; bei Juristen, um in Fragen des privaten und öffentlichen Rechts die notwendigen Begriffe und Definitionen zu liefern und auf der Grundlage der geltenden Satzungen korrekte responsa zu erteilen. Ausgehend von den Begriffen erweiterte sich das hermeneutische Spektrum zwangsläufig auf die dahinter stehende materielle Kultur, auf Riten und Monumente. So waren es vor allem diese beiden Wissenschaftsdisziplinen, in denen die Römer im Laufe des zweiten Jahrhunderts v. Chr. begannen, systematisch über die Ursprünge ihrer Sprache und Kultur nachzudenken und dieses Wissen in entsprechenden Fachschriften festzuhalten. In beiden Bereichen ist der Einfluss der hellenistischen Wissenschaft und Philosophie spürbar. Im Einzelnen lässt er sich jedoch nur schwer nachweisen.54

6.1.3.1 Jurisprudenz und Rechtsliteratur

Da die Rechtsliteratur in der altertumswissenschaftlichen Forschung meist isoliert betrachtet wird,55 findet sie auch bei der Behandlung des Antiquarianismus häufig keine Berücksichtigung. Auf der anderen Seite besteht auch innerhalb der modernen Rechtsgeschichte die Tendenz, jene Werke, die nicht explizit dem Kernbereich des ius civile zuzurechnen sind (also das sakral- und verfassungsrechtliche Schrifttum), als „parajuristisch“ zu qualifizieren und einer näheren Betrachtung zu entziehen.56 In Rom war die Religion allerdings in erster Linie eine rechtliche Instanz, die das Verhältnis zwischen der civitas und den mit ihr verbundenen Göttern definierte.57 So waren es auch Juristen, die die römische Sakralliteratur in ihren Anfängen begründeten und in ihrer weiteren Ausbildung prägten. Wenngleich die spärliche Überlieferung nur bedingt aussagekräftige Ergebnisse zulässt, soll im Folgenden versucht werden, den Beitrag der Jurisprudenz und des rechtswissenschaftlichen Schrifttums zur Entwicklung und Herausbildung der römischen antiquarischen Fachliteratur zu bestimmen.

Eine entscheidende Triebfeder des sich aus der Rechtsliteratur verselbständigenden Teilbereich des antiquarischen Schrifttums lag im fachjuristischen Bedarf an exakten Begrifflichkeiten zur Bestimmung der ratio legis, was die römische Rechtswissenschaft schon früh mit den Praktiken und der Hermeneutik der Philologie in Kontakt brachte (siehe unten S. 221 f.).58 Da der Gebrauch und die Definition einer präzisen Terminologie zum natürlichen Aufgabenbereich der römischen Jurisprudenz gehörte, wurde der eigentlichen Wortbedeutung (proprietas verborum) in der Rechtspraxis und der Rechtsauslegung erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt. Es ist kein Zufall, dass Quintilian im Zusammenhang mit der in der Rhetorik umstrittenen Frage, ob die Metapher (translatio) der Argumentation diene, das Beispiel der Juristen anführt: „Denn sogar die Rechtsgelehrten, deren höchste Anstrengung den Wörtern in ihrem eigentlichen Sinn gilt, wagen zu sagen, dass der Meeresstrand dort sei, wo die Wellen spielen“ (cum etiam iuris consulti, quorum summus circa verborum proprietatem labor est, ‚litus‘ esse audeant dicere, ‚qua fluctus eludit‘: Quint. inst. 5.14.34). Die Stelle geht auf Ciceros Topica zurück; bei der Erörterung der Arten und Verfahren der Definition wird hier ein Beispiel aus den responsa des Rechtsgelehrten C. Aquilius Gallus59 angeführt:

Saepe etiam definiunt et oratores et poetae per translationem verbi ex similitudine cum aliqua suavitate. […] Solebat igitur Aquilius conlega et familiaris meus, cum de litoribus ageretur, quae omnia publica esse vultis, quaerentibus eis quos ad id pertinebat, quid esset litus, ita definire, qua fluctus eluderet; hoc est, quasi qui adulescentiam florem aetatis, senectutem occasum vitae velit definire; translatione enim utens discedebat a verbis propriis rerum ac suis.

Oft bestimmen Redner und Dichter ein Wort aufgrund einer Ähnlichkeit geschmackvoll durch eine Metapher. […] Mein Freund und Amtskollege Aquilius pflegte nämlich, wenn es über den Meeresstrand ging, den ihr sämtlich als öffentlichen Besitz ansehen wollt, und jene, die es betraf, ihn fragten, was ein Strand denn sei, diesen so zu definieren: dort, wo die Wellen spielen. Das ist so, wie wenn jemand die Jugend als die Blüte des Lebens und das Alter als den Abend des Lebens definieren wollte; indem er nämlich eine Metapher verwendete, entfernte er sich vom eigentlichen Sinn der Wörter.

Cic. top. 32

Das Beispiel verdeutlicht zugleich Bedarf und Anspruch alltagspraktischer Rechtsauskünfte. Das Gesetz gibt zwar den Wortlaut vor, liefert aber keine differenzierende Definition der verwendeten Terminologie. Quintilian und Cicero heben die Metapher „wo die Wellen spielen“ als Beispiel für eine gelungene juristische Definition hervor, die über den Bereich der proprietas verbi hinausgeht. Die Passage ist für die vorliegende Fragestellung deshalb interessant, weil die Gültigkeit des angewandten hermeneutischen Verfahrens, nämlich der Etymologie ex similitudine (litus < eludere), weder von den beiden Rhetoren noch innerhalb der Rechtstradition in Frage gestellt wird: Der Meeresstrand ist so weit res communis, „wie die Flut am höchsten steigt“ (quousque maximus fluctus a mari pervenit: Celsus, Digesten XXV = Dig. 50.16.96).60

Das Beispiel verdeutlicht auch, warum in der praxisorientierten römischen Rechtskunde ein grundsätzlicher Bedarf an einschlägigen Wörterbüchern bestand, in denen die für die Auslegung der überlieferten Rechtssatzungen notwendigen Definitionen und Abgrenzungen (aus den maßgeblichen Autoritäten) zusammengestellt waren. Diese glossographische Praxis, die sich häufig der Etymologie bediente, spiegelt sich auch in den Überresten der privat- und öffentlichrechtlichen Fachliteratur wider.61 Einige Beispiele:62

Im Privatrecht:

  • Fest. p. 144, 14–21 Lindsay: Mundus … quid ita dicatur refert Cato in commentariis iuris civilis: „Mundo nomen inpositum est ab eo mundo, qui supra nos est: forma enim eius est, ut ex iis qui intravere cognoscere potui, adsimilis illae.“

    Der Mundus [die Unterwelt, deren kultischer Zugang sich auf dem Comitium befand]: was damit bezeichnet wird, berichtet Cato [Licinianus] in seinen Abhandlungen über das Privatrecht: „Der Mundus hat seinen Namen von dem Himmelsgewölbe, das sich über uns befindet; wie ich von denen, die es betreten haben, erfahren konnte, ist seine Form jener sehr ähnlich“ [d. h. wohl ein Raum mit einer nach unten gekehrten Kuppel].

  • Dig. 21.1.65: Venuleius libro quinto actionum. […] Quotiens morbus sonticus nominatur, eum significari Cassius ait, qui noceat: nocere autem intellegi, qui perpetuus est, non qui tempore finiatur; sed morbum sonticum eum videri, qui inciderit in hominem postquam is natus sit: sontes enim nocentes dici.

    Venuleius im 5. Buch der Actiones. […] Sooft eine Krankheit als sonticus [„gefährlich“] bezeichnet wird, ist damit, wie Cassius [Longinus] schreibt, eine Krankheit gemeint, die schadet [noceat]. Eine Krankheit, die schadet, ist eine, die auf Lebenszeit anhält und nicht mit der Zeit vergeht. Ein morbus sonticus scheint auch dann vorzuliegen, wenn sie den Menschen nach seiner Geburt befallen hat. Denn sontes [„schädliche“] werden diejenigen genannt, die nocentes [„schädigende“] sind.

  • Dig. 50.16.180: Ofilius ait tugurium a tecto tamquam tegularium esse dictum, ut toga, quod ea tegamur.

    [Aulus] Ofilius sagt, das tugurium [„Hütte“] sei nach einem mit Ziegeln bedeckten Dach [tectum tegularium] benannt; so wie man Toga sagt, weil wir uns mit ihr bedecken können [tegamur].

  • Dig. 50.16.239(6): „Urbs“ ab urbo appellata est: urbare est aratro definire. Et Varus ait urbum appellari curvaturam aratri, quod in urbe condenda adhiberi solet.

    Die Stadt [urbs] ist nach dem Pflug [urbum] benannt; urbare heißt mit dem Pflug ein Gebiet abmessen. Und [Alfenus] Varus sagt, urbum heiße deshalb die Krümmung des Pfluges, weil er gewöhnlich bei der Gründung einer Stadt benutzt werde.

In Pontifikalrecht:

  • Gell. 16.6.13: id scriptum invenimus in commentariis quibusdam ad ius pontificum pertinentibus bidennes primo dictas D littera inmissa, quasi biennes, tum longo usu loquendi corruptam vocem esse et ex bidennibus bidentes factum, quoniam id videbatur esse dictu facilius leniusque.

    In einigen Schriften zum Pontifikalrecht fand ich verzeichnet, dass [die Opfertiere] ursprünglich bidennes mit Einfügung des Buchstabens D anstatt biennes [„zweijährig“] genannt worden seien, und dass das Wort dann durch den langen Gebrauch verschlissen und aus bidennes so bidentes geworden sei, weil es sich offenbar leichter und weicher aussprechen ließ.

Wann genau die ersten juristischen Wörterbücher entstanden, ist nicht mehr exakt festzustellen, da eine Datierung häufig nur auf Indizienrückschluss beruht. Mit dem Namen des einer alten Juristendynastie entstammenden Rechtsgelehrten Q. Mucius Scaevola Pontifex63 (cos. 95 v. Chr.) ist eine einbändige Schrift Ὅροι verbunden (Index Florentinus III.1: ὅρων βιβλίον ἕν; Dig. 50.17.73: libro singulari ὅρων), das offenbar in Anlehnung an das gleichnamige Werk des Stoikers Chrysippos juristische Begriffsbestimmungen von Einzelwörtern enthielt.

Weitere Hinweise sprechen dafür, dass sich an der Wende zum ersten Jahrhundert allmählich eine eigenständige juristische Lexikographie herausbildete. Die Libri (II?) de significatione verborum, quae ad ius civile pertinent des C. Aelius Gallus könnten bereits um 100 v. Chr. entstanden sein,64 L. Cincius’ De verbis priscis vielleicht nur unwesentlich später.65 Während die Begriffserklärungen des Aelius offenbar größtenteils ohne historisierende Etymologie auskamen,66 trug Cincius’ Wörterbuch die antiquarische Fragestellung programmatisch im Titel. Um Texte richtig deuten zu können, musste erst verstanden werden, was die verwendeten Worte ursprünglich bedeuteten. Die Fragmente zeigen, dass Cincius trotz des scheinbar einschlägigen Titels dabei nicht primär unverständliche Sprachaltertümer behandelte, sondern Begriffe der alltäglichen Rechtspraxis:67

  • Fest. p. 236, 27–28 Lindsay (= frg. 11 Bremer 1, 258): Peremere Cincius in libro de verbis priscis ait significare idem, quod prohibere.

    Cincius schreibt im Buch Über altertümliche Wörter, dass peremere dasselbe bedeute wie prohibere [„verhindern“].

  • Fest. p. 342, 25–27 Lindsay (= frg. 13 Bremer 1, 259): †Reconductae fecerit, etcondere urbem, facere, aedificare, ut Cincius testatur in libro de verbis priscis.

    †† eine Stadt gründen, herstellen, bauen, wie Cincius im Buch Über altertümliche Wörter bezeugt.

  • Fest. p. 322, 2–10 Lindsay (= frg. 15 Bremer 1, 259): RudusCincius de verbis priscis sic ait: „Quemadmodum omnis fere materia non deformata rudis appellatur, sicut vestimentum rude, non perpolitum; sic aes infectum rudusculum. Apud aedem Apollinis aes conflatum iacuit, id ad rudus appellabant. In aestimatione censoria aes infectum rudus appellatur. Rudiari ab eodem dicuntur, qui saga nova poliunt. Hominem inperitum rudem dicimus.“

    Rudus … Cincius schreibt in Über altertümliche Wörter Folgendes: „So wie jeder Stoff, der unbearbeitet ist, als rudis [„roh, unbearbeitet“] bezeichnet wird, wird auch ein schmuckloses Kleidungsstück rude, ein etwas unbearbeitetes Stück Erz rudisculum genannt. Beim Tempel des Apollo lag ein gegossenes Stück Metall; man nannte die Stelle „beim Erzstück“. In der zensorischen Einschätzung wird unbearbeitetes Erz rudus genannt. Deshalb werden jene rudiari genannt, welche neuen saga [„Soldatenmäntel“] glätten. Einen ungebildeten Menschen nennen wir rudis.“

Möglicherweise aus demselben Werk stammen folgende Auszüge:

  • Fest. p. 180, 13–14 Lindsay (= frg. 7 Bremer 1, 258): Novalem agrum … ⟨C⟩incius eum esse, ubi ⟨…⟩ sementem sit relic⟨…⟩.

    Ein Brachacker …, [schreibt] Cincius, sei ein Acker, in dem ⟨…⟩ die Aussaat unterlassen wurde.

  • Fest. p. 174, 24–28 Lindsay (= frg. 9 Bremer 1, 258): Nuptias dictas … Aelius et Cincius, quia flammeo caput nubentis obvolvatur, quod antiqui obnubere vocarint: ob quam causam legem quoqueparens tamiubere caput eius obnubere, qui parentem necavisset, quod est obvolvere.

    Nach Aelius und Cincius … sage man nuptiae [„Hochzeit“], weil der Kopf der Braut mit einem roten Schleier verhüllt werde, was die Alten obnubere [„verhüllen“] nannten. Aus diesem Grund † besage das Gesetz, dass der Kopf eines Vatermörders zu verhüllen sei, was auch obvolvere [„verschleiern“] heißt.

  • Fest. p. 344, 3–5 Lindsay (= frg. 14 Bremer 1, 259): Refriva faba dicitur, ut ait Cincius quoque, quae ad sacrificium referri solet domum ex segete auspici causa.

    Refriva wird eine Bohne genannt, wie auch Cincius schreibt, die man des guten Omens wegen von der Aussaat zum Opfer wieder nach Hause zurückzubringen pflegt.

In Fragen der Lexik konvergierte die historisierende Hermeneutik der Juristen mit derjenigen der zeitgenössischen Grammatik.68 Viele Angehörige der Oberschicht hatten sich denn auch in beiden Disziplinen hervorgetan – et iuris et litterarum bene peritus nennt Cicero (Brut. 81) den wohl im zweiten Jahrhundert v. Chr. zu verortenden Fabius Pictor.69 Das Muster gilt auch für sozial niedriger gestellte Grammatiker, zum Beispiel Q. Cosconius (GRF pp. 108–110), möglicherweise ein Zeitgenosse des Antonius Gnipho. Cosconius hat wahrscheinlich nicht nur über Terenz und die tausend primären Wortwurzeln (primigenia vocabulorum) geschrieben, sondern offenbar auch ein zivilrechtliches Werk, die Actiones, vorgelegt.70 Je nach Rezipientenkreis, an den Cincius sein Nachschlagewerk richtete, muss er sich nicht zwingend auf den fachjuristischen Bereich beschränkt haben. Jedenfalls verweist die spätere lexikographische Tradition – und wohl auch der kaum zeitgenössische Titel bei Aelius Gallus – auf eine Tendenz zur thematischen Ausweitung.

Vielleicht noch vor die Mitte des ersten Jahrhunderts gehören die Libri de antiquitate verborum des Santra und die Schrift De origine verborum et vocabulorum des Gavius Bassus (siehe unten S. 309–311). Bei diesen Werken, die offenbar eine disziplinübergreifende Breite auszeichnete, scheint es sich um eigentliche Herkunftswörterbücher gehandelt haben. Insofern war die literarische Autonomisierung des antiquarischen Modells hier also bereits vollzogen. Falls dasselbe für das Wörterbuch des L. Cincius zutrifft, wäre damit ein wichtiger – wenn auch zeitlich vager – Angelpunkt in der Geschichte der monographischen Kodifizierung antiquarischer Wissensbestände in Rom fixiert.

Glossographie und Lexikographie setzen als „rezipierende“ Techniken eine Wissensliteratur „ersten Grades“ voraus, aus der das relevante Material zusammengestellt werden kann. Reichhaltigen Stoff boten hier neben den responsa berühmter Fachjuristen – soweit sie denn in schriftlicher Form vorlagen und rezipierbar waren –71 in erster Linie die einschlägigen Rechtskommentare. Es ist angesichts der allgemeinen Bedeutung, die der Kommentarform für das juristische Handwerk zukam,72 nur folgerichtig, dass die auf ihre republikanische Vorgeschichte zurückblickende klassische Rechtswissenschaft des zweiten Jahrhunderts n. Chr. einen Kommentar, nämlich die Tripertita des Sex. Aelius Paetus Catus (cos. 198 v. Chr.), zur Wiege der römischen Jurisprudenz erkor (qui liber veluti cunabula iuris continet: Pomponius, Enchiridion = Dig. 1.2.2.(38)). Das Zeugnis lässt die schriftliche Kommentierung normativer Texte bereits zu einem Zeitpunkt zur beherrschenden Tätigkeit der römischen Jurisprudenz werden, als diese sich erst zu „literarisieren“ begann, das heißt, als einzelne Rechtsgelehrte dazu übergingen, ihre mündlichen Bescheide und Spruchformeln als präskriptive Sammlungen zu veröffentlichen, und in einem nächsten Schritt bestimmte Rechtsinstitute, in erster Linie im Zivil- und Pontifikalrecht, schriftlich zu fixieren.73 Die schon im späten vierten Jahrhundert v. Chr. einsetzende „Säkularisierung“ der altrömischen Pontifikaljuristen, die bisher anonym für das Kollegium respondierten, war notwendige Voraussetzung für das Hervortreten einer juristischen Fachliteratur.74 In diese Reformphase, die mit der Promulgation der lex Ogulnia von 300 v. Chr. und der damit verbundenen Öffnung der patrizischen Priesterkollegien in Verbindung stand (Liv. 10.6.3–10.9.2), gehört auch die von der späteren römischen Überlieferung tendenziös gefärbte Episode der „volksfreundlichen“ Publikation der fasti durch Cn. Flavius, den Sekretär von App. Claudius Caecus (cens. 312 v. Chr.), wodurch er dem priesterlichen Wissensmonopol ein Ende gesetzt habe.75 Nach einer offenbar weitgehend mündlichen Phase im dritten Jahrhundert76 scheinen die Rechtsgelehrten – etwa zeitgleich mit Drama, Epos und Historiographie – mit der Verschriftlichung und Publikation von Fachtexten begonnen zu haben. Damit machte die Jurisprudenz – beträchtlich früher und dezidierter als andere römische Fachdisziplinen – einen ersten Schritt aus dem Bereich des bloßen Erfahrungswissens in den eines wissenschaftlichen Erkenntniszusammenhangs.77 Die Struktur und der Charakter der ersten Rechtskommentare war an ihrer Funktionalität als Hilfsmittel der juristischen Praxis ausgerichtet. So scheinen die Tripertita des Sextus Aelius nach dem Zeugnis des Pomponius Gesetzestext, interpretatio und entsprechende zivilrechtliche Klage- und Geschäftsformeln umfasst haben, was das Werk für die gerichtliche Praxis verwertbar machte.78 Worin die (selbstständige und/oder ältere Meinungen zusammenfassende) interpretatio legis dieses hochangesehenen Rechtsgelehrten genau bestand, bleibt spekulativ, doch scheint die Texterläuterung zu wesentlichen Teilen in der Festlegung und Klärung der fachjuristischen Terminologie bestanden zu haben.79 Hier ist vor allem ein Zeugnis Ciceros aussagekräftig, das nebenbei belegt, dass der Rechtsgelehrte L. Acilius Sapiens, den Pomponius in einem Atemzug mit Sextus Aelius nennt, ebenfalls einen Kommentar zum Zwölftafelgesetzt publiziert hatte:

„Mulieres genas ne radunto neve lessum funeris ergo habento“ [XII 10.4]. Hoc veteres interpretes, Sex. Aelius L. Acilius, non satis se intellegere dixerunt, sed suspicari vestimenti aliquod genus ⟨esse⟩ funebris.

„Frauen dürfen sich die Wangen nicht zerkratzen und keine lessus haben.“ Die älteren Interpreten [des Zwölftafelgesetzes], Sextus Aelius und Lucius Acilius, gaben zu, dass sie dies [sc. lessus] nicht gut genug verstünden, aber vermuteten, es handele sich um eine Art Trauerkleidung.

Cic. leg. 2.59

Das Interpretament war in diesem Fall einem unverständlichen Sprachrelikt (lessus) gewidmet, dessen rechtliche Verbindlichkeit eine Klärung notwendig machte. Allerdings führte, wie die Autoren selbst bekannten, das zur Verfügung stehende Verfahren der Zeichenarchäologie nur selten über bloße Mutmaßungen (suspicari) hinaus. Es war die Autorität der Gelehrten, welche ihrer Interpretation eine rechtswirkende Gültigkeit und kanonische Tragweite verschaffte.80 Das an dieser Stelle geäußerte Unwissen der Alten (non satis se intellegere dixerunt) bot anderen Gelegenheit sich zu profilieren, wie die Fortsetzung bei Cicero verdeutlicht: L. Aelius [sc. Stilo] lessum quasi lugubrem eiulationem, ut vox ipsa significat; quod eo magis iudico verum esse, quia lex Solonis id ipsum vetat („Lucius Aelius verstand lessus als eine Art Klagegeheul, wie der Laut selbst ausdrückt. Ich halte eher diese Erklärung für wahr, denn dies wird auch im solonischen Gesetz verboten.“). Aelius’ etymologische Herleitung wird hier von Cicero mittels eines historischen Analogieschlusses authentifiziert. Ciceros in diesem Zusammenhang geäußerte Behauptung, dass die solonische Gesetzgebung auf die Zwölftafeln eingewirkt habe, wurde später zu einer römischen Legende, die ihren Ursprung möglicherweise in Ciceros gelehrten Hypothese hatte.81

Die Definition rechtlicher Begriffe war nicht der einzige Bereich, in dem sich römische Rechtsgelehrte grammatisch betätigten: Gellius (17.7) berichtet von einer generationenüberschreitenden Diskussion über die genaue Bedeutung des Futur Perfekts subruptum erit in der Lex Atinia, an der sich neben M’. Manilius (cos. 149 v. Chr.), M. Iunius Brutus (praet. 142 v. Chr.) und P. Mucius Scaevola (cos. 133 v. Chr.) auch dessen Sohn Q. Mucius Scaevola pontifex (cos. 95 v. Chr.) beteiligt hätten. Dass sich später auch P. Nigidius Figulus in den Commentarii grammatici der Frage annahm, führt erneut die traditionell enge Verbindung zwischen den beiden Disziplinen vor Augen.82

Neben der Kommentarform kannte die römische Rechtsliteratur den Texttyp der systematischen Darstellung, der zeitlich etwas verzögert seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts greifbar wird. In dieser Form wurde nicht nur das wichtige Zivilrecht, sondern auch das Sakral- und Staatsrecht aufgearbeitet. Im Bereich des Zivilrechts verloren diese theoriegeleiteten Grundlagenschriften, die in der Auseinandersetzung mit älteren Lehrmeinungen das geltende Recht fixierten,83 im Laufe der Zeit offenbar ihren Bezug zur Praxis und wurden zu Lehrbüchern der Rechtsausbildung, während die Kommentare ihre tragende Funktion als praxisorientierte Nachschlagewerke nie einbüßten. Dass es daneben schon früh einfache Nachschlagewerke gab, denen die oratores die Rechtssätze entnehmen konnten, bestätigt der ciceronianische Crassus in De oratore 1.192.84

Da sich die zivilrechtlichen Darstellungen (libri bzw. commentarii de iure civili) des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts gänzlich aus der Zwölftafelinterpretation entwickelt hatten,85 war ihnen trotz des imminenten Gegenwartsbezugs eine historische Komponente gleichsam eingeschrieben. Zu den Annehmlichkeiten, die das Studium des Rechts bieten würde, zählte Crassus – wiederum in der Fiktion von Ciceros De oratore – nicht zufällig die Beschäftigung mit den antiquitates, die sich unweigerlich aus der Auseinandersetzung mit dem ius civile ergeben würde.86 Dieser Vergangenheitsbezug blieb der römischen Rechtswissenschaft auch in ihrer klassischen Phase erhalten: Über dreißig Mal benutzt Gaius das Zeitadverb olim, um in seinen Institutiones auf frühere Rechtszustände zu verweisen.87 Auch im Bereich des öffentlichen Rechts bestand aufgrund der Situationsgebundenheit der Gesetze stets ein Spannungsverhältnis zwischen Historizität und Abstraktion, was eine zeitungebundene und damit objektive Auslegung der ratio legis generell erschwerte.88

Auf das Phänomen, dass konkrete zivilrechtliche Problemstellungen ausgedehnte historische Reflexionen nach sich zogen, etwa zu den Anfängen von Kauf und Verkauf (origo emendi vendendique), wurde bereits eingegangen (siehe oben S. 102–104). Wie dort angesprochen, stand die historisierende Hermeneutik in einem Konkurrenzverhältnis zur zeitgenössisch-aktualisierenden Wortauslegung und die juristischen Autoritäten waren sich uneins, welcher Interpretation die größere Geltung zukam. Eine berühmte Passage aus den Digesten des Celsus (2. Jhd. n. Chr., erhalten in Dig. 33.10.7) vermag das Dilemma zu verdeutlichen: Es geht um die Definition des Hausrats (supellectilis), zu der Celsus zuerst die Meinungen der Autoritäten referiert, dann seine eigene Einschätzung abgibt: Nach Antistius Labeo (1. Jhd. v. Chr.) lag der Ursprung des Begriffs (origo supellectilis) im früheren Brauch, den Gesandten von Staates wegen all das bereitzustellen, was sie in den Winterzelten (sub pellibus) benötigten. Q. Aelius Tubero (der Jüngere, 1. Jhd. v. Chr.) verwies auf die Wandelbarkeit von Bräuchen und Gewohnheiten innerhalb einer Bürgerschaft – nam fictili aut lignea aut vitrea aut aerea denique supellectili utebantur, nunc ex ebore […] utuntur („denn früher hatte man Hausgerät aus Ton, Holz, Glas oder Bronze, heute verwendet man solches aus Elfenbein […].“) – deshalb müsse, um dem ursprünglich gemeinten Sinn des Gesetzgebers gerecht zu werden, nach der species und nicht nach der materia entschieden werden. Servius Sulpicius Rufus (cos. 51 v. Chr.) gab wiederum zu Bedenken, dass bei der Begriffsbestimmung auch das eigene Ermessen des Hausvaters zu berücksichtigen sei, welches man anhand der Einträge der Rechnungsbücher ersehen könne. Doch gelte dies nicht dort, wo Dinge aufgeführt würden, deren Zugehörigkeit zum Hausrat ausgeschlossen sei, etwa beim Tafelsilber – non enim ex opinionibus singulorum, sed ex communi usu nomina exaudiri debere („denn man müsse die Begriffe nicht nach der Meinung einzelner, sondern nach dem allgemeinen Sprachgebrauch verstehen.“). Dieser Grundsatz wollte Tubero wiederum nicht einleuchten – nam quorsum nomina, inquit, nisi ut demonstrarent voluntatem dicentis? („denn wozu dienen Begriffe, wenn sie nicht den Willen des Sprechenden ausdrücken können?“). Celsus stimmt Tubero zwar in diesem Punkt zu, schließt sich aber dennoch der Meinung des Servius an.89

Diese der römischen Rechtsbetrachtung eigentümliche historische Tiefenebene scheint nun in den Verschriftlichungen der dem ius publicum zugehörigen90 sakral- und verfassungsrechtlichen Institute eine besondere Relevanz besessen zu haben. Den Eindruck vermitteln zumindest die erhaltenen Fragmente und Bezeugungen von Schriften de iure pontificio, de potestatibus oder de magistratibus, weshalb die moderne Forschung, wie erwähnt, dazu tendiert, Werke dieser Art aus dem fachjuristischen Bereich zu lösen und einem parajuristisch-antiquarischen Schrifttum zuzuschreiben. In der Tat sind es diese zwei Rechtsinstanzen, Religion und Staatsinstitutionen, die als Fundamente des römischen Staatswesens eine antiquarische Ursprungsforschung in allen Epochen herausforderten. Wieackers Postulat einer „im Sakral- und Verfassungsrecht vorherrschende[n] Arbeitsteilung zwischen Antiquaren und (Zivil)juristen“ dürfte gleichwohl einer modernen Projektion entsprechen, da der Konsens der antiken Zeugnisse klar gegen eine derartige Differenzierung spricht.91 Zumindest finden sich für die in der Forschung breit vertretene Grenzziehung zwischen den „historisch-antiquarischen“ Abhandlungen zum Sakral- und Staatsrecht und den praxisorientierten juristischen Fachschriften keinerlei Hinweise.92 Eine förmliche Trennung der Rechtsdisziplinen ist ohnehin nicht zu verzeichnen; bis zum Prinzipat konnten dieselben Juristen das ius civile und das ius sacrum behandeln.93 Da in sakralrechtlichen Fragen gewöhnlich Mitglieder der Priesterkollegien respondierten,94 wird allgemein angenommen, dass es auch diese Männer waren, welche die bezeugten Monographien zum ius sacrum verfassten.95 Gerade die Mitglieder des Auguralkollegiums kämen dazu in Frage, da sie grundsätzlich für staatsrechtliche Fragen herangezogen worden seien. Mehr als begründete Vermutungen sind dies allerdings nicht.96 Auf eine generell breite Themenstreuung juristischer Betätigung der Zeit verweist auch das erwähnte Wörterbuch des Aelius Gallus, das neben dem Sachen-, Schuld-, Familien- und Erbrecht nachweislich auch Bereiche des ius publicum abdeckte.97

Im Folgenden wird auf der Basis der überkommenen Zeugnisse erörtert, inwiefern der herausgestellte Vergangenheitsbezug der römischen Rechtsliteratur innerhalb der (1) sakralrechtlichen und der (2) verfassungsrechtlichen Spezialschriften zu einer Autonomisierung der antiquarischen Fragestellung führte.

(1) Die Analyse der frühen sakralrechtlichen Schriften de iure pontificio,98 das heißt von Abhandlungen über die Rechtsvorschriften der römischen Pontifices, stellt in mehrfacher Hinsicht eine methodische Herausforderung dar. Einerseits sind Verfasserschaft und Entstehungszeit in der Regel höchst unsicher, andererseits ist aus den wenigen Fragmenten kein Profil der Inhalte zu gewinnen, zumal gerade spätere Referenzwerke als Vergleichsbasis fehlen. Selbst die einschlägigen Titel beruhen in manchen Fällen auf moderner Rekonstruktion. Symptomatisch ist das Beispiel des Q. Fabius Maximus Servilianus, Konsul von 142 v. Chr. und durch Adoption Angehöriger der weitverzweigten Fabii (Maximi).99 Mit seinem Namen wird ein Geschichtswerk verbunden, doch weder Titel noch Zuweisung sind in den Testimonien und Fragmenten eindeutig verifizierbar: συνέγραψαν Πόρκιός τε Κάτων καὶ Φάβιος Μάξιμος … („Porcius Cato und Fabius Maximus schrieben …“: Dion. Hal. ant. 1.7.3); Fabius Maximus annalium primo („Fabius Maximus im 1. Buch der Annalen“: Serv. auct. Verg. Aen. 1.3); Fabius Servilianus historiarum scribtor („der Historiker Fabius Servilianus“: Schol. Veron. Verg. georg. 3.7).100 Für die vorliegende Fragestellung ist ein auf den ersten Blick scheinbar eindeutiges Zeugnis des Macrobius relevant, das im Kontext seiner Diskussion über den römischen Kalender steht:

Sed et Fabius Maximus Servilianus pontifex in libro duodecimo negat oportere atro die parentare, quia tunc quoque Ianum Iovemque praefari necesse est, quos nominari atro die non oportet.

Aber auch Fabius Maximus Servilianus, der Pontifex, schreibt im 12. Buch, dass es nicht gestattet sei, an einem Schwarzen Tag den Vorfahren zu opfern, denn dabei müssen auch Ianus und Jupiter zu Beginn des Gebets genannt werden; sie zu nennen ist an einem Schwarzen Tag untersagt.

Macr. Sat. 1.16.25 = Bremer 1, 28

Mit Ausnahme von FRHist wurde das Fragment durchwegs als Beleg für eine eigenständige Abhandlung gelesen, deren Titel man bereitwillig ergänzte: Iuris pontifici libri oder De iure pontificio, offenbar in mindestens zwölf Schriftrollen. Die sakralrechtliche Ausrichtung des Werks ergab sich aus der behandelten Materie (dies atri) und aus Fabius’ Charakterisierung als pontifex. Allerdings stehen beide Auffassungen auf schwachen Füssen: Dass Fabius Maximus pontifex war, ist sonst nicht bezeugt. Macrobius (oder seine Quelle) könnte aufgrund des mutmaßlichen Titels auf diese Amtsstellung geschlossen haben.101 Auf der anderen Seite könnte der Stoff auch in einem Geschichtswerk behandelt worden sein; die Passage in Macrobius ist reich an Verweisen auf die ältere Annalistik (Sat. 1.16.21–24: Cassius Hemina und Cn. Gellius; Sat. 1.16.26: Q. Claudius Quadrigarius). Im Zusammenhang eines (sakral-aitiologischen?) Exkurses könnte Fabius hier auf seine Stellung als Pontifex hingewiesen haben, um dem Gesagten zusätzlichen Nachdruck zu verleihen. Ferner erscheint eine Verwechslung mit Fabius Pictor nicht unmöglich, aus dessen libri iuris pontifici Gellius, Nonius und Macrobius mehrfach zitieren und den auch Cicero erwähnt. Die Identifikation dieses Mannes wirft ihrerseits eine Reihe von Schwierigkeiten auf, denn entweder handelte es sich um den „alten“ Historiker Q. Fabius Pictor oder aber (was wahrscheinlicher ist) um einen jüngeren Namensvetter, eventuell den Enkel, dessen praenomen – je nach Emendation des einzigen Zeugnisses (Cic. Brut. 81) – entweder Servius oder Numerius lautete.102 Traditionskontaminationen, Missverständnisse und Probleme der Textüberlieferung lassen hier keine verlässlichen Schlüsse zu. Selbst wenn eine dieser Zuschreibungen tatsächlich zutreffen sollte, bleiben Inhalt, Schreibform und Wirkungsintention dieser Texte weitgehend im Dunkeln.

(2) Kaum besser ist die Situation bei den verfassungsrechtlichen Abhandlungen. Auch hier ist über Vermutungen kaum hinauszugelangen. Cassius Hemina hat vielleicht eine Schrift De censoribus verfasst, falls das einzige erhaltene Zeugnis tatsächlich einen Werktitel und keine Inhaltsparaphrase bezeichnet (Non. p. 548, 24–26 Lindsay = FRH 6 F26): L. Cassius Hemina lib. II de censoribus: „et in area in Capitolio signa quae erant demoliunt“ („L. Cassius Hemina schreibt im zweiten Buch über die Zensoren: ‚Auch auf dem Platz auf dem Kapitol zerstören sie die vorhandenen signa [hier wohl „Trophäen“].‘ “).103 Etwas breiter bezeugt sind die Libri magistratuum (oder commentarii de magistratibus?) des C. Sempronius Tuditanus in mindestens dreizehn Büchern sowie die Libri de potestatibus (oder commentarii?) des M. Iunius Gracchanus in mindestens sieben Büchern.104 Auch hier ist Vorsicht geboten. Der erste wird von keiner antiken Quelle mit vollem Namen genannt. Seine Identifizierung mit dem Konsul von 129 v. Chr. ist eine moderne Konstruktion, die auf Wahrscheinlichkeiten beruht. Dasselbe gilt für die Existenz einer separaten historiographischen Schrift, auf die wegen des Inhalts einiger Fragmente gelegentlich geschlossen wird.105 Ein ähnlicher Fall moderner Kombinationsleistung liegt bei M. Iunius (Congus?) Gracchanus vor: Ein M. Iunius hat an den Vater des Atticus wortreich über das Magistratenrecht geschrieben (pluribus verbis scripsit ad patrem tuum M. Iunius de eo iure: Cic. leg. 3.49). Plinius (nat. 33.36) berichtet von einem Iunius, der wegen seiner Freundschaft zu C. Gracchus den Beinamen Gracchanus erhalten habe. Ulpian schließlich zitiert aus dem siebten Buch der Schrift De potestatibus des Gracchanus Iunius (Dig. 1.13.1 praef.).106 Auch ein Congus wurde ins Spiel gebracht, der in Cicero, De oratore 1.256 als Gewährsmann für „die Geschichte, die Kenntnis des öffentlichen Rechts und die Altertumskunde“ (historiam et prudentiam iuris publici et antiquitatis memoriam) Erwähnung findet.107 Unklar ist die Verortung der kalendarischen Informationen, die Varro, Censorinus und Macrobius einem Iunius zuschreiben und die Bremer (1, 38) unter die Fragmente der libri de potestatibus des M. Iunius Gracchanus aufgenommen hat.

Die rudimentäre wissenschaftliche Zitierpraxis der Antike, welche die moderne literaturgeschichtliche Rekonstruktion so schwierig macht, ist nicht nur Ausdruck des unbekümmerten Habitus griechischer und römischer Gelehrter. Zumindest was Autorennamen angeht, dürften viele Ungenauigkeiten auf die Praxis der römischen Namensgebung (die auch Cicero zu schaffen machte108) sowie auf die materialen Gegebenheiten der antiken Buchkultur (besonders den begrenzten Informationswert der Rollentituli) zurückgehen. Selbst für einen Dichter wie Ennius war bereits in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts v. Chr. die Verfasserschaft bestimmter Schriften nicht mehr eindeutig zu verifizieren. Der Grund lag wahrscheinlich weniger in der Existenz zahlreicher Pseudepigrapha (wie bei Plautus), sondern am Vorkommen mehrerer, nunmehr schwer differenzierbarer Ennii. Einer davon schrieb über Auguralrecht und Grammatisches:109

Nam quod nonnulli tradunt duos libros – de litteris syllabisque, item de metris – ab eodem Enni editos, iure arguit L.[C.?] Cotta non poetae sed posterioris Enni esse, cuius etiam de augurali disciplina volumina feruntur.

Da nämlich einige Autoren überliefern, dass derselbe Ennius zwei [grammatische] Bücher, nämlich eines über die Buchstaben und Silben und eines über die Metren, verfasst habe, hat L. Cotta mit Recht die Ansicht vertreten, dass es sich dabei nicht um den Dichter, sondern um einen anderen Ennius handeln müsse, von dem auch Schriften über die Auguraldisziplin erhalten sind.

Suet. gramm. et rhet. 1.3

Die beschriebenen Unsicherheiten der Identifikation macht die moderne Rekonstruktion der Inhalte und Darstellungsformen der sakral- und verfassungsrechtlichen Abhandlungen ungleich schwieriger als bei den Schriften de iure civili. Dasselbe gilt für die mutmaßlichen Wirkungsabsichten: Während bei den zivilrechtlichen Abhandlungen eine praktische Nutzanwendung nahe liegt, stellt sich die Frage nach den Ziel- und Zwecksetzungen, die hinter der (mutmaßlich) systematischen Verschriftlichung eines öffentlichkeitsrechtlichen Expertenwissens standen, das im Zivilprozess kaum Relevanz besaß. Mehrere Hypothesen sind denkbar:

Zum einen wird mittlerweile allgemein angenommen, dass die sakral- und verfassungsrechtlichen commentarii der Frühzeit nur bedingt als Handbücher für die magistratische oder priesterliche Rechtspraxis konzipiert waren und stattdessen vor dem Hintergrund einer in dieser Zeit allgemein feststellbaren Tendenz der Traditionssichtung und Traditionswahrung zu verorten sind, die mit der teilweise (zumindest außerhalb des Privatgebrauchs) wohl erstmaligen schriftlichen Fixierung magistratischer Pflichten und Befugnisse sowie religiöser Praktiken und Ideen einherging. Dabei wurde bestehendes (sakral-)rechtliches und politisch-symbolisches Handlungswissen aus unterschiedlichen Bereichen gesammelt (das heißt selektiert), kodifiziert und im Zuge dieses Prozesses wohl auch systematisiert.110 Als literarisches Muster könnte hierfür die umfangreiche hellenistische Sakralrechtsliteratur gedient haben, entsprechende Rezeptionszeugnisse liegen aber erst für das erste Jahrhundert v. Chr. vor.111

Zum anderen wird bei den erwähnten staatsrechtlichen Schriften ihre Bedeutung im Prozess der „Jurifizierung“ hervorgehoben, der hier in erster Linie darin bestanden habe, dass „wichtige Teile des öffentlichen Bereichs, die nicht im Gesetzesrecht verankert waren, durch die Interpretation kompetenter Juristen und Politiker dem Gesetzesrecht gleichgestellt wurden.“112 Damit wurde ein Wissen theoretisch durchdrungen, das zuvor bestenfalls als Erfahrungsschatz im Privatarchiv der vornehmen konsularischen Familien aufbewahrt worden war.113 Da eine derartige Objektivierung der bestehenden staatlichen Ordnung im Recht schwerlich im politikfreien Raum stattfinden konnte, liegt es nahe, Tuditanus und Iunius Gracchanus vor der Folie der Revolutionsjahre der Gracchen zu sehen, die ja gerade für das römische Verfassungsrecht tiefgreifende Folgen hatte. Insofern dürfte der Blick auf die Ursprünge staatlicher Institutionen in einer Zeit politisch-rechtlicher Unsicherheit Orientierung (und publizistische Munition) geboten haben, zumal im tagespolitischen Machtkampf nachweislich auf antiquierte Rechtsformen zurückgegriffen wurde.114 Dass die Schriften von Tuditanus und Gracchanus aus unterschiedlichen Lagern stammten und gegeneinander gerichtet gewesen seien, bleibt allerdings eine gelehrte (wenn auch grundsätzlich plausible) Hypothese, zumal aus den Überresten keine tagespolitische Aktualität erkennbar ist.115 Wenig wahrscheinlich erscheint die Annahme, dass staatsrechtliche Werke dieser Art eine isagogische Zweckausrichtung besaßen, etwa im Sinne einer Einführung in die politischen Institutionen Roms für die nach dem Bundesgenossenkrieg hinzugekommenen Neubürger.116

Ist man gewillt, den Großteil der Fragmente jeweils zu einer einzigen Spezialschrift der beiden erwähnten Autoren zu kombinieren, wird sowohl bei Tuditanus wie bei Iunius Gracchanus die antiquarische Grundausrichtung ihrer juristischen Quellenarchäologie evident: Tuditanus handelte mit Sicherheit über die Decemviri und ihre Einrichtungen (frg. 1 Bremer 1, 35 = FRHist 10 F1) sowie über magistratus maiores und minores (frg. 2 Bremer 1, 35 = FRHist 20 F2) – letzteres Fragment entstammt nach Gellius einem wörtlichen Zitat aus den libri de auspiciis des M. Valerius Messala Rufus (cos. 53 v. Chr.). Aus Tuditanus’ De magistratibus stammen vielleicht auch die Erörterungen über die Einrichtung der nundinae (frg. 4 Bremer 1, 36 = FRHist 10 F6) und der Volkstribune (frg. 5 Bremer 1, 36 = FRHist 10 F7), beides könnte aber auch in einem Geschichtswerk gestanden haben.

Gracchanus schrieb über den Ursprung der Quaestur (frg. 1 Bremer 1, 37) und das inlicium (die Einberufung des Volkes durch die Auguren: frg. 9 Bremer 1, 39), ferner über die porta Saturnia, quam nunc vocant Pandanam (frg. 5 Bremer 1, 38) sowie über die lex Silia de ponderibus publicis (frg. 11 Bremer). Er behandelte ferner die Etymologien von quaestor (frg. 1 Bremer 1, 37), Subura (frg. 6 Bremer 1, 38) und luceres (frg. 7 Bremer 1, 39) und erörterte die Bedeutung der alten Bezeichnung trossuli für die römischen Ritter (frg. 8 Bremer 1, 39). Die Disposition des Werkes ist völlig unklar. Da Ulpian die Informationen über die Geschichte der Quaestur aus dem siebten Buch von Gracchanus entnommen hat, vermutete Cichorius, dass jedes Buch einer römischen Magistratur gewidmet gewesen sein könnte. In den ersten sechs Büchern wären demnach die anderen sechs ständigen Ämter behandelt gewesen: Konsulat, Censur, Praetur, plebejische Ädilität, kurulische Ädilität und Volkstribunat.117

Letztlich fehlt die Evidenz, um mit Gewissheit von einer antiquarischen Verselbständigung innerhalb des staatsrechtlichen Schrifttums dieser Epoche reden zu können. Die erkennbare ursprungsbezogene Erörterung des römischen Amtswesens und der magistratischen Befugnisse weisen aber auf die für Iohannes Lydos’ De magistratibus herausgestellte Systematik voraus (siehe oben Kap. 4.2.). Anders liegt der Fall bei den verhältnismäßig früh bezeugten Abhandlungen über das Pontifikalrecht. Sieht man von den Identifizierungsproblemen einmal ab und konzentriert sich allein auf die Inhalte, fällt sogleich auf, dass die Fragmente der frühesten Werke keinerlei Hinweise auf eine antiquarische Akzentuierung enthalten:118 Mit dem Namen des Fabius Pictor (HRR 1, 114–116) werden die Worte des Pontifex Maximus bei der Wahl einer Vestalin (frg. 1) verbunden; ferner ein längeres Referat über die Tabuvorschriften eines Flamen Dialis (frg. 2), die Namen der Gottheiten, die der Flamen beim Ceresopfer anruft (frg. 3) sowie die feierlichen Worte, die der Opfernde spricht (frg. 4). Bei den Formeln dürfte es sich um den zur Abfassungszeit gebräuchlichen Wortlaut gehandelt haben. Zu Worterklärungen scheint es dabei nicht gekommen zu sein; zumindest war in späterer Zeit das Vokabular der von Pictor referierten Gebetsformeln Objekt gelehrter Deutungsversuche.119

Die aufgedeckte Streuungsdivergenz von etymologisch-aitiologischen Rückführungen zwischen dem staatsrechtlichen und dem pontifikalrechtlichen Werktyp scheint aus ihrer jeweils unterschiedlichen Anlage und Argumentationsweise erklärbar: Im Zentrum der frühen pontifikalrechtlichen Monographien stand offenbar die schriftliche Fixierung von priesterlichen Regeln, kultischen Praktiken und Gebetsformeln, das heißt die Verstetigung eines (noch aktuellen oder bereits veralteten) religiösen Handlungswissens, die aber gerade durch ihren systematischen (und wohl auch selektierenden) Ansatz bewusst über die Archivierung von Ritualdokumentationen in den priesterlichen Ritualbüchern hinausführte.120 Wohl aus derselben Zeit und derselben Zielsetzung verpflichtet war der liber vetustissimus, in dem ein gewisser Furius (vielleicht L. Furius Philus, cos. 136) die sakralrechtlichen Formeln des carmen evocationis und des carmen devotionis niedergelegt hatte.121 Eine ähnliche traditionsverfestigende Funktion wird, wie oben erwähnt, im Grunde auch für die commentarii der Magistrate vorauszusetzen sein, aus denen Varro eine Reihe magistratischer Vorschriften und Spruchformeln entnahm.122 Allerdings war hier das zur Verfügung stehende Quellenmaterial weit diffuser und nicht auf ein enges Expertenkollegium abgestützt. Von dieser praktisch-instruktiven Funktionsliteratur sind die frühen staatsrechtlichen Abhandlungen de magistratibus und de potestate nun wohl dahingehend zu differenzieren, dass es sich bei diesen um systematische Abhandlungen handelte, denen eine historische Perspektive von Anfang an eingeschrieben war. Da hier durch die aktuelle innenpolitische Situation, das heißt im Zuge der innerinstitutionellen Auseinandersetzungen seit der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts v. Chr., der Legitimationsdruck ungleich höher war, lag ein Rückgriff auf die fundierenden Ursprünge zur Deutung und Gestaltung der Gegenwart auch viel näher als im scheinbar zeitlosen Raum des Kultes. Das im Sakralbereich ungebrochene Kontinuum einer (zumindest vom Anspruch her) identischen Reproduktion von Handlungen entbehrt grundsätzlich einer zeitlichen Dimension, was dem Kult seine „Geschichtlichkeit“ und der Vergangenheit damit ihren Kausalitätsanspruch für die Gegenwart entzieht. Dies steht nicht im Widerspruch mit dem abstrakten Wissen um die diachrone Dimension von Religion. Die Römer waren sich, wie die archaische Literatur insgesamt zeigt, des Herkommens ihrer Kulte und Riten sehr wohl bewusst.

Auf die politische Unselbständigkeit dieses religiösen Expertenwissens kann auch daraus geschlossen werden, dass die forensische Rhetorik des ersten Jahrhunderts sie im politischen Alltag zu instrumentalisieren vermochte.123 Allerdings war der Bereich der Religion bei weitem kein politikfreier Raum – Priesterämter besaßen im inneraristokratischen Machtkampf ebenso Relevanz wie religiöse Rituale in politischen Entscheidungsprozessen. Der Prozess der „Politisierung“, der sich bis ins vierte Jahrhundert zurückverfolgen lässt, erlebte gerade im zweiten Jahrhundert eine Verschärfung, bevor die Religion in der ausgehenden Republik vollends zum Spielball innenpolitischer Auseinandersetzungen wurde.124 Selbst wenn es sich also bei Pictors libri um eine Form der Wissensspeicherung handelte, der es erstrangig darum ging, die kultische Reproduktionsfähigkeit (in der juristisch normierten und dadurch objektivierten Form) zu garantieren, wird dadurch die Frage nach einer politischen Implikation nicht obsolet. Denn erst infolge der „objektivierenden“ Jurifizierung der Religion wird die ihr inhärente politische Einflussmöglichkeit berechenbar.125 Völlig konfliktfrei ist der Prozess der Kodifizierung des Sakralrechts daher auch nicht abgelaufen.

In diesem Zusammenhang ist die berühmte Affäre um die Auffindung der Bücher des Königs Numa Pompilius im Jahr 181 v. Chr. aufschlussreich, über welche die ältere Annalistik zeitnah berichtete.126 Die am Fuß des Ianicolo in einem Steinsarg entdeckten libri religiös-philosophischen Inhalts wurden zu einem Schlüsselereignis der senatorischen Aristokratie des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts, da – fünf Jahre nach dem Bacchanalien-Skandal – an der spektakulären Reaktion des politischen Establishments, nämlich der Verbrennung dieser Schriften, der Anspruch nach Kontrolle der geistigen und religiösen Sphäre, insbesondere jener Ideen und Denkmuster, die in Gestalt einer kanonischen Fixierung auftraten,127 auf unmissverständliche Weise zum Ausdruck gebracht wurde. Obwohl der erste Autor, der darüber berichtet (Cassius Hemina: FRHist 6 F35), ein Zeitgenosse der Ereignisse war, weisen die literarischen Überlieferungsstränge im Detail eine relativ große Varianz auf – ein klares Zeichen dafür, dass die Berichterstattung schon früh einer tendenziösen Modifizierung unterworfen war.128 Für unseren Zusammenhang ist die erstmals bei Piso nachweisbare differenziertere Angabe über den Inhalt der aufgefundenen Bücher wichtig, die Hemina (FRHist 6 F35) offenbar nur vage als libri philosophischen Inhalts (philosophiae scripta) charakterisiert hatte (Plin. nat. 13.87 = FRHist 9 F14):129 hoc idem tradit Piso censorius primo commentariorum, sed libros septem iuris pontificii, totidem Pythagoricos fuisse („Dasselbe überliefert auch Piso der Censor im ersten Buch seiner Abhandlungen, doch soll es sich um sieben pontifikalrechtliche Bücher sowie um ebenso viele pythagoreischen Inhalts gehandelt haben“). Spekulativ bleiben Antworten auf die Frage nach den Gründen, die Piso zu dieser Präzisierung bewogen haben,130 falls er denn tatsächlich als ihr Urheber anzusehen ist. Die Fortsetzung von Plinius’ Synopse, die im Kontext einer gegen Varro gerichteten Frühdatierung der Einführung von Papyrusrollen steht (vgl. nat. 13.69), verdeutlicht den fehlenden Konsens der einschlägigen Quellen:

Tuditanus [sc. tradit] tertio decimo Numae decretorum fuisse. Ipse Varro humanarum antiquitatum VII [VI codd. sing.], Antias secundo libros fuisse XII pontificales Latinos, totidem Graecos praecepta philosophiae continentes.

Tuditanus berichtet im 13. Buch [FRHist 10 F3], es habe sich um die Dekrete Numas gehandelt. Varro im 7. Buch der Menschlichen Dinge [Ant. rer. hum. VI frg. 3 Mirsch] und Antias im 2. Buch [FRHist 25 F9a] schreiben, es seien zwölf lateinische Bücher zum Pontifikalrecht und ebenfalls zwölf griechische Bücher mit philosophischen Lehrsätzen gewesen.

Plin. nat. 13.87

Die von Tuditanus unterdrückte und von Antias hervorgehobene legendarisch ausgestaltete Assoziation König Numas mit Pythagoras braucht hier nicht weiter zu interessieren.131 Nähere Betrachtung verlangen indes die sieben (oder zwölf) Rollen pontifikalrechtlichen Inhalts. Die Vorstellung, dass der „Religionsstifter“ Numa religiöse Normen schriftlich niedergelegt hatte, war zur Zeit des Livius geläufig.132 Sie dürfte schon zur Zeit des älteren Catos verbreitet gewesen sein. Dass die mutmaßlichen Fälscher, die den Fund inszenierten,133 bereits im frühen zweiten Jahrhundert in seinem Namen pontifikalrechtliche libri „produzieren“ konnten, wäre dagegen durchaus bemerkenswert, zumal ihr Inhalt angeblich über ein erhebliches aufklärerisches Sprengpotenzial verfügte: Nach dem Bericht des Augustinus in De civitate dei 7.34, der hier aus Varros Logistoricus Curio de cultu deorum (= frg. 3 Cardauns) referiert, enthielten die Bücher Numas nicht etwa die Kultsatzungen der römischen Pontifices, sondern die causae institutorum sacrorum, das heißt die Aitia der römischen Religion und damit die Erklärungen, cur quidque in sacris fuerit institutum („warum und was im Opferwesen eingeführt wurde“).134 Falls diese Angabe keine gelehrte Selbstprojektion Varros war – wofür aber einiges spricht135 – , hätten die reformwilligen Fälscher die früheste eindeutig datierbare antiquarische Monographie Roms verfasst. Unklar ist, wie Varro die Numa-Bücher und ihre Verbrennung durch den Senat beurteilte, da Augustinus’ Argumentation auf die Aushöhlung der paganen Religion abzielt, welche eine derartige historische Rationalisierung der religiösen Institute in seinen Augen zwangsläufig bedeuten musste.136 In diesem Sinne psychologisiert er das ambivalente Verhalten des Königs, der die unheilvollen Bücher zwar schrieb, ohne sie aber dem Volk, dem Senat oder den Priestern zeigen zu wollen, „um den Menschen nichts Gottloses zu lehren“ (ne homines nefaria doceret: 7.34). In weitreichenden Spekulationen ergeht sich Augustinus darüber, wie Numa in frevelhafter Neugier (curiositate inlicita) dieses Wissen von den Dämonen erworben hatte: Durch seine Kenntnis der hydromantischen und nekromantischen Künste, über die er nach dem Zeugnis Varros verfügte, habe er von den Dämonen erfahren, welche Riten und Kultvorschriften (sacrorum facta) in der jungen Bürgerschaft eingeführt werden müssten. Ihre Ursachen, über die ihn die Dämonen ebenfalls aufgeklärt hatten, schrieb er zwar nieder, um durch gelegentliches Nachlesen sein Gedächtnis aufzufrischen (ut haberet unde legendo commoneretur), hielt sie aber im Geheimen und ließ sie dann gleichsam „mit sich sterben“ (secum quodam modo mori fecit).137

Während diese Deutung offenkundig an der argumentativen Zielsetzung des Kirchenvaters ausgerichtet war, hatte sich auch Varro Gedanken darüber gemacht, warum Numa das in den Büchern enthaltene Wissen mit sich ins Grab genommen hatte, und warum der Senat diese nach ihrer Wiederentdeckung verbrennen ließ. Der von Augustinus wörtlich zitierten Passage ist zu entnehmen, dass Varro die Verbrennung der königlichen Dekrete dadurch rechtfertigte, dass der Senat dem impliziten Wunsch Numas nachgekommen sei, der ja erwiesenermaßen nicht wollte, dass sie gelesen würden.138 Augustinus deutete dies so, dass der Senat gezwungen war, Numa wider besseres Wissen beizupflichten, weil man Angst hatte, anderenfalls die religiösen Traditionen der Vorfahren (religiones maiorum) verwerfen zu müssen. Inwiefern Varro selbst Numas bewusste Wissensunterdrückung mit dem kulturellen Sprengpotenzial der causae in Verbindung gebracht hatte, bleibt aber unklar. Seine eigenen Forschungen zielten jedenfalls exakt auf die Kenntnis jener Ursprünge ab, über welche der König die Zeitgenossen und die Nachwelt im Dunkeln lassen wollte. Augustinus hat dies richtig gesehen:

Quid mihi ergo Varro illorum sacrorum alias nescio quas causas velut physicas interpretatur? Quales si libri illi habuissent, non utique arsissent, aut et istos Varronis ad Caesarem pontificem scriptos atque editos patres conscripti similiter incendissent.

Warum also erklärt mir Varro irgendwelche andere, scheinbar natürliche Ursachen dieser Opferdienste? Hätten jene Bücher [sc. Numas] einen solchen Inhalt gehabt, so wären sie nicht in Flammen aufgegangen, oder aber der Senat hätte jene dem Oberpriester Caesar gewidmeten und veröffentlichten Bücher Varros [sc. die Antiquitates rerum divinarum] ebenfalls verbrannt.

Aug. civ. 7.35

War also nach dieser Logik ganz unwahrscheinlich, dass die Numa-Bücher „naturphilosophische Erklärungen“ der römischen Riten und Kultvorschriften in der Art enthielten, wie sie offenbar Varro in den Res divinae aufgeführt hatte, blieben nur zwei Möglichkeiten: „Entweder also war darin von derart schmutziger und grässlicher Wollust der Dämonen die Rede, dass infolgedessen die ganze Staatstheologie (theologia civilis) auch solchen Menschen widerlich erschienen wäre, die doch so manches Anstößiges in den Bräuchen selber übernommen hatten, oder aber es trat darin zutage, dass die heidnischen Götter alle nichts anderes als verstorbene Menschen waren.“139 Aus der Perspektive des Kirchenvaters war diese Art des (wahrhaften) Wissens für Varro unzugänglich, da er an die beschränkte menschliche Erkenntnisfähigkeit gebunden war und in der Zeit vor der christlichen Offenbarung lebte. Allein Numa war es gelungen, aufgrund magischer Praktiken zu jener Wahrheit vorzustoßen, die der paganen Religion aus Sicht der christlichen Apologetik zugrunde liegt, nämlich dass es sich um ein Blendwerk der Dämonen handelt, die sich lediglich als Götter aufspielen.140 Ob allerdings eine rationalisierend-euhemeristische Erklärung der römischen Religion tatsächlich, wie Augustinus vermutet, vom Senat als Gefahr angesehen worden wäre, ist angesichts von Ennius’ Euhemerus (und dem Epicharmus) zweifelhaft. Aus römischer Sicht dürfte eine derartige Historisierung von Religion kaum als anstößig empfunden worden sein, da sie (wie die griechische Philosophie) mit dem kultisch realisierten Polytheismus in keinen offenen Konflikt trat.141

Interessanterweise finden sich über Varro und Augustinus hinaus keine weiteren Zeugnisse für ein näheres Interesse an den Inhalten der Numa-Bücher. Im Fokus der erhaltenen Berichte stand vielmehr der Versuch, den sich ergebenden Widerspruch zwischen der exemplarischen „Lichtgestalt römischer Zivilisationsgeschichte“ (Uwe Walter) und seiner gefährlichen Bücher zu lösen.142 Während Plinius keine Motivation für das Verbrennen der entdeckten Buchrollen angibt, spricht Livius von deren „religionszersetzender Wirkung“ (pleraque dissolvendarum religionum esse: Liv. 40.29.11), wobei er, wie aus dem Kontext ersichtlich ist, offenbar an die pythagoreischen Schriften dachte. An ihn schließt fast wörtlich Valerius Maximus an, jedoch mit der vielsagenden Ergänzung, dass nur die schädlichen Bücher der griechischen Philosophie verbrannt worden seien, während man die sakrosankten lateinischen libri de iure pontificum sorgsam aufbewahrt hätte. Die Episode wird damit in doppeltem Sinne zu einem Exemplum der cura conservandae religionis (Val. Max. 1.1.12). Plutarch wiederum folgt zwar Varro darin, dass der Senat mit der Verbrennung Numas eigenem Wunsch nachgekommen sei, doch lag nach ihm die Unterdrückung von Numas ἱεραὶ βίβλοι nicht in ihrem schädlichen Charakter, sondern vielmehr im Mysterium des arkanen Wissens begründet, dessen unerlaubte Profanierung es (nach pythagoreischer Auffassung) zu verhindern galt. Zerstört wurde allein das Medium, nicht der Inhalt: „Bei Lebzeiten hatte er die Priester alles gelehrt, was da geschrieben stand, ihnen Wortlaut und Sinn eingeprägt und dann verordnet, die heiligen Bücher mit seiner Leiche zu begraben, weil es nicht statthaft sei, die geheime Wissenschaft in toten Buchstaben zu begraben.“143 Das Thema blieb in späteren intellektuellen Kreisen lebendig, falls denn die literarische Fiktion des Juristen M’. Manilius (cos. 149) in Ciceros De re publica 2.28 auf einer authentischen Rekonstruktion beruht.144

Zusammenfassend lässt sich bis zu diesem Punkt sagen, dass die pontifikalrechtlichen Schriften des früheren zweiten Jahrhunderts in der überlieferten Gestalt keine antiquarische Akzentuierung erkennen lassen, während in den staatsrechtlichen Abhandlungen der Gracchenzeit die Systematisierung der juristischen Zeichenarchäologie offenbar schon ausgebildet war. Auch in der juristischen Lexikographie sind Ansätze einer antiquarischen Spezialisierung zu erkennen, sofern ihre Anfänge tatsächlich in dieser Zeit liegen.

Unser Bild würde sich beträchtlich erweitern, wäre man gewillt, für einen Gelehrten wie L. Cincius und eine Reihe schlecht bezeugter Sakralschriftsteller (etwa Veranius und Titius, siehe unten S. 253 Anm. 164) eine frühe Datierung anzunehmen und sie als Altersgenossen der Generation um Q. Valerius (Soranus), Aurelius Opillus und L. Aelius (Stilo Praeconicus) aufzufassen. Es handelt sich dabei um jene Gelehrten, auf die Varro in De lingua Latina regelmäßig als Autoritäten zurückgriff – Zeitgenossen scheint er grundsätzlich nicht zitiert zu haben. Gerade das gut bezeugte antiquarische Interesse des letzteren (haec Aeliana [aliena cod.] studia: Cic. de orat. 1.193) ist ein wichtiges Argument dafür, die entscheidende Formierungsphase der um die Mitte des ersten Jahrhunderts v. Chr. bereits diversifizierten antiquarischen Literatur auf die Generation vor Cicero und Varro zurückzuverlegen.145 Die oben formulierte Hypothese, dass es in der Zeit nach den Gracchen und in den ersten Jahrzehnten des ersten Jahrhunderts, also in der politisch bewegten Zeit von Marius und Sulla, zu einer Spezialisierung innerhalb der Rechtsliteratur und – als Folge dieses Prozesses – zur Herausbildung antiquarischer Fachmonographien kam, wird, wie die folgende Diskussion zeigt, auch durch eine Reihe weiterer Indizien gestützt.

Das rechtskundliche Werk des L. Cincius, der von der Forschung in der Regel vom Annalisten L. Cincius Alimentus unterschieden wird,146 zeigt eine bemerkenswerte thematische Breite, die auf die nachfolgende Epoche vorausweist. Neben dem bereits erwähnten etymologischen Wörterbuch (De verbis priscis) sind für ihn die Titel einer Reihe juristischer Werke überliefert, bei denen es sich vereinzelt auch um Kapitel- oder Rollenüberschriften gehandelt haben könnte: De comitiis, De consulum potestate, De re militari, De officio iurisconsulti sowie ein liber de fastis.147

Möglicherweise in der Tradition der kulturgeschichtlich orientierten griechischen Periegese nach der Art des Polemon von Ilion standen seine libri Μυσταγωγικῶν.148 Das einzige Fragment, das sicher zugeordnet werden kann, zeigt einen topographischen Rundgang durch die Monumente Roms, genauer gesagt durch die kapitolinischen Tempel, wobei archaische Inschriften und Votive erklärt werden:

Trientem tertium pondo coronam auream dedisse se Iovi donum scripsit T. Quinctius dictator cum per novem dies totidem urbes et decimam Praeneste cepisset. Id significare ait Cincius in Μυσταγωγικῶν lib. II duas libras pondo et trientem, qua consuetudine hodieque utimur, cum lignum bes alterum dicimus, id est pedem et besem latitudinis habens.

Der Diktator T. Quinctius [Cincinnatus] schrieb [auf einer Weihinschrift], er habe Jupiter eine goldene Krone trientem tertium pondo geweiht, nachdem er in neun Tagen ebenso viele Städte und als zehnte Praeneste eingenommen hatte.149 Cincius schreibt im zweiten Buch der Mystagogika, dies bedeute duas libras pondo et trientem [„zum Gewicht von zwei Pfund und einem Drittel“]. Diesen Sprachgebrauch kennen wir noch heute, wenn wir lignum bes alterum sagen, das heißt, etwas habe ein und zweidrittel Fuß Länge.

Fest. p. 498, 4–11 Lindsay

Wenn das Festus-Exzerpt kein Exkurs innerhalb der Mystagogika ist, sondern repräsentativ für die Schrift selbst stehen kann, dann ist das Werk zweifellos als antiquarische Monographie zu bezeichnen. Diese Vermutung wird durch ein weiteres Zeugnis bestätigt, das mit guten Gründen dem Rechtsschriftsteller Cincius (und nicht dem Historiker Cincius Alimentus) zugeschrieben wird:150 Livius berichtet in 7.3.3–4, dass man sich im Jahre 364 v. Chr., als die Stadt von einer großen Seuche heimgesucht wurde und verschiedene Maßnahmen zur Abhilfe erfolglos geblieben waren, daran erinnerte, dass eine Seuche einmal durch das Einschlagen eines Nagels durch einen Diktator zum Stillstand gebracht werden konnte. Daraufhin sei auf Anordnung des Senats ein dictator clavi fingendi causa ernannt worden. In Form eines Exkurses berichtet Livius schließlich von einer altertümlichen Gesetzesinschrift an der rechten Cella des Jupiter Optimus Maximus-Tempels im Kultbezirk der Minerva, die besagte, dass an jedem 13. September der Praetor maximus einen Nagel einschlagen müsse. (7.3.5–8). Die Zahl der Nägel sei in alter Zeit (das heißt: nach der dedicatio des Tempels) eine Form der Jahreszählung gewesen, deshalb sei das Gesetz auch dem Kultraum der Minerva geweiht, denn die Zahlen seien eine Erfindung dieser Göttin. In einem der seltenen Fälle gibt Livius den Gewährsmann an, von dem er dieses Aition entnommen hat (7.3.7): Volsiniis quoque clavos indices numeri annorum fixos in templo Nortiae, Etruscae deae, comparere diligens talium monumentorum auctor Cincius adfirmat („Auch in Volsinii, im Tempel der etruskischen Göttin Nortia, sind Nägel zu sehen, die als Zeichen der Jahreszahl eingeschlagen wurden, wie Cincius, ein in der Erforschung solcher Monumente bewanderter Schriftsteller, versichert.“). Cincius hatte also den ursprünglichen Sinn des zuvor von Livius beschriebenen römischen Brauches unter anderem mit dem Hinweis auf eine Kultpraxis in der etruskischen Stadt Volsinii erklärt. Ausgangspunkt seiner Ausführungen war vermutlich die lex de clavo pangendo, deren archaische Inschrift er zusammen mit den in die Wand eingeschlagenen „Jahresnägeln“ (clavi annales) bei der Beschreibung des Tempels behandelte.151

Die libri Μυσταγωγικῶν stehen nach heutigem Kenntnisstand ähnlich erratisch in der römischen Literaturlandschaft ihrer Zeit wie die libri Ἐποπτίδων seines mutmaßlichen Zeitgenossen Q. Valerius Soranus (Siehe dazu unten S. 261–263). Allerdings scheint auch ein anderer Zeitgenosse Stilos, (L.?) Procilius, eine Art (kulturhistorische?) Periegese (der Monumente Roms? / entlang der pompa triumphalis?) verfasst zu haben.152 Auch hier fehlen an der Peripherie der „großen Gattungen“ wesentliche literaturgeschichtliche Bindeglieder, die das Gesamtbild der römischen Literatur aus dem engen Rahmen der Überlieferung herausheben könnten.

Auffallend ist die thematische Spezialisierung der juristischen Monographien von Cincius, die sich (meist in Form einer Monobiblos) auf bestimmte Teilgebiete des Sakral- und Verfassungsrechts konzentrierten. Es lassen sich nur bedingt Rückschlüsse auf Inhalte und Zwecksetzung ziehen. Die spärlichen Überreste zeigen einerseits eine deutliche Tendenz zur Traditionssicherung, die sich beispielsweise in De re militari in der Verschriftlichung alter Eides- und Rechtsformeln äußert, die durch die Verwendung des Präteritums in der rahmenden Kontextualisierung als überholtes Brauchtum herausgestellt werden.153 Zum anderen wurden die Institutionen des (altrömischen?) Heerwesens erläutert und deren Begrifflichkeiten bei Gelegenheit auch etymologisch begründet.154 Inwieweit ein Aktualitätsbezug hergestellt wurde, lässt sich nicht mehr sagen, da Gellius, von dem die wenigen Zitate stammen, in erster Linie die archaische Förmlichkeit im Auge hatte. Aufschlussreicher ist in dieser Hinsicht ein Fragment aus De consulum potestate, das Festus (bzw. Verrius Flaccus) zur aitiologischen Erklärung der salutatio ad portam der in die Provinz entsandten Statthalter heranzieht:

Praetor ad portam nunc salutatur is qui in provinciam pro praetore aut pro consule exit; cuius rei morem ait fuisse Cincius in libro de consulum potestate talem: […]

Heutzutage wird der Prätor, der als Statthalter im Range eines Proprätors oder Prokonsuls in die Provinz zieht, am Tore verabschiedet. Cincius schreibt in seinem Buch Über die Amtsgewalt der Konsuln, dass dieser Brauch folgendermaßen ablief: […].

Fest. p. 276, 15–18 Lindsay

Indem Cincius im daraufhin berichteten Aition den Sinn des militärischen Rituals, das sich zu seiner (und Verrius Flaccus’) Zeit vor den Toren Roms abspielte, in die Zeit des lateinischen Bundes zurückführte,155 lag ihm dieselbe antiquarische Zielsetzung zugrunde, mit der später der augusteische Lexikograph an ihn herangetreten war. Das Exzerpt lässt also vermuten, dass es Cincius in dieser Schrift nicht nur um eine phänomenologische Beschreibung der Gesamtheit der rechtssymbolischen Handlungen und Rituale ging, in denen die zivilen und militärischen Kompetenzen der römischen Konsuln begründet waren, sondern dass er diese zugleich historisierend interpretierte. Es bleibt offen, inwieweit diese Feststellung für sein Gesamtwerk verallgemeinert werden kann. Für das einzige Fragment von De comitiis ist der Zusammenhang mit einer aitiologischen Ableitung jedenfalls durchaus denkbar (Fest. p. 277, 2–3 Lindsay): Patricios Cincius ait in libro de comitiis eos appellari solitos, qui nunc ingenui vocentur („Cincius schreibt in seinem Buch Über die Komitien, dass diejenigen, die früher Patricii hießen, heute ingenui genannt werden.“). Im Dunkeln bleiben die drei Fragmente von De officio iuris consulti, die im Gegensatz zu den Resten der kaiserzeitlichen de officio-Schriften (siehe unten S. 420–423) keine Hinweise auf die Aufgaben eines Rechtsgelehrten geben, sondern vielmehr Begriffserklärungen im Kontext der Zwölftafelauslegung bieten (nuncupata pecunia; Sanates; subici aries). Man hat daher vorgeschlagen, das Werk als einen mehrbändigen Kommentar zu betrachten, zu dem der Liber de verbis priscis (siehe oben S. 219–221) als Unterabschnitt gehört haben könnte.156 Inwieweit in den genannten Schriften eine Art Vorläufer der Instruktionsschriften für Magistrate der hohen Kaiserzeit zu sehen ist, kann nicht entschieden werden.

Deutlich erkennbar ist die antiquarische Zielsetzung in den Fragmenten von Cincius’ De fastis, die ausschließlich römische Monatsetymologien enthalten. Der komplexe römische Kalender mit seinen zahlreichen Namen und teilweise rätselhaften Riten war schon für die ersten Historiker Anlass für eine eingehende causae-Forschung. Eine Passage aus seinen Fasti gibt einen bemerkenswerten Einblick in seine historisch-kritische Arbeitsweise und zeigt damit einmal mehr (zusammen mit Cato und den Annalisten), dass bestimmte Kernmethoden der „varronischen“ Altertumskunde der vorangegangenen Generation(en) bereits im Grundbestand verfügbar waren:

Sed Cincius [codd. Cingius] in eo libro, quem de fastis reliquit, ait imperite quosdam opinari Aprilem mensem antiquos a Venere dixisse, cum nullus dies festus nullumque sacrificium insigne Veneri per hunc mensem a maioribus institutum sit, sed ne in carminibus quidem Saliorum Veneris ulla ut ceterorum coelestium laus celebretur.

Aber Cincius schreibt in seinem Buch über die Fasten, dass diejenigen irren, die glauben, die Alten hätten den Monat April nach der Venus benannt, denn die Vorfahren hätten in diesem Monat gar kein Fest und kein Opfer für Venus eingeführt; außerdem werde Venus in den Liedern der Salier anders als die anderen Götter nicht einmal lobend erwähnt.

Macr. Sat. 1.12.12 = frg. 1 Bremer 1, 252

Mit den quidam, gegen deren Meinung sich Cincius hier polemisch richtet, waren wahrscheinlich M. Fulvius Nobilior (cos. 189, cens. 179 v. Chr.), der Mäzen von Ennius, sowie Iunius (Gracchanus?) gemeint, die nach mehreren späteren Zeugnissen über den römischen Kalender geschrieben hatten.157 Beide führten den Monat April auf Venus zurück – eine noch in augusteischer Zeit weitverbreitete (und begründbare) Meinung.158 Cincius wandte dagegen ein, dass weder der römische Festkalender noch die Kultlieder der Salier eine solche Annahme rechtfertigten, worin ihm später Varro beipflichtete:159

Cincio [Cingio codd.] etiam Varro consentit, adfirmans nomen Veneris ne sub regibus quidem apud Romanos vel Latinum vel Graecum fuisse, et ideo non potuisse mensem a Venere nominari.

Auch Varro stimmt Cincius zu, indem er bestätigt, der Name „Venus“ sei nicht einmal in der Königszeit bei den Römern auf Lateinisch oder auf Griechisch vorgekommen, und der Monat könne daher nicht nach Venus benannt sein.

Macr. Sat. 1.12.13 = Varro ant. rer. hum. XVII frg. 2 Mirsch

Dahinter stand offenbar ein Diskurs über die Vorrangstellung der latinischen Kultur, denn Varro führte, wie Censorinus berichtet, im Gegensatz zu Fulvius und Iunius die römischen Monatsnamen nicht auf Romulus, sondern konsequent auf die Latiner zurück.160 Ob bei Cincius die varronische Argumentation in dieser Systematik vorgeprägt war, oder ob er lediglich aufgrund seiner Quellenrecherchen die Ergebnisse seiner Vorgänger punktuell in Frage gestellt hatte, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit entscheiden. Die Indizien sprechen dafür, dass Varro in seiner Ablehnung des Romulus als Stifter der Monatsnamen und in seiner Bevorzugung latinischer Erklärungen der Vorlage des Cincius gefolgt ist.161 In welcher Form Cincius die historisierenden Kalendererläuterungen des Iunius und Fulvius rezipiert hat, bleibt spekulativ. Während man bei Iunius an ein annalistisches Geschichtswerk (wie bei Calpurnius Piso, FRHist 9 F44), an die De potestatibus (siehe oben S. 231 f.) oder eine eigene Kalenderschrift denkt, ist der Werkcharakter der fasti, die Fulvius in dem von ihm 179 v. Chr. gestifteten Tempel des Hercules Musarum niedergelegt hatte (posuit), Gegenstand einer intensiven Forschungsdiskussion.162 Die Einzelheiten der Debatte brauchen uns hier nicht zu interessieren. Wichtig sind aber die Nachrichten von Macrobius und Censorinus, die deutlich machen, dass es sich bei diesem Text nicht (nur, aber auch?) um einen römischen Kalender handelte, sondern vielmehr um eine (In-?)Schrift mit erläuternden Zusätzen zum Kalender, die in ihrer Zielsetzung ganz offensichtlich als antiquarisch anzusehen sind.163

Es ist müßig, hier mutmaßliche Frühdatierungen nicht mehr näher identifizierbarer Autoren wie Veranius, Titius, Umbro und anderer mutmaßlicher Rechtsschriftsteller anzustellen, zumal fraglich ist, ob damit viel gewonnen wäre.164 Wichtiger erscheint hier die Feststellung, dass die moderne Forschung im Allgemeinen sehr schnell bereit ist, schwer datierbare Verfasser von sakral- und staatsrechtlichen Traktaten in die Zeit nach der Mitte des ersten Jahrhunderts zu verlegen. Der Grund liegt oft einfach darin, dass man in diesem Bereich ungern hinter Varro zurückgeht. Dem „father of antiquarian studies“ (siehe oben Kap. 1.1) wird damit eine Reihe von Epigonen an die Seite gestellt, die seine herausragende Bedeutung gleichsam ratifizieren. Dass Varro und seine Zeitgenossen bei ihren Forschungen aber auf ein bereits relativ differenziertes Schrifttum der vorangegangenen Generation zurückgreifen konnten, zeigt auch der folgende Blick auf den Bereich der Grammatik und Philologie.

6.1.3.2 Grammatik und Philologie

In unserer Betrachtung des griechischen Antiquarianismus (siehe oben Kap. 5) wurde bereits deutlich, dass die antike Grammatik als wissenschaftliche Disziplin (τέχνη γραμματική), die die Bewahrung, Interpretation und Bewertung der überlieferten Schrifttexte als ihre ureigene Aufgabe betrachtete, die antiquarische Fragestellung seit ihren Anfängen in sich trug.165 In der lexikologischen und realienphilologischen Kompilationstätigkeit der hellenistischen Philologie trat die Altertumskunde als natürlicher Teilbereich der Sprach- und Realienkunde in Erscheinung. Die antiquarische Heuristik war auch dort von Nutzen, wo innerhalb der grammatischen Sprachlehre Fragen der Diachronie relevant waren, etwa in der Semantik und in der Wortbildung. Entsprechend vielfältig waren die anwendungsorientierten Umsetzungen. Diesem Vorbild folgten die Römer, wenn sie in ihren grammatischen und philologischen Studien auf die Etymologie und die Aitiologie als etablierte Techniken einer historisierenden Hermeneutik zurückgriffen und die Ergebnisse nicht nur in Kommentarwerken, sondern auch in Lexika und monographischen Fachschriften festhielten.

Aufgrund der prekären Überlieferungssituation in der untersuchten Epoche bleiben moderne Rekonstruktionsversuche im Bereich der römischen Sprachforschung und Grammatik weitgehend im Spekulativen.166 Das Wenige, was wir über die römische Grammatik und die römischen „Philologen“ (dicti studiosi, litterati) aus der Zeit vor dem Professionalisierungsschub am Ende des ersten Jahrhunderts v. Chr. wissen, entstammt vor allem dem historischen Einleitungsteil (c. 1–3), den Sueton seinen Biographien der berühmtesten Grammatiker und Rhetoren Roms (De grammaticis et rhetoribus) voranstellte. Nach antiquarischem Muster wird hier anhand der πρῶτοι εὑρεταί der dreifache Gründungsakt der ars grammatica in Rom nachgezeichnet. Die Übernahme der griechischen Fertigkeiten folgt dabei dem Modell der Klimax: vom „bescheidenen Anfang“ (initium mediocre) unter den „Halbgriechen“ (semigraeci) Livius Andronicus und Ennius (c. 1) über den unfreiwilligen Lehraufenthalt des Krates von Mallos in Rom (c. 2) zur eigentlichen Etablierung der Kunst durch Aelius Stilo und durch dessen Schwiegersohn Servius Clodius (c. 3). Damit war die Gründungsphase der zu Suetons Zeiten längst etablierten Disziplin in ihren Grundzügen nachgezeichnet. Wie jede forschungsgeschichtliche Ursprungserzählung hat auch diese ihre Tücken – nicht nur wegen der fast unvermeidlichen teleologischen Ausrichtung, die antike (und moderne) Literatur- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung zwangsläufig mit sich bringt.167 Auffällige Abweichungen ergeben sich beim Vergleich mit den Fragmenten in Funaiolis Grammaticae Romanae fragmenta (GRF), wodurch die Grenzen der Aussagekraft von Suetons Darstellung der Frühzeit deutlich werden:

Zum einen ist offensichtlich, dass der Biograph – anders als der italienische Philologe – nur die „professionellen“ grammatici im Auge hatte, während er dem praktischen und theoretischen Interesse an sprachphilologischen Fragen, das für viele römische Schriftsteller der Archaik bezeugt ist, keine Beachtung schenkte. Es gab jedoch auch keinen Grund, dies den Lesern mitzuteilen. Die Beschäftigung mit Grammatik und Philologie war zur Zeit Suetons fester Bestandteil der aristokratischen Bildungskultur und daher – aus kaiserzeitlicher Perspektive – für Aristokraten wie den älteren Cato eine Selbstverständlichkeit. Was Sueton interessierte, war nicht die Geschichte der Philologie in Rom, sondern die des Berufsstandes der Grammatiker. Folgerichtig neigt er dazu, das studium grammaticae auf die lehrbezogene Kerntätigkeit (retractare, legere, commentari, vgl. gramm. et rhet. 2.2) zu beschränken, während er die fachwissenschaftliche Publikationstätigkeit der ersten „Grammatiker“ Roms nur beiläufig erwähnt. Doch gerade die von ihm hervorgehobene Beschäftigung mit der römischen Dichtung (Naevius, Ennius, Lucilius) steht in deutlichem Kontrast zu den Fragmenten, die zwar eine Auseinandersetzung mit Plautus und ein Interesse an der Analogie-Anomalie-Problematik erkennen lassen, vor allem aber für eine lexikologisch-etymologische Beschäftigung mit den überlieferten juristischen und religiösen Texten sprechen. Das allein muss noch nicht viel besagen, zumal ein theaterkundliches Übersichtswerk wie die Didascalica des Accius oder die literaturgeschichtlichen Lehrgedichte des Porcius Licinius (FPL Blänsdorf pp. 109–111; vor 100 v. Chr.?) und des Volcacius Sedigitus (De poetis: FPL Blänsdorf pp. 112–114; um 100 v. Chr.?) kaum im luftleeren Raum, sondern wohl auf der Basis eines sich herausbildenden Schulkanons entstanden sind.168 Inwieweit also Semasiologie und Etymologie – gegen Sueton – als epochenspezifisch interpretiert werden können, ist angesichts der Selektionsmechanismen der Überlieferung höchst unklar, auch wenn sie von einer Reihe verschiedener Autoren bezeugt werden.169

Ein weiterer Punkt kommt hinzu: Dass Sueton die Grammatik so ostentativ als griechischen Import (ne in usu quidem olim) herausstellen konnte, der in Rom sehr zögerlich Fuß gefasst habe, war nur deshalb ein kaiserzeitlicher Allgemeinplatz, weil diese Disziplin (neben Philosophie und Rhetorik) zu den wenigen Kulturbereichen gehörte, die außerhalb jenes lebhaften Diskurses standen, den die Römer (und die modernen Latinisten) um die Originalität und Eigenständigkeit der italisch-latinisch-römischen Kulturleistungen gegenüber den übermächtigen griechischen Heuremata führten.170 Ein dominierender Einfluss der pergamenischen Schule des Krates lässt sich jedenfalls in den überlieferten Texten nicht feststellen. Ihr Einfluss auf die römische Philologie muss insgesamt relativiert werden.171 Zwar griffen die Römer in methodischer Hinsicht auf die ihnen zur Verfügung stehenden griechischen Vorbilder zurück; inhaltlich aber galt ihr philologisches Interesse ganz den überlieferten lateinischen Schrifttexten aus den Bereichen der Dichtung und des Rechts. Antiquarisch war diese Arbeit insofern, als es darum ging, die in Phonetik, Morphologie, Semantik und Orthographie wahrnehmbaren Unterschiede zwischen der zeitgenössischen Sprache und den überlieferten Sprachaltertümern zu erklären.

Da sich aufgrund der erwähnten Divergenzen zwischen Suetons Bericht und den Grammaticae Romanae fragmenta kein klares Profil der römischen Grammatik und Philologie im zweiten und frühen ersten Jahrhundert v. Chr. gewinnen lässt, wird die Beurteilung ihres Beitrags zur Herausbildung einer antiquarischen Fachliteratur zusätzlich erschwert. Das alexandrinische Programm einer grammatischen Exegese, die linguistisch-etymologische Sprachforschung explizit mit Realienforschung verbindet (ἱστορικὸν μέρος), ist spätestens bei Varro vorauszusetzen.172 Aber erst in den Kommentarwerken und Lexika der späteren Kaiserzeit zeigt sich die systematische Verbindung von Stilkritik, Sprachlehre, Texterklärung und kulturgeschichtlicher Sammelarbeit in der Weise, wie man sie für die hellenistische Dichterexegese des dritten vorchristlichen Jahrhunderts annimmt.

Zu den Schwierigkeiten der Diachronie kommt hier noch ein konzeptionelles Problem hinzu. Denn obschon Momiglianos „erudizione antiquaria“ spätestens in der römischen Kaiserzeit vornehmlich als Tätigkeitsbereich der Grammatiker aufgefasst wurde,173 sind hier Differenzierungen notwendig. Antiquarianismus im hier verstandenen Sinne einer erklärenden Historisierung der Gegenwart deckt sich nur bedingt mit jenem Bereich der historisch-linguistischen Forschung, der sich mit der Analyse überlieferter Sprachdenkmäler wie etwa der homerischen Hapax legomena oder der carmina Saliorum beschäftigte. Die phänomenologische Feststellung sprachlicher Eigenheiten der vetustas oder die Erklärung altertümlicher Wörter per se sind keine antiquarischen Praktiken, sondern Funktionen einer „Modernisierung“, die die Aktualisierbarkeit überlieferter Texte gewährleisten soll – sei es aus Gründen der bloßen Verständlichkeit, oder sei es zur präskriptiven Vorgabe im Sinne der Förderung einer neuen Normästhetik (so etwa in der Epoche des Archaismus). Zur antiquarischen Tätigkeit im hier verstandenen Sinne wird die Semasiologie aber erst dann, wenn ein gegenwärtiger Interpretationsbezug im Sinne einer etymologischen Ableitung, eines sprachgeschichtlichen Vergleichs, einer kulturgeschichtlichen Kontrastierung o. ä. hergestellt wird, oder anders ausgedrückt, wenn ein bestimmtes Sprachrelikt explizit als Monument der Distanzerfahrung ins Bewusstsein gehoben und die dahinter stehende Kausalität im Bezug auf die Gegenwart aufgedeckt wird.174 Für uns stellt sich daher im Folgenden die Frage, inwieweit Antiquarianismus überhaupt als immanenter Bestandteil des fachwissenschaftlichen grammatischen Diskurses175 der archaischen Epoche aufzufassen ist und, wenn ja, inwieweit daraus eine Verselbständigung in der Form antiquarischer Fachschriften resultierte.

Für die Frühzeit der grammatisch-philologischen Forschung in Rom in mehrfacher Hinsicht repräsentativ ist L. Aelius (Stilo Praeconicus,176 um 150?–nach 91 v. Chr.), den Varro und Cicero als ihren „Lehrer“ beschreiben (Brut. 205 und 207).177 Von seinen offenbar zahlreichen Werken sind nur verstreute Fragmente erhalten. Dabei handelt es sich vor allem um Etymologien und Worterklärungen (GRF pp. 57–76). Mit ihrem Titel sind eine interpretatio (oder explanatio: Fest. p. 124, 10 Lindsay) carminum Saliorum (Varro ling. 7.2) sowie ein commentarius de proloquiis (Gell. 16.8.2) belegt. Das letztgenannte Werk war den dialektischen Aussagesätzen gewidmet und zeigt damit, wie ausdifferenziert die fachwissenschaftliche Publikationstätigkeit der Grammatik stoischer Prägung in Rom bereits war, auch wenn die Schrift den Ansprüchen eines hochkaiserzeitlichen Intellektuellen wie Gellius offensichtlich nicht mehr genügte (Gell. 16.8.3): Sed in eo nihil edocenter neque ad instituendum explanate scriptum est, fecisseque videtur eum librum Aelius sui magis admonendi, quam aliorum docendi gratia („Doch findet sich darin keine ausführliche Erläuterung, und das Werk ist auch nicht als klar verständliches Lehrbuch verfasst. Aelius scheint es mehr als Gedächtnisstütze für sich selbst geschrieben zu haben, als um andere zu belehren.“).178 Aelius scheint auch einen Index der „echten“ Komödien des Plautus verfasst zu haben (Gell. 3.3.1) – ein Thema, das die Literaturkritik der Zeit beschäftigte und ebenfalls Rückschlüsse auf den Professionalisierungsgrad der römischen Grammatik zu Beginn des 1. Jahrhunderts zulässt.179 Es ist unklar, ob die zahlreichen von ihm überlieferten Glossen, unter anderem zum Zwölftafelgesetz (frgg. 6; 13; 36; 41 GRF pp. 59–67 und weitere Dubia) und zu zwei Komödien des Plautus (frgg. 18; 44 GRF pp. 62 und 69), jeweils eigenständigen Spezialschriften (commentarii?) oder einem umfangreichen (nach Sachgruppen unterteilten?) Wörterbuch entstammen. Nicht alle von Funaioli gesammelten Fragmente sind eindeutig diesem Autor zuzuordnen.180 Allzu selbstverständlich werden ihm auch jene Passagen zugeschrieben, die Varro vielleicht aus dem Gedächtnis (oder aus einer persönlichen Mitschrift?) in seine eigenen Werke übernommen hat. So findet sich in De lingua Latina mehrfach die Formel Aelius dicebat (5.66; 5.101; 6.7) neben Aelius scribit (5.18; 5.21; 5.25). Die Frage des Überlieferungsmodus stellt sich auch für den Bericht des Aelius über die angebliche Selbstbeschreibung des Ennius in ann. 268–286 Skutsch, die Gellius wahrscheinlich von Varro übernommen hat (Gell. 12.4.5): L. Aelium Stilonem dicere solitum ferunt Q. Ennium de semet ipso haec scripsisse („Man berichtet, L. Aelius Stilo soll wiederholt erklärt haben, Q. Ennius habe diese Verse über sich selbst geschrieben.“).181

Aus den erhaltenen Zeugnissen geht jedoch hinreichend hervor, dass die Forschungen des Aelius, die Cicero im Jahr 91 v. Chr. – dem fiktiven Datum von De oratore – als allgemein bekannt voraussetzt (haec Aeliana [cod. aliena] studia: de orat. 1.193), in erster Linie der Erhellung der antiquitas dienten. Die Stelle steht im Zusammenhang mit Crassus’ Erörterung des Mehrwerts des Rechtsstudiums, der unter anderem darin bestehe, dass man durch das Studium der vorväterlichen Rechtssätze Einblick in die wahre Bedeutung der archaischen Wörter und Ausdrücke sowie in die Sitten und Lebensgewohnheiten der Vorzeit erhalte.182 Dass Crassus hier seinen Zeitgenossen Aelius Stilo als Vorbild anführt, entspricht Ciceros Profilierung des Gelehrten im Brutus, in welchem er ihn explizit als Altertumswissenschaftler charakterisiert (Brut. 205): eruditissimus et Graecis litteris et Latinis, antiquitatisque nostrae et in inventis rebus et in actis scriptorumque veterum litterate peritus („In der griechischen wie lateinischen Literatur bestens bewandert, wissenschaftlich auch mit unserer Vergangenheit vertraut, sowohl was die Einführung neuer Einrichtungen und die Ereignisse als auch die antiken Autoren betrifft.“). Expertise in der Ereignisgeschichte, den Heuremata und der alten Literatur ist also das Profil, das Cicero von seinem ehemaligen Lehrer zeichnet. Das pointierte Bild, das er von Aelius entwirft, ist in der Tendenz sicherlich einseitig – an zwei der drei Stellen (de orat. 1.193; ac. 1.8; Brut. 20) richtet sich der Blick auf Varro, den Cicero hier auf der Folie des gemeinsamen Lehrers konturiert (und damit dezidiert von sich selbst abgrenzt). So fehlt etwa der Hinweis auf seine Lehr- und Forschungstätigkeit im synchronen Bereich der Grammatik, die neben der erwähnten Schrift zu den proloquia auch von Sueton implizit bestätigt wird (gramm. et rhet. 3.1): instruxerunt auxeruntque ab omni parte grammaticam L. Aelius Lanuvius generque Ael. Serv. Clodius („L. Aelius Lanuvius und sein Schwiegersohn Ael. Servius Clodius vermittelten und erweiterten die Grammatik in allen ihren Teilen.“). Dennoch ist die prägende Rolle des Aelius für die varronische Altertumskunde kaum zu bezweifeln.183 Seine Bedeutung dürfte vor allem darin liegen, dass er es war, der Varro (und Cicero) in die griechische Sprachwissenschaft stoischer Prägung sowie in die antiquarische Ursprungsforschung, insbesondere in die diesbezügliche Analyse der römischen Rechtstradition, einführte. Inwieweit die römische Grammatik die Impulse zu solchen Studien aus der facheigenen (das heißt hellenistischen) Tradition oder aus den fachfremden Diskursen der (römischen) Jurisprudenz und Geschichtsschreibung erhielt, lässt sich nicht mehr feststellen. Die wissenschaftliche Etymologie der Stoa war jedenfalls schon damals ein aktives Forschungsfeld, wie der von Varro als Autorität zitierte Grammatiker Q. Cosconius (ling. 6.36) zeigt, der sich eingehend mit den Wortwurzeln (primigenia verborum) beschäftigte.184 Ohne erkennbare Relevanz ist daher die Frage, ob Aelius Stilo der erste war, der stoische ἔτυμα-Forschung und genuin römische Altertumskunde pragmatisch mit dem Metier des „Grammatikers“ verband. Aus dem bisher Dargelegten wird deutlich, dass er einem intellektuellen Milieu angehörte, das sich aus verschiedenen Blickwinkeln für die causae und origines der erfahrbaren Welt interessierte und bereit war, dieses Interesse als Wissen in schriftlicher Form festzuhalten.

Eine schwer zu würdigende Rolle spielte in dieser Formierungsphase ein anderer et Graecis litteris et Latinis gebildeter römischer Philologe, der einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die philologisch-antiquarische Forschung der nachfolgenden Generation ausgeübt zu haben scheint.185 Der Latiner Q. Valerius Soranus („von Sora“) gewinnt erst durch die Kombination mehrerer Testimonien an Kontur (GRF pp. 77–78; FPL Blänsdorf pp. 115–118).186 Er war nach Cicero hochgebildet (litteratissimum togatorum omnium: de orat. 3.43) und beschäftigte sich offenbar vor allem mit literaturgeschichtlichen (frg. 1) und semasiologisch-etymologischen Fragen (frg. 3; 6). Mit Titel sind nur die rätselhaften libri Ἐποπτίδων belegt, möglicherweise ein (prosi-?)metrisches Werk, dem – angeblich erstmals in der römischen Literatur – ein Inhaltsverzeichnis vorangestellt war (frg. 4 = Plin. nat. praef. 33: hoc ante me fecit in litteris nostris Valerius Soranus [„vor mir hat dies in der lateinischen Literatur Valerius Soranus getan“]; siehe dazu oben S. 150). Ob der Titel die literarische Form oder den Inhalt des Werkes oder einzelner Bücher bezeichnen sollte, ist Gegenstand von Spekulationen.187 Man hat die Schrift mit zwei von Augustinus aus Varros Logistoricus Curio de cultu deorum (= frg. 2 Cardauns) zitierten Versen des Valerius Soranus in Verbindung gebracht, die (in Gebetsform?) in orphisch-pythagoreischer Manier vom männlich-weiblichen Jupiter als schöpferischem Prinzip handeln,188 und daraus auf ein naturphilosophisches Lehrgedicht stoisch-pantheistischer Prägung (in der Nachfolge der Theologie Apollodors) schließen wollen; doch fehlen trotz der scharfsinnigen Beweisführung Köves-Zulaufs für eine solche Rekonstruktion (und für die Zuordnung zu den Ἐπόπτιδες) letztlich die einschlägigen Belege.189

In der neueren religionsgeschichtlichen Spezialforschung hat ein religiöser Tabubruch des Valerius Soranus größere Beachtung gefunden, der nach den antiken Quellen von der Nachwelt mit seinem gewaltsamen Tod in Verbindung gebracht wurde.190 Die Anekdote wird in zwei Versionen erzählt, einer magischen und einer religiösen: Nach der magischen Version – die offenbar von Varro überliefert wurde – hat Valerius den geheimen Namen der Stadt Rom verraten; nach der religiösen Version – die mit Verrius Flaccus in Verbindung gebracht werden kann – den der Schutzgottheit (tutela) Roms, der geheim bleiben musste, um eine feindliche evocatio zu verhindern.191 Vor diesem Hintergrund gewinnt die These von Köves-Zulauf an Evidenz, dass es sich bei den Ἐπόπτιδες um eine Abhandlung der „Schutzgottheiten“ (italischer/latinischer?) Städte gehandelt haben könnte, insofern man ἐπόπτις (von ἐποπτεύειν [„genau betrachten; beaufsichtigen“]) als griechische Wendung von tutela (von tueri [„beschauen; beschützen“]) versteht.192 Die Quellen geben nur einen ausschnitthaften Einblick in einen offenbar breit geführten Diskurs über geheime Städtenamen, Schutzgottheiten und antike evocatio-Rituale, in dem die Valerius-Episode vor allem anekdotische Funktion gehabt zu haben scheint.193 Zudem wurden im Zuge der Kompilationstätigkeit offensichtlich divergierende Wissensbestände, die in unterschiedlichen Kontexten und mit unterschiedlichen Fragestellungen gewonnen worden waren, unglücklich vermischt und durch eigene Schlussfolgerungen ergänzt. Auf eine solche Kontamination der Überlieferung und die daraus resultierenden Missverständnisse könnten auch die alternativen Berichte über die Todesumstände des Valerius zurückzuführen sein.194 Das Beispiel illustriert jedenfalls einmal mehr die indizienbasierte Rekonstruktionsmethode der antiquarischen Zeichenarchäologie, die zumindest bis zur augusteischen Blütezeit Schriftzeugnisse und Objekte der Sachkultur gleichermaßen berücksichtigte.195

Es fehlt das Material, um dem beschriebenen Milieu aus der Perspektive der Grammatik weitere Konturen zu verleihen. Aelius’ Schwiegersohn, Servius Clodius, scheint sich vornehmlich auf Plautus spezialisiert zu haben.196 Auch die beiden ersten professionellen Grammatiker (clari professores) der Frühzeit, Saevius Nicanor und Aurelius Opillus, die Sueton im Anschluss behandelt (gramm. et rhet. 5–6), bieten keinen brauchbaren Ansatzpunkt. Von Nicanor ist nur das Wenige bekannt, das der Biograph über ihn sagt. Opillus schrieb variae eruditionis aliquot volumina, aber nur eine Handvoll Etymologien und Worterklärungen sind aus Exzerpten bei Varro und Festus erhalten (GRF pp. 86–95).

Bezeichnend für den literarischen Horizont der Zeit ist der von Gellius (1.25.17) erwähnte Titel einer (Miszellan-)Schrift, libri Musarum, die Opillus offenbar in Smyrna verfasst hatte, wohin er P. Rutilius Rufus ins Exil gefolgt war (um 94 v. Chr.). Sueton vermerkt eigens die Begründung, die der Autor (wohl im Proömium: vgl. Gell. praef. 4–9) für den Titel des Werkes gegeben hatte; demnach traten Musen und Schriftsteller in eine Art römisches Patronatsverhältnis.197 Da das einzige eindeutig identifizierbare Fragment des Werkes eine Etymologie enthält, wird vermutet, dass auch die zwei Dutzend Fragmente incertae sedis daraus stammen. Aber auch ein glossographisches Werk ist denkbar. Opillus hat nachweislich Wörter aus dem Carmen Saliare erklärt, was einen eigenen Kommentar nicht ausschließt (Fest. p. 492, 18–19 Lindsay = frg. 19 GRF p. 92: „tanne“ eo usque, ut Aelius Stilo et Opillus Aurelius interpretantur [„tanne bedeutet ‚bis zu dem Punkt‘, wie Aelius Stilo und Aurelius Opillus erklären.“]). Eine besondere antiquarische Akzentuierung ist daraus jedoch nicht abzuleiten.

Ein Thema, das im Grammatikunterricht nur beiläufig behandelt wurde, war die Frage nach dem Ursprung und der Entstehung des lateinischen Alphabets.198 Die Auseinandersetzung mit den repertores litterarum gehörte zum Stoffbereich der älteren Annalistik (Fabius Pictor: FRHist 1 F27; L. Cincius Alimentus: FRHist 2 F9; Fabius Maximus Servilianus: FRHist 8 F5; Cn. Gellius: FRHist 14 F12b); der genaue Zusammenhang der Einbettung ist jedoch nicht mehr nachvollziehbar. Es ist daher kaum verwunderlich, dass das Thema schon relativ früh zum Gegenstand antiquarischer Monographien wurde. Ob Varros Jugendschrift De antiquitate litterarum, die er vermutlich dem Tragödiendichter L. Accius (gest. um 84 v. Chr.) gewidmet hatte, die erste römische Schrift dieser Art war, ist unklar, jedenfalls gehört sie zeitlich noch in die hier behandelte Epoche.199 Das Werk war nach dem einzigen Fragment, das den Titel erwähnt (Prisc. inst. 1.7 GL 2, 8, 2) keine Monobiblos, sondern umfasste mindestens zwei Bücher.200 Inhalt und antiquarische Ausrichtung sind trotz der spärlichen Zeugnisse relativ gut erkennbar (Pomp. comm. GL 5, 98, 20–25 und 108, 10–14): Behandelt wurde (1) cur tot sint („warum es so viele gibt“), (2) quare eo ordine positae („warum sie in dieser Ordnung stehen“) und (3) quare isdem nominibus vocentur („warum sie so heißen“),201 also die Frage nach den historischen Kausalitäten. Das Wissen über die Erfinder war griechisch; entsprechende Einflüsse hellenistischer Fachliteratur sind schon für die Annalisten anzunehmen.202 Es ging um die „Gestalt und Namen der einzelnen Buchstaben“ (formae et singularum nomina litterarum), die Varro auf die Chaldäer zurückführte; ferner um die Zahl der Buchstaben, zunächst sechzehn – so viele brachte Kadmos aus Phönizien nach Griechenland (Cn. Gellius: FRHist 14 F12a–c). Dann seien im Laufe der Entwicklung weitere hinzugekommen, bis es schließlich dreiundzwanzig waren. Auch wenn Pompeius wohl nicht direkt aus De antiquitatibus litterarum zitierte, sondern aus einer Zwischenquelle, so ist doch davon auszugehen, dass auch Varro der Ansicht war, die Kenntnis der Buchstaben sei durch die Nymphe Carmentis, die Mutter des Arkadiers Euander, nach Italien gelangt:

Constat apud omnes Carmentem nympham illam, Euandri matrem, quae Nicostrata dicebatur, Latinas litteras invenisse. Ipsa primum transtulit in Italiam Latinas litteras.

Alle Autoren stimmen darin überein, dass die Nymphe Carmentis, die Mutter des Euander, Nicostrata genannt, die Erfinderin der lateinischen Schrift war. Sie brachte die lateinische Schrift erstmals nach Italien.

Pomp. comm. GL 5, 98, 10–12

Die weitere Behandlung des Stoffes ist unklar: Caesar hat sich in De analogia darüber geäußert.203 Das Thema de litteris wird später in der kaiserzeitlichen Schulgrammatik systematisch als Teil der Lautlehre behandelt. Schriftgeschichtliche Heuremata (litterarum inventores) kommen dort vor oder nach der Definition der Buchstaben summarisch zur Sprache.204 Eine monographische Abhandlung zum Thema ist erst wieder für Kaiser Claudius bezeugt (siehe dazu unten S. 433–438).

6.1.4 Zusammenfassung

Eine erste formative Phase in der literaturgeschichtlichen Entwicklung der antiquarischen Schriftstellerei Roms fällt in das zweite und frühe erste Jahrhundert v. Chr., als sich innerhalb der historisch orientierten Wissensgebiete der Grammatik und der Rechtskunde aus pragmatischen Gründen allmählich eine literarische Verselbständigung antiquarischer Wissensbestände zu vollziehen begann. Diese Periode der Spezialisierung ist durch die systematische monographische Fixierung eines gegenwartsorientierten, in seiner Funktion erklärenden Vergangenheitswissens gekennzeichnet, das zwar in den sich gleichzeitig entwickelnden Literaturgattungen der Epik und der Geschichtsschreibung seit den Anfängen im dritten vorchristlichen Jahrhundert fest verankert war, hier aber, soweit ersichtlich, keine selbständige Verschriftlichung erfuhr. Zwar gibt es Hinweise auf antiquarische Akzentuierungen, sowohl in der Gesamtgeschichte als auch in der historischen Monographie (etwa Postumius’ De adventu Aeneae), doch lässt der fragmentarische Überlieferungszustand keine verlässlichen Schlüsse zu. Nur im Drama ist die Existenz antiquarisch ausgerichteter Stücke mit großer Wahrscheinlichkeit gesichert. Dennoch scheint die literaturgeschichtliche Entwicklung des römischen Antiquarianismus bis in die nachsullanische Zeit weitestgehend in den Bahnen fachwissenschaftlicher Diskurse verlaufen zu sein.

Bei der Rekonstruktion und Analyse der Inhalte, der literarischen Formate und der wissenschaftlichen Methoden, in denen sich Antiquarianismus monographisch manifestierte, können oft nur Vermutungen angestellt werden. Es ist davon auszugehen, dass die einzelnen Abhandlungen hinsichtlich Form und Systematik vorerst in einem experimentellen Status verblieben sind. Einflüsse der hellenistischen Wissenschaft und Philosophie sind zu erwarten, im Detail aber nicht nachweisbar. Methodisch war die römische Altertumskunde, so wie sie sich um die Mitte des zweiten Jahrhunderts bei Cato darstellte, in ihrer gelehrten Verbindung von etymologischen Ableitungen, aitiologischen Legenden, genealogischen Konstruktionen und ortskundiger Autopsie im Kern praktisch bereits auf dem späteren Stand Varros. Dennoch ist im ersten vorchristlichen Jahrhundert methodisch mit einem weiteren Professionalisierungsschub zu rechnen, möglicherweise unter dem zunehmenden Einfluss griechischer Spezialliteratur.

Trotz ihres immanenten Gegenwartsbezugs war die römische Jurisprudenz – schon aufgrund ihrer starken Traditionsgebundenheit – auf die Erörterung und Erklärung der Vergangenheit angelegt. Die antiquarische Arbeit schlug sich hier zunächst in glossographischen Studien nieder, die vielleicht noch vor der Wende zum ersten vorchristlichen Jahrhundert zur Entstehung etymologischer Fachwörterbücher führten. Die der römischen Rechtsauffassung eigene historische Tiefenebene scheint darüber hinaus in der Verschriftlichung sakraler und verfassungsrechtlicher Institute eine besondere Relevanz besessen zu haben. Die beiden Rechtsinstanzen der Religion und der Staatsinstitutionen, die als Fundamente des römischen Staatswesens zu allen Zeiten eine antiquarische Ursprungsforschung herausforderten, wurden vielleicht schon um die Mitte des zweiten Jahrhunderts in antiquarisch ausgerichteten juristischen Spezialabhandlungen systematisch besprochen. Im Detail sind die Schriften nicht mehr rekonstruierbar und die Durchsicht der überkommenen Zeugnisse führt zu keinen eindeutigen Ergebnissen. Während in den staatsrechtlichen Abhandlungen der Gracchenzeit die Systematisierung der juristischen Zeichenarchäologie offenbar schon weitgehend ausgebildet war, lassen die pontifikalrechtlichen Schriften des zweiten Jahrhunderts in der überlieferten Gestalt keine antiquarische Akzentuierung erkennen. Diese auffällige Divergenz dürfte eine Folge unterschiedlicher literarischer Gebrauchszusammenhänge sein: Die frühen pontifikalrechtlichen Monographien scheinen als praktisch-instruktive Funktionsliteratur der traditionsverfestigenden Verstetigung eines religiösen Handlungswissens gedient zu haben, während die staatsrechtlichen Traktate de magistratibus oder de potestate systematische Abhandlungen waren, die in einer Zeit innenpolitischer Spannungen durch Rückgriff auf fundierenden Ursprünge politisch verwertbares Wissen bereitstellten.

Weitgehend im Bereich des Spekulativen verbleibt die Rekonstruktion der römischen Sprachforschung und Grammatik des zweiten und frühen ersten Jahrhunderts. Es ist mit einiger Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Altertumskunde – wie in der maßgeblichen hellenistischen Philologie – ein natürlicher Bestandteil der lexikologischen und realienphilologischen Kompilationstätigkeit war und dass spätestens nach der Wende zum ersten Jahrhundert die Ergebnisse dieser etymologisch-aitiologischen Forschungen in gesonderten Schriften niedergelegt wurden. Die einzige mit Titel eindeutig bestimmbare antiquarische Monographie dieses Wissensbereichs ist Varros Jugendschrift De antiquitate litterarum.

6.2 Das erste Jahrhundert v. Chr.: Diversifikation und Synthesebildung

Mit der Generation nach Iunius Gracchanus, Sempronius Tuditanus und Aelius Stilo tritt die Literaturgeschichte des römischen Antiquarianismus in eine neue Phase.205 Im Vergleich zur vorhergehenden Epoche stellt sich die Überlieferungssituation im Detail freilich nur unwesentlich besser dar. Von der antiquarischen Fachliteratur sind mit Ausnahme von Varros Antiquitates und Verrius Flaccus’ De verborum significatu nur Werktitel und wenige Fragmente und Testimonien erhalten, sodass auch die folgende Darstellung nur selten über begründete Vermutungen hinausgehen wird. Neben der Willkür der Testimonien erweisen sich vor allem die notorisch ungenauen Quellenangaben der zitierenden Instanzen als Herausforderung, etwa wenn der ältere Plinius im Heuremata-Abschnitt des siebten Buches seiner Naturalis Historia auf Fabius Vestalis als Gewährsmann für die Aufstellung der ersten Sonnenuhr in Rom verweist, ohne diese Quelle näher zu spezifizieren.206 Da aber die letzten zwei Drittel des ersten Jahrhunderts zu den am besten bezeugten Zeiträumen des Altertums überhaupt gehören, gewinnen wir von der geistigen Kultur dieser Zeit insgesamt ein weit komplexeres Bild, als dies für die Archaik möglich war. Damit sind wir erstmals in der Lage, neben einzelnen Autoren auch die Wirkungs- und Deutungszusammenhänge antiquarischer Schriftstellerei ansatzweise zu rekonstruieren.

Die kulturelle Blütezeit der Klassik ist für die Geschichte des römischen Antiquarianismus nicht in erster Linie durch methodisch-konzeptionelle und literarisch-kreative Innovationen in der Produktion und monographischen Präsentation antiquarischer Wissensbestände bedeutsam. Zwar zeichnet sich die Literatur der Archaik anders als die der Klassik weder durch eine ausgefeilte Fachprosa noch durch eine rationalisierte Wissenssystematik aus. Dennoch trug diese Epoche bereits wesentliche Strukturen der späteren Entwicklung in sich. Als entscheidendes Charakteristikum des ersten vorchristlichen Jahrhunderts erscheint daher der hohe Spezialisierungsgrad, in dem das thematische Spektrum der Ursprungsforschung, das die ältere Annalistik zumeist noch exkursartig in eine chronologische Geschichtserzählung eingebunden hatte, nun zunehmend in monographischem Zugriff abgehandelt wurde – eine Entwicklung, die sich etwa im Werk des L. Cincius und des Valerius Soranus bereits angekündigt hatte (siehe oben S. 249–253 und 261–263). Auf der Grundlage dieser dynamischen Ausdifferenzierung entstanden seit der Jahrhundertmitte die ersten großen Synthesewerke, die in „enzyklopädischer“ Manier das Panorama der römischen Ursprungsforschung thematisch zusammenführten (siehe unten Kap. 6.2.2.). Für die antiquarische Literatur der Kaiserzeit hatte diese Entwicklung insofern weitreichende Konsequenzen, als nun die Gelehrten auf die immense Textbasis ihrer Vorgänger zurückgreifen konnten, um das gesammelte Wissen kritisch zu bewerten und den gewandelten Lesehaltungen und Publikumsinteressen anzupassen. Die Wissensgenese fand aufgrund der schieren Fülle des gelehrten Schrifttums zunehmend innerhalb eines rein textbasierten wissenschaftlichen Diskurses statt (siehe dazu unten Kap. 6.3.2.).

6.2.1 Monographische Diversifikation und literarische Ausgestaltung

Die Ausdifferenzierung der antiquarischen Literatur scheint sich im ersten Jahrhundert im Wesentlichen innerhalb der etablierten juristischen und grammatisch-philologischen Diskurse vollzogen zu haben, wobei Konvergenzen zwischen den beiden Bereichen wie schon zuvor üblich waren.207 Die disziplinäre Zugehörigkeit der bezeugten Werke und Autoren ist daher nicht immer leicht zu bestimmen. Die Textform des Fachtraktats blieb, soweit ersichtlich, die bevorzugte Form der Monographisierung, doch wurde auch mit anderen literarischen Darstellungsformen experimentiert. Aufgrund dieser Ausgangslage hat sich für den folgenden Überblick eine thematische Gliederung als sinnvoller erwiesen als eine chronologische oder eine autorenorientierte. Dies hat allerdings zur Folge, dass einige Autoren an mehreren Stellen behandelt werden. Die Darstellung folgt dabei derselben Typologie, wie sie oben (Kap. 4.1.) festgelegt wurde: 1. Rechtsinstitute (unterteilt in 1.1. Staatsinstitute und 1.2. Sakralinstitute); 2. Sprachaitiologie; 3. Lokalaitiologie; 4. Genealogie und Volksgenese; 5. Kalenderforschung; 6. Kulturaitiologische und heurematologische Sammlungen. Diese primär titelbezogene Einteilung deckt sich nur teilweise mit der aus Varros Antiquitates bekannten Quadripartition (corpora, loca, tempora und res vel actiones). Dieses Ordnungsschema, das auch De lingua Latina und anderen varronischen Werken zugrunde liegt,208 ist kein Abbild der Systematik antiquarischer Fachschriften, sondern folgt offensichtlich dem eigentümlichen Programm varronischer Kategorienbildung (ling. 5.12): Quare fit, ut ideo fere omnia sint quadripertita („So kommt es, dass daher fast alle Dinge in vier Teile unterteilt sind.“). Ritschls These, dass sich die varronischen Spezialschriften an der Gliederung der Antiquitates orientierten, ist eine unbegründete Spekulation.209

6.2.1.1 Rechtsinstitute

6.2.1.1.1 Staatsinstitute

Die römische Rechtsliteratur des ersten Jahrhunderts hat im Anschluss an Mucius Scaevola die von ihm angestoßene logische Systematisierung der Rechtsmaterie durch Einteilungen (partitiones) und Begriffsbestimmungen (definitiones) weitergeführt und dogmatisch verfestigt.210 Das ius publicum wurde in diesen schnell fortschreitenden Ausbauprozess offenbar nur bedingt einbezogen. Vor allem im Hinblick auf das Verfassungsrecht, das ja de facto im ungeschriebenen mos maiorum aufgehoben war, scheint das juristische Interesse rückläufig gewesen sein; jedenfalls finden sich für diesen Sachbereich – anders als für das Sakralrecht (siehe unten S. 286–301) – kaum Hinweise auf eine wissenschaftliche Disziplinierung.211 Da dieser Befund im Widerspruch zu der eminent politischen Bedeutung dieses Handlungswissens zu stehen scheint, hat die moderne Forschung „antiquarische Experten“ ins Spiel gebracht, die das nötige Fachwissen auf diesem Gebiet bereitgestellt hätten.212 Dies schließt allerdings Prozeduralregeln und Rechtsformeln für den magistratischen Gebrauch von vornherein aus, da Amtsbücher solcher Art für das erste Jahrhundert gut belegt sind und sicher bis ins zweite Jahrhundert zurückreichen.213 Die Überlieferungslage lässt vieles offen, wie auch die von Varro (ling. 6.89) zitierten Actiones des Cosconius verdeutlichen, denen er Informationen über den accensus der Praetoren entnommen hat.214 Ein ähnliches, praxisorientiertes Handlungswissen dürfte der vetus commentarius anquisitionis des Quaestors M. Sergius enthalten haben, aus dem Varro die anlässlich eines Strafprozesses an jenen ergangenen Weisungen im Wortlaut zitiert.215 Immerhin haben sich von einer Handvoll Autoren einschlägige Werktitel und einige spärliche Fragmente erhalten, die auf eine gewisse publizistische Kontinuität in diesem Bereich hinweisen.216 Eine antiquarische Fragestellung und Zielsetzung ist dabei allerdings nur vereinzelt erkennbar. Dafür kommt, wie noch darzulegen ist, der praktische Aspekt der Kodifizierung eines anwendungsorientierten Funktionswissens umso deutlicher zum Tragen. Vereinzelte Zeugnisse lassen jedoch darauf schließen, dass die großen Rechtsgelehrten des ersten Jahrhunderts der antiquarischen Ursprungsforschung nicht abgeneigt waren. Es genügt an dieser Stelle, auf Alfenus Varus und Antistius Labeo zu verweisen.217

Die früheste gesicherte, thematisch einschlägige Schrift in der hier untersuchten Epoche ist der Εἰσαγωγικός de officio senatus habendi, den Varro im Jahr 70 v. Chr. für den designierten Konsul Pompeius als praxisorientierten magistratischen Leitfaden verfasst hatte (Gell. 14.7.2): ex quo disceret quid facere dicereque deberet cum senatum consuleret („aus dem er erfahren konnte, was er tun und sagen müsse, wenn er einmal den Senat befragen sollte.“).218 Die Tatsache, dass der „in städtischen Dingen unerfahrene“ (rerum expers urbanarum) Militär Pompeius, den mit ihm befreundeten Gelehrten um eine solche Schrift bat (Gell. 14.7.2: familiarem suum rogavit, ut commentarium faceret εἰσαγωγικόν), deutet darauf hin, dass es derartige Erläuterungen, zumindest in allgemein zugänglicher Form, bis dahin nicht gegeben hatte. Varro war bereits einige Jahre früher – vermutlich vor dem Krieg gegen Sertorius in Spanien – dem Feldherr mit einer nautisch-meteorologisch-parapegmatischen Fachschrift (Ephemeris navalis) beratend zur Seite gestanden.219 Gellius’ Referat des Inhalts des Εἰσαγωγικός spiegelt die klare Systematik des Traktats (liber commentarius) wider (14.7.4–11): (1) Die Ämter, die nach altem Brauch das Recht hatten, eine Senatsversammlung einzuberufen (zunächst in hierarchischer Reihenfolge die ordentlichen Ämter: Diktator, Konsuln, Prätoren, Volkstribune, Interrex und Stadtpräfekt; dann die extraordinären Ämter: Militärtribune mit konsularischer Gewalt, decemviri, triumviri reipublicae constituendae); (2) das Interzessionsrecht; (3) der Ort eines rechtmäßigen Senatsbeschlusses (das heißt: das von den Auguren bestimmte templum); (4) der Zeitpunkt eines rechtmäßigen Senatsbeschlusses (nicht vor Sonnenaufgang und nicht nach Sonnenuntergang); (5) Regeln zur Versammlung des Senats; (6) Abstrafungsmöglichkeiten fernbleibender Senatoren; (7) „Und noch weiteres dieser Art“ (Haec et alia quaedam id genus). Nicht unproblematisch erscheint, dass Gellius die referierte Inhaltsangabe nicht dem Traktat selbst, sondern dem vierten Buch der Epistolicae quaestiones entnommen hat, in dem Varro im Brief an Oppianus den Verlust des Εἰσαγωγικός erwähnt und dessen Inhalte rekapituliert hatte (Gell. 14.7.3).220 Die näheren Umstände des Verlustes sind ebenso unklar wie die Art und Weise, wie Varro den Εἰσαγωγικός (aus dem Gedächtnis?) rekapituliert hatte, sowohl was den Inhalt als auch was die Ausführlichkeit betrifft (summarisch oder erneut in umfassender traktathafter Form? Vgl. Gell. 14.7.3: docet rursum multa („er zeigt erneut ausführlich auf“)). Gewisse Anpassungen dürften allein schon infolge des Gattungswechsels notwendig geworden sein. Vor diesem Hintergrund können auch über die Art und den Detaillierungsgrad der gellianischen Exzerpte nur Vermutungen angestellt werden. Deutlich wird zumindest, dass Varro seine Unterweisungen offenbar den seit der ersten Niederschrift veränderten politischen Umständen angepasst hatte, indem er eine neue Sitte (mos) integrierte, die „aus Ehrsucht und Gefälligkeit“ (per ambitionem gratiamque) eingeführt worden sei (Gell. 14.7.9).221 Es ist durchaus denkbar, dass Varro das handlungsleitende Funktionswissen, das möglicherweise auch rechtliche Formeln umfasste,222 mit gelehrten antiquarischen Erläuterungen in der Art versehen hatte, wie sie in Lydos’ De magistratibus versammelt sind, diese causae dann aber im Lehrbrief an Oppianus ausklammerte. Hinweise auf den mos maiorum und die überkommene Tradition (fieri solere) sind im gellianischem Exzerpt noch erkennbar. Möglich wäre auch die Alternative, dass Gellius in seiner Synthese antiquarische Wissensbestände konsequent ausgespart hat. Mit der isagogischen Ausrichtung der Schrift wäre die antiquarische Exegese römischer Staatsinstitute durchaus zu vereinbaren. Das Wissen um die Ursprünge der hierarchischen Gliederung der Obermagistraturen, um die Genese der Amtskompetenzen und um die Gründe für die sakralen Vorschriften zur Einberufung einer Senatsversammlung und zur Verabschiedung von Beschlüssen war, wie schon unter den Gracchen, auch im nachsullanischen Rom ein politisch nutzbares Wissen, das im inneraristokratischen Machtkampf als Argumentationshilfe dienen konnte.

Gellius beschließt das Kapitel mit der Richtigstellung eines von Varro behandelten Details, was zugleich illustriert, dass das Thema auch im juristischen Fachdiskurs des späteren ersten Jahrhunderts v. Chr. noch eine gewisse Relevanz besaß:

Sed quod ait [sc. Varro] senatusconsultum duobus modis fieri solere, aut conquisitis sententiis aut per discessionem, parum convenire videtur cum eo quod Ateius Capito in coniectaneis scriptum reliquit. Nam in libro con. IIII [coni. Strzelecki; CCLVIIII codd.] Tuberonem dicere ait nullum senatusconsultum fieri posse non discessione facta, quia in omnibus senatusconsultis, etiam in iis quae per relationem fierent, discessio esset necessaria, idque ipse Capito verum esse adfirmat.

Wenn Varro aber sagt, ein Senatsbeschluss pflege auf zweierlei Weise zustande zu kommen, entweder durch Einholung von Meinungen oder durch eine discessio [das Hintreten auf eine Seite], so scheint er wenig mit dem übereinzustimmen, was Ateius Capito in den Anmerkungen hinterlassen hat. Denn im 4. Buch teilt er mit, Tubero erwähne, ein Senatsbeschluss könne ohne erfolgte discessio nicht zustande kommen, da die discessio bei allen Senatsbeschlüssen erforderlich sei, auch bei denen, die auf Antrag gefasst würden; Capito selbst bekräftigt das als zutreffend.

Gell. 14.7.12–13

Der einflussreiche augusteische Jurist C. Ateius Capito (cos. suff. 5 v. Chr., gest. 22. n. Chr.) hatte also in seinem Sammelwerk, den Coniectanea (siehe dazu unten S. 276), unter Berufung auf die Meinung des Q. Aelius Tubero für jeden Senatsbeschluss eine discessio als rechtlich notwendige Vorbedingung angesehen. Ein direkter Bezug auf Varro ist aufgrund von Gellius’ Formulierung unwahrscheinlich (parum convenire videtur). Es war offenbar Gellius, der durch seine Quellenstudien den Widerspruch aufgedeckt hatte. Im folgenden Kapitel (14.8) widmet sich Gellius dann unter Berufung auf dieselben Autoritäten einem sachlich eng verwandten Detail des öffentlichen Rechts, dem ius senatus convocandi consulendique. Er berichtet von einem Meinungsstreit zwischen Tubero, Ateius Capito und Iunius (Gracchanus?). Letzterer hatte bestritten, dass der Stadtpräfekt das Recht habe, den Senat während der feriae Latinae einzuberufen. Doch sowohl Varro (im Brief an Oppianus) als auch Capito (in den Coniectanea) hätten dem Stadtpräfekten dieses Recht zugestanden, wobei Capito sich ausdrücklich der Meinung des Tubero contra sententiam Iunii angeschlossen habe.223 Es wird deutlich, dass Gellius weder Tubero noch Iunius im Original vor sich hatte, sondern sich offensichtlich auf die öffentlichkeitsrechtlichen Kollektaneen von Varro und Capito stützte, deren Inhalte er kritisch miteinander verglich. Wiederum scheint Varro erst durch Gellius in eine juristische Fachdiskussion hineingezogen worden zu sein. Varros Einfluss auf den zeitgenössischen Rechtsdiskurs sollte daher nicht überschätzt werden. Capito war ein praktizierender Fachjurist und ausgewiesener Spezialist für das öffentliche Recht, also durchaus in der Lage, auf diesem Bereich eigenständige Forschungen zu betreiben.224 Neben verschiedenen Werken zum Sakralrecht (siehe unten S. 297 und 299–301) sind von ihm nur die Coniectanea mit Titel gesichert überliefert. Von den mindestens neun Büchern dieses offenbar überwiegend staatskundlichen Werkes ist durch Gellius (4.14.1) ein Rollentitel De iudiciis publicis belegt. Aufgrund der mangelnden Konsistenz der gellianischen Zitierweise bleibt unklar, ob der in 4.10.7 erwähnte liber de officio senatorio Teil desselben Werkes war, oder ob es sich um eine eigenständige Monographie handelte.225 Inhaltlich zeigen die Fragmente zwar eine Reihe historischer Präjudizien (2.24.2: Luxusbeschränkung bei der mutitatio (161 v. Chr.); 4.10.7–8: Abweichung von der Regel bei der Befragung der Senatoren durch den Konsul Caesar (59 v. Chr.); 4.14: intercessio der Volkstribune zugunsten einer meretrix (2. Jhd. v. Chr.); 10.6.4: Geldbuße für die Tochter des Appius Claudius Caecus wegen frecher Rede (246 v. Chr.)), eine antiquarische Fragestellung ist aber nicht erkennbar.

Q. Aelius Tubero hatte wie sein jüngerer Zeitgenosse Ateius Capito bei Aulus Ofilius, dem „Schüler“ (auditor) des Ser. Sulpicius, studiert, war seinerseits im öffentlichen und privaten Recht hochgebildet (doctissimus habitus est iuris publici et privati) und Verfasser gelehrter Abhandlungen zu beiden Rechtsgebieten.226 Diese wurden allerdings in späterer Zeit – angeblich wegen ihres altertümlichen Stils (sermone antiquo) – nur ungern zur Hand genommen (so Pomponius, Enchiridion = Dig. 1.2.2.(46)). Wie sein Vater, der eng mit Cicero befreundet und 61–58 v. Chr. als Legat bei dessen Bruder Quintus tätig war (Cic. ad Q. fr. 1.1.10), wandte er sich mit Erfolg auch der Historiographie zu.227 Während von den privatrechtlichen Schriften einiges in den justinianischen Digesten überliefert ist, haben sich von den iuris publici libri außer den beiden oben genannten Stellen keine Spuren erhalten. Ob man daraus zu Recht auf libri de officio senatorio schließen darf, wie Bremer (1, 367) dies mit Rückschluss auf Capito und in Analogie mit den bei Gellius (14.2.20) bezeugten praecepta Aelii Tuberonis super officio iudicis tat, ist nicht mit letzter Sicherheit zu entscheiden, zumal unklar bleibt, ob Gellius hier einen Werk- oder Rollentitel benennt.228 Unabhängig davon, ob es sich um eigenständige Werkeinheiten handelt oder nicht, tritt auch hier die gelehrte antiquarische Fragestellung deutlich hinter einer praxisorientierten Zielsetzung zurück. Die normierende Kodifizierung einer Ansammlung überkommener Pflichten und Verhaltensregeln bedarf nicht notwendigerweise der Erörterung historischer Kausalitäten, schließt diese aber auch nicht aus, wie die in dieser Zeit entstandenen Handbücher zur römisch-etruskischen Divinationskunst zeigen, in denen die gleichen überlieferungsbedingten Ambivalenzen erkennbar sind (siehe unten S. 284 f.).

Dem gleichen Sachbereich wie Varros Εἰσαγωγικός war Nicostratus’ De senatu habendo gewidmet. Der nur einmal bei Festus (p. 470, 7–8 Lindsay) belegte Autor ist sonst unbekannt: prodidit Nicostratus in libro, qui inscribitur de senato habendo („es berichtet Nicostratus in seinem Buch, das den Titel Über die Einberufung des Senats trägt“). Er wird meistens in die augusteische Zeit datiert, doch ist der von Kroll (RE 17 (1956), 546) angeführte Rückschluss auf den griechischen Namen keineswegs zwingend, zumal Verrius Flaccus ihn als Autorität zitiert. Das Fragment liefert inhaltlich eine (technisch nicht korrekte) Definition der Warteplätze (senacula), auf denen sich die Senatoren in alter Zeit für die Einberufung durch den Vorsitzenden bereithalten mussten.229 Die Tatsache, dass Valerius Maximus im frühen ersten Jahrhundert n. Ch. in der Lage war, diese altertümliche Einrichtung als Exempel der severissima maiorum instituta anzuführen, verdeutlicht, dass entweder Varro – eine wichtige Quelle der Facta et dicta memorabilia230 – in den Epistolicae quaestiones oder andernorts die Sache besprochen hatte, oder dass es weitere (juristische) Schriften gab, in denen das Thema behandelt worden war.

Eine weitere staatsrechtliche Spezialschrift (oder ein autobiographischer Rechenschaftsbericht?) könnten Varros libri legationum gewesen sein, aus der keine Zitate erhalten sind. Dahlmann hält die Schrift für eine gelehrte Abhandlung über das ius, munus und officium legationis und datiert sie in die Zeit von Pompeius’ Seeräuberkrieg 67 v. Chr.231

Das politische System Roms in seiner Gesamtheit scheint L. Aurunculeius Cotta, ein im Eburonenaufstand des Ambiorix (54 v. Chr.) gefallener Legat Caesars, in einem Traktat behandelt zu haben.232 Der von Athenaios (6.105) bezeugte Titel Περὶ τῆς Ῥωμαίων πολιτείας deutet zumindest auf eine Abhandlung in der Tradition der aristotelischen Politeia-Forschung hin, Details bleiben jedoch völlig unklar. Aus der von Athenaios berichteten Anekdote lassen sich keine generellen Rückschlüsse auf die Eigenart des Werkes ziehen. Allerdings dürfte der Titel ein historiographisch-memoirenhaftes Werk ausschließen (anders allerdings Peter, Klebs, Schanz/Hosius und Bardon). Lediglich eine politische Parteinahme wird deutlich: Caesar soll laut Cotta mit nur drei Leibsklaven nach Britannien gezogen sein, weshalb ihn Athenaios mit Scipio Africanus vergleicht, der sich auf seinen Feldzügen von nur fünf Sklaven begleiten ließ.

Einen antiquarisch akzentuierten öffentlichkeitsrechtlichen Gesamtüberblick über das römische Staats- und Verfassungssystem bot dann Varro in den Antiquitates rerum humanarum, in denen die Materie aufgrund der bekannten viergliedrigen Systematik Varros – de hominibus (qui agant) = Bücher 2–7; de locis (ubi agant) = Bücher 8–13; de temporibus (quando agant) = Bücher 14–19; de rebus (quid agant) = Bücher 20–25233 wahrscheinlich in zwei getrennten Blöcken behandelt wurde: Die Entstehung und Entwicklung der Rechtsinstitute ist vermutlich in den Büchern 6 (Titel unklar: De regibus?) und 7 (Titel unklar: De magistratibus?), die Pflichten und Befugnisse der Amtsträger dürften in den Bücher 20 (Titel unklar: De re publica?), 21 (Titel unklar: De magistratuum imperio et potestate?), 22: De pace et bello (so Gell. 1.25.1), 23 (Titel unklar: De iudiciis?) und 24 (Titel unklar: De actionibus cum populo et senatu?) erörtert worden sein.234 Ein längeres Exzerpt aus dem 21. Buch liefert Gellius im Zusammenhang einer juristischen Fachdebatte über das (fehlende) Vokationsrecht der Volkstribunen (Gell. 13.12.5–6). Einem Brief des Ateius Capito hatte er entnommen, dass Antistius Labeo sich einmal geweigert habe, der vocatio der Volkstribunen Folge zu leisten, da dies „nach altväterlicher Sitte“ (moribus maiorum) nicht in ihrer Amtsgewalt stünde. Gellius schlug deshalb bei Varro nach:235

Cum hoc in ea Capitonis epistula legissemus, id ipsum postea in M. Varronis rerum humanarum uno et vicesimo libro enarratius scriptum invenimus, verbaque ipsa super ea re Varronis adscripsimus: „In magistratu“, inquit, „habent alii vocationem, alii prensionem, alii neutrum: vocationem, ut consules et ceteri, qui habent imperium; prensionem, ut tribuni plebis et alii, qui habent viatorem; neque vocationem neque prensionem, ut quaestores et ceteri, qui neque lictorem habent neque viatorem. […] Tribuni plebis vocationem habent nullam, neque ⟨eo⟩ minus multi imperiti, proinde atque haberent, ea sunt usi; nam quidam non modo privatum, sed etiam consulem in rostra vocari iusserunt. Ego triumvirum vocatus a P. Porcio tribuno plebis non ivi auctoribus principibus et vetus ius tenui.“

Nachdem ich dies in Capitos Brief gelesen hatte, fand ich es später im 21. Buch der Res humanae von M. Varro ausführlicher beschrieben. Varro sagt dazu: „Von den Beamten haben die einen das Recht der vocatio [„Vorladung“], die anderen das Recht der prehensio [„Verhaftung“], wieder andere weder das eine noch das andere. Das Recht der vocatio haben die Konsuln und die übrigen Beamten, die ein imperium [„Obergewalt“] besitzen. Das Recht der prehensio haben die Volkstribunen und die übrigen Beamten, die einen Staatsboten haben. Weder das Recht der vocatio noch das Recht der prehensio haben die Quästoren und die übrigen Beamten, die weder einen Liktor noch einen Staatsboten haben. […] Die Volkstribunen haben kein Recht zur vocatio; dennoch haben viele in ihrer Unwissenheit von diesem Recht Gebrauch gemacht, als ob sie dazu berechtigt wären. Einige haben nicht nur Privatpersonen, sondern sogar den Konsul aufs Forum vorladen lassen. Als ich selbst als Triumvir vom Volkstribunen P. Porcius vorgeladen wurde, ging ich nicht hin, sondern hielt mich an die ersten Gewährsleute und an den alten Rechtsbrauch.“

Gell. 13.12.5–6 = Ant. rer. hum. XXI frg. 2 Mirsch

Neben der durch syntaktische Mittel verstärkten Strukturierung des Stoffes und einer persönlichen Anmerkung – beides typische Merkmale römischer Fachprosa – verdeutlicht die Passage, dass Varros Ausführungen konzeptionell über die Erörterung der causae hinausgingen und sich in weiten Teilen auch rein deskriptiv mit staatsrechtlichen Gepflogenheiten befassten. Die historische Begründung wird dann von Gellius nachgeliefert, allerdings bleibt wegen eines Textverlustes unklar, ob er sich dabei auf eigene Schlussfolgerungen, auf Capito oder auf Varro selbst stützte:

Sed quaerentibus nobis quam ob rem tribuni, qui haberent summam coercendi potestatem, ius vocandi non habuerint, ⟨***⟩ quod tribuni plebis antiquitus creati videntur non iuri dicundo nec causis querelisque de absentibus noscendis, sed intercessionibus faciendis, quibus ⟨usus in⟩ praesens fuisset, ut iniuria quae coram fieret arceretur; ac propterea ius abnoctandi ademptum, quoniam, ut vim fieri vetarent, adsiduitate eorum et praesentium oculis opus erat.

Wenn wir aber danach fragen, warum die Volkstribunen, die doch die höchste Amtsgewalt der Züchtigung besitzen, das Recht der vocatio [„Vorladung“] nicht haben sollen, ⟨***⟩ weil das Amt der Volkstribunen in alter Zeit weder zur Rechtsprechung noch zur Untersuchung von Rechtsfällen und Klagen gegen Abwesende eingerichtet worden zu sein scheint, sondern um Einsprachen zu erheben, die sofort erfolgen mussten, um ein in ihrer Gegenwart begangenes Unrecht zu verhindern. Aus diesem Grunde wurde ihnen auch das Recht entzogen, auswärts zu übernachten, da ihre ständige Anwesenheit und Wachsamkeit vor aller Augen zur Verhinderung einer Gewalttat erforderlich war.

Gell. 13.12.9

Der Befund, dass Varro in längeren deskriptiven Passagen staatsrechtliche Praktiken auflistete, ist auch für die Beurteilung eines Papyrusfragments aus Oxyrhynchus relevant, das zu Beginn des zweiten Jahrhunderts n. Chr. in lateinischer Sprache beschrieben wurde und dessen Text heute allgemein in das erste vorchristliche Jahrhundert datiert wird (P. Oxy. 2088).236 Die siebzehn nur unvollständig lesbaren Zeilen listen katalogartig einzelne staatsrechtliche Institute auf, die auf Servius Tullius zurückgeführt werden: 1–7: die centuriae; 8–10: das Kriegswesen; 11–14: die pagi und tribus; 15–17: die Roma quadrata.237 Der Charakter der Schrift ist nicht mehr zu ermitteln, doch scheint sich hinter der nüchternen Aufzählung eine politische Tendenz abzuzeichnen. Einige Details waren im zeitgenössischen Geschichtsdiskurs nicht unumstritten. So wurden beispielsweise bestimmte Institutionen, die Cicero und Livius mit Romulus und anderen Königen in Verbindung brachten, offenbar gänzlich Servius Tullius zugeschrieben.238 Eine ähnliche Enteignung scheint auch eine andere „romuleische“ Einrichtung, die Roma quadrata, das heißt den alten Siedlungskern der Stadt Rom, betroffen zu haben. Der hohe Spekulationsgrad moderner Rekonstruktionsversuche macht Rückschlüsse auf mögliche im Hintergrund stehende Diskurse allerdings zu einer müßigen Aufgabe.239 Von Relevanz für unsere Fragestellung ist die kursorische Art und Weise, in der die Institutionen aufgezählt werden, ohne dass in jedem einzelnen Fall eine begründende causa geliefert wird. Wie im oben zitierten Fragment aus Varros Antiquitates wird damit deutlich, dass die antiquarische Monographisierung in Rechtszusammenhängen ganz offensichtlich mehr war als bloße Heurematographie. Logisch fundierte Ursprungsforschung verband sich hier mit praktischer Wissensvermittlung, die mit einer politischen Agenda verknüpft werden konnte. Gleichzeitig bezeugt das zufällig erhaltene Papyrusfragment einen verlorenen Zweig der römischen Rechtsliteratur, der nicht in den Überlieferungsstrom der großen zivilrechtlichen Kompendien der klassischen und spätklassischen Zeit eingegangen ist.

6.2.1.1.2 Sakralinstitute

Ein ähnliches Überlieferungsschicksal wie die Fachtexte zu den staatlichen Institutionen ereilte die Schriften zu den römischen Sakralinstituten. Diese Werke waren Teil der produktiven religiösen Spezialliteratur, die sich offenbar zunächst innerhalb des römischen Rechtsdiskurses herausgebildet hatte, sich dann aber im Laufe des ersten Jahrhunderts v. Chr. zunehmend verselbständigte. Die aus der Späten Republik überlieferten Titel, Testimonien und Fragmente offenbaren ein breites Spektrum von Schriften mit einer „religiösen“ Thematik, das heißt mit Fragestellungen, die sich vor allem mit dem komplexen intersubjektiven System kultischer Praktiken, Normen, Symbole und theologischer Vorstellungen auseinandersetzen.240 In den letzten Jahren ist innerhalb der klassischen Altertumswissenschaften ein lebhaftes Interesse am religiösen Schrifttum der Späten Republik zu verzeichnen. Neben der Ritualforschung stehen dabei vor allem die mit der Kodifizierung einhergehenden Rationalisierungs- und Systematisierungsbestrebungen von religiösem Wissen sowie die historischen, kultursoziologischen und ideengeschichtlichen Hintergründe dieser Aktivitäten im Vordergrund.241 Auch der für die vorliegende Studie zentrale Aspekt der Historisierung von Religion rückt zunehmend in den Fokus der Betrachtung.242 In diesen Ansätzen spiegelt sich die aktuelle wissenschaftliche Neukonzeption, die Religion in Rom nicht (mehr) vom christlichen Innerlichkeitsbegriff als Sache des „Glaubens“, sondern als Traditionswissen zu verstehen und den Umgang mit Göttern und dem Heiligen zu einer Art Erfahrungswissenschaft werden zu lassen.243

Das Korpus der Schriften, von dem die verschiedenen Forschungsansätze ausgehen, bleibt jedoch nicht nur aus Gründen der Überlieferung, sondern auch wegen der Vielgestaltigkeit des religiösen Diskursfeldes insgesamt recht vage. Die Identifikation und Klassifikation einzelner Texttypen wäre ein dringendes Desiderat moderner wissenschaftlicher Reflexion, doch lassen sich gattungsgeschichtliche und formaltypologische Trennlinien nur sehr begrenzt ausmachen. Texte mit eindeutig dokumentarischem oder normativem Charakter wie Tempelstatuten, Kultsatzungen, Gebetsformeln und Ritualprotokolle stehen neben reflektierenden, systematisierenden oder präskriptiven Abhandlungen religionsphilosophischer, divinatorischer, parapegmatischer und antiquarischer Ausrichtung, wobei thematische Hybridität, soweit ersichtlich, eher die Regel als die Ausnahme zu sein schien, zumal sich auch die Zielsetzungen innerhalb des religiösen Schrifttums häufig überlagerten. Die moderne Spezialforschung ist daher stets der Anfechtung ausgesetzt, aus den vorhandenen Zeugnissen ein Textkorpus zu rekonstruieren, das ihrer jeweiligen Fragestellung mehr oder weniger passgenau entspricht. Dies gilt auch für die antiquarische Fachliteratur. So führen etwa Versuche, sie von den divinatorischen oder den sakralrechtlichen Fachschriften abzugrenzen, selten zu eindeutigen Ergebnissen. Neben der fragmentarischen Überlieferung sind dafür vor allem intrinsische Gründe verantwortlich: Zum einen war die antiquarische Fragestellung und Heuristik in religiösen und rechtlichen Kontexten ubiquitär, zum anderen waren antiquarische Fachschriften immer auch Produkte ihrer Zeit und dienten kaum je einem reinen Selbstzweck.244 Indem die antiquarische Fachliteratur im Rahmen des religiösen Diskursfeldes aus der Vergangenheit legitimierende Deutungs- und Handlungsangebote für die Gegenwart ableitete, kam sie nicht nur in enge Berührung mit religionsphilosophischen und theologischen Reflexionen (exemplarisch ist Varros theologia tripertita245), sondern auch mit der traditionsorientierten Sakralrechtsliteratur, insbesondere zum Augural- und Pontifikalwesen, deren vornehmlich konservierend-restitutiver Charakter in augusteischer Zeit in augenfälligem Zusammenhang mit der öffentlichkeitswirksam inszenierten Wiederbelebung politisch-religiöser Praktiken stand. Insofern die antiquarische Fachliteratur über die Ursprungsforschung hinaus in der Regel ein auf die gesellschaftlichen Diskurse der Zeit abgestimmtes Funktionswissen zur Verfügung stellte, ist grundsätzlich fraglich, ob innerhalb des religiösen Schrifttums die hier postulierten Differenzierungen von den zeitgenössischen Rezipienten überhaupt wahrgenommen wurden oder nach der Intention ihrer Verfasser nachvollzogen werden sollten.

Ziel der folgenden Ausführungen ist die Identifizierung und phänomenologische Beschreibung der antiquarischen Fachliteratur zu den römischen Sakralinstituten. Auf weitergehende Erörterungen, etwa über das Verhältnis Varros zur römischen Religion und seine in der jüngeren Forschung viel diskutierte Stellung innerhalb der antiken Religionsgeschichtsschreibung, wird an dieser Stelle verzichtet.246 Wie oben (S. 151–153) erwähnt, bleibt auch die umfangreiche Literatur zum römischen Weissagungs- und Vorzeichenwesen von der Betrachtung ausgenommen (De auspiciis; De auguriis; Libri disciplinae Etruscae u. ä.). Die Analyse der einschlägigen Fragmente würde in diesem Bereich zum selben Ergebnis führen wie bei den pontifikalrechtlichen Texten: durch historische Rückprojektionen, Namenserklärungen und Kultaitien ist die antiquarische Fragestellung zwar omnipräsent, doch lag die Zweckausrichtung dieser Literatur nicht primär in der historisierenden Gegenwartsdeutung, sondern in der Aufspeicherung, Vermittlung oder historischen Rekapitulation eines konkreten religiös-politischen Handlungs- und Orientierungswissens.247 Es ging also, anders formuliert, in erster Linie um die Aufarbeitung bestehender Traditionen sowie um die Bereitstellung konkreter Vorschriften und erst sekundär um historische Kausalitäten – sei es im Kontext eines tieferen Rechtsergründens, sei es im Zuge eines Legitimations- oder anderweitigen Wirkungsbestrebens. Ausgeklammert wird schließlich auch Varros Logistoricus Curio de cultu deorum, der sich, wie die fünf Fragmente zeigen, zwar mit antiquarischen Wissensbeständen befasste, aber in einem philosophisch-theologischen Diskursfeld angesiedelt war, dem die historische Perspektive sekundär die notwendige Argumentations- und Reflexionsgrundlage lieferte.248

In einem ersten Schritt (1) werden einzelne Spezialschriften mit deutlich erkennbarer antiquarischer Ausrichtung behandelt. In einem zweiten Schritt (2) wird – analog zur oben erfolgten Darstellung des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts – die Relevanz der antiquarischen Fragestellung innerhalb der überlieferten Fragmente pontifikalrechtlicher Texte exemplarisch herausgearbeitet.

(1) Der Aufbau von Varros Res divinae, der durch das Zeugnis des Augustinus (civ. 6.3) relativ gut rekonstruierbar ist, entspricht weitgehend dem Gliederungsprinzip der Res humanae: Auf ein einleitendes Buch de omnibus folgen fünf thematische Gruppen zu jeweils drei Büchern: (a) de hominibus: die Behandlung der Akteure des Sakralen, das heißt der Priesterämter (Ant. rer. div. IIIV = Ant. rer. hum. et div. XXVIIXXIX: de pontificibus, de auguribus, de XV viris sacrorum); (b) de locis: die Behandlung der Sakraltopographie, das heißt der Kultorte und Kultbauten (VVII = XXXXXXII: de sacellis, de sacris aedibus, de locis religiosis); (c) de temporibus: die Behandlung der sakralen Sonderzeiten (VIIIX = XXXIIIXXXV: de feriis, de ludis circensibus, de ludis scaenicis); (d) de rebus: die Behandlung der sakralen Handlungen, das heißt der Opfer und Weihungen (XIXIII = XVIXXXVIII: de consecrationibus, de sacris privatis, de sacris publicis). Eine wichtige Ergänzung stellen (e) die drei Bücher de dis dar (XIVXVI = XXXIXXLI: de dis certis, de dis incertis, de dis praecipuis atque selectis), durch die das personale Moment (Priester/Götter) die anderen Bereiche wie eine Klammer umfasst. Das religiöse Diskursfeld wird also analog zum menschlichen in den Res humanae in personale, örtliche, zeitliche und dingliche Segmente unterteilt. Die insgesamt sechzehn Bücher der Res divinae geben dabei die kategorialen Arbeitsfelder der antiquarischen Sakralforschung in einem monumentalen systematischen Gesamtüberblick wieder (siehe unten Kap. 6.2.2.). Ob der parallel oder später verlaufende Prozess der monographischen Diversifizierung alle hier behandelten Teilbereiche umfasste, ist nicht mehr zu klären. Sicher belegt sind Spezialschriften zu einzelnen Gottheiten, zur Entstehung und Entwicklung einzelner römischer Kulte sowie zum römischen Theater- und Festspielwesen. Letzteres Themenfeld wurde im ersten Jahrhundert v. Chr. von Varro und von Sinnius Capito (siehe unten S. 356–360) monographisch behandelt.

Nur noch schemenhaft erkennbar ist eine Reihe von Werken, die aufgrund verstreuter Zeugnisse und einer allerdings oft vagen Titelangabe möglicherweise als antiquarische Fachschriften über römische Sakralinstitute vindiziert werden können. Eine zeitliche Einordnung ist in vielen Fällen nicht oder nur annähernd möglich. Wahrscheinlich erst kaiserzeitlich sind die Festalia sacrorum des Baebius Macer sowie die Lupercalia des Marianus in iambischen Dimetern (siehe unten S. 427 f.). Völlig unklar ist die Identifizierung des von Lydos genannten Lepidus, der eine Schrift Über die Priester (Περὶ Ἱερέων: mag. I.17.5) verfasst haben soll. Das Testimonium spricht für eine antiquarische Ausrichtung: Lepidus hat den campagus (eine Art Stiefel mit Schnürriemen) auf die Etrusker zurückgeführt.249

Vielleicht ins erste vorchristliche Jahrhundert gehört eine mindestens sechs Bücher umfassende Schrift, die ein Sextus Clodius auf griechisch über die (römischen?) Götter verfasst hatte.250 Die unter dem Titel De diis zitierte Monographie wird sowohl von Arnobius (nat. 5.18.3) als auch von Lactanz (inst. 1.22.11) als Quelle für das (unrühmliche) Aition des Bona Dea-Kultes erwähnt, wobei die gegenwartsdeutende Intention explizit hervorgehoben wird (idcirco in sacris eius).251 Da beide Apologeten lateinisch zitieren, scheinen sie aus einer gemeinsamen Mittlerquelle geschöpft zu haben. Zur selben Traditionslinie gehörte auch der von Lactanz an derselben Stelle erwähnte spätrepublikanische Gelehrte Gavius Bassus (siehe unten S. 310 f.), der nach Macr. Sat. 1.9.13 ebenfalls eine Monographie Über die Götter verfasst hatte (Lact. inst. 1.22.9): quam [sc. Bona Dea] Gavius Bassus tradit Fatuam nominatam, quod mulieribus fata canere consuesset ut Faunus viris („Bona dea wurde, wie Gavius Bassus berichtet, Fatua genannt, weil sie den Frauen ihr Schicksal vorherzusagen pflegte, so wie es Faunus bei den Männern tat.“).252 Spezialschriften de diis waren im Hellenismus ein Bestandteil der philologischen Sachforschung mit antiquarischer Ausrichtung (Apollodors Περὶ θεῶν: FGrHist 244 F88–153) beziehungsweise der philosophischen Reflexion (Poseidonios’ Περὶ θεῶν); diesbezügliche Einflüsse auf Sextus Clodius oder auf einen Philologen wie Gavius Bassus sind denkbar.

Über die Götter schrieb noch ein weiterer Zeitgenosse Ciceros, nämlich der naturkundlich interessierte Universalgelehrte P. Nigidius Figulus (um 100–45 v. Chr.), der wegen seiner Vorliebe für Wahrsagerei in den Ruf magischer Praktiken geriet.253 Sein Interesse an historisierenden Gegenwartsdeutungen belegen die Fragmente und Zeugnisse einer Reihe naturwissenschaftlicher, astrologischer und divinatorischer Werke (De hominum natura, De animalibus, De ventis, Sphaera, De somnis, De extis, De augurio privato) ebenso wie die erhaltenen Reste der aus mindestens neunundzwanzig Büchern bestehenden Commentarii grammatici. Bei der mindestens neunzehn Rollen umfassenden Fachschrift De diis handelte es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine antiquarische Monographie. Behandelt waren die di indigetes (Schol. Bern. Verg. georg. 1.498 = frg. 71 Swoboda), die di Penates (offenbar in mehreren Büchern: in libro sexto decimo [„im 16. Buch“]: Arnob. nat. 3.40.1 = frg. 68 Swoboda; in libro nono decimo [„im 19. Buch“]: Macr. Sat. 3.4.6 = frgg. 69 Swoboda), Ianus (Macr. Sat. 1.9.6 = frg. 73 Swoboda), Mater Dea (Arnob. nat. 3.32.3 = frg. 74 Swoboda), aber auch Ritualvorschriften (Non. p. 312, 27–30 Lindsay = frg. 77 Swoboda: liba generis neutri; masculino Nigidius de dis: „deinde surgat, faciat libos quattuor“ [„liba sächlich; männlich verwendet es Nigidius in Über die Götter: ‚dann soll er sich erheben und vier Opferkuchen formen.‘ “]).254

Der Stoff des monumentalen Werkes war sicherlich systematisch geordnet. Einzelheiten der Gliederung sind jedoch nicht mehr erkennbar. Angesichts des Umfangs muss die Darstellung weit ausführlicher gewesen sein als in den drei Büchern de diis von Varros Antiquitates. Aufgrund der unklaren Entstehungszeit muss das Verhältnis der beiden Werke zueinander aber offen bleiben.255 Dass Nigidius eigenständige Forschungen betrieben hatte, verdeutlicht die Passage, in der Macrobius Nigidius’ originelle Gleichsetzung des Ianus mit Apollo und Diana referiert:

Nam sunt, qui Ianum eundem esse atque Apollinem et Dianam dicant et in hoc uno utrumque exprimi numen adfirment. Etenim, sicut Nigidius quoque refert, apud Graecos Apollo colitur qui Θυραῖος vocatur, eiusque aras ante fores suas celebrant, ipsum exitus et introitus demonstrantes potentem. Idem Apollo apud illos Ἀγυιεὺς nuncupatur, quasi viis praepositus urbanis; illi enim vias quae intra pomeria sunt ἀγυιὰς appellant, Dianae vero ut Triviae viarum omnium tribuunt potestatem. […] Pronuntiavit Nigidius Apollinem Ianum esse Dianamque Ianam, adposita D littera, quae saepe I litterae causa decoris adponitur: reditur, redhibetur, redintegratur et similia.

Einige Autoren behaupten nämlich, dass Ianus mit Apollo und Diana eins sei und dass sich darin die göttliche Macht der beiden ausdrücke. Außerdem werde Apollo, wie auch Nigidius berichtet, von den Griechen als Thyraios [„von der Türschwelle“] angerufen; seine Kultstätten suchte man vor den eigenen Haustüren auf, wodurch man anzeigte, dass Ausgang und Eingang unter seiner Macht stünden. Die Griechen nennen Apollo auch Agyieus, als würde er den städtischen Straßen vorstehen; denn die Straßen innerhalb der rituellen Stadtgrenzen nennen sie agyiai. Der Diana Trivia geben sie aber die Macht über alle öffentlichen Straßen. […] Nigidius berichtet, dass Apollo Ianus sei und Diana Iana, wobei ein D hinzugefügt worden sei; dies geschieht aus Gründen des Wohlklangs vor dem Buchstaben I häufig, zum Beispiel in reditur, redhibetur, redintegratur und so weiter.

Macr. Sat. 1.9.5–8 = frg. 73 Swoboda

Ebenfalls in die spätrepublikanisch-augusteische Zeit dürfte die nur von Macrobius genannte einbändige Monographie De sacris Saliaribus Tiburtium des Octavius Hersennius gehören, der von der modernen Forschung verschiedentlich mit dem in der Origo gentis Romanae genannten Gewährsmann M. Octavius identifiziert worden ist.256 Die Schrift wird im Zusammenhang einer gelehrten Diskussion über einen angeblichen Irrtum erwähnt, der Vergil bei der Charakterisierung der Salier in Aen. 8.285–286 unterlaufen sei (Macr. Sat. 3.12.1–9): die Salier stünden weder mit Hercules in kultischer Beziehung, noch würde man an der Ara Maxima mit Kränzen aus Pappeln opfern. Beide Vorwürfe, die aus dem reichen Fundus der in der kaiserzeitlichen Vergilexegese rege debattierten „Widersacher Vergils“ (Vergilii obtrectatores) stammen dürften,257 werden mit schlagkräftigen Argumenten aus der antiquarischen Fachliteratur widerlegt: Wie Varro im zweiten Buch der Res humanae (= frg. 5 Mirsch) berichtet, waren Pappelkränze in Gebrauch, bevor der Lorbeer auf dem Aventin zu wachsen begann. Salier habe Vergil dem Herkules zugesprochen, weil dieser Gott auch mit Mars identifiziert werden könne. Außerdem würde Octavius Hersennius in seinem Buch Über die Riten der Salier in Tibur lehren, dass die Salier an bestimmten Tagen nach Einholen der Auspizien für Herkules den Kult verrichteten.258

Hersennius’ Monographie über den Opferdienst der Salier in Tibur, dessen Schutzgott Herkules war,259 verdeutlicht schlaglichtartig den hohen Spezialisierungsgrad der religiösen Schriftstellerei der Zeit. Ob das Werk der antiquarischen Fachliteratur zugeordnet werden kann, muss mangels eindeutiger Belege offen bleiben, ist aber angesichts des thematischen Zusammenhangs der zitierten Passage durchaus möglich. Die Herkunft der Priesterschaft der Salier und die Bedeutung ihrer Riten waren jedenfalls Gegenstand einer lebhaften antiquarischen Fachdiskussion, wie der knappe Überblick bei Servius erkennen lässt:

SALII salii sunt, qui tripudiantes aras circumibant. Saltabant autem ritu veteri armati post victoriam Tiburtinorum de Volscis. Sunt autem salii Martis et Herculis, quoniam Chaldaei stellam Martis Herculeam dicunt: quos Varro sequitur. Et Tiburtes salios etiam dicaverant. Quidam hos a saltu appellatos tradunt. Quos alii a Numa institutos dicunt, ut arma ancilia portantes saltarent: ergo bene a saltu appellati. Horum numerum Hostilius addidit; nam duo sunt genera saliorum, sicut in saliaribus carminibus invenitur […]. Alii dicunt Salium quendam Arcadem fuisse, qui Troianis iunctus hunc ludum in sacris instituerit. Nonnulli tamen hos a Dardano institutos volunt, qui Samothracibus diis sacra persolverent. Quidam etiam dicunt salios a Morrio, rege Veientanorum, institutos, ut Halesus, Neptuni filius, eorum carmine laudaretur, qui eiusdem regis familiae auctor ultimus fuit.

SALIER Die Salier sind diejenigen, die im Dreischritt die Altäre umrunden. Seit dem Sieg der Tiburtiner über die Volsker tanzten sie nach altem Brauch in voller Rüstung. Die Salier gehören zu Mars und Herkules, weil die Chaldäer den Stern Mars den Herkulischen nennen; ihnen folgt Varro. Auch die Tiburtiner haben Salier geweiht. Gewisse Autoren leiten ihren Name von saltus [„Tanzsprung“] ab. Andere berichten, sie seien von Numa eingeführt worden, um in der heiligen Rüstung zu tanzen; daher stammt ihr Name wohl vom Tanzsprung ab. [Tullus] Hostilius hat ihre Zahl erhöht. Denn es gibt zwei Arten der Salier, wie auch aus den Salierliedern hervorgeht […]. Andere sagen, Salius sei ein Arkadier gewesen, der mit den Trojanern im Bunde gestanden und dieses Tanzspiel in den Opferdienst eingeführt habe. Einige behaupten jedoch, die Salier seien von Dardanos eingeführt worden, um den Samothrakischen Göttern zu opfern. Wieder andere behaupten auch, sie seien von Morrius, dem König von Veii, eingeführt worden, um in ihren Liedern Halesus, den Sohn des Neptun, zu verherrlichen, welcher der erste Ahnherr dieses Königs war.

Serv. auct. Verg. Aen. 8.285

Ein weiteres Indiz für den hohen Spezialisierungsgrad der sakralantiquarischen Fachliteratur der Zeit ist der Saturnus des Verrius Flaccus, der nur einmal von Macrobius erwähnt wird. Wie das Fragment zu erkennen gibt, waren darin die causae der Saturnalien behandelt:

Verrius Flaccus in eo libello qui Saturnus inscribitur, „Saturnaliorum“, inquit, „dies apud Graecos quoque festi habentur“, et in eodem libro, „dilucide me,“ inquit, „de constitutione Saturnaliorum scripsisse arbitror“

Verrius Flaccus schreibt in seinem Buch mit dem Titel Saturnus: „Die Saturnalia sind auch bei den Griechen Feiertage“, und im selben Buch: „Ich denke, dass ich die Ursprünge der Saturnalia hinreichend dargelegt habe.“

Macr. Sat. 1.4.7

Die auktoriale Selbstaussage belegt die antiquarische Gewichtung, allerdings ist unklar, an welcher Stelle im Werk diese metatextuelle Passage stand.

In denselben Zeitraum gehören zwei Monographien des augusteischen Gelehrten C. Iulius Hyginus, De dis Penatibus und De proprietatibus deorum, die jeweils nur einmal bei Macrobius erwähnt werden.260 Die Monobiblos über die Penaten – ein im antiquarischen Fachdiskurs der Zeit viel diskutiertes Thema261 – ist angesichts des altertumskundlichen Interesses Hygins am ehesten als einschlägiger Forschungsbeitrag zu werten, ohne dass sich dies nachweisen ließe. Macrobius zitiert das Werk als Beweis für die Gelehrsamkeit Vergils:

Addidit Hyginus in libro, quem de dis Penatibus scripsit, vocari eos θεοὺς πατρῴους. Sed nec hoc Vergilius ignoratum reliquit „di patrii, servate domum, servate nepotem“ [Aen. 2.702].

Hyginus fügt im Buch, das er über die Penaten geschrieben hat, hinzu, dass jene auch theoi patroioi [väterliche Götter] genannt würden. Auch dieses Detail hat Vergil nicht übergangen: „Väterliche Götter, beschützt mein Haus, beschützt meinen Enkel.“

Macr. Sat. 3.4.13

Aus einem ähnlichen Argumentationszusammenhang stammt die Erwähnung der zweiten Fachschrift:

Hoc quoque de prudentia religionis a Vergilio dictum est: „decidit exanimis vitamque reliquit in astris / aeriis“ [Aen. 5.517 f.]. Hyginus enim de proprietatibus deorum, cum de astris ac de stellis loqueretur, ait oportere his volucres immolari. Docte ergo Vergilius dixit apud ea numina animam volucris remansisse, quibus ad litandum data est.

Auch folgender Vers wurde von Vergil aus religiöser Einsicht gesprochen: „Leblos fiel sie zu Boden und ließ ihr Leben bei den himmlischen Sternen.“ In Über die Eigentümlichkeiten der Götter schreibt nämlich Hygin, als er über die Planeten und Sterne handelt, ihnen müssten Vögel geopfert werden. So drückt Vergil in gelehrter Weise aus, dass die Seele eines Vogels bei den göttlichen Mächten zurückbleibt, denen sie als Opfer dargebracht wurde.

Macr. Sat. 3.8.4

Der sakralrechtliche Titel ist irreleitend; behandelt waren offenbar die Attribute und Zuständigkeitsbereiche einzelner Gottheiten. Die auktoriale Zielsetzung einer historisierenden Gegenwartsdeutung kann mit einiger Wahrscheinlichkeit postuliert werden. Der in beiden Testimonien deutlich werdende Bezug zur Vergilexegese lässt sich auch für Hygins lokalaitiologische Schrift De urbibus Italicis sowie für seine genealogische Schrift De familiis Troianis feststellen. Die Stellung seines Werks zur Aeneis (produktiv oder rezeptiv) ist in der Forschung allerdings umstritten (siehe dazu unten S. 324 Anm. 356).

Über die Penaten schrieb auch ein Caesius, der mit dem von Pomponius (Dig. 1.2.2.(44)) erwähnten Titus Caesius, einem Schüler des einflussreichen Juristen Servius Sulpicius Rufus (cos. 51 v. Chr.), identifiziert wird. Er wird von Arnobius ohne Quellenangabe neben Nigidius Figulus und Varro im Zusammenhang mit unterschiedlichen Auffassungen über die Identifizierung der Penaten zitiert.262 Seine Identität bleibt ebenso unbestimmt wie die Frage, ob es sich bei dem zitierten Werk um eine Monographie zu den Penaten oder um eine Fachschrift de diis beziehungsweise de disciplina Etrusca handelt.

Zeitlich besser einzuordnen sind die Libri de religionibus des Juristen C. Trebatius Testa (um 84 v. Chr.–nach 4 n. Chr.), der wegen seines teilweise erhaltenen Briefwechsels mit Cicero heute zu den bekanntesten römischen Juristen zählt.263 Die acht gesicherten Fragmente aus Macrobius, Gellius und Servius geben den Inhalt des mindestens neun Bücher umfassenden Werkes, das dem juristischen Fachbereich des ius publicum im engeren Sinne zuzurechnen ist, nur auszugsweise wieder. Erhalten sind unter anderem Definitionen von sacrum, profanum, sanctum (Macr. Sat. 3.3.2 und 3.3.4–5 = frgg. 1–2 und 9 Bremer 1, 404 und 406), sacellum (Gell. 7.12.5 = frg. 5 Bremer 1, 405) sowie weitere Worterklärungen, die in Ermangelung einer historisierenden Perspektive aber offenbar in erster Linie für die fachjuristische Praxis bemessen waren; ferner eine Kategorisierung der Tieropfer nach hostiae consultatoriae und hostiae animales (Macr. Sat. 3.5.1 = frg. 3 Bremer 1, 405) sowie sakralrechtliche Bestimmungen an den nundinae (Macr. Sat. 1.16.28 = frg. 4 Bremer 1, 405) und für heilige Haine (Serv. auct. Verg. Aen. 11.316 = frg. 7 Bremer 1, 405). Eine antiquarische Schwerpunktsetzung erscheint eher unwahrscheinlich.

Gänzlich für die rechtspraktische Anwendung bestimmt war wohl die Monographie, die der bereits erwähnte Servius Sulpicius Rufus über die sacrorum detestatio, das heißt die bei einer Adoption vor den Komitien zu vollziehende feierliche Lossagung von den Hausheiligtümern der Familie und der Gens, verfasst hatte.264 Die gleiche anwendungsorientierte Funktion könnte ein lexikographisches Werk des Cloatius (Verus?) gehabt haben, in dem er vermutlich Fachbegriffe des römischen Sakralwesens erläuterte.265

Zeitlich schwer einzuordnen sind zwei weitere Kultschriftsteller: ein von Iohannes Lydos mehrfach zitierter Fonteius sowie ein nur einmal bei Macrobius (Sat. 3.2.13) erwähnter Hyllus: Hyllus libro, quem de dis composuit, ait Vitulam vocari deam, quae laetitiae praeest („Hyllus sagt in seinem Buch, das er über die Götter verfasst hat, die Göttin der Fröhlichkeit heiße Vitula.“).266 Da Fonteius bei Lydos mehrfach zusammen mit einem Capito erwähnt wird, hat man ihn mit einem Zeitgenossen Varros, C. Fonteius Capito, identifizieren wollen.267 Bei dieser Identifizierung wiegt die Missachtung des eindeutig überlieferten τεκαὶ („sowohl … als auch“) und ἐξ ὧν („von diesen beiden“) schwer, andererseits ist nicht auszuschließen, dass es sich dabei um Fonteius Capito und einen zweiten Capito (Ateius oder Sinnius) handelte. Diesen Fachautor zog Lydos für unterschiedliche Wissensbereiche heran: für die Etymologie des Monatsnamens Mai (mens. IV.80 Wünsch, p. 132), für ein Orakel des Romulus (mag. II.12.1 = III.42.1), für eine magistrale Einrichtung des Numa (mens. I.37 Wünsch, pp. 16–17) sowie als Gewährsmann für etruskische Divination, besonders die Deutung von Himmelszeichen (cael. sign. 3 Wachsmuth, p. 8; cael. sign. 39–41 Wachsmuth, pp. 88–92: ein Tonitruale). Nur in einem Fall, in dem Fonteius’ gelehrte Deutung des Ianus als Gott der Zeit referiert wird (mens. IV.2 Wünsch, p. 65), ist ein Werk namentlich genannt, dessen lateinischer Titel wahrscheinlich De simulacris oder De signis lautete (περὶ ἀγαλμάτων: mens. IV.2 Wünsch, p. 65). Abgesehen vom Tonitruale, das vielleicht Bestandteil einer Fachschrift De disciplina Etrusca war, ist es angesichts der thematischen Vielfalt fraglich, ob alle anderen Zitate aus dieser Schrift stammen, für die es nur griechische Parallelbeispiele gibt.268 Da Lydos in mag. praef. 3 Fonteius neben Capito und Varro als Gewährsmann für die magistratischen Insignien nennt, dürfte diese Spezialschrift, ohne ausdrücklich genannt zu werden, auch hinter wesentlichen Teilen der diesbezüglichen Ausführungen von Lydos’ De magistratibus stehen (siehe dazu oben Kap. 4.2.). Wenn es, wie der Titel nahelegt, um die Erklärung konkreter Standbilder und ihrer Attribute ging (Ianus mit einem Schlüssel in der Rechten oder mit den Fingern die Zahl 365 zeigend: mens. IV.1 Wünsch, p. 64), so steht ihr antiquarischer Charakter außer Zweifel. Ob nur Standbilder von Gottheiten behandelt wurden, bleibt ungeklärt.

(2) Während sich das antiquarische Modell in den schwer einschätzbaren Resten der pontifikalrechtlichen Texte der Archaik nicht nachweisen lässt, relativiert sich dieser Befund in gewisser Weise, wenn man die etwas reichhaltigeren Zeugnisse der Späten Republik und der augusteischen Zeit betrachtet.269 Die Ursprungsforschung war in diesem Bereich des Rechtsdiskurses zwar präsent, hat sich aber scheinbar nie aus der engeren, zweckgebundenen Fachbetrachtung gelöst. Eine eigenständige Monographisierung dieser Wissensbestände, wie sie wohl in Varros De pontificibus (= Ant. rer. div. II) vorlag, hat daher, soweit ersichtlich, nicht stattgefunden.

Pontifikalrechtliche Texte im engeren Sinn sind in Rom zunächst nach „esoterischen“ Sammlungen von spezifischen Vorschriften, Kultprotollen und -formeln (instituta, acta, carmina) und nach „exoterischen“ Sammlungen von Bescheiden (decreta und responsa) und sakral sanktionierten Rechtsgeboten zu differenzieren; die einen waren für die Kollegien selbst bestimmt, die anderen betrafen die weitere Öffentlichkeit.270 In beiden Textsorten war ein für die jeweiligen Referenzsysteme relevantes Handlungswissen gespeichert.271 Eine Grundform der Kodifizierung exoterischer Themen sind katalogartige Aufzählungen, wie sie zum Beispiel bei Columella überliefert sind, der an einer Stelle auflistet, welche Arbeiten die Priester den Bauern an den feriae erlaubten und welche nicht:

Feriis autem ritus maiorum etiam illa permittit: far pinsire, faces incidere, candelas sebare, vineam conductam colere, piscinas lacus fossas veteres tergere et purgare, prata sicilire, stercora aequare, faenum in tabulata conponere, fructus oliveti conductos cogere, mala pira ficos pandere, caseum facere, arbores serendi causa collo vel mulo clitellario adferre; sed iuncto advehere non permittitur nec adportata serere neque terram aperire neque arborem conlucare, sed ne sementem quidem administrare, nisi prius catulo feceris, nec faenum secare aut vincire aut vehere.

An den Festtagen erlaubt der religiöse Brauch der Vorfahren folgende Arbeiten: Dinkel zu stampfen, Fackeln einzuschneiden, Kerzen zu ziehen, einen gepachteten Weinberg zu bearbeiten, Fischteiche, Wasserbecken und alte Entwässerungsgräben auszukehren und zu reinigen, Wiesen mit der Sichel nachzuschneiden, den Misthaufen zu verteilen, Heu im Heuboden zu lagern, die Ernte gepachteter Oliven einzubringen, Äpfel, Birnen und Feigen zum Trocknen auszulegen, Käse herzustellen, Bäume zum Pflanzen auf dem Nacken oder mit einem Maultier zu Stelle zu tragen. Aber es ist nicht gestattet, sie mit einem eingespannten Tier dorthin zu bringen, auch dürfen sie, nachdem man sie hingebracht hat, nicht eingepflanzt werden. Ferner darf die Erde nicht aufgegraben und Bäume nicht zurückgeschnitten werden. Selbst die Aussaat darf nicht besorgt werden, außer man hat zuvor einen jungen Hund dargebracht. Auch Heu zu schneiden, zu bündeln oder einzubringen ist nicht erlaubt.

Colum. rust. 2.21.3

Ein weiteres Beispiel findet sich bei Varro:

In sacris Argeorum scriptum sic est:
Oppius mons: princeps Esquiliis uls lucum Facutalem; sinistra via secundum moerum est.
Oppius mons: terticeps uls lucum Esquilinum; dexteriore via in tabernola est.
Oppius mons: quarticeps uls lucum Esquilinum; via dexteriore in figlinis est.
Cespius mons: quinticeps uls lucum Poetelium; Esquiliis est.
Cespius mons: sexticeps apud aedem Iunonis Lucinae, ubi aeditumus habere solet.
In den Kultschriften der Argeer steht das Folgende geschrieben:
Oppischer Hügel: die erste [Kultstätte], auf dem Esquilin jenseits des Lucus Facutalis; sie befindet sich auf der linken Straßenseite entlang der Mauer.
Oppischer Hügel: die dritte, jenseits des Lucus Esquilinus; sie befindet sich auf der rechten Straßenseite in einer kleinen Bretterhütte.
Oppischer Hügel: die vierte, jenseits des Lucus Esquilinus; sie befindet sich auf der rechten Seite bei den Töpferwerkstätten.
Cespischer Hügel: die fünfte, jenseits des Lucus Poetelius; sie befindet sich auf dem Esquilin.
Cespischer Hügel: die sechste, beim Tempel der Iuno Lucina, wo der Tempelhüter gewöhnlich wohnt.
Varro ling. 5.50

Eine dritte Textgruppe bilden die öffentlichkeitsrechtlichen Fachtexte de iure pontificio, die von den rechtlichen Kodifikationen nur mit Vorbehalten zu unterscheiden sind, da die dürftige Quellenlage eine eigentliche Wesensbestimmung nicht zulässt.272 Über Inhalt und Aufbau lassen sich daher nur Spekulationen anstellen, die oft modernen Vorstellungen entsprechen. Denkbar ist eine einleitende Darstellung der priesterlichen Ämter, ihrer Zusammensetzung, Rechte und Funktionen, gefolgt von den res divini iuris, dann Ort, Zeit und Art der sacra.273 Auch die auktoriale Zielsetzung ist unklar: Handelt es sich um Handbücher für die Rechtspraxis? Ging es um die Sicherung, Normierung und Legitimierung überkommener Traditionen oder um die literarisch verfolgte Konzeptualisierung und entmystifizierende Rationalisierung römischer „Religion“?274

Für die behandelte Epoche sind mindestens drei Rechtsautoren zu nennen, die pontifikalrechtliche Abhandlungen verfasst haben: Veranius (Pontificales quaestiones: Bremer 2.1, 6–9); Antistius Labeo (Commentarii de iure pontificio: Bremer 2.1, 74–81) und C. Ateius Capito (De iure pontificio und De iure sacrificiorum: Bremer 2.1, 268–280 = frgg. 10–20 Strzelecki).275 Zwei Monographien des Granius Flaccus widmeten sich jeweils einem Spezialgebiet des Pontifikalrechts: De iure Papiriano (wahrscheinlich ein Kommentar zu einer Sammlung kultischer Vorschriften, den sog. leges regiae) sowie De indigitamentis („Über Anrufungsformeln“: Bremer 1, 260–262). Für unseren Zusammenhang ist nur relevant, ob und in welchem Ausmaß diese schwer zu beurteilende Fachliteratur historische Kausalitäten berücksichtigte. Eine Durchsicht der Fragmente und Zeugnisse ergibt – wie schon bei den Fachschriften zu den Staatsinstituten (siehe oben S. 229–237) – ein ambivalentes Bild:

Dass die bezeugten pontifikalrechtlichen Abhandlungen neben rechtspraktischen Darlegungen – wohl in systematischer Anordnung – auch exegetische Passagen enthielten, legen verschiedene Zeugnisse nahe. Unklar sind jedoch Umfang, Wirkungsinteresse und Adressaten dieser gelehrten Erläuterungen. Worterklärungen waren keine Seltenheit wie die zahlreichen Festus-Exzerpte aus den Commentarii de iure pontificio des Antistius Labeo verdeutlichen. Dabei ging es um ritualtechnische Begriffe und formelhafte Wendungen:

  • Fest. p. 164, 12–14 Lindsay (= frg. 1 Bremer 2.1, 76): Labe o in commentario iuris pontifici ait rubidum quiddamesse, quo pontificum vestimenta quaedamcolorant.

    Labeo schreibt in seinem Werk Über das Pontifikalrecht, rubidum sei die Farbe, mit der man bestimmte Kleider der Priester einfärbt.

  • Fest. p. 298, 16–18 Lindsay (= frg. 16 Bremer 2.1, 80): Prox, bona vox, vel ut quidam proba, significare videtur, ut ait Labeo de iure pontificio lib. XI.

    Prox, soll „gute Stimme“ oder, wie einige meinen, „tüchtige Stimme“ bedeuten, so schreibt Labeo im 11. Buch Über das Pontifikalrecht.

  • Fest. p. 298, 21–22 Lindsay (= frg. 14 Bremer 2.1, 79): Proculiunt, promittunt ait significare Antistius de iure pontificali lib. IX.

    Proculiunt bedeute promittunt [„sie verheißen“], schreibt Antistius im 9. Buch Über das Pontifikalrecht.

  • Fest. p. 474, 31–36 Lindsay (= frg. 15 Bremer 2.1, 80): Spurcum vinum est, quod sacris adhiberi non licet, ut ait Labeo Antistius lib. X commentari iuris pontifici, cui aqua admixta est defru[c]tumve, aut igne tactum est, mustumve ante quam defervescat.

    Vinum spurcum ist ein Wein, der beim Opferdienst nicht verwendet werden darf. So schreibt es Labeo Antistius im 10. Buch seines Werks Über das Pontifikalrecht. Ihm ist Wasser beigemischt oder Most, oder er ist mit Feuer in Berührung gekommen, oder es ist ein früher Wein vor der Gärung.

  • Fest. p. 476, 14–18 Lindsay (= frg. 17 Bremer 2.1, 80): Sistere fana cum in urbe condenda dicitur, significat loca in oppido futurorum fanorum constituere; quamquamAntistius Labeo ait in commentario XV. iuris pontifici, fana sistere esse lectisternia certis locis et dis habere.

    Fana sistere sagt man bei der Gründung einer Stadt; es bedeutet, in der Siedlung die Plätze für zukünftige Tempel festzulegen. Antistius Labeo schreibt jedoch im 15. Buch seines Werks Über das Pontifikalrecht, fana sistere bedeute, an bestimmten Orten nur für bestimmte Götter ein Göttermahl abzuhalten.

  • Fest. p. 476, 18–20 Lindsay (= frg. 18 Bremer 2.1, 80): Subigere arietem, in eodem libro Antistius esse ait dare arietem, qui pro se agatur, caedatur.

    Subigere arietem, schreibt Antistius im selben Buch, bedeutet, einen Widder darbringen, der an Stelle des Gebenden gerichtet und geopfert wird [d. h. ein sog. Sündenbock].

Labeo gehörte zu den respondierenden Fachjuristen, die auch öffentlichkeitsrechtliche Gutachten erstellten.276 Die Nähe zur mündlichen Rechtsberatung wird daran deutlich, dass den zitierten Begriffsbestimmungen die gelehrte etymologische Begründung fehlt. Dass dieser Befund nicht verallgemeinert werden kann, zeigt sich an einer Reihe einschlägiger Stellen, in denen Gellius und Macrobius antiquarisches Wissen explizit aus pontifikalrechtlichen Schriften bezogen. Zwei Passagen sind dabei besonders einschlägig:

P. autem Nigidius in libro quem de extis conposuit [frg. 81 Swoboda] ‚bidentes‘ appellari ait non oves solas, sed omnes bimas hostias, neque tamen dixit apertius cur bidentes; sed […] id scriptum invenimus in commentariis quibusdam ad ius pontificum pertinentibus ‚bidennes primo dictas, D littera inmissa, quasi biennes, tum longo usu loquendi corruptam vocem esse et ex bidennibus bidentes factum, quoniam id videbatur esse dictu facilius leniusque.

P. Nigidius schreibt aber in dem von ihm über die Eingeweide verfassten Buch, dass nicht nur Schafe, sondern alle zweijährigen Opfertiere bidentes genannt werden. Er hat aber nicht näher erläutert, warum man dann bidentes sagt. Ich habe jedoch in einigen sich auf das Pontifikalrecht beziehenden Schriften, den Hinweis gefunden, dass man ursprünglich bidennes ohne den Buchstaben D als biennes aussprach, und dass später durch langen Sprachgebrauch das Wort verfälscht wurde, sodass aus bidennes bidentes wurde, weil das Wort sich so einfacher und weicher aussprechen ließe.

Gell. 16.6.12–13277

Inter haec Caecina Albinus, „si volentibus vobis erit“, inquit, „in medium profero quae de hac eadem causa apud Ateium Capitonem [frg. 15 Bremer 2.1, 276 = frg. 12 Strzelecki], pontificii iuris inter primos peritum, legisse memini. Qui cum nefas esse sanciret deorum formas insculpi anulis, eo usque processit, ut et cur in hoc digito vel in hac manu gestaretur anulus non taceret. ‚Veteres‘, inquit, ‚non ornatus sed signandi causa anulum secum circumferebant. Unde nec plus habere quam unum licebat, nec cuiquam nisi libero, quos solos fides deceret quae signaculo continetur. Ideo ius anulorum famuli non habebant. Imprimebatur autem sculptura materiae anuli, seu ex ferro seu ex auro foret, et gestabatur ut quisque vellet, quacumque manu, quolibet digito. Postea (inquit) usus luxuriantis aetatis signaturas pretiosis gemmis coepit insculpere, et certatim haec omnis imitatio lacessivit, ut de augmento pretii quo sculpendos lapides parassent gloriarentur. Hinc factum est, ut usus anulorum exemptus dexterae, quae multum negotiorum gerit, in laevam relegaretur, quae otiosior est, ne crebro motu et officio manus dexterae pretiosi lapides frangerentur. Electus autem (inquit) in ipsa laeva manu digitus minimo proximus quasi aptior ceteris cui commendaretur anuli pretiositas. Nam pollex, qui nomen ab eo quod pollet accepit, nec in sinistra cessat, nec minus quam tota manus semper in officio est: unde et apud Graecos ἀντίχειρ (inquit) vocatur quasi manus altera. […].‘ Haec sunt quae lectio pontificalis habet.“

In diesem Zusammenhang ergriff Caecina Albinus das Wort: „Wenn es euch recht sein wird“, sagte er, „will ich euch vortragen, was ich mich darüber bei Ateius Capito, einem der hervorragendsten Kenner des Pontifikalrechts, gelesen zu haben erinnere. Als er festlegte, es sei nicht erlaubt, Götterbilder auf Ringe zu gravieren, ging er so weit, zu erklären, warum man den Ring an diesem Finger und an dieser Hand trägt. ‚Die Vorfahren‘, schrieb er, ‚trugen den Ring nicht als Schmuck, sondern um zu siegeln. Daher war es nicht erlaubt, mehr als einen zu besitzen, und nur ein freier Mann durfte einen besitzen, denn nur sie hatten die Haftungsgarantie, für die das Siegel steht. Demzufolge hatten Haussklaven auch kein Recht einen Ring zu tragen. Im Material des Rings, Eisen oder Gold, wurde eine Gravur angebracht, und jeder trug ihn nach Belieben an einem Finger, rechts oder links. Später (so fährt er fort), in einem luxusverwöhnten Zeitalter, sei man dazu übergegangen, Gravuren in kostbaren Edelsteinen anzubringen, und der Wetteifer in der Nachahmung wurde so herausfordernd, dass man jeweils damit prahlte, welch überrissenen Preis man für das Gravieren von Edelsteinen ausgegeben hatte. Deshalb kam es dazu, dass man aufhörte, die rechte geschäftige Hand zum Tragen eines Ringes zu verwenden und dafür stattdessen die Linke brauchte, die weniger geschäftig ist, damit durch die häufige Bewegung und den Einsatz der rechten Hand die kostbaren Steine nicht beschädigt wurden. An der linken Hand wählte man (so Capito weiter) den Finger, der dem kleinsten am nächsten liegt, weil er besser als die anderen geeignet schien, um ihm den kostbaren Ring anzuvertrauen. Denn der Daumen [pollex], der so heißt, weil er stark ist [pollet], ruht auch an der linken Hand nicht und ist immer so geschäftig wie die Hand selbst. Deshalb (so sagt er) nennen ihn die Griechen auch anticheir, das heißt zweite Hand.‘ So viel ergibt die Durchsicht des Pontifikalrechts.“

Mac. Sat. 7.13.11–17

Capitos umfangreiche historische Digression zum Brauch des Ringtragens geht weit über die Kodifizierung und rechtspraktische Exegese priesterlicher Praktiken, sakraler Vorschriften und theologischer Vorstellungen hinaus. In Anlehnung an die Methode der antiquarischen Zeichenarchäologie werden verschiedene Entwicklungsstufen (veteres, postea) durch rationale Begründungen (unde, ideo, hinc, nam) identifiziert, um ein zeitgenössisches Phänomen, nämlich das Tragen des Ringes am Ringfinger der linken Hand zu erklären. Das mindestens fünf Bände umfassende Werk enthielt darüber hinaus historische Präjudizien (Gell. 4.6.10 = frg. 10 Strzelecki: der Pontifex Maximus Ti. Coruncanius, cos. 280 v. Chr., hatte feriae praecidaneae auf einen dies ater angesagt; das Kollegium bestätigte dies) sowie Informationen über Kultplätze (Fest. p. 144, 14–17 Lindsay = frg. 11 Strzelecki: zum mundus, der Opferstätte der di inferi).

Eine ähnlich hybride Verbindung von anwendungsorientiertem Funktionswissen mit gelehrten antiquarischen Erläuterungen ist auch für die Pontificales quaestiones des zeitlich schwer einzuordnenden Veranius belegt, deren libri nachweislich Untertitel trugen (Macr. Sat. 3.6.14 = frg. 4 Bremer 2.1, 7): Veranius pontificalium eo libro, quem fecit de supplicationibus ita ait („Veranius sagt in jenem Buch der Priesterlichen Dinge, welches er zu den Dankfesten geschrieben hat“).278

Zusammenfassend ergibt sich für die pontifikalrechtlichen Texte ein ambivalentes Bild: Die antiquarische Fragestellung ist in den überlieferten Fragmenten nachweisbar, scheint aber keine bestimmende Funktion gehabt zu haben. Ihnen gegenüber steht eine Reihe von sakralrechtlichen Spezialschriften mit deutlich antiquarischer Ausrichtung.

6.2.1.2 Sprachaitiologie

Die aitiologische Frage nach dem Ursprung der Sprache und die damit verbundene etymologische Frage nach der Herkunft einzelner Wörter gehörten zu den zentralen Forschungsgebieten der antiken Philologie (siehe oben S. 179–181, 192 f. und 254–266). Da die dabei gewonnenen linguistischen Erkenntnisse und die damit verbundenen theoretischen Erörterungen für die praxisorientierte Schulgrammatik nur von begrenzter Relevanz waren, sind von der Fülle der wissenschaftlichen Fachschriften nur verstreute Fragmente erhalten geblieben. Die erhaltenen Bücher 5–6 von Varros De lingua Latina gehören zu den seltenen Ausnahmen, weshalb die varronische Etymologie – deren Theorie allerdings in den verlorenen Bücher 2–4 erörtert war – auf ein entsprechend langes und reges Forschungsinteresse zurückblicken kann.279

Zum Zeitpunkt der Abfassung von Varros grammatischer Wissenssynthese war das etymologische Denkmodell in Rom längst etabliert. Etymologien lassen sich bereits in den frühesten römischen Literaturwerken nachweisen; der Grad ihrer theoretischen Fundierung ist jedoch im Einzelnen umstritten. In der juristischen und grammatischen Fachliteratur ist die etymologisch-semasiologische Wortanalyse als Verfahren der Textexegese gegen Ende des zweiten Jahrhunderts greifbar. Erste monographische Darstellungen in Form von etymologischen Wörterbüchern lassen sich mit einiger Sicherheit für die Wende vom zweiten zum ersten Jahrhundert ansetzen. Spätestens mit Aelius Stilo und Q. Cosconius scheint die wissenschaftliche Etymologie der Stoa ein fester Bestandteil der römischen Fachgrammatik geworden zu sein (siehe oben S. 258–261).

Trotz einer wesentlich breiteren Überlieferungsbasis lässt sich die literarische Entwicklung und Ausformung der sprachwissenschaftlichen Forschungen Roms im ersten Jahrhundert nur in Umrissen rekonstruieren. Zumindest wird deutlich, dass die Sprachaitiologie einen nicht unbedeutenden Zweig der sich immer weiter ausdifferenzierenden philologisch-grammatischen Fachliteratur darstellte. Ihr hoher Spezialisierungsgrad äußert sich im Spektrum der bezeugten Monographien zu disziplinären Teilbereichen (Sprachrichtigkeit, Orthographie, Prosodie usw.).280 Einen Höhepunkt erreichte diese Diversifikation in der monographischen Behandlung der Grundkonstituenten von Sprache und Schrift. Varro schrieb über die Herkunft der Buchstaben (De antiquitate litterarum), M. Valerius Messalla Corvinus (cos. 31 v. Chr.) über den Buchstaben S (De S littera), Sinnius Capito über Silben (De syllabis).281 Es wirft ein Schlaglicht sowohl auf das Niveau und die Vielfalt des grammatisch-philologischen Diskurses als auch auf den gesellschaftlichen Stellenwert der Grammatik in Rom, wenn sich um 55/54 v. Chr. ein Mann wie C. Iulius Caesar veranlasst sah, inter tela volantia („zwischen fliegenden Geschossen“, so Fronto, Parth. 9 = T1 Garcea 2013) eine Spezialschrift über sprachnormative Fragen zu verfassen (De analogia).282

Innerhalb des sprachaitiologischen Schrifttums des ersten Jahrhunderts lassen sich nach inhaltlichen Kriterien (nicht aber nach den Werktiteln selbst) zwei Darstellungstypen unterscheiden, nämlich (1) der systematische Fachtraktat zu Fragen des Sprachursprungs und (2) das alphabetische oder nach Sachgruppen geordnete Wörterbuch, das die origo verborum behandelt. Die prekäre Überlieferungslage der bezeugten Werke lässt eine sichere Zuschreibung jedoch nur sehr eingeschränkt zu.

(1) Die einzige eindeutig identifizierbare, lateinisch geschriebene Abhandlung über den Ursprung der lateinischen Sprache ist Varros’ De origine linguae Latinae. Von diesem Werk ist nur ein Fragment des ersten Buches erhalten:

[N] sequente G vel C, pro ea G scribunt Graeci et quidam tamen vetustissimi auctores Romanorum euphoniae causa bene hoc facientes, ut „Agchises“, „agceps“ […], quod ostendit Varro in primo de origine linguae Latinae his verbis: „ut Ion scribit, quinta vicesima est litera, quam vocant agma [ἄγγμα], cuius forma nulla est et vox communis est Graecis et Latinis, ut his verbis: ‚aggulus‘, ‚aggens‘, ‚agguilla‘, ‚iggerunt‘. In eiusmodi Graeci et Accius noster bina G scribunt, alii N et G, quod in hoc veritatem videre facile non est.“

„[N] folgt diesem Buchstaben ein G oder C, so schreiben ihn die Griechen und auch die ältesten römischen Autoren aus Gründen des Wohlklangs als G, wie zum Beispiel Agchises, agceps […]. Varro erklärt dies im 1. Buch von Über den Ursprung der lateinischen Sprache folgendermaßen: ‚Wie Ion schreibt, nennt man den 25. Buchstaben agma; er hat kein Schriftzeichen, sein Laut ist den Griechen und den Latinern bekannt, zum Beispiel in folgenden Wörtern: aggulus, aggens, agguilla, iggerunt. Mit zwei G schreiben ihn die Griechen und unser Accius, andere verwenden ein N und ein G, weil hier nur schwer zu erkennen ist, was richtig ist.‘ “

Prisc. inst. 1.39 GL 2, 30, 12–20

Hier wird der auf einen Okklusivlaut (g, k, k) folgende velare Nasallaut /ŋ/ (dt. singen) behandelt, dem weder im lateinischen noch im griechischen Alphabet ein eigenes Graphem entspricht. Priscian diskutiert – in Anlehnung an Varro – mögliche Darstellungsformen im Lateinischen: (a) durch das Graphem ⟨g⟩; (b) durch die Übernahme der im Griechischen üblichen Doppelung von ⟨g⟩ (γγ: wie in ἄγγελος) sowie (c) durch die Graphemgruppe ⟨ng⟩. Diese Passage rückt Varros Schrift thematisch in die Nähe seines Frühwerks De antiquitate litterarum. Über den inhaltlichen Zusammenhang mit De origine linguae Latinae kann jedoch nur spekuliert werden. Varro dürfte zu Beginn der Schrift das lateinische Lautsystem in seiner Entwicklung und graphischen Darstellung erörtert haben. Der Hinweis auf den (sonst unbekannten) griechischen Grammatiker Ion und die damit verbundene Bemerkung über die Gemeinsamkeit der beiden Sprachen (et vox communis est Graecis et Latinis) könnte ein Indiz dafür sein, dass es Varro auch darum ging, die Verwandtschaft zwischen dem Griechischen und dem Lateinischen aufzuzeigen.283 Aus mehreren Stellen in De lingua Latina lässt sich schließen, dass Varro – in relativierender Form – die These von der griechischen, genauer: äolischen Herkunft von Teilbereichen der lateinischen Lexik vertreten hat (ling. 5.21): non terminus sed terimen; hoc Graeci quod τέρμονα. Pote vel illinc; Euander enim, qui venit in Palatium, e Graecia Arcas („nicht terminus sondern terimen; dieses Wort entspricht dem griechischen termon. Es ist möglich, dass es von dort kommt, denn Euander, der zum Palatin kam, war ein Arkadier aus Griechenland.“).284 Die ältere Forschung hat daher ein thematisch durchaus relevantes, jedoch ungenau zitiertes Varrozitat aus Lydos’ De magistratibus als zusätzliches Fragment für De origine lingua Latinae angenommen:285

Οὐδὲ γὰρ ἀγνοήσας ὁ Ῥωμύλος, ἢ οἱ καταὐτόν, δείκνυται κατἐκεῖνο καιροῦ τὴν Ἑλλάδα φωνήν, τὴν Αἰολίδα λέγω, ὥς φασιν ὅ τε Κάτων ἐν τῷ Περὶ Ῥωμαϊκῆς Ἀρχαιότητος Βάρρων τε ὁ πολυμαθέστατος ἐν Προοιμίοις τῶν πρὸς Πομπήϊον αὐτῷ γεγραμμένων, Εὐάνδρου καὶ τῶν ἄλλων Ἀρκάδων εἰς Ἰταλίαν ἐλθόντων ποτὲ καὶ τὴν Αἰολίδα τοῖς βαρβάροις ἐνσπειράντων φωνήν.

Es ist bekannt, dass Romulus oder seine Zeitgenossen zu dieser Zeit die griechische Sprache (die äolische, meine ich) sehr wohl kannten, wie Cato in seinem Werk Über die römische Frühzeit Roms [= FRHist 5 F3] und der vielgelehrte Varro im Prolog seines an Pompeius gerichteten Werkes festhalten. Euander und die übrigen Arkadier seien nach Italien gekommen und hätten die äolische Sprache bei den Barbaren eingeführt.

Lyd. mag. I.5.3–4

Eine zweite Notiz desselben Autors wurde ebenfalls als Fragment in Erwägung gezogen, doch wirft die in diesem Fall viel genauere Quellenangabe Fragen auf:286

Ὅτι δὲ οὐ Ῥωμαϊκὸν τουτὶ τὸ ῥημάτιον, μάρτυς ὁ Ῥωμαῖος Βάρρων ἐν βιβλίῳ πέμπτῳ Περὶ Ῥωμαϊκῆς Διαλέκτου [= De lingua Latina? / De sermone Latino?], ἐν ᾧ διαρθροῦται ποία μέν τις λέξις ἐστὶν Αἰολική, ποία δὲ Γαλλική· καὶ ὅτι ἑτέρα μὲν ἡ Θούσκων, ἄλλη δὲ Ἐτρούσκων, ὧν συγχυθεισῶν ἡ νῦν κρατοῦσα τῶν Ῥωμαίων ἀπετελέσθη φωνή.

Dass dieses Wort nicht lateinisch ist, bezeugt der Römer Varro im 5. Buch Über die lateinische Sprache, in dem er analysiert, welches Wort im Einzelnen äolisch oder gallisch ist, und dass der eine Ausdruck tuskisch, der andere etruskisch ist; ihre Mischung hat die Sprache hervorgebracht, die heute in Rom gesprochen wird.

Lyd. mag. II.13.6

Die im ersten Jahrhundert offenbar intensiv diskutierte „Äolismus-These“,287 die in den für die zweisprachige Oberschicht unmittelbar erkennbaren lexikalischen, phonologischen, morphologischen und syntaktischen Ähnlichkeiten der beiden Sprachen gründete, war, wie der Verweis auf Cato zeigt, eng mit dem Mythos des Arkadiers Euander verwoben, der innerhalb der historiographischen Tradition schon früh als Kulturbringer (Fabius Pictor, FRHist 1 F1: Euander bringt die Schrift nach Italien) angesehen wurde.288 Die Frage nach dem griechischen Ursprung der lateinischen Sprache (und damit der Römer) beschäftigte im ersten Jahrhundert eine Reihe in Rom tätiger griechischer Grammatiker.289 Ihr Verhältnis zu Varros De origine linguae Latinae ist nicht mehr zu eruieren, aber die wenigen vorhandenen Zeugnisse schließen die Möglichkeit nicht aus, dass sie die Dialektthese in weit radikalerer Weise vertraten als Varro oder Dionysios von Halikarnassos.290 Zeitgenossen Varros waren Hypsikrates und Tyrannion, beide aus Amisos am Schwarzen Meer. Über Hypsikrates ist nur wenig bekannt; er verfasste ein Geschichtswerk (FGrHist 190) und schrieb über den lateinischen Wortschatz. Cloatius Verus hat ihn nach Gellius (16.12) für seine einschlägigen Libri verborum a Graecis tractorum herangezogen.291 Varro zitiert ihn einmal aus einer ungenannten Schrift (ling. 5.88). Tyrannion kam als Kriegsgefangener während des Zweiten Mithridatischen Krieges nach Rom, wo er sich als Lehrer einen Namen machte und maßgeblich an der Entdeckung der Schriften des Aristoteles beteiligt war.292 Von ihm (oder seinem Schüler Diokles) stammt ein Traktat Περὶ τῆς Ῥωμαϊκῆς διαλέκτου mit der paraphrasierenden Ergänzung ὅτι ἐστὶν ἐκ τῆς Ἑλληνικῆς („Über die Sprache der Römer und ihre Herkunft aus dem Griechischen“: Suda IV, τ 1185 p. 608 Adler), von dem sich aber keine Fragmente erhalten haben.293 Eine Schrift mit fast identischem Titel sowie Schriften über (weitere) griechische Dialekte nennt die Suda (IV, φ 394 p. 729 Adler) auch für den Grammatiker Philoxenos, der vermutlich ebenfalls im ersten Jahrhundert tätig war. Auf dieses Werk dürfte eine Etymologie des Kriegsgottes „Mars“ zurückgehen, die Lydus als Variante in mens. IV.34 Wünsch aufführt: ἢ ἐκ τοῦ μάρνασθαι κατὰ Φιλόξενον („oder von marnasthai [kämpfen] laut Philoxenos“).294 Daraus stammt wohl auch die in mag. I.42.3 diskutierte Etymologie von nepos: νέπος, ὁ νέος παῖς ἐξ Ἑλληνικῆς ἐτυμολογίας, ὁ ἔγγονος λέγεται, ὡς καλῶς ὁ Φιλόξενος εἶπεν („Man nennt den Enkel nepos, [das ist] der junge Knabe [neos pais] nach griechischer Etymologie, wie Philoxenos es schön sagt.“ = frg. 328 Theodoridis 1976). Dass sich Lydos selbst ausführlicher mit der Thematik befasst hatte, zeigt eine Reihe weiterer griechischer Herleitungen, die er entweder selbst entwickelt oder seinen Quellen entnommen hatte: Kalendae von καλεῖν [„rufen“ ] (mens. III.10 Wünsch); Quirinus von κύριος [„Herrscher“] (mag. I.5.2), nenia von νήτη [= die letzte Saite der Zither] (mag. I.33.3), tiro von τείρω [„quälen“] (mag. I.47.3–4).295 Das Thema blieb für die griechische Grammatik auch im frühen Prinzipat aktuell; eine entsprechende Fachschrift ist etwa für den Alexandriner Apion belegt.296 Unter den lateinischen Grammatikern hat sich neben Varro auch Cloatius Verus in zwei Monographien mit dem Phänomen der gräkolateinischen Sprachverwandtschaft beschäftigt. Sein Blick richtete sich dabei in erster Linie auf die feststellbaren lexikalischen Ähnlichkeiten (siehe unten S. 311–313).297

Über die weiteren Inhalte von Varros De origine linguae Latinae lässt sich nur spekulieren. Möglich ist, dass er die seiner etymologischen Methode zugrunde liegende Auffassung der diachronen lexikalischen Entwicklung (nämlich durch impositio und derivatio, vgl. ling. 8.5–6; 9.34–35) näher erläutert hat und dabei auch auf die sprachphilosophische Idee der ursprünglichen Wortwurzeln (verba primigenia, vgl. ling. 6.36–39) sowie auf die „Wortschöpfer“ (ὀνοματοθέται), unter anderem Latinus, Romulus und Numa (vgl. ling. 5.9; 7.3), zu sprechen kam, zu denen – nach seiner Theorie – allein die philosophische dritte und die (unerreichbare) mystische vierte Stufe der Etymologie vorstoßen können.298 Inwieweit er hier allenfalls die stoische Sprachschöpfungstheorie insgesamt referierte, ist ungewiss.299 Die etymologische Praxis in De lingua Latina offenbart Varro als pragmatischen Linguisten, der weder an grammatischen noch philosophischen Dogmen zu sehr anhing und auch bereit war, seine eigene Systematik zu durchbrechen, wenn es die Sachlage erforderte.300 Größeren Wert wird er auf die Erörterung und historische Begründung der unterscheidbaren „fremden“ Einflüsse gelegt haben, auf die er, wie oben erwähnt, Teile der lateinischen Lexik zurückführte, neben dem Griechischen (mit dem Faunus-Euander-Mythos) etwa das Sabinische (mit dem Romulus-Tatius-Mythos) und das Etruskische (mit dem Servius-Mastarna-Mythos).301

(2) Zu den literarischen Texten, welche die von früheren Gelehrtengenerationen geknüpfte Verbindung zwischen der grammatischen ἔτυμα-Forschung und der römischen Altertumskunde im ersten Jahrhundert hervorbrachte, gehört eine Reihe etymologischer Wörterbücher.302 Eine genaue zeitliche Einordnung ist in den meisten Fällen nicht möglich. Auf die unlösbare Datierungsfrage von L. Cincius’ De verbis priscis und Aelius Gallus’ De significatione verborum quae ad ius civile pertinent, die vermutlich in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts oder früher entstanden sind, wurde bereits hingewiesen (S. 219 f.). Ihren Höhepunkt fand die lexikographische Gelehrsamkeit Roms Ende des Jahrhunderts in Form der als Realenzyklopädie angelegten Schrift De verborum significatu des Verrius Flaccus (siehe unten S. 375–379).

Die Libri de antiquitate verborum des wenig bekannten römischen Dichters und Gelehrten Santra gehören vielleicht (wie auch Gavius Bassus’ De origine verborum et vocabulorum) noch in die Zeit vor der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. Die Darstellungsform seiner von Festus, Nonius und den Scholia Veronensia bezeugten Schrift ist nicht mehr eindeutig zu bestimmen. Die naheliegendste Hypothese ist die Annahme eines Lexikons, doch scheint die auktoriale Adressierung in einem bei Nonius erhaltenem Fragment auf eine didaktische Darstellung hinzudeuten:303

Genialis, hospitalis: Santra de antiquitate verborum lib. III: „scis enim geniales homines ab antiquis appellatos qui ad invitandum et largius adparandum cibum promptiores essent.“

Genialis, gastfreundlich: Santra im 3. Buch Über die Frühzeit der Wörter: „Denn du weißt ja, dass die Alten diejenigen geniales nannten, die stets bereit waren, andere einzuladen und ihnen reichlich Speisen aufzutragen.“

Non. p. 168, 14–17 Lindsay

Der Titel des aus mindestens drei Büchern bestehenden Werkes weist auf eine etymologische Ausrichtung hin, die sich auch in den Fragmenten widerspiegelt.304 Wenn man mit Rosanna Mazzacane die Fragmente incertae sedis einbezieht, wird die Tendenz deutlich, lateinische Vokabeln aufgrund phonetischer Ähnlichkeiten mit griechischen Wörtern zu identifizieren und von diesen abzuleiten. Dies wird zum Beispiel in einer von Festus exzerpierten Worterklärung deutlich (Fest. p. 174, 20–22 Lindsay = frg. 8 Mazzacane 1982 = frg. 9 GRF p. 386): Nuptias dictas esse ait Santra ab eo quod νυμφεῖα dixerunt Graeci antiqui γάμον inde novam nuptam νέαν νύμφην („Nuptiae [„Hochzeit“] sagt man deshalb, schreibt Santra, weil die alten Griechen nympheia für gamos [„Hochzeitsfeier“] sagten; daher bedeutet nova nupta dasselbe wie nea nymphe [„frisch vermählte Braut“]“).305

Das mindestens siebenbändige lexikographische Werk des Gavius Bassus ist vor allem durch Gellius bekannt. Dieser scheint die Schrift wegen seiner geistreichen, wenn auch nicht immer ganz schlüssigen Etymologien öfter herangezogen zu haben (Gell. 5.7.1: lepide, mi hercules, et scite Gavius Bassus [„geistreich und klug, beim Herkules, [schreibt] Gavius Bassus“], vgl. aber 2.4.3: nimis quidem est in verbis Gavi Bassi ratio inperfecta vel magis inops et ieiuna [„allzu unvollkommen, ja bescheiden und dürftig ist die Erklärung bei Gavius Bassus“]). Rein quantitativ gesehen gehörte Bassus aber nicht zu seinen bevorzugten Quellen.306 Insgesamt viermal zitiert Gellius unter Angabe des Titels aus dem Werk, den er entweder ganz ausschreibt (De origine verborum et vocabulorum: 3.19.1) oder in abgekürzter Form wiedergibt (De origine vocabulorum: 2.4.3; 5.7.1; 11.17.4).307 Der so bezeugte Werktitel weist die Schrift hinreichend als etymologisches Wörterbuch aus; sämtliche Fragmente betreffen etymologische Worterklärungen, für die man in einem Fall stoische Einflüsse geltend machen wollte.308 Die stoffliche Anordnungslogik lässt sich nicht mehr sicher rekonstruieren.309

Ein lexikographisches Sammelwerk unklarer Ausrichtung ist noch für einen weiteren gelehrten Zeitgenossen Varros belegt, nämlich für L. Ateius (Praetextatus) Philologus, den Sueton in seine Biographien der berühmtesten Grammatik- und Rhetoriklehrer Roms aufgenommen hat (Suet. gramm. et rhet. 10).310 Sein Liber glossematorum, der mit Titel nur einmal bei Festus erwähnt ist (Fest. p. 192, 2 Lindsay), scheint – wenn die übrigen sechs Stellen, an denen Festus Ateius zitiert, aus derselben Schrift stammen – seltenere, ältere oder aus dem Griechischen entlehnte Wörter behandelt zu haben: naucum („Nussschale“: Fest. p. 166, 11 Lindsay), nuscitiosus („schlechtsichtig“: Fest. p. 176, 15 Lindsay), ocris (ein Berg: Fest. p. 192, 2 Lindsay), orchitis (eine Pflanze: Fest. p. 194, 2 Lindsay), stroppus („Riemen“: Fest. p. 410, 6 Lindsay), tudes („Schlegel“: Fest. p. 480, 35 Lindsay), vacerra („Pfahl“: Fest. p. 512, 31 Lindsay). Etymologien sind nicht überliefert; eine sprachaitiologische Fragestellung im engeren Sinne lässt sich aus den erhaltenen Fragmenten nicht ableiten.

Während die lexikographischen Texte von Santra, Gavius Bassus und Ateius Philologus keine thematische Eingrenzung erkennen lassen und vermutlich ein relativ breites Spektrum grammatischer Worterklärungen und Begriffsdeutungen umfassten, sind von zwei wohl nur unwesentlich jüngeren Grammatikern, Cloatius Verus und Cornificius Longus, fachthematische Vertiefungen bezeugt. Cloatius Verus war auf griechische Lehnwörter im Lateinischen spezialisiert. Zwei Monographien sind mit Titel belegt, die Verba a Graecis tracta und die Ordinata Graeca, beide in mindestens vier Büchern.311 Die erste Schrift behandelte lateinische Wörter, die Cloatius aus dem Griechischen ableitete. Dabei scheint er, gestützt auf den griechischen Grammatiker Hypsikrates, bisweilen auch mit einfallsreicher Scharfsinnigkeit über das Ziel hinausgeschossen zu sein, wie Gellius an einer Stelle (16.12) exemplarisch verdeutlicht: Während Gellius Ableitungen wie errare („irren“) von ἔρρειν („hinken“) und alucinari („träumen“) von ἀλύειν („verstört sein“) durchaus noch zustimmen kann, hält er Cloatius’ auf Hypsikrates zurückgehende Ableitung des Wortes faenerator ἀπὸ τοῦ φαίνεσθαι ἐπὶ τὸ χρηστότερον („vom Vortäuschen gutherziger Gesinnung“) für unsinnig.312 Ein weiteres Beispiel, das zugleich die Unterschiede zwischen der etymologischen Methode des Cloatius und der des Gavius Bassus aufzeigt, wird von Macrobius dem Grammatiker Servius in den Mund gelegt. Als Servius beim üppigen Nachtisch aufgefordert wird, die Etymologie der Vielzahl der aufgetragenen Nüsse zu erläutern (tanta nucibus nomina quae causa vel origo variaverit), beginnt Servius sein gelehrtes Referat mit einem Auszug aus Gavius Bassus’ De significatione verborum zum Lemma iuglans („Walnuss“):313

Et Servius: nux ista iuglans secundum non nullorum opinionem a iuvando et a glande dicta existimatur. Gavius vero Bassus in libro de significatione verborum hoc refert: „iuglans arbor proinde dicta est ac Iovis glans. Nam quia id arboris genus nuces habet, quae sunt suaviore sapore quam glans est, hunc fructum antiqui illi, qui egregium glandique similem ipsamque arborem deo dignam existimabant, Iovis glandem appellaverunt […].“ Cloatius autem Verus in libro a Graecis tractorum ita memorat: „iuglans – D praetermissum est – quasi diuglans id est Διὸς βάλανος, sicut Theophrastus ait […]. Hanc Graeci etiam basilicam vocant.

Servius antwortete: „Diese Walnuss [iuglans] hier soll, wie einige glauben, von iuvare [„beistehen“] und glans [„Eichel“] benannt sein. Aber Gavius Bassus berichtet in seinem Buch Über die Bedeutung der Wörter: ‚Der Walnussbaum [iuglans arbor] kommt demnach von iovis glans [„Eichel des Jupiter“]. Denn weil diese Baumart Nüsse trägt, die süßer sind als Eicheln, haben die Alten diese Frucht Iovis glans [„Eichel des Jupiter“] genannt, weil sie diese der Eichel ähnlich, aber doch vorzüglich fanden und ihren Baum eines Gottes für würdig hielten […].‘ Cloatius Verus erwähnt jedoch in seinem Buch Vom Griechischen abgeleitete Wörter: ‚bei iuglans stand ein ausgelassenes D: diuglans, das heißt Dios balanos [„Eichel des Zeus“], wie Theophrast schreibt […]. Die Griechen nennen diese Nuss auch basilica [„die königliche“].‘ “

Macr. Sat. 3.18.2

Konzeption und Darstellungsform der Verba a Graecis tracta ist nicht mehr erkennbar; am plausibelsten erscheint die Annahme eines lexikographischen Nachschlagewerks. Demgegenüber sind die nur bei Macrobius bezeugten libri ordinatorum Graecorum,314 die man sich wohl am besten als eine Art Onomastikon vorzustellen hat, deutlicher als lexikographisches Nachschlagewerk zu erkennen: Das zweite Buch behandelte vermutlich Tempel, öffentliche Gebäude oder allgemein Religiosa (Apollo-Tempel auf Delos: Sat. 3.6.2), das vierte Buch Baumfrüchte (Nüsse: Sat. 3.18.8; Äpfel: Sat. 3.19.2; Birnen: Sat. 3.19.6; Feigen: Sat. 3.20.1), wobei die jeweiligen Sachgruppen offenbar alphabetisch lexikalisiert waren.315

Cornificius Longus ist Autor eines mindestens dreibändigen etymologischen Wörterbuchs.316 Thema waren offensichtlich die Götternamen, wie die Titelangabe bei Priscian (inst. 6.73 GL 2, 257, 6: Cornificius in I de etymis deorum) zu erkennen gibt. Allerdings sind nicht alle der zahlreichen Etymologien, die mit Cornificus in Verbindung gebracht werden können, unmittelbar mit der Erklärung göttlicher Namen und Epitheta verbunden.317 Dies dürfte eine Folge der stark abbreviierenden Überlieferung sein, durch die der ursprüngliche Kontext der referierten Etymologien verloren gegangen ist. Der thematische Rahmen scheint relativ weit gespannt gewesen zu sein: so wurden neben den Eigennamen offenbar auch Kultstätten und Riten erläutert.318 Griechische Etymologien waren Cornificius ebenso geläufig wie lateinische (Macr. Sat. 1.17.33 = frg. 5 GRF p. 476): Φοῖβος appellatus, ut ait Cornificius, ἀπὸ τοῦ φοιτᾶν βίᾳ („Der Name Phoibos stammt, wie Cornificius schreibt, ‚von gewaltsam umherziehen‘ “). Da die Deutung der Götternamen zu den zentralen Forschungsgebieten der stoischen Etymologie gehörte, verwundert es nicht, dass Cornificius in Macrobius’ Erörterung des Zeus als Sinnbild der Sonne neben Cleanthes und Poseidonios als Gewährsmann auftritt (Sat. 1.23.1) und bei der Behandlung des Namens des Apollon nach Platon, Chrysippos, Speusippos und Cleanthes genannt wird (Sat. 1.17.7). Die Praxis stoischer Wortableitungskunst äußert sich in der routinemäßigen Anwendung des Verfahrens κατὰ σύνθεσιν: [Minerva] minitans armis („waffenstarrend“: Fest. p. 109, 28–29 Lindsay = frg. 7 GRF p. 476); oscillantes ab eo quod os celare sint soliti („Schaukelnde: davon, dass sie das Gesicht zu maskieren pflegten“: Fest. p. 212, 15–16 Lindsay = frg. 14 GRF p. 478).

Nur am Rande sei hier L. Saufeius erwähnt, ein gemeinsamer Freund von Cicero und Atticus, welcher der epikureischen Lehre anhing (Nep. Att. 12.3; vgl. Cic. Att. 2.8.1; 4.6.1) und mit einiger Wahrscheinlichkeit mit dem im erweiterten Vergilkommentar des Servius erwähnten gleichnamigen Autor zu identifizieren ist:

Latium autem dictum est, quod illic Saturnus latuerit. Saufeius Latium dictum ait, quod ibi latuerant incolae, qui, quoniam in cavis montium vel occultis caventes sibi a feris beluis vel a valentioribus vel a tempestatibus habitaverint, Casci vocati sunt, quos posteri Aborigines cognominarunt, quoniam ⟨nullis⟩ aliis ortos esse recognoscebant, ex quibus Latinos etiam dictos.

Latium heißt so, weil sich Saturn dort versteckt haben soll [latuerit]. Safeius schreibt, Latium werde so genannt, weil die Bewohner sich dort versteckten. Da sie sich zum Schutz vor wilden Tieren, mächtigeren Feinden oder Stürmen in Berghöhlen oder Verstecken aufhielten, nannte man sie Cascer; später dann Aborigines, weil man erkannte, dass sie von niemandem abstammten; von ihnen haben dann auch die Latiner ihren Namen.

Serv. auct. Verg. Aen. 1.6 = GRF p. 438

Safeius’ Etymologie knüpft an die etablierte Ableitung Latium > latere an, rationalisiert diese aber insofern, als im Mythos nicht Götter, sondern menschliche Akteure agieren. Ob die Passage aus einem grammatischen Traktat oder aber aus einer anderen Schrift (einem Geschichtswerk, so Peter, HRR 2, xxviii) stammt, lässt sich nicht mehr feststellen.319

6.2.1.3 Lokalaitiologie

In der Tradition der hellenistischen κτίσις-Literatur und der ethnographisch-kulturgeschichtlichen Periegese hatte sich die römische Geschichtsschreibung des zweiten Jahrhunderts intensiv mit den Aitia und Gründungssagen von Orten, Städten und Landschaften auseinandergesetzt (siehe oben S. 204–212). Das Interesse an diesen Wissensbeständen hielt auch in der folgenden Epoche an.320 Wie in den griechischen Paralleltexten findet sich im Hintergrund immer wieder dasselbe Muster antiquarischer Vergangenheitsorientierung: Die Vergangenheit eines Ortes war nur insofern von Interesse, als sie mit der Gegenwart des Autors in einen kausalen Zusammenhang gebracht werden konnte. Im ersten Jahrhundert v. Chr. scheinen die verstreuten, in historische Einzeldarstellungen und geographische Überblicke eingebetteten Ursprungs- und Gründungslegenden in eigenen Schriften gesammelt und literarisch ausgearbeitet worden zu sein. Es waren gelehrte Werke dieser Art, die den lebhaften augusteischen Diskurs über die Erinnerungslandschaft der Stadt bereicherten und beeinflussten (siehe unten S. 394–414). Allerdings ist dieser Zweig der antiquarischen Fachliteratur nur noch durch Indizien fassbar. Sicher ist lediglich, dass die Bücher de locis (VIIIXIII und XXXXXXII) in Varros Antiquitates sich mit diesem Thema befassten und dass Iulius Hyginus eine Schrift De urbibus Italicis schrieb, auf die sich die spätere Vergil-Kommentierung wiederholt bezogen hat (siehe unten). Es bleibt letztlich unklar, ob es vor Varro überhaupt zu einer lokalaitiologischen Spezialisierung gekommen ist. Die Überlieferungslage liefert nur ein unvollständiges Bild. Immerhin ist für eine Reihe verlorener vorvarronischer Schriften eine lokalaitiologische Akzentuierung nicht unwahrscheinlich. Neben den bereits erwähnten Werken von Valerius Soranus (libri Ἐποπτίδων), L. Cincius (libri Μυσταγωγικῶν) und Procilius ist auch an Annius Fetialis und den Lehrer Hygins, Alexandros Polyhistor, zu denken.

Annius Fetialis ist nur durch Plinius bekannt, der ihn in den Autorenverzeichnissen der Bücher 16, 33 und 36 als Gewährsmann nennt.321 Allerdings stammt das einzige explizite Zitat aus dem der Metallurgie gewidmeten 34. Buch. Es handelt sich dabei um ein klassisches Beispiel einer antiquarischen Exegese: Es geht um die Deutung der Statue eines Mädchens zu Pferd, die sich auf der Velia im Vorhof der (ehemaligen) domus des Tarquinius Superbus gegenüber dem Tempel des Iuppiter Stator befand. In augusteischer Zeit war sie dort nicht mehr zu sehen (Dion. Hal. ant. 5.35.2: ταύτην ἡμεῖς μὲν οὐκέτι κειμένην εὕρομεν, ἐλέγετο δἐμπρήσεως περὶ τὰς πλησίον οἰκίας γενομένης ἠφανίσθαι [„Diese [Statue] habe ich dort nicht mehr gesehen. Man sagt, sie sei bei einem Feuer der anliegenden Häuser zerstört worden.“]). Dies ist ein Indiz für eine frühe Datierung des Annius. Nach Piso (FRHist 9 F22) soll es sich um Cloelia gehandelt haben, die der Legende nach als Geisel in das Lager des Etruskers Porsenna geschickt worden war. Sie konnte sich und andere aber befreien und erwarb sich dadurch den Respekt Porsennas, der sie zunächst zurückforderte, dann aber wieder frei ließ (so Liv. 2.13.6–11 und Val. Max. 3.2.2). Annius liefert hier eine alternative Erklärung, nach der das Mädchen nicht Cloelia, sondern Valeria war:

[…] e diverso Annius Fetialis equestrem [sc. statuam], quae fuerit contra Iovis Statoris aedem in vestibulo Superbi domus, Valeriae fuisse Publicolae consulis filiae, eamque solam refugisse Tiberimque transnatavisse, ceteris obsidibus qui Porsinae mittebantur interemptis Tarquinii insidiis.

Dagegen berichtet Annius Fetialis, dass die Reiterstatue, die gegenüber dem Tempel des Iuppiter Stator im Vorhof des Hauses des [Tarquinius] Superbus stand, Valeria, die Tochter des Konsuls Publicola, darstellte; sie allein sei geflohen und habe den Tiber schwimmend überquert; alle anderen Geiseln, die zu Porsenna geschickt worden waren, seien im Hinterhalt der Tarquinier getötet worden.

Plin. nat. 34.29

Plutarch (Plut. de mul. virt. 14) versucht die beiden Varianten zu harmonisieren, indem er das Motiv verdoppelt: Bei der Flucht über den Fluss übernahm Cloelia die Führungsrolle, bei der Rückkehr der Geiseln konnte sich nur Valeria aus dem Hinterhalt der Tarquinier retten.322 Über den Charakter der Schrift des Annius Fetialis lässt sich hieraus nichts ableiten, aber es ist durchaus denkbar, dass es sich um eine periegetische Schrift über die Monumente Roms handelte. Auch für die Datierung gibt es keine sicheren Anhaltspunkte. Münzer hielt Annius für einen Zeitgenossen Pisos, doch könnte er auch im frühen ersten Jahrhundert v. Chr. tätig gewesen sein.323

Noch schattenhafter ist das Werk des aus Milet stammenden Grammatikers Alexandros (um 110–nach 40 v. Chr.), der im ersten Mithridatischen Krieg als Kriegsgefangener nach Rom gekommen war, 82 v. Chr. von Sulla Freiheit und Bürgerrecht erhielt und sich dann dem Grammatikunterricht widmete. Seine umfangreichen literarischen Studien brachten ihm den Beinamen Polyhistor ein (Suet. gramm. et rhet. 20,1).324 Unter den fünfundzwanzig mit Titel bekannten Werken befindet sich eine Reihe geographisch-ethnographischer und historiographischer Schriften, darunter eine Schrift Über Rom in fünf Büchern (Περὶ Ῥώμης βιβλία ε′: Suda I, α 1129 p. 104 Adler = FGrHist 273 F70), über deren Inhalt aber keine verlässlichen Hypothesen möglich sind. Die Beurteilung des Werks hängt im Wesentlichen davon ab, wie man die Angabe Suetons über Alexandros’ Schüler Hygin verstehen will (gramm. et rhet. 20.1: studiose et audiit et imitatus est Cornelium Alexandrum, grammaticum Graecum quem propter antiquitatis notitiam Polyhistorem multi […] vocabant [„Eifrig hörte und imitierte er den griechischen Grammatiker Cornelius Alexander, dem viele wegen seiner Kenntnis der Vergangenheit den Beinamen ‚Polyhistor‘ gaben“]). Ob man aufgrund dieser allgemeinen Aussage berechtigt ist, von Hygins De urbibus Italicis auf das Werk seines Lehrers zurückzuschließen, ist fraglich.325

Ein versprengtes Bruchstück in Solinus’ katalogartiger Aufzählung der Eponyme italischer Städte, Völker, Landstriche, Inseln und Heiligtümer (2.4–18) verbindet schließlich noch einen Cosconius – vielleicht den oben erwähnten Grammatiker Q. Cosconius326 – mit der lokalaitiologischen Fachliteratur Roms:

A gubernatore Aeneae appellatum Palinurum, a tubicine Misenum, a consobrina Leucosiam insulam inter omnes perspicue convenit; a nutrice Caietam, ab uxore Lavinium, quod post Troiae excidium, sicut Cosconius perhibet, quarto anno exstructum est.

Man ist sich einig, dass Palinurus nach dem Steuermann des Aeneas, Misenum nach seinem Trompeter und die Insel Leucosia nach seiner Cousine benannt sind. Nach seiner Amme sind Caieta und nach seiner Ehefrau Lavinium benannt; diese Stadt wurde, wie Cosconius erzählt, im vierten Jahr nach dem Untergang Trojas gegründet.

Solin. 2.13

Erst mit der Hexade De locis in Varros Antiquitates rerum humanarum (Bücher VIIIXIII) und der den loca sacra gewidmeten Triade der Res divinae (Bücher VVII = XXXXXXII) betritt man festeren Boden.327 Trotz des allgemein gehaltenen Titels lag der Schwerpunkt der lokalaitiologischen Ausführungen auf der Stadt Rom und ihren Kultstätten und Monumenten, doch wurden auch Latium, Italien und das weitere Imperium behandelt (Aug. civ. 6.4: rerum quippe humanarum libros, non quantum ad orbem terrarum, sed quantum ad solam Romam pertinet, scripsit [„Denn in den Büchern über die menschlichen Dinge hat er nicht über das geschrieben, was sich auf den ganzen Erdkreis bezieht, sondern nur über das, was sich auf Rom bezieht“]):328

Buch und vermuteter Titel

Vermuteter Inhalt und bezeugte Aitiologien/Etymologien

VIII: [Rom]

De urbe Roma(?) (so Mirsch)

Die Stadt Rom. – Fest. p. 474, 36–476, 10 Lindsay (= Ant. rer. hum. VIII frg. 4 Mirsch).329

IX: [Rom?]

De foris, vicis, aedificiis urbis Romae(?) (so Mirsch)

Genauer Inhalt unbekannt. Thema war wohl immer noch die Stadt Rom. – vielleicht hierher: Donat. Ter. Eun. 265 (= Ant. rer. hum. IX frg. 1 Mirsch).330

X: [Rom/Latium(?)]

De Italiae regionibus(?) (so Mirsch)331

Genauer Inhalt unbekannt. Thema war vielleicht Rom, Latium oder bereits Italien.332 – Gell. 11.1.1 (= Ant. rer. hum. X frg. 1 Mirsch);333 Prob. Verg. ecl. praef. ed. Hagen, p. 326, 2–9 (= Ant. rer. hum. X frg. 11 Mirsch).334

XI: [Italien(?)]

De Italiae fertilitate(?) (so Mirsch)

Italien, wohl seine Regionen,335 Städte, Flüsse und Agrarlandschaft.336

XII: [Europa(?)]

De insulis(?) (so Mirsch)

Genauer Inhalt unbekannt. Thema war möglicherweise das übrige Europa.337 – Char. gramm. 1, p. 75, 20–25 Barwick (= Ant. rer. hum. XII frg. 2 Mirsch).338

XIII: [Asien u. Afrika?]

De provinciis(?) (so Mirsch)

Genauer Inhalt unbekannt. Thema war möglicherweise der restliche Erdkreis unter römischer Herrschaft.339 – Char. gramm. 1, p. 183, 25–26 Barwick (= Ant. rer. hum. XIII frg. 18 Mirsch).340

XXX: De sacellis (= Ant. rer. div. V)

Kleinere Heiligtümer, Kapellen und Altäre. – Donat. Ter. Adelph. 567 (= Ant. rer. div. V frg. 62 Cardauns);341 Serv. auct. Verg. Aen. 3.134 (= Ant. rer. div. V frg. 68 Cardauns).342

XXXI: De sacris aedibus

(= Ant. rer. div. VI)

Tempelbauten. – Serv. auct. Verg. Aen. 2.512 (= Ant. rer. div. VI frg. 69 Cardauns);343 Macr. Sat. 1.8.1 (= Ant. rer. div. VI frg. 73 Cardauns).344

XXXII: De locis religiosis

(= Ant. rer. div. VII)

Nicht konsekrierte Örtlichkeiten: Haine, Gräber, private Heiligtümer usw. – Gell. 18.12.9 (= Ant. rer. div. VII frg. 74 Cardauns).345

Die wenigen eindeutigen Fragmente umfassen eine Reihe aitiologischer Erzählungen und Etymologien. Die überlieferungsbedingten Lücken können stellenweise durch entsprechende Passagen aus dem fünften Buch von De lingua Latina ergänzt werden, für die Varro – wie er es für die Res divinae ausdrücklich bezeugt (ling. 6.13: ut in Antiquitatum libris demonstravi) – wahrscheinlich auf die Res humanae zurückgegriffen hat: zu den Bezirken Roms (§§ 41–44), zum lacus Curtius (§§ 148–150) und den servianischen Stadttoren (§§ 163–165). Die Einträge geben uns zumindest eine Vorstellung von den möglichen Inhalten der ortsbezogenen Bücher der Antiquitates.346 Ausgehend von klassifizierenden Begriffsdefinitionen, welche die verzweigte Systematik voraussetzt (Ant. rer. div. VI frg. 70 Cardauns; vgl. auch ling. 7.10), wurden anschließend – gestützt auf historische Legenden, die gelehrte Literatur und eigene Forschungsleistungen – die Namen, die Benennungszusammenhänge oder die Gründungskontexte erläutert. Auch hier zeigt sich, dass Varro konzeptionell über die erklärende antiquarische Herkunftsforschung hinausging und längere beschreibende Passagen einfügte, in denen er lokale Besonderheiten beschrieb.347 An einigen Stellen wurden in geographischer und naturwissenschaftlicher Manier Berge und Flüsse beschrieben und Entfernungen angegeben.348 Dass Aitia und Ortslegenden recht umfangreich und mit persönlichen Kommentaren Varros versehen waren, illustrieren zwei Fragmente (Ant. rer. div. VII frgg. 74–75 Cardauns), die sich wohl auf die bekannte Tullia-Legende beziehen, die zur Benennung des vicus Sceleratus geführt haben soll.349 Ein Beispiel für eine wissenschaftlich-rationale Deutung bietet ein Fragment aus dem 6. Buch (Ant. rer. div. VI frg. 69 Cardauns), in dem die Gewohnheit, Tempel zu errichten, mit Verweis auf den unmittelbaren Nutzen dieser Gebäude als Brandschutz und als Zufluchtsort für die Bevölkerung erklärt wird.350

Während Lokalaitia praktisch in allen Schriften Varros zu finden sind, bleibt unklar, inwieweit er das Thema neben seiner monumentalen Synthese auch monographisch behandelt hat. In De lingua Latina 5.56 verweist er auf einen liber tribuum, in dem er die Bezeichnung der fünfunddreißig römischen Tribus erklärt. Da diese Namen nicht nur auf Personennamen (Titienses ab Tatio, Ramnenses ab Romulo, Luceres ab Lucumone) zurückgehen, sondern auch ab locis benannt waren, ist die topographische Ausrichtung der Schrift evident.351 In Frage kämen auch die im varronischen Schriftenkatalog des Hieronymus aufgeführten Rerum urbanarum libri III, doch ist über Aufbau und Inhalt dieses nur einmal bei Charisius genannten Werkes keine Sicherheit zu gewinnen (Char. gramm. 1, p. 170, 19–20 Barwick = HRR frg. 1: Varro de rebus urbanis III: Spartaco innocente coniecta ad gladiatorium [„Varro im 3. Buch der Res urbanae: Obwohl unbescholten, wurde Spartacus zum Gladiator gemacht“]). Neben einer Chronik der städtischen Ereignisse oder einer Beschreibung des städtischen Handwerks und Handels als Gegenstück zu den Res rusticae ist auch an eine Topographie Roms zu denken.352

Die einzige bekannte römische Monographie, die mit hinreichender Sicherheit der Lokalaitiologie gewidmet war, ist ein Werk des augusteischen Vielschreibers C. Iulius Hyginus, das in den erhaltenen Zeugnissen unter wechselnden Titeln erscheint: De origine urbium Italicarum (Serv. auct. Verg. Aen. 8.638), De situ urbium Italicarum (Serv. Verg. Aen. 3.553), Italicae urbes (Serv. Verg. Aen. 7.412).353 Das Werk umfasste mindestens zwei Bücher (Macr. Sat. 5.18.16), scheint aber wesentlich umfangreicher gewesen zu sein (Serv. Verg. Aen. 7.678: de Italicis etiam urbibus Hyginus plenissime scripsit [„Über die Städte Italiens hat auch Hygin sehr ausführlich geschrieben“]). Auch die Stadt Rom wurde behandelt (Serv. Verg. Aen. 1.277 = FRHist 63 F11: hoc autem urbis nomen ne Hyginus quidem, cum de situ urbis loqueretur, expressit [„aber diesen [geheimen] Namen der Stadt hat nicht einmal Hygin genannt, als er über die Lage der Stadt schrieb“]).354 Fragmente und Titelvarianten deuten darauf hin, dass das Topographisch-Geographische und das Historische wie in der historischen Periegese konvergierten, wobei den gegenwartsbezogenen Ursprüngen in der explikativen Form von Etymologien, Aitiologien und Genealogien offenbar primäre Aufmerksamkeit geschenkt wurde:355

  • FRHist 63 F5 (= Macr. Sat. 5.18.16): et Hernicum quidem hominem Pelasgum ducem Hernicis fuisse Iulius Hyginus in libro secundo urbium non paucis verbis probat.

    Und Hygin hat im 2. Buch der Städte mit nicht wenigen Worten dargelegt, dass Hernicus, ein Pelasger, der Anführer der Herniker gewesen war.

  • FRHist 63 F6 (= Serv. auct. Verg. Aen. 3.553): Aulon mons est Calabriae […] in quo oppidum fuit a Locris conditum quod secundum Hyginum, qui scripsit de situ urbium Italicarum, † olim non estAlii a Caulo, Clitae Amazonis filio, conditum tradunt.

    Aulon ist ein Berg in Kalabrien […], dort liegt eine von Lokrern gegründete Siedlung, die laut Hygin, der über die Lage der italischen Städte geschrieben hat, … † Andere überliefern, sie sei von Caulus, dem Sohn der Amazone Clita, gegründet worden.

  • FRHist 63 F7 (= Serv. Verg. Aen. 7.412): nam Ardea quasi ardua dicta est, id est magna et nobilis, licet Hyginus in Italicis urbibus ab augurio avis ardeae dictam velit.

    Denn Ardua wurde nach ardua benannt, das heißt groß und bedeutend, mag auch Hygin in seinem Werk Städte Italiens behaupten, die Stadt sei nach dem Augurium eines Reihers [ardea] benannt.

  • FRHist 63 F8 (= Serv. Verg. Aen. 8.597): Agylla civitas est Tusciae a conditore Agella appellata, cui ex inscitia Romana aliud est inditum nomen. Nam cum Romani euntes per Tusciam interrogarent Agyllinos quae diceretur civitas, illi, utpote Graeci, quid audirent ignorantes et optimum ducentes si prius eos salutarent, dixerunt χαῖρε: quam salutationem Romani nomen civitatis esse putaverunt, et detracta aspiratione eam Caere nominarunt, ut dicit Hyginus in urbibus Italicis.

    Die Stadt Agylla in Tuskien hat ihren Namen von ihrem Gründer Agella, dem aus römischer Unkenntnis ein anderer Name gegeben wurde. Als nämlich die Römer durch Tuskien zogen und die Agylliner nach dem Namen ihrer Stadt fragten, verstanden diese die Frage nicht, da sie Griechen waren, und hielten es das Beste, jene zuerst zu grüßen. So sagten sie chaire [„Guten Tag“]. Die Römer hielten diesen Gruß für den Namen der Stadt und nannten sie Caere, indem sie die Aspiration wegließen. So schreibt Hygin in seinem Werk Städte Italiens.

  • FRHist 63 F9 (= Serv. auct. Verg. Aen. 8.638): severis aut severis disciplina, aut rem hoc verbo reconditam dixit, quia Sabini Lacedaemoniis originem ducunt, ut Hyginus ait de origine urbium Italicarum, a Sabo, qui de Perside Lacedaemonios transiens ad Italiam venit, et expulsis Siculis tenuit loca quae Sabini habent. Nam et partem Persarum nomine Caspiros appellari coepisse, qui post corrupte Casperini dicti sunt.

    Den sittenstrengen [Cureten] entweder „sittenstreng“ wegen ihrer Lebensweise, oder der Dichter will mit diesem Wort auf eine entlegene Geschichte anspielen, weil die Sabiner ihren Ursprung auf die Lakedaimonier zurückführen, wie Hygin in Über den Ursprung der italischen Städte schreibt: von Sabus, der von Persien kommend durch Lakedaimon zog, nach Italien gelangte und nach der Vertreibung der Siduler den Ort besetzte, den jetzt die Sabiner bewohnen. Denn einen Teil der Perser habe man damals Caspirer zu nennen begonnen, was später zu Casperinern verfälscht wurde [Casperia war eine alte sabinische Stadt].

Die antiquarische Fragestellung, der Hygin offenbar mit wissenschaftlichem Anspruch nachging (F5: probat; F8: gewiss keine überkommene aitiologische Sage, sondern gelehrter Indizienschluss), tritt hier zwar deutlich hervor, doch dürfte die Auswahl kaum repräsentativ sein, zumal alle Fragmente der gelehrten Vergilkommentierung entstammen und die Stellung der Schrift zu Vergils Aeneis, namentlich zu den italischen und etruskischen Katalogen in den Büchern 7 und 10, problematisch ist.356 Aus F5, F8 und F9 kann daher nur mit Vorbehalt auf eine Tendenz Hygins geschlossen werden, den italischen Völkern und Göttern generell einen griechischen beziehungsweise pelasgischen Ursprung zuzuschreiben (siehe dazu unten S. 336). Die Identifikation der Etrusker mit den Pelasgern, einem als autochthon erachteten Volk Griechenlands (so schon Pherekydes, FGrHist 2 F25 und Ephoros, FGrHist 70 F113), das auch bei Homer erwähnt wird (Od. 19.177; Il. 2.840–843), ist eine Auffassung der griechischen Ethnographie (vgl. Herodot. 1.57; Hellanikos, FGrHist 323a F4), der sich Hygin (und Varro) offenbar angeschlossen haben.357 Anklänge an diese Legende finden sich nach Ansicht der antiken Vergilkommentierung auch in der Aeneis.358

Aufbau und Darstellungsform von De urbibus Italicis bleiben völlig im Dunkeln; am wahrscheinlichsten ist eine streng systematische Abhandlung in Form eines Traktats. Nach dem Vorbild von Catos Origines ist aber auch die Einbettung in einen größeren historiographischen Rahmen denkbar.359 Beide Arten der Literarisierung würden ein chronologisches Raster ermöglichen. Ein solches ist aber keineswegs zwingend. Auch über die Vorlagen und Quellen des Werkes können bestenfalls Vermutungen angestellt werden. Ein beträchtlicher Teil der behandelten Themen dürfte jedoch bereits bei Cato und in der älteren Annalistik erörtert worden sein.360 Auch an griechische Quellen ist zu denken; Alexander Polyhistor wurde bereits erwähnt (siehe oben S. 317). Macrobius bemerkt, dass Hygin bei der (euhemeristischen) Sage vom italischen Urkönig Ianus dem Bericht des sonst praktisch unbekannten Protarchos von Tralleis gefolgt sei (Sat. 1.7.19); allerdings ist hier die Zuweisung des Fragments zu De urbibus Italicis nicht sicher.361 Weiterhin stellt sich die Frage nach dem Abhängigkeitsverhältnis zu den oben erwähnten Büchern von Varros Antiquitates (S. 318–322). Auch hier können bestenfalls begründete Vermutungen angestellt werden.362

6.2.1.4 Genealogie und Volksgenese

Etwas besser als bei der Lokalaitiologie ist die Überlieferung der antiquarischen Fachliteratur über Abstammung, Herkunft und Entstehung von Völkern, Dynastien und Familienverbänden. Die Literatur zu diesem Bereich war in der Antike verhältnismäßig umfangreich, unter anderem weil sich Verbindungen zur breit diskutierten Kulturentstehungslehre ergaben. Wie bereits erwähnt, liegt die primäre Funktion der genealogischen Denkfigur in der historisierenden Rückbindung kontingenter sozialer Wirklichkeiten, die durch die Suggestion von historischer Kontinuität und Stabilität legitimiert und verstetigt werden. Die antiquarische Fragestellung äußert sich hier unter anderem in der Imagination eines ursprünglichen Charismas, das auf einen bestimmten Stammvater zurückgeführt werden kann und sich in den einzelnen Mitgliedern der Blutslinie oder des Volkes manifestiert. Das Phänomen der griechischen Götter- und Heroengenealogien und der damit verwobenen Weltentstehungsgeschichte wurde bereits behandelt (siehe oben Kap. 5.1.). In der Welt der Menschen war das genealogische Modell vor allem eine Sache des Adels.363 Der Glaube an die Vererbbarkeit geistiger und körperlicher Vorzüge (und Gebrechen) schuf erst die Voraussetzung für die Anerkennung und Legitimation eines Geburtsadels. Nach griechisch-römischer Vorstellung bedingen sich Herkunft und Leistung gegenseitig, da die Tugenden eines Archegeten in der Familie weitergegeben werden.364 Wie in Griechenland spielten daher auch in Rom Ahnenlisten und Familiengenealogien eine wichtige Rolle für das aristokratische Selbstverständnis und die politisch-legitimatorische Repräsentation der meritokratisch orientierten Nobilität. Entsprechende genealogische Ansprüche – gestützt auf Familientraditionen, kollektive Erinnerung und Imaginationskraft – dürften bei den patrizischen und plebejischen Adelsgeschlechtern bereits im dritten Jahrhundert v. Chr. weitgehend ausgebildet gewesen sein.365

Wann diese Wissensbestände in Rom erstmals in einer antiquarischen Fachschrift gebündelt wurden, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen,366 ebenso wenig, ob dieser Literarisierungsprozess die natürliche gentilizische Zielsetzung genealogischer Vergangenheitsorientierung – nämlich die angestrebte Steigerung des sozialen Prestiges individueller Familien und der politischen Aussichten ihrer Mitglieder – neutralisierte. Neben die Familiengenealogien traten nach griechischen Vorbildern und Mustern im ersten Jahrhundert v. Chr. gesonderte Schriften über die römische Volksgenese und – in universaler Perspektive – über den Ursprung der Menschheit (siehe unten S. 337–345). Eine späte, aber äußerst produktive Fortsetzung fand dieser Gattungstyp in der byzantinischen πάτρια-Literatur sowie in den sogenannten origo gentis-Erzählungen der lateinischen Spätantike und des Frühmittelalters.367

Der genealogische Traditionsbereich war in Rom zunächst mündlich geprägt; Erinnerung und öffentlichkeitswirksame Kommunikation erfolgten durch graphisch-visuelle Medien im Atrium und bei der Leichenprozession (pompa funebris) sowie durch ritualisierte Sprechakte, deren bekanntestes Beispiel, Caesars laudatio funebris auf seine Tante Iulia aus dem Jahr 69/68 v. Chr., den alten genealogischen Anspruch der Iulier auf Abstammung von Venus sowie den der Marcii auf Abstammung von König Ancus Marcius (ORF p. 390 = Suet. Iul. 6.1) verdeutlicht. Ein spezifisch römisches Merkmal genealogischer Erinnerung war die Bekleidung eines kurulischen Amtes als Mindestvoraussetzung für die Aufnahme in die Ehrenhalle der gens. Dieses exklusive Kriterium führte im Gegensatz zu den griechischen Adelsgenealogien dazu, dass der für eine mündliche Überlieferung charakteristische antiquarische Epochensprung zwischen begründender Vorzeit und erinnerter Vergangenheit beziehungsweise Gegenwart vorerst ausblieb, da durch diese Praxis der Impuls, das eigene Geschlecht auf Götter und Heroen zurückzuführen, entscheidend gedämpft wurde.368 Eine veränderte innenpolitische Situation und verschärfte Konkurrenzbedingungen führten dann offenbar seit dem zweiten Jahrhundert dazu, dass die führenden senatorischen Geschlechter zur Erhöhung ihrer Legitimation die Herkunft und Abstammung der eigenen gens um die Dimension der Mythistorie zu erweitern suchten. So führten die Fabier, Servilier und Iulier ihre Stammbäume auf Trojaner, Heroen und Götter zurück, und in Grabreden, auf Münzen und Denkmälern wurden alte genealogische Ansprüche untermauert und neue konstruiert.369 An Kritik und Spott hat es freilich nicht gefehlt: Cicero und Livius beklagen die bewusste Verfälschung der historiographischen Überlieferung, Horaz persifliert die mythologische Abstammung bestimmter Personen.370 Zu dieser Zeit waren die Genealogien der römischen nobiles in ihrer Phantastik zwar schon notorisch, doch scheint dies vor allem für antiquarisch-spekulative Ableitungen aus der mythistorischen Vorzeit gegolten zu haben. Sobald das kollektive Gedächtnis berührt wurde, war eine Toleranzgrenze erreicht, denn im gentilizischen Wettbewerb wurde streng auf dokumentarische Genauigkeit geachtet.371

War genealogisches Forschen und Erinnern in erster Linie Aufgabe der jeweiligen Gentes, aus deren kumuliertem Traditionswissen sich das kollektive Gedächtnis der res publica speiste,372 so gab man die Stammbaumforschung bisweilen auch in „professionelle“ Hände, sei es, weil man selbst dazu nicht in der Lage war, sei es, weil man damit die Authentizität und Objektivität dieser Konstruktionen erhöhen wollte. Erstmals belegt ist diese Praxis für Ciceros umtriebigen Freund T. Pomponius Atticus (110–32 v. Chr.), der nach einer bekannten Passage in der Biographie des Cornelius Nepos (Att. 18.3–4) auf Wunsch hochadliger Freunde für die Iunii, Marcelli, Fabii und Aemilii fortlaufende Familiengenealogien mit Angabe der Ämter und der genauen Abstammung erstellte (familiam a stirpe ad hanc aetatem ordine enumeraverit, notans qui a quo ortus quos honores quibusque temporibus cepisset [„Er hat dieses Geschlecht von seinen Anfängen bis in die heutige Zeit der Reihe nach aufgelistet und dabei notiert, wer von wem abstammte und welche Ämter jeder zu welchem Zeitpunkt erlangt hatte.“]).373 Für diese Aufgabe war er vor allem durch seine anerkannte politische Unabhängigkeit, aber wohl auch durch seine Arbeit an dem 47/46 v. Chr. fertiggestellten Liber annalis qualifiziert, wenn dieses chronikartige Werk, aus dem man die Abstammung herausragender römischer Geschlechter ersehen konnte (Nep. Att. 18.2: sic familiarum originem subtraxit, ut ex eo clarorum virorum propagines possimus cognoscere [„Er hat die Herkunft der einzelnen Geschlechter so aufgelistet, dass wir daraus die Abstammung der adligen Männer erkennen können“]), tatsächlich den einzelnen genealogischen Monographien vorausging.374 Über den Inhalt und die formale Beschaffenheit der Genealogien von Atticus lassen sich keine näheren Angaben machen. Ein Vergleichsmodell römischer Prosopographie bietet ein Kapitel bei Gellius: „Über die Abstammung und die Namen des Geschlechts der Porcier“ (De genere atque nominibus familiae Porciae: 13.20), doch deutet Nepos’ Resümee auf eine andere Akzentuierung hin; im Vordergrund von Atticus’ Darstellung scheint neben der stirps familiae die republikanische Ämtersukzession gestanden zu haben. Der Wortlaut der Passage scheint darüber hinaus zu implizieren, dass auch den vielfältigen verwandtschaftlichen Beziehungen einzelner Gentes Raum gegeben wurde, was sich zweifellos auf die Art der Darstellung auswirkte.375 Es wäre interessant zu wissen, wie Atticus die Lücke zwischen mythischer Frühzeit – sofern sie tatsächlich behandelt war – und gentilizisch erinnerter Vergangenheit überbrückt hat. Doch schon die Rekonstruktion einer durchgehenden Abstammungslinie von L. Iunius Brutus (cos. 509 v. Chr.) bis zu seinem mutmaßlichen Nachfahren M. Iunius Brutus, der den berühmten Ahnen auf Münzen abbilden ließ,376 dürfte erhebliche genealogische Konstruktionen erfordert haben. In diesem Bereich, dessen spekulativer Charakter sich in Mehrfacherklärungen manifestiert (zur gens Caecilia: Paul. Fest. p. 38, 23–25 Lindsay; zur gens Fabia: Paul. Fest. p. 77, 15–18 Lindsay), dürfte die griechische Literatur jedoch adäquate Erzählmuster bereitgehalten haben.

Zu den spätrepublikanischen Techniken der genealogischen Aufwertung des Familienprestiges gehörte neben der Berufung auf einen eponymen Urahn (möglichst aus mythistorischer Vorzeit) auch die Usurpation fremder Stammbäume. Cicero setzte in seinen Gerichtsreden zwar in der Regel voraus, dass die Richter über die Abstammung der hochadeligen Protagonisten Bescheid wussten.377 Die Grauzone war jedoch groß, und Versuche, sich das symbolische Kapital und das Charisma ausgestorbener Geschlechter anzueignen, sind in der Späten Republik nicht nur auf Münzen belegt.378 Seit Sulla lässt sich eine spezifische Form der genealogischen Traditionsbildung nachweisen, die sich vor allem auf Angehörige patrizischer Familien beschränkte. Sie bestand darin, die Cognomina ausgestorbener Geschlechter als Pränomen zu restituieren.379 Diese Eigenart ging mit der allgemeinen Wiederverwendung altertümlicher Cognomina einher und stand möglicherweise in direktem Zusammenhang mit den genealogisch-antiquarischen Forschungen der Zeit.380

Ein aufschlussreiches Beispiel für die enge Verbindung zwischen Adelsanspruch und genealogischer Literatur liefert der prestigeträchtige Name der Scipionen. Diese Seitenlinie der Cornelii war in der Mitte des ersten Jahrhunderts v. Chr. praktisch ausgestorben, und ihre traditionelle Grabstätte an der Via Appia wurde bald von einer anderen Familienlinie, den Cornelii Lentuli, übernommen.381 Auf die Scipionen bezieht sich die einzige erhaltene Aitiologie einer römischen genealogischen Fachschrift: Zu Beginn seines 35. Buches, das sich größtenteils mit der Malerei beschäftigt, erzählt Plinius, wie der hochbetagte M. Valerius Messalla Rufus (cos. 53), als er das Atrium des Scipio Pomponianus betrat und dort die imagines (oder das gemalte Ahnenstemma) der Cornelii Scipiones sah, so entsetzt über die Besudelung des Namens der Africani war, dass er sich daran machte, ein Werk über die römischen Adelsfamilien zu schreiben.382 Unklar ist, ob aus der Formulierung volumina illa quae de familiis condidit eine inhaltliche Paraphrase oder der Titel einer Schrift De familiis (Romanis?) zu erschließen ist. Wenn die von Plinius überlieferte Episode aus dem auktorialen Motivationsreferat im Vorwort des mehrbändigen Werkes stammt, wofür einiges spricht, dann dürfte Messalla programmatisch für einen wissenschaftlichen, quellengestützten Umgang mit der Materie plädiert haben. Diese Ansicht wird jedoch durch die beiden einzigen Fragmente, die dem Werk mit einiger Sicherheit zugeordnet werden können, nur bedingt bestätigt. Es handelt sich um Wunder (θαύματα), die aus der jeweiligen Familientradition stammen dürften:

  • Plin. nat. 7.173 (= FRHist 42 F1): nam C. Aelium Tuberonem praetura functum a rogo relatum Messalla Rufus et plerique tradunt.

    Denn Messalla Rufus und viele andere berichten, dass C. Aelius Tubero nach seiner Praetur vom Scheiterhaufen wieder zurück nach Hause gebracht wurde [sc. lebend].

  • Plin. nat. 34.137 (= FRHist 42 F2): Servilia familia inlustris in fastis trientem aereum pascit auro, argento, consumentem utrumque. Origo atque natura eius incomperta mihi est. Verba ipsa de ea re Messallae senis ponam: „Serviliorum familia habet trientem sacrum, cui summa cum cura magnificentiaque sacra quotannis faciunt. Quem ferunt alias crevissem, alias decrevisse videri et ex eo aut honorem aut deminutionem familiae significari.“

    Die Servilier, ein im Festkalender prominentes Geschlecht, besitzt eine bronzene Drittelas-Münze, die sie mit Gold und Silber füttern und die beides in sich aufnimmt. Ursprung und Beschaffenheit dieser Münze konnte ich nicht ermitteln. Ich zitiere dazu die Worte des älteren Messalla: „Das Geschlecht der Servilier besitzt eine heilige Drittelas-Münze, der sie alljährlich mit größter Sorgfalt und Pracht Opfer darbringen. Sie sagen, die Münze scheine bald zu wachsen, bald zu schrumpfen, und dies würde über Erfolg oder Misserfolg der Familie Auskunft geben.“

Die Aufnahme von erinnerten Familienwundern in ein genealogisches Werk muss jedoch nicht viel bedeuten, zumal dies auch für Varros Antiquitates belegt ist.383 Während den beiden zitierten Zeugnissen ohnehin kaum ein Repräsentativitätsanspruch für das Werk zugestanden werden kann, fällt zum einen ins Gewicht, dass neben der alten patrizischen gens der Servilier auch die neue Nobilität der Aelii berücksichtigt wurde; zum anderen unterblieb – was Plinius ausdrücklich bedauert (origo atque natura eius incomperta mihi est [„Ursprung und Beschaffenheit dieser Münze konnte ich nicht ermitteln“]) – der Bericht über die sicher vorhandene Aitiologie der „heiligen Münze“, der die Servilier alljährlich Opfer darbrachten. Angesichts dieser Ambivalenzen muss offenbleiben, ob Messalla die einzelnen Stammbäume bis in die mythische Urzeit zurückverfolgt hatte. Für die bewusste Aussparung mythologischer Herleitungen dürfte aber neben dem kritisch-wissenschaftlichen Anspruch auch die gentilizisch neutrale Ausgangslage sprechen, die aufgrund des anthologischen Charakters vermutlich gegeben war. Marshall hat daher mit Blick auf Plinius nat. 35.8 und Propertius 4.11 Messallas Schrift als Korrektiv zu Atticus’ wohlwollend-fingierten Genealogien sehen wollen.384 Dies setzt allerdings eine relativ späte Datierung des Werkes voraus („late thirties or early 20s“), die problematisch ist, da die Identifizierung des bei Plinius genannten Scipio Pomponianus auch aufgrund textkritischer Probleme nicht mit letzter Sicherheit geklärt werden kann.385

Entsprechend schwierig ist auch die Beurteilung des zeitlichen und inhaltlichen Verhältnisses von Messallas Werk zu den genealogischen Schriften Varros (siehe dazu unten S. 335–344). Insofern Varro (und Hygin) in De familiis Troianis (siehe unten S. 345–348) offenbar nur jene alten patrizischen Geschlechter Roms behandelten, die sich auf trojanische Herkunft beriefen, und Varro in De gente populi Romani die Herkunft des ganzen Volkes aus seinen Ursprüngen ableitete, wollte die ältere Forschung Messalla – als dem einzigen nachweisbaren Verfasser einer umfassenden Sammlung römischer Familienstammbäume – eine Schlüsselstellung in der Überlieferung genealogischen Wissens zuweisen.386 Derartige quellenkundliche Rekonstruktionen, so verdienstvoll sie auch sein mögen, neigen jedoch dazu, die Arbeitsweise und den wissenschaftlichen Anspruch der großen Kompilatoren generell zu unterschätzen. Die an sich plausible Annahme, dass sich enzyklopädische Autoren wie Verrius Flaccus oder Plinius jeweils auf eine singuläre Hauptquelle zu einem bestimmten Thema stützten, erscheint nach dem heutigen Forschungsstand kaum mehr wahrscheinlich. Es bleibt daher offen, woher die nur noch notizenhaften Informationen in der Festus-Epitome des Paulus über die mythistorischen Ursprünge und eponymen Ahnherren einzelner römischer Gentes stammen:

  • Paul. Fest. p. 22, 5–8 Lindsay: Aureliam familiam ex Sabinis oriundam a Sole dictum putant, quod ei publice a populo Romano datus sit locus, in quo sacra faceret Soli, qui ex hoc Auseli dicebantur, ut Valesii, Papisii pro eo, quod est Aurelii, Papirii.

    Man glaubt, dass das Geschlecht der Aurelier, das sabinischen Ursprungs ist, seinen Namen von Sol erhielt, weil ihnen das römische Volk von Staats wegen einen Ort zuwies, an dem sie Sol Opfer darbringen sollten; deshalb nannte man sie Auselier, wie die Valesier, Papisier, was heute die Aurelier, Papirier sind.

  • Paul. Fest. p. 38, 23–25 Lindsay: Caeculus condidit Praeneste. Unde putant Caecilios ortos, quorum erat nobilis familia apud Romanos. Alii appellatos eos dicunt a Caecade Troiano, Aeneae comite.

    Caeculus gründete Praeneste. Von ihm sollen die Caecilier, ein römisches Adelsgeschlecht, abstammen. Andere sagen, die Familie sei nach dem Trojaner Caecas, einem Gefährten des Aeneas, benannt.

  • Paul. Fest. p. 41, 5 Lindsay: Calpurni a Calpo, Numae regis filio, sunt oriundi.

    Die Calpurnier stammen von Calpus, dem Sohn des Königs Numa, ab.

  • Paul. Fest. p. 48, 14 Lindsay: Cloelia familia a Clonio, Aeneae comite, est appellata.

    Das Geschlecht der Cloelier trägt seinen Namen von Clonius, einem Begleiter des Aeneas.

  • Paul. Fest. p. 77, 15–18 Lindsay: Fovi qui nunc Favi [= Fabii] appellantur, dicti, quod princeps gentis eius ex ea natus sit, cum qua Hercules in fovea concubuit. Alii putant, eum primum ostendisse, quemadmodum ursi et lupi foveis caperentur.

    Die Fovier, die heute Fabier genannt werden, heißen so, weil der Stammvater ihres Geschlechts ein Sohn jener Frau war, mit der Herkules in der Grube Beischlaf hatte. Andere glauben, dass er der Mann war, der den Menschen als erster zeigte, wie Bären und Wölfe sich in Fallgruben fangen lassen.

  • Fest. p. 116, 7–9 Lindsay: Mamiliorum familia progenita sit a Mamilia Telegoni filia, quam Tusculi procreavit, quando id oppidum ipse condidisset.

    Das Geschlecht der Mamilier geht zurück auf Mamilia, die Tochter des Telegon, die er in Tusculum zeugte, nachdem er selbst diese Stadt gegründet hatte.

  • Paul. Fest. p. 165, 6 Lindsay: Nautiorum familia a Troianis dicitur oriunda.

    Man sagt, das Geschlecht der Nautier stamme von den Trojanern ab.

Wesentlich komplexer als die Aufarbeitung des vermuteten Beitrags von Atticus und Messalla zum hier behandelten Zweig antiquarischer Fachliteratur gestaltet sich die Aufarbeitung der Leistungen Varros in diesem Bereich. Sein eigenes Cognomen führte er auf einen Vorfahren zurück, der einen Illyrer dieses Namens im Kampf gefangen genommen haben soll (so Serv. auct. Verg. Aen. 11.743; vermutlich aus De vita sua387). Genealogische Wissensbestände hat Varro in mehreren, sich thematisch berührenden Schriften erörtert. Für die vorliegende Untersuchung relevant sind die Monographien De familiis Troianis, De gente populi Romani, der Logistoricus Tubero de origine humana sowie die einschlägigen Passagen in den Büchern De hominibus der Antiquitates.388 Im Dunkeln bleiben die nur bei Serv. Verg. Aen. 5.412 erwähnten Libri de gradibus, die offenbar verschiedene Verwandtschaftsgrade in rechtlicher Hinsicht behandelten.389

Die zeitliche Abfolge der genannten Werke lässt sich im Einzelnen nicht mehr genau bestimmen. Anhaltspunkte bieten der Terminus ante quem der Antiquitates (45 v. Chr.: die Veröffentlichung von Ciceros Academica posteriora) sowie die Erwähnung der Konsuln Hirtius und Pansa als Terminus post quem der Schrift De gente populi Romani (43 v. Chr.). Wenn das mindestens zwei Bücher umfassende Spezialwerk über die „trojanischen Geschlechter“ Roms als vertiefende Ergänzung zu De gente populi Romani gedacht war, würde dies eine gleichzeitige oder spätere Datierung nahelegen; nach 45 scheint auch der Tubero entstanden zu sein; mehr als begründete Hypothesen sind dies aber nicht.390

Welche genealogischen Wissensbestände in den sechs Büchern De hominibus der Res humanae im Einzelnen behandelt wurden, lässt sich nur noch annähernd feststellen. Auch hier bieten Parallelstellen aus De lingua Latina und De re rustica eine bedingt aussagekräftige Ergänzung zu den spärlichen Belegen.391 Nach einem einleitenden Buch über die Menschheit392 lassen die gesicherten Fragmente für die Bücher 2–5 einen Komplex von Ursprungslegenden erkennen, in dem Trojaner, Latiner, die übrigen italischen Stämme und ihre führenden Repräsentanten (das heißt die herrschenden Adelsfamilien) amalgamiert sind. Ihr Inhalt spiegelt sich in Mirschs hypothetischer Rekonstruktion der Buchtitel wider: Buch 2: De Aboriginis et Latinis („Über die Ureinwohner und die Latiner“), Buch 3: De ceteris Italiae gentibus („Über die übrigen italischen Völker“), Buch 4: De urbis Romae conditoribus et primis incolis („Über die Gründer der Stadt Rom und ihre ersten Bewohner“), Buch 5: De civibus Romanis („Über die Bürger Roms“), Buch 6: De regibus („Über die römischen Könige“). Enge Berührungspunkte ergaben sich mit der Lokal- und Sprachaitiologie, besonders im Hinblick auf die üblicherweise über Genealogien erstellte griechische, pelasgische oder arkadische Herkunft italischer Völker und ihre Genese,393 aber auch mit der Kulturentstehungslehre, ein im späteren 1. Jahrhundert literarisch breit diskutierter Gegenstand.394 Griechische Herrschergenealogien mussten schon wegen der trojanischen Ursprungslegende breiten Raum einnehmen; inwieweit Varro hier die Widersprüche der griechischen Literatur referiert und sich dann für eine Variante entschieden hat, lässt sich nur noch punktuell feststellen.395

In den Res divinae sind genealogische Ausführungen allenfalls dort zu erwarten, wo der Ursprung bestimmter sacra gentilicia erläutert wird (vgl. Fest. p. 274, 30–31 Lindsay: in sacrificio gentis Claudiae [„beim Opferdienst der Claudier“]) oder wo erklärt wird, warum gewisse öffentliche Kulte an bestimmte römische Familien gebunden waren, zum Beispiel der Kult des Herkules an die Potitii und Pinarii (vgl. Liv. 1.7.14; Verg. Aen. 8.269 f.; Macr. Sat. 1.12.28), der Kult des Tigillum Sororium an die gens Horatia (vgl. Liv. 1.26.13) oder der Kult des Sol an die gens Aurelia (Paul. Fest. p. 22, 5–8 Lindsay, das Zitat oben S. 333). So erklärte Varro in De familiis Troianis, warum die Nautii die sacra der Minerva besorgten (Serv. Verg. Aen. 5.704, siehe unten S. 345). Entsprechende Ausführungen sind auch für einige ursprünglich gentilizische Sakralgruppen zu erwarten, wie die sodales Titii oder die Quinctiales und Fabiani der Luperci.396

Die römische Volksgenese hat Varro nach den Antiquitates noch einmal und wohl ausführlicher in der vier Bücher (so Arnob. nat. 5.8.6) umfassenden Spezialschrift De gente populi Romani behandelt.397 Thema war das γένος, die Herkunft und Abstammung des römischen Volkes, das hier in ethnographischer Tradition eine Betrachtung vor dem βίος, der Lebensweise, fand. Letzteren Themenkreis hat Varro – ebenfalls in vier Büchern – in De vita populi Romani gesondert behandelt und chronologisch direkt an die Zwillingsschrift anschließen lassen, sodass sich aus Thema, Titelgebung, Buchzahl und Chronologie eine sich gegenseitig ergänzende Einheit ergab.398 Die traditionell enge Verbindung der Leitaspekte gens und vita war, wie Servius bezeugt, schon bei Cato angelegt:

durum a stirpe genus Italiae disciplina et vita laudatur: quam et Cato in originibus et Varro in gente populi Romani commemorat.

von der Wurzel ein hartes geschlecht Hier wird die Sitte und Lebensart Italiens gepriesen, die auch von Cato in den Anfängen und von Varro in seinem Werk Über die Abstammung und Genese des römischen Volkes hervorgehoben wird.

Serv. Verg. Aen. 9.600 = frg. 34 Fraccaro = FRHist 5 T11e

Beide Schriften zusammen lieferten also nach dem Vorbild von Dikaiarchos’ Βίος Ἑλλάδος „am Leitfaden einer weltgeschichtlichen Epochengliederung von den Anfängen der Menschheit über die orientalische, griechische, trojanische, italische und römische Geschichte bis auf die Zeit des Autors eine vorwiegend aitiologisch orientierte Darstellung kultureller instituta.“399

Die Auswahl der Fragmente aus De gente populi Romani, die größtenteils auf das achtzehnte Buch von Augustinus’ De civitate dei zurückgehen, das die Entwicklung der terrena civitas seit der Zeit Adams behandelt,400 enthält – dem Interessenschwerpunkt des Kirchenvaters folgend – genealogisches Wissen nur insoweit, als es Könige betrifft, die aufgrund ihrer irdischen Leistungen mit der Aura des Himmlischen versehen wurden und göttliche Ehrungen erhielten.401 Von den zweifellos vorhandenen Erörterungen über die physische Abstammung des römischen Volkes, vor allem über seine äolisch-trojanisch-latinischen Ursprünge, haben sich keine direkten Spuren erhalten. Das chronologisch-genealogische Gerüst der kulturgeschichtlichen Darstellung bildeten offenbar die Königslisten der Sikyonier, Athener, Laurenter, Latiner und Römer, die Varro teils griechischen Vorlagen – möglicherweise der Χρονικά des Kastor von Rhodos (FGrHist 250)402 – entnommen, teils durch eigene Forschungen rekonstruiert haben dürfte.403 Die antiquarische Orientierung zeigt sich unter anderem in der Verkettung kultureller Aneignungsakte:

Maiores enim nostri sedentes epulabantur. Quem morem a Laconibus habuerunt et Cretensibus, ut Varro docet in libris de gente populi Romani, in quibus dicit quid a quaque traxerint gente per imitationem.

Unsere Vorfahren aßen nämlich im Sitzen. Diese Sitte haben sie von den Lakedaimoniern und Kretern übernommen, wie Varro in seinen Büchern Über die Abstammung und Genese des römischen Volkes zeigt, in denen er darlegt, was sie von welchem Volk durch Nachahmung übernommen haben.

Serv. Verg. Aen. 7.176 = frg. 37 Fraccaro

Das zugrundeliegende Denkmuster ist hier insofern genealogisch, als der schrittweise kulturgeschichtliche Prozess der Weitergabe spezifischer Bräuche und Heuremata gleichsam stammbaumartig gedacht und nachvollzogen wird. Ein anschauliches Beispiel ist die Zuordnung der Luperci, der archaisch anmutenden Sonderpriester des Faunus mit ihrer ostentativen Werwolfssymbolik, zu den arkadischen Λύκαια, die in mythologischer Verbindung mit Deukalion und der großen Flut standen:404

Hoc Varro ut adstruat, commemorat alia non minus incredibilia de illa maga famosissima Circe […] et de Arcadibus, qui sorte ducti tranabant quoddam stagnum atque ibi convertebantur in lupos et cum similibus feris per illius regionis deserta vivebant. Si autem carne non vescerentur humana, rursus post novem annos eodem renatato stagno reformabantur in homines. Denique etiam nominatim expressit quendam Demaenetum gustasse de sacrificio, quod Arcades immolato puero deo suo Lycaeo facere solerent, et in lupum fuisse mutatum et anno decimo in figuram propriam restitutum pugilatum sese exercuisse et Olympiaco vicisse certamine. Nec idem propter aliud arbitratur historicus [sc. Varro] in Arcadia tale nomen adfictum Pani Lycaeo et Iovi Lycaeo nisi propter hanc in lupos hominum mutationem, quod eam nisi vi divina fieri non putarent. Lupus enim Graece λύκος dicitur, unde Lycaei nomen apparet inflexum. Romanos etiam Lupercos ex illorum mysteriorum veluti semine dicit exortos [sc. durch die Vermittlung des Euander].

Um dies zu stützen, erwähnt Varro noch andere nicht weniger unglaubliche Dinge und erzählt von jener berüchtigten Zauberin Circe […] und von den Arkadiern, die einst vom Schicksal geführt einen Sumpf durchschwammen, dabei in Wölfe verwandelt wurden und dann mit anderen Raubtieren ihresgleichen in der Wildnis jener Gegend zusammenlebten. Wenn sie aber kein Menschenfleisch fräßen [sc. so das Orakel], sollten sie nach neun Jahren und nach Durchschwimmen desselben Sumpfes wieder zu Menschen werden. Schließlich nennt er aber auch einen gewissen Demaenetus mit Namen, der vom Fleisch eines Knaben aß, den die Arkadier ihrem Gott Lycaeus zu opfern pflegten, der dann in einen Wolf verwandelt wurde und im zehnten Jahr seine menschliche Gestalt wieder bekam, darauf sich im Faustkampf übte und bei den Olympischen Wettkämpfen siegte. Und aus keinem anderen Grund, meint unser Geschichtsforscher [sc. Varro], habe man in Arkadien dem Pan und Jupiter den Beinamen Lycaeus gegeben, weil man göttliche Macht für erforderlich hielt, solches zu bewirken. Denn Wolf heißt auf griechisch lykos, und daher kommt augenscheinlich der Name Lycaeus. Auch die römischen Luperci sind seiner Ansicht nach aus der Saat dieser Mysterien entstanden.405

Aug. civ. 18.17 = frg. 29 Fraccaro

Die Logik des analytischen Vorgehens ist antiquarisch-regressiv: Ausgangspunkt der gelehrten Rekonstruktionsleistung ist – wie in der Sprachforschung – die unmittelbar erlebte Gegenwart,406 von der aus das gleichsam undurchdringliche Blätterwerk der Kulturinstitute über die einzelnen Zweige und tragenden Äste bis zum Stamm und den Wurzeln zurückverfolgt wird.407 Dieser genealogisch vorgestellte zivilisationsgeschichtliche Entwicklungsprozess impliziert die Vorstellung einer Erbschaft der Römer, die ihre Lebenswelt als Ergebnis eines Jahrtausende währenden, stufenweisen Kulturfortschritts begreifen konnten. Inwiefern dabei die daraus resultierende Kulturhoheit beziehungsweise der kulturgeschichtliche Eigenwert Roms von Varro explizit hervorgehoben wurde, lässt sich nicht mehr feststellen. Das Thema war schon lange vor der Zeit des Augustus politisch und ideologisch aufgeladen: Die Hypothese vom griechischen Ursprung der Römer wurde seit dem dritten Jahrhundert v. Chr. nicht nur in der griechischen und römischen Historiographie, sondern auch in der gelehrten hellenistischen Grammatik lebhaft diskutiert; dabei standen radikalere Positionen neben solchen, die auf eine Harmonisierung der verschiedenen Theorien (etwa trojanisch vs. griechisch-äolische Herkunft) abzielten.408 Letztere Position wurde in augusteischer Zeit von Dionysios von Halikarnassos vertreten. Zur Untermauerung seiner Argumentation verwies er (wie auch einige in Rom tätige griechische Grammatiker) unter anderem auf die offenkundigen Ähnlichkeiten in Bräuchen und staatlichen Institutionen zwischen den Römern seiner Zeit und den archaischen Griechen zur Zeit Homers, was er dahingehend interpretierte, dass die Römer die alten Bräuche bewahrt hätten, von denen die Griechen im Laufe der Zeit abgewichen seien.409

Ging es in De gente populi Romani um die genealogische Verortung des römischen Volkes innerhalb einer universal-kollektiven „Völkerfamilie“, so trat das spezifisch Genealogische in De vita populi Romani schon deshalb zurück, weil hier – nach dem Leitmodell der Aitiologie und Etymologie – in äußerst differenzierter und systematisierter Weise jene Details der Lebenswelt behandelt wurden, die man auf genuin römische Ursprünge zurückführte: Kalenderwesen (frgg. 12–15 Pittà = 18–22 Riposati), Lebensführung (frgg. 27–35 Pittà = 32–38 Riposati), Hausrat (frgg. 43–49 Pittà = 51–59 Riposati), Kleidung (frgg. 50–56 Pittà = 44–50 Riposati), Geldwesen (frg. 20 Pittà = 11 Riposati), Militaria (u. a. frgg. 83–90 Pittà = 86–93 Riposati), Staatsinstitutionen (frgg. 67–70 Pittà = 68–71 Riposati) usw. Dieser Stoff war historisch-chronologisch geordnet nach Königszeit (Buch 1), Frühe (Buch 2), Mittlere (Buch 3) und Späte Republik (Buch 4).410 Im ersten Buch war der systematischen antiquarischen Darstellung offenbar ein narrativer Abriss der Königszeit vorangestellt worden (frgg. 1–22 Pittà). Es ist unklar, ob das gleiche Muster auch in den folgenden Büchern verfolgt wurde, die sich mit Epochen befassten, die im Laufe der Zeit immer besser dokumentiert und damit historisch immer komplexer wurden. Möglicherweise ist Varro hier blockweise vorgegangen, indem er auf die Darstellung einer historischen Episode (etwa des Galliersturms: frgg. 63–64 Pittà = 61–62 Riposati) jeweils die antiquarischen Ausführungen zu diesem Zeitabschnitt folgen ließ.411 In der Perspektive der chronologisch fortschreitenden „individuellen“ Lebensgeschichte des Volkes (vita) gewinnt das genealogische Denkmodell dadurch eine neue inhaltliche Potenz, dass man sich den mos maiorum – wie die menschliche Kultur überhaupt – als ererbtes Traditionsgut vorzustellen hatte.412

Derselbe Gegenstand, den er zu Beginn von De gente populi Romani dargestellt hatte, nämlich die Frühgeschichte der Menschheit in universalhistorischer Perspektive, wurde von Varro im Tubero de origine humana (so Prob. Verg. ecl. 6.31) monographisch vertieft. Neben dem Catus de liberis educandis und dem bereits erwähnten Curio de cultu deorum (siehe oben S. 285) gehört diese Schrift zu den wenigen Logistorici, die aufgrund der erhaltenen Zeugnisse begründete Vermutungen über Inhalt und äußere Form zulassen.413 Die im Titel aufgeworfene origo-Frage scheint das Werk von vornherein der antiquarischen Fachliteratur zuzuordnen, doch ist die Argumentation wie bei allen Logistorici überwiegend philosophisch, und die überlieferten Fragmente betonen weniger die kulturelle als die physiologische Entwicklung. Die wesentlichen Fragmente stammen aus Lactanz’ De opificio dei und Censorinus’ De die natali, doch wird der Tubero nur an einer Stelle explizit als Quelle genannt (Cens. 9.1).414 Wenn man den Logistoricus dennoch als eine Hauptquelle des Censorinus ansieht und von ihm auf Varro zurückschließt,415 dann behandelte Varro zunächst die Entstehung der ersten Menschen, das heißt die von den philosophischen Schulen diskutierte Frage, ob es die Menschen schon immer gegeben habe oder ob sie einen besonderen Anfang gehabt hätten (Cens. 4.3).416 Es folgen Ausführungen über die Zeugung und die Dauer der Schwangerschaft. Auch hier werden verschiedene philosophische Ansichten dargestellt (Cens. 5–9), wobei allerdings nur die pythagoreische Meinung explizit aus dem Tubero zitiert wird. Ob in der Folge auch die verschiedenen Altersstufen des Menschen behandelt wurden (wie bei Cens. 14–15), ist fraglich, zumal dieser Gegenstandsbereich offensichtlich über das Thema de origine humana hinausgeht. Stärker antiquarisch akzentuiert sind die Bruchstücke, die man aus Lactanz gewinnen will,417 unter anderem die physiologischen Etymologien, die der Kirchenschriftsteller gelegentlich mit dem Namen Varros verbindet und die offensichtlich aus dem Kontext einer wissenschaftlichen Darstellung des menschlichen Körpers stammen:

Sed nos ad dei opera revertamur. Ut igitur oculi munitiores essent ab iniuria, eos ciliorum tegminibus occuluit; unde oculos esse dictos Varroni placet […].

Aber kehren wir zu den Werken Gottes zurück! Um die Augen vor Verletzungen zu schützen, hat er sie mit Lidern verhüllt [occuluit]. Varro meint, deswegen sage man oculi [„Augen“].

Lact. opif. 10.1

Habet [lingua] praeterea et aliud officium, quo in omnibus, non tamen solo in mutis utitur, quod contritos et permolitos dentibus cibos colligit et conglobatos vi sua deprimit et transmittit in ventrem. Itaque Varro a ligando cibo putat linguae nomen inpositum.

Die Zunge hat daneben auch noch eine andere Aufgabe, die sie bei allen, nicht nur bei stummen Lebewesen erfüllt: sie sammelt die von den Zähnen zerriebenen und zerkauten Speisen, ballt sie kraftvoll zusammen und übergibt sie dem Magen. Daher glaubt Varro, dass das Wort lingua [„Zunge“] von ligando cibo [„Speisen zusammenballen“] abgeleitet sei.

Lact. opif. 10.16

Lactanz ging es um den Nachweis der göttlichen Vorsehung, die hinter der Erschaffung der menschlichen Organe und ihrem Gebrauch steht.418 Das zugrundeliegende antiquarische Modell der gegenwartsorientierten Erklärung eines Gründungs- oder Schöpfungsaktes muss sich nicht zwingend auf Varro als Quelle beziehen, schließt ihn als Vorlage aber auch nicht aus. Dementsprechend könnten, wie Heisterhagen ausführt, auch die weiteren „humanbiologischen“ Passagen in De opificio dei, die sich mit der menschlichen Physiologie und Anatomie befassen, im Wesentlichen aus dem Tubero geschöpft worden sein; allerdings fehlen auch hierfür stichhaltige Belege, zumal die origo humana nur bedingt dem Sachgebiet von De opificio dei, nämlich den „Bestandteilen und Funktionen des menschlichen Körpers“ (partes rationesque corporis humani), entspricht und Lactanz zudem nachweislich verschiedene Schriften Varros herangezogen hat.419

Ein weiterer Themenbereich von De gente populi Romani, der (zu einem unbekannten Zeitpunkt) eine eigene monographische Vertiefung erfuhr, war die Genealogie der „trojanischen“ Geschlechter Roms. Allein der Umfang des Stoffes rechtfertigte eine eigenständige Erörterung: nach dem Zeugnis des Dionysios Halikarnassos (ant. 1.85.3) lebten zu seiner Zeit etwa fünfzig Familien „trojanischer Abstammung“ in Rom. Auf die eminent politische Bedeutung solcher Ansprüche wurde bereits hingewiesen (siehe oben S. 326–330). Varro behandelte das Thema in der Spezialschrift De familiis Troianis in mindestens zwei Büchern (Serv. Verg. Aen. 5.704: in libris quos de familiis Troianis scripsit [„in den Büchern, die er über die trojanischen Geschlechter geschrieben hat“]). Datierung, nähere Inhalte und Zielsetzung sind jedoch unsicher.420 Das Werk wird im Schriftenverzeichnis des Hieronymus nicht erwähnt; die zitierte Servius-Stelle ist das einzige direkte Zeugnis. Noch ein weiteres Fragment kann identifiziert werden (Serv. auct. Verg. Aen. 2.166); es stammt aus demselben Kontext wie das erste. Beide Interpretamente behandeln die aitiologische Verbindung des Palladiums mit der gens Nautia.421 Auf dieser Grundlage hat man die verstreuten Anspielungen auf die trojanische Abstammung römischer Geschlechter im fünften Buch der Aeneis Vergils (Aen. 5.117 (Memmii); Aen. 5.121 (Sergii); Aen. 5.123 (Cluentii); Aen. 5.558 (Atii); Aen. 5.704 (Nautii)) auf Varros De familiis Troianis zurückführen wollen, was durchaus möglich und begründet ist,422 aber nicht nur im Hinblick auf die genannten Werke von Atticus und Messalla, sondern auch auf Varros Behandlung entsprechender Wissensbestände in den Antiquitates und in De gente populi Romani nicht mit letzter Sicherheit geklärt werden kann.423

Damit verbunden ist die grundsätzliche Frage, ob die bei Vergil, Dionysios von Halikarnassos und anderen Quellen bezeugten trojanischen Abstammungsansprüche römischer Familien auf ältere (gentilizische) Traditionsbestände zurückgehen oder erst das Ergebnis gelehrter (varronischer) Kombinatorik darstellen.424 Angesichts der Quellenlage ist es generell schwierig, politische Deutungen vorzunehmen. Dass Varro das Werk im Auftrag Caesars verfasst habe, um einerseits die julische Abstammungslegende zu bekräftigen und andererseits die Erhebung einer Reihe von Familien ins Patriziat durch genealogische Anknüpfung an die Gefährten des Aeneas zu legitimieren, wie Toohey argumentiert, erscheint unwahrscheinlich, zum einen, weil Varro nicht nur den (numismatisch belegten) Anspruch der Iulier auf die Rettung des Palladiums ausdrücklich bestritten hatte (Serv. auct. Verg. Aen. 2.166: unde Minervae sacra non Iulia gens habuit, sed Nautiorum [„Die Aufsicht über die Opfer der Minerva hatten also nicht die Iulier, sondern die Nautier“]),425 zum anderen, weil sich von der gens Nautia, auf die sich die beiden einzigen Fragmente ja beziehen, nach dem dritten Jahrhundert v. Chr. keine Spuren mehr finden.426

Auch C. Iulius Hyginus widmete dem Thema der trojanischen Familien eine eigene Abhandlung, von der allerdings nur ein einziges Fragment erhalten ist. Auch hier sind Rückschlüsse auf das Werk nur in begrenztem Umfang möglich:

entelle, heroum quondam fortissime sane sciendum hunc secundum Hyginum, qui de familiis Troianis scripsit, unum Troianorum fuisse, de quo Vergilius mutat historiam.

entelle, einst stärkster aller Helden Man muss wissen, dass dieser Entellus nach Hyginus, der über die trojanischen Geschlechter geschrieben hat, einer der Trojaner war; Vergil hat die Geschichte über ihn umgestaltet.

Serv. Verg. Aen. 5.389 = FRHist 63 F14

Der Kontext der Erklärung ist der Faustkampf gegen Dares im fünften Buch der Aeneis, zu dem Acestes seinen Landsmann Entellus, den Schüler des Eryx, aufgefordert hatte, weil sich niemand fand, der gegen den trojanischen Helden antreten wollte (Aen. 5.387–423). Der Kommentar weist darauf hin, dass nach Hygin der von Vergil als Sizilianer dargestellte Entellus in Wirklichkeit ebenfalls ein Trojaner (unum Troianorum) war. Tatsächlich waren die sizilischen Elymer, zu deren eponymen Helden die von Vergil genannten Eryx, Entellus und Acestes zählten,427 nach alter griechischer Vorstellung die Nachkommen geflohener Trojaner (Thuk. 6.2.3). Während Vergil die trojanische Abstammung des Acestes ausdrücklich erwähnt (Aen. 5.38–39: Troia Criniso conceptum flumine mater / quem genuit [„den die trojanische Mutter, vom Fluss Crinisus schwanger, gebar“]) und Servius die entsprechende Sage (aus unbekannter Quelle) an dieser Stelle wiedergibt, unterbleibt dies bei Entellus. Entellus fehlt auch im leicht abweichenden Bericht des Dionysios Halikarnassos (ant. 1.52), wonach Acestes/Aigestos als Sohn einer vertriebenen Trojanerin und eines Kaufmanns in Sizilien aufgewachsen sei, an der Seite des Priamos gegen die Griechen gekämpft habe und dann mit dem auch von Vergil erwähnten Elymos nach Sizilien zurückgekehrt sei. Die missverständliche Formulierung de quo Vergilius mutat historiam impliziert, dass es im Falle des Entellus eine Abweichung zwischen der Aeneis und der Genealogie des Hygin gab, wobei nicht eindeutig zu entscheiden ist, wessen Version die frühere war.428 Wenn Hygin, was wahrscheinlicher ist, auf Vergil reagierte und in seinem Werk wie Varro die römischen Geschlechter trojanischer Herkunft behandelte, kann er die vergilische Darstellung nur dann korrigiert haben, wenn er Entellus als Stammvater einer (aber welcher?) römischen Gens herausstellen wollte. Dafür reichte die trojanische Abstammung allein nicht aus; damit Entellus’ Nachkommen zu diesem erlauchten Kreis der römischen Nobilität zählen konnten, musste er einer der Gefährten des Aeneas gewesen sein, die sich später in Alba Longa niedergelassen hatten.429 Die Tatsache, dass Hygin in der Nachfolge Varros das Thema in relativ kurzer Zeit wieder aufgriff, hat zu Spekulationen über die politischen Implikationen einer revidierenden Überarbeitung geführt, insbesondere wenn man das Werk als Reaktion auf die lex Saenia von 29 v. Chr. versteht, die Augustus das Recht gab, plebejische Familien ins Patriziat zu erheben.430 Die politische Lesart ist – wie im Falle Varros – naheliegend und plausibel; sie ist aber das Ergebnis einer Argumentationskette ex silentio, die zusammenbricht, sobald sich auch nur ein hypothetisches Glied (etwa die Datierung oder das inhaltliche Spektrum) als falsch erweist.

Ist der Verfasser eines astronomischen Werkes, das in der Überlieferung wahlweise unter dem Titel Hygini de astronomia, liber astrologiae oder de sphaera genannt wird, mit C. Iulius Hyginus identisch, so stammt von ihm auch ein mythographisches Handbuch Genealogiae (vgl. Hyg. astr. 2.12: De quo in primo libro Genealogiarum scripsimus [„Darüber habe ich im ersten Buch der Stammbäume geschrieben.“]), das die Stammbäume der Götter und Heroen und die sie betreffenden Sagen aufführt.431 Die Schrift ist für die vorliegende Untersuchung nur bedingt aussagekräftig, da die überlieferten Auszüge keine direkt erkennbaren kausal orientierten Verknüpfungen von Gegenwart und Vergangenheit aufweisen, sondern bis auf wenige Ausnahmen (z. B. Hyg. fab. 220 mit der Etymologie homo vocetur ex humo [„Das Wort homo [‚Mensch‘] ist von humus [‚Erde‘] abgeleitet.“]) ganz im Bereich der griechischen Mythologie verbleiben.

6.2.1.5 Kalenderforschung

Die Verschriftlichung antiker Zeitordnungen erfährt in jüngerer Zeit ein wachsendes Interesse seitens der Altertumswissenschaften und der Historischen Religionswissenschaft. Dies hat die Erforschung der römischen fasti als religiös thematisierte Zeitordnung beflügelt; der damit verbundene antiquarische Diskurs wurde jedoch nur am Rande berücksichtigt. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen vor allem interdisziplinäre Fragen nach den antiken Begriffen und Konzepten von Raum und Zeit, nach den Qualifizierungen und medialen Darstellungsformen unterschiedlicher Zeit- und Kalendersysteme, nach deren historischer Entwicklung im Sinne des Ausdrucks eines sozialen, kulturellen und politischen Organisationswillens sowie nicht zuletzt nach deren Reflexion im Diskursfeld der Literatur.432

Eine literarische Auseinandersetzung mit Fragen der Zeitordnungen und Zeitstrukturen, besonders im Hinblick auf den politisch, ökonomisch und religiös eminent wichtigen Festkalender, ist in Rom seit dem zweiten Jahrhundert v. Chr. fassbar. Das Phänomen wurde – gegebenenfalls in Anlehnung an tragfähige griechische Modelle – aus fachwissenschaftlicher, philosophischer und historischer Perspektive reflektierend erfasst und fand einen entsprechenden gattungsübergreifenden Niederschlag in historiographischen, agronomischen und staatsrechtlichen Schriften.433 Die weitere Entwicklung ist nur vage zu fassen. Um die Wende vom zweiten zum ersten Jahrhundert oder später wird in L. Cincius’ De fastis das römische Kalenderwissen als eigenständiger Gegenstand antiquarischer Fachschriftstellerei greifbar. Der Vorläufer dieses Werkes könnte ein libellus aus der Hand des Fulvius Nobilior gewesen sein.434 Im Zusammenhang mit der Kodifizierung eines vorwiegend mündlich überlieferten Kalenderwissens, welches das praktische Wissen der inschriftlich fixierten fasti ergänzte, erfuhr dieser Themenbereich, soweit ersichtlich, im Laufe des ersten Jahrhunderts eine vertiefte literarische Behandlung. Spätestens mit der Reform Caesars wurde der Kalender und seine historisch-kulturelle Ausformung für breitere Schichten der stadtrömischen Bevölkerung diskursrelevant und fand auch Eingang in die gehobene Reflexionsebene der Dichtung.435 Das Genre blieb auch in der Kaiserzeit lebendig (siehe unten S. 441–448).

Im Anschluss an L. Cincius ist antiquarisches Kalenderwissen außerhalb der Geschichtsschreibung (reflektiert u. a. in Liv. 1.19.6–7, vgl. Macr. Sat. 1.13.20) bis zur Mitte des ersten Jahrhunderts nur sporadisch greifbar. Eine seltene Ausnahme ist die kritische Äußerung Ciceros in De legibus 2.29, wo die Rückkehr zum „weisen“ Schaltzyklus des Königs Numa empfohlen wird.436 Seine Klage über die sträfliche Nachlässigkeit (neglegentia) der Pontifices ist ein Hinweis darauf, dass die Diskussion über die Korrekturbedürftigkeit des Kalenders in den fünfziger Jahren bereits im Gange war.437 Sein Interesse an Zeitordnungen hatte Cicero viele Jahre zuvor in der zweiten Rede gegen Verres zum Ausdruck gebracht, in der er das griechische Verfahren der kalendarischen Schaltung beschrieb, das Verres geschickt manipuliert hatte, um einem Günstling zur Wahl zu verhelfen.438

In Geminos’ vielleicht um 70–50 v. Chr. entstandenem astronomischen Lehrbuch Εἰσαγωγὴ εἰς τὰ φαινόμενα („Einführung in die Himmelszeichen“) wird im Kapitel über die Monate kalendarisches Wissen bei der Darstellung griechischer und ägyptischer Kalendertypen und Schaltungsmodalitäten zwar angesprochen (c. 8), eine historische Perspektive aber nur beiläufig eröffnet (etwa bei der Erklärung der Monatsnamen in 8.10).439

Mit Varro erhält die römische Kalenderforschung des ersten Jahrhunderts erstmals ein nachvollziehbares, literarisches Profil. Die natürlichen und gesellschaftlichen Ordnungen der Zeit gehörten zu den regelmäßig behandelten Themen im Werk des Gelehrten; in den großen Überblickswerken ergab sich dies allein schon aus seiner bevorzugten kategorialen Schematisierung nach corpora, loca, tempora und res vel actiones.440 Auf die für Pompeius bestimmte nautische Schrift Ephemeris navalis wurde bereits hingewiesen (siehe oben S. 273 Anm. 219). Astronomische und meteorologische Zeitbestimmungen, wohl in Ergänzung zu einem Witterungskalender, der Sternphasen und Wetterzeichen berücksichtigte, waren für ein Seehandbuch unerlässlich. Eine antiquarische Akzentuierung ist nicht erkennbar, aber auch nicht grundsätzlich auszuschließen.

Die nach heutigem Kenntnisstand umfassendste systematische Behandlung der Materie erfolgte in den insgesamt neun Büchern de temporibus der Antiquitates, sechs in den Res humanae (XIVXIX) und drei in den Res divinae (VIIIX = XXXIIIXXXV). Die Zeit als zentrales Ordnungssystem des menschlichen, genauer: des stadtrömischen Lebens wird dabei nach säkularen und religiös-kultischen Gesichtspunkten getrennt behandelt. Für die Res humanae wird seit Otto Gruppe – basierend auf Cens. 16–24 – eine hierarchische Gliederung vom Kosmos als größter Zeiteinheit bis zu den Zeiteinheiten des menschlichen Lebens postuliert: XIV (Titel unklar: De aevo?); XV: De saeculis (so Serv. auct. Verg. Aen. 8.526 oder ist damit ein Logistoricus bezeichnet?, vgl. Cens. 17.14); XVI (Titel unklar: De lustris?); XVII (Titel unklar: De annis?); XVIII (Titel unklar: De mensibus?); XIX: De diebus (so Gell. 3.2.2).441 Aber auch eine aufsteigende Reihe wie bei Isidor wäre möglich (orig. 5.29–38): momentum, hora, dies, mensis, annus, lustrum, saeculum, aetas („Augenblick, Stunde, Tag, Monat, Jahr, Jahrfünft, Jahrhundert, Zeitalter“). Eine Anordnung nach dem jeweiligen efficiens der Zeiteinheit, das heißt Sonne, Mond und Gestirne, findet sich in De lingua Latina 6.4–11: dies, annus, mensis, lustrum, saeculum, aevum („Tag, Jahr, Monat, Jahrfünft, Jahrhundert, Zeitalter“).442 Im Einzelnen bleibt vieles unklar; bei den gesicherten Fragmenten, die mit Titel und Buchnummer belegt sind, ist der inhaltliche Zusammenhang nicht immer leicht zu rekonstruieren. Drei beliebige Beispiele sollen dies verdeutlichen:443

  • Non. p. 768, 10 Lindsay (= Ant. rer. hum. XIV frg. 1 Mirsch): Fatiscuntur, pro fatiscunt […] Varro Antiquitate humana lib. XIV: „altera ita, altera vulneribus fatiscuntur.“

    Fatiscuntur anstelle von fatiscunt: […] Varro im 14. Buch der Menschlichen Altertümer: „die einen Dinge erlahmen auf diese Weise, die anderen durch Wunden.“

  • Char. gramm. 1 p. 166, 18–24 Barwick (= Ant. rer. hum. XV frg. 1 Mirsch): Fros sine N littera […] Varro rerum rusticarum libro I […] idem antiquitatum Romanarum libro XV:„fros, faenum, messis.“

    Fros mit Fehlen des Buchstabens N: […] Varro im 1. Buch der Bäuerlichen Dinge […], ebenso im 15. Buch der Römischen Altertümer: „fros [Laub], faenum [Heu], messis [Erne].“

  • Diom. art. gramm. 1 GL 1, 375, 16–22 (= Ant. rer. hum. XV frg. 2 Mirsch): sallior […]. Sed veteres […], sallo non sallio […] Varro ad Ciceronem quinto […]; idem antiquitatum humanarum quinto decimo „mortuos sallant.“

    Sallior […], doch bei den Alten: […], sallo nicht sallio: […] Varro im 5. Buch seines Werks an Cicero […], ebenso im 15. Buch der Altertümer menschlicher Dinge: „dass sie die Toten salzen.“

Der Kontext des letzten Fragments wird durch eine Passage bei Censorinus erhellt, in der mehrere Erklärungsvarianten dafür gegeben werden, warum die Vorfahren ein saeculum mit hundert Jahren gleichsetzten. Dabei wird unter anderem auf das Erfahrungswissen ägyptischer Einbalsamierungsspezialisten Bezug genommen:

Praeterea adferri potest quod refert Varro, quodque Dioscorides astrologus scripsit, Alexandriae inter eos, qui mortuos sallunt, constare hominem plus centum annos vivere non posse, idque cor humanum declarare eorum, qui integri perierunt sine corporis tabe, ideo quod multis annis pendendo cor humanum omnis aetatis incrementa et deminutiones conservet: et anniculi pendere duas dragmas, bimi quattuor […].

Außerdem kann man hier aufführen, was Varro berichtet und der Astrologe Dioscorides geschrieben hat, nämlich dass in Alexandria unter denen, welche die Toten einsalzen, die Meinung herrsche, ein Mensch könne nicht länger als hundert Jahre leben; das würde das Herz derjenigen Menschen zeigen, die unversehrt und ohne körperliche Auszehrung gestorben sind. Denn nach vielen Jahren des Wiegens würde sich zeigen, dass das Herz die Zunahme und Abnahme jedes Alters bewahrt: das Herz eines Einjährigen wiege zwei Drachmen, das eines Zweijährigen vier Drachmen. […].

Cens. 17.14 = Ant. rer. hum. suppl. frg. 1 Salvadore

Das hier am Beispiel der ägyptischen Berechnungen der menschlichen Lebenszeit sichtbar werdende Erklärungsmuster antiquarischer Gegenwartsdeutung ist auch in anderen Fragmenten greifbar, zum Beispiel in Charisius (gramm. 1 p. 97, 13–21 Barwick = Ant. rer. hum. XVIII frg. 1 Mirsch): Balteus masculino genere […], sed Varro in Scauro [frg. 2 Riese] baltea dixit et Tuscum vocabulum ait esse; item humanarum XVIII („balteus ist männlich […], aber Varro schreibt baltea im Scaurus und sagt, es sei ein etruskisches Wort; ebenso im 18. Buch der Altertümer menschlicher Dinge“). Die Erwähnung des Tierkreises (balteus, so auch in Manil. 1.679) ist ein Hinweis auf die Behandlung astronomischer und parapegmatischer Wissensbestände, die, wie das Beispiel von Iohannes Lydos’ De mensibus zeigte (siehe oben Kap. 4.2.3), in den antiken Diskussionen über die Entstehungszusammenhänge kosmischer Zeitordnungen einen wichtigen Platz einnahmen. Dafür spricht auch ein längeres prognostisches Zitat bei Censorinus, das gleichzeitig einen seltenen Einblick in Varros Arbeitsmethode gibt:

Quot autem saecula urbi Romae debeantur, dicere meum non est; sed quid apud Varronem legerim, non tacebo. Qui libro antiquitatum duodevicensimo ait fuisse Vettium Romae in augurio non ignobilem, ingenio magno, cuivis docto in discepando parem; eum se audisse dicentem, si ita esset, ut traderent historici de Romuli urbis condendae auguriis ac XII vulturis, quoniam CXX annos incolumis praeterisset populus Romanus, ad mille et ducentos perventurum.

Es ist nicht meine Aufgabe zu sagen, wie viele Jahrhunderte der Stadt Rom noch bleiben. Aber ich will nicht verschweigen, was ich bei Varro darüber gelesen habe. Im 18. Buch der Altertümer schreibt er, in Rom habe ein Mann namens Vettius gelebt, ein kundiger Augur, von großer Begabung, jedem Spezialisten in der Deutung der Vorzeichen ebenbürtig. Er habe ihn sagen hören, wenn das, was die Geschichtsschreiber über die Vorzeichen bei der Gründung der Stadt durch Romulus und über die zwölf Geier überliefert hätten, wahr sei, dann werde das römische Volk 1200 Jahre alt werden, denn 120 Jahre habe es bereits unbeschadet überstanden.

Cens. 17.15 = Ant. rer. hum. XVIII frg. 4 Mirsch

Thematisch relevant und mit expliziter Erwähnung Varros, aber ohne gesicherte Zuordnung zu den Res humanae sind die Kalenderpassagen bei Gellius, Censorinus, Macrobius, Servius und Iohannes Lydos. Aus Ovids Fasti lassen sich dagegen keine verlässlichen Fragmente gewinnen, da der augusteische Dichter seine literarischen Quellen nicht explizit nennt. Das zur Verfügung stehende Korpus erlaubt es, den Inhalt der Bücher XVIIXIX in groben Zügen zu umreißen:444 Behandelt wurden unter anderem die Zeiteinheiten des Jahres (die Interkalation: Macr. Sat. 1.13.20 = Ant. rer. hum. XVI frg. 5 Mirsch), die Zeiteinheiten des Monats (die nundinae: Serv. auct. Verg. georg. 1.275 = Ant. rer. hum. XVI frg. 6 Mirsch; Macr. Sat. 1.16.33 = Ant. rer. hum. XVI frg. 7 Mirsch), die Monatsfixpunkte (Kalenden, Nonen, Iden: Macr. Sat. 1.15.18 = Ant. rer. hum. XVI frg. 8 Mirsch) sowie die Zeiteinheiten von Tag445 und Nacht (Gell. 3.2.2 = Ant. rer. hum. XVI frg. 2–3 Mirsch; Serv. Verg. Aen. 2.268 = Ant. rer. hum. XV frg. 4 Mirsch), wobei, soweit wir sehen können, jeweils Urheber und causae mitgeteilt wurden. Im siebzehnten Buch (De annis nach Otto Gruppe) wurden neben astronomischen Erläuterungen vermutlich Romulus und Numa als Begründer und Reformer des annus Romanus vorgestellt.446 Im achtzehnten Buch (De mensibus nach Otto Gruppe) dürfte die aitiologisch-etymologische Erklärung der einzelnen Monatsnamen einen größeren Raum eingenommen haben. Einen Eindruck von diesem in Rom lebhaft diskutierten Forschungsfeld vermitteln die ausführlichen Darstellungen bei Macrobius (Sat. 1.12), Censorinus (22.9–15) und im vierten Buch von Lydos’ De mensibus, in denen – direkt oder über eine Zwischenquelle – die ältere wissenschaftliche Literatur in doxographischer Weise zusammengefasst wird. In der Frage der etymologischen Ursprünge standen sich, wie bereits erwähnt, zwei schwer vereinbare Positionen gegenüber (siehe oben S. 250–253). Auch in anderen Zusammenhängen wird deutlich, dass ein wesentlicher Grund für die erhaltenen Alternativerklärungen in der uneinheitlichen Überlieferung zu suchen ist, die den einzelnen Autoren zur Verfügung stand. Dies hängt mit der Funktionsweise der antiquarischen Zeichenarchäologie zusammen, bei der alte Nachrichten, deren ursprüngliche Kontexte nicht mehr bekannt waren (oder bewusst ignoriert wurden), zur Erklärung aktueller Sachverhalte herangezogen wurden. So lassen sich etwa die Unstimmigkeiten in der etymologischen Deutung der monatlichen Fixpunkte (Kalenden, Nonen, Iden) auf zwei historisch unterschiedliche römische Zeitbestimmungen zurückführen, nämlich den alten „romuleischen“ Mondkalender und den „numanischen“ Solilunarkalender.447 Schon Varro hat fälschlicherweise Informationen, die sich auf das eine System bezogen, neben Erklärungen gestellt, die für das andere System berechnet waren.448

In den drei Büchern der Res divinae, die der Kategorie „Zeit“ gewidmet waren, wurden nach dem Zeugnis des Augustinus die religiösen Feste des römischen Kalenders (VIII: De feriis), die Zirkusspiele (IX: De ludis circensibus) und die Theateraufführungen (X: De ludis scaenicis) gesondert behandelt. Eine Hilfe zur Rekonstruktion des Inhalts des achten Buches bietet neben den spärlichen Fragmenten (mit expliziter Werkangabe nur frgg. 76–77 Cardauns) die Behandlung der temporum vocabula in De lingua Latina (6.1–34), die mit knappen Bemerkungen zur Geschichte der römischen Zeitrechnung einhergeht.449 Varro unterscheidet hier grundsätzlich zwischen einer natürlichen (ling. 6.4–11) und einer kulturell begründeten Zeitordnung (ling. 6.12–32, vgl. 6.12: ad naturale discrimen civilia vocabula dierum accesserunt [„zu der von der Natur vorgegebenen Zeiteinteilung kamen die das Gemeinwesen betreffenden Namen für die Tage hinzu.“]). Zur zweiten Kategorie gehören die spezifischen Kalendertage, die wiederum nach religiösen und politisch-historischen Ursprüngen differenziert werden (ling. 6.12: dicam prius qui deorum causa [= 6.12–26: feriae publicae], tum qui hominum sunt instituti [= 6.27–32] [„Zuerst will ich von den Tagen sprechen, die um der Götter willen eingeführt wurden, dann von denen, die um der Menschen willen eingeführt wurden.“]). Es ist davon auszugehen, dass die dem Festkalender chronologisch folgende Erörterung der einzelnen Festtage im Wesentlichen einen Auszug aus dem achten Buch (De feriis) der Res divinae darstellt, während für die auf menschlicher Konvention beruhenden profanen Tage (Kalenden, Nonen, Iden; die Tagesqualitäten: dies fasti/nefasti; Spezialtage: dies comitiales, dies Alliensis usw.) das neunzehnte Buch (De diebus) der Res humanae als Vorlage diente.450 Für die Bücher IX und X der Res divinae geben die bei Macrobius und Tertullian (spect. 5) überlieferten Etymologien und Aitiologien eine ungefähre Vorstellung der behandelten Inhalte (frgg. 80–82 Cardauns).

Einzelne kalendarische Spezialthemen scheint Varro im Anschluss an die Antiquitates noch einmal vertieft behandelt zu haben, zum Beispiel Fragen der Interkalation in den Epistolicae quaestiones (Serv. Verg. georg. 1.43). In mehreren antiquarischen Monographien hat er sich nachweislich mit Fragen der Zeitordnung und Zeitberechnung auseinandergesetzt. Deutlich wird dies in der an griechischen Vorbildern orientierten Zeitalterlehre im Tubero sowie in De gente populi Romani und De vita populi Romani (siehe oben S. 337–344). Für letztere Schrift sind Fragmente zu kalendarischen Themen erhalten, die Zusammenhänge bleiben allerdings unklar.451

Eine eigene monographische Behandlung erhielten die Ursprünge des Theaterwesens in der Schrift De scaenicis originibus.452 Die Entstehungszeit dieser aus drei Büchern bestehenden Abhandlung ist nicht mehr festzustellen. Cichorius hat sie ohne triftigen Grund zeitlich vor die Antiquitates gestellt und das zehnte Buch der Res divinae (De ludis scaenicis) somit als verkürzte Epitome des umfangreicheren Werkes angesehen.453 Die acht namentlichen Fragmente von De scaenicis originibus lassen zwar Rückschlüsse auf das äußerst spärlich überlieferte Buch De ludis scaenicis zu,454 eine relative Chronologie lässt sich aus den vorliegenden Informationen jedoch nicht ableiten. Den Fragmenten nach zu urteilen, handelte es sich um eine Darstellung der Ursprünge (und fallweise der Entwicklung) des römischen Theater- und Bühnenwesens. Inwieweit innerhalb des chronologischen Gerüsts eine sachliche Systematisierung nach den Kategorien der römischen scaena vorgenommen wurde, lässt sich im Einzelnen nicht mehr feststellen. Das erste Buch behandelte unter anderem den Ursprung der Säkularspiele, nämlich die ludi Tarentini des Jahres 249 (Cens. 17.8 = frg. 70 GRF p. 216), sowie die Lupercalia (Char. gramm. 1, p. 163, 23–25 Barwick = frg. 72 GRF p. 216). Im zweiten Buch wurden die Spiele unter dem Ädilat des Claudius Pulcher im Jahre 99 v. Chr. erwähnt (Char. gramm. 1, p. 154, 6–7 Barwick = frg. 73 GRF p. 216), der als erster die Bühne mit Gemälden ausstatten ließ (Val. Max. 2.4.6). Das dritte Buch behandelte unter anderem die ludi compitales (Non. p. 288, 8–9 Lindsay = frg. 75 GRF p. 217). Dass auch technische Neuerungen behandelt wurden, zeigt ein ohne Buchangabe überliefertes Fragment bei Charisius (gramm. 1, p. 101, 9–10 Barwick = frg. 76 GRF p. 217) über das Brenneisen (calamistrum), mit dem die Haare der Schauspieler gelockt wurden. Eine Stelle bei Servius bleibt aus textkritischen Gründen undeutlich:455

monstrator aratri alii Triptolemum, alii Osirim volunt […]; qui [Triptolemus] accepto regno oppidum constituit et ex patris nomine Eleusinum nominavit Cererique sacra primus instituit, quae θεσμοφόρια graece dicuntur. Varro de scaenicis originibus vel in Scauro Triptolemum dicit. [coni. Riese: graece dicunt, ut ait Varro de scenicis originibus II et in Scauro. Triptolemum dicit].

Erfinder des Pfluges die einen bevorzugen Triptolemus, die anderen Osiris […]. Nachdem Triptolemus die Herrschaft erlangt hatte, gründete er eine Stadt und nannte sie nach seinem Vater Eleusinus; er führte als erster ein Opferfest für Ceres ein, das auf Griechisch thesmophoria genannt wird. Varro schreibt in seinem Werk Über die Anfänge der szenischen Spiele oder im Scaurus, Triptolemus [sei der Erfinder des Pfluges gewesen].

Serv. auct. Verg. georg. 1.19 = frg. 77 GRF p. 217

Der nähere Zusammenhang, in dem Varro den Triptolemos-Mythos erwähnte, lässt sich nur noch bedingt eruieren: Das Fragment deutet auf eine Verbindung mit dem alten Fest der Cerialia, bei dem Pferderennen stattfanden und im Zirkus Füchse mit brennenden Schwänzen losgelassen wurden (Ov. fast. 4.681–712). Die angedeutete Nähe zu den griechischen Thesmophorien lässt vermuten, dass Varro den Kult auf griechische Ursprünge zurückgeführt hat. Die aitiologische Behandlung der Lupercalia, die Varro auch in De ludis circensibus behandelt (Ant. rer. div. IX frg. 80 Cardauns), sowie des auf Servius Tullius (oder Tarquinius Superbus) zurückgeführten Volksfestes der Compitalia, bei denen ebenfalls ludi stattfanden (Macr. Sat. 1.7.34), lässt darauf schließen, dass Varro bei der Herausbildung des römischen Theaterwesens neben den offensichtlichen griechischen Kultureinflüssen auch die Bedeutung autochthoner römischer beziehungsweise italischer Vorstufen geltend machte.

Weitere Rückschlüsse auf mögliche Inhalte des Werkes ergeben sich aus den Skizzen zur Geschichte des römischen Theaters bei Livius (7.2) und Valerius Maximus (2.4.4 ff.), die ebenso wie die Ausführungen bei Horaz (epist. 2.1.139 ff.) in der Regel – allerdings ohne zwingende Gründe – auf Varros De scaenicis originibus zurückgeführt werden. Entweder direkt oder über Sueton wird auch der antiquarische Exkurs in Tertullians De spectaculis 5–12 auf varronisches Gedankengut zurückgeführt (siehe unten S. 450–452). Im Gegensatz zur historiographischen Darstellung bei Livius und Valerius Maximus hat Tertullian die Systematik der Vorlage beibehalten: c. 5: die mythistorischen Ursprünge der ludi (sowohl scaenici als auch circenses) und ein Katalog der unter den Königen eingerichteten Spiele (Consualia, Ecurria, Tarpeia, Robigalia usw.); c. 6: ein Katalog der nach der Königszeit eingeführten Spiele (Megalenses, Apollinares, Floreales usw.); c. 8: die Orte, an denen die Spiele stattfanden (circus).456 Dass Varros kulturgeschichtliche Rekonstruktion dem Vorbild der griechischen Spezialliteratur folgte, kann vermutet, aber nicht näher belegt werden.

Varro hat – vielleicht im Anschluss an die Dramenforschung des L. Accius – noch zwei weitere Schriften über das römische Bühnenwesen vorgelegt: De actionibus scaenicis und De personis (über Theatermasken); ferner mehrere literaturgeschichtliche und literaturkritische Schriften, die über das Drama hinausgehen (De poetis, De poematis, De comoediis Plautinis, De proprietate scriptorum, De descriptionibus).457 Eine antiquarische Akzentuierung ist bei diesen Werken nicht zu erwarten.

Varro war nicht der Einzige, der sich in einer eigenen Abhandlung mit dem römischen Spielwesen und seinen Ursprüngen auseinandersetzte. Die Libri spectaculorum des vermutlich um die Mitte des ersten Jahrhunderts tätigen Gelehrten Sinnius Capito sind nur durch eine Erwähnung bei Lactanz bekannt.458 Lactanz geht in seiner Behandlung der den Sehsinn betreffenden Lust (voluptas oculorum) auf die öffentlichen Schauspiele (spectacula publica) ein, deren Besuch für Christen unter anderem deshalb unangebracht sei, weil es heidnische Feste betreffe – nam ludorum celebrationes deorum festa sunt („denn beim feierlichen Begehen der Spiele handelt es sich um Götterfeste“: inst. 6.20.34). Es folgt ein kurzer Exkurs über die römischen Festspiele, deren unterschiedliche Arten ursprünglich bestimmten Gottheiten geweiht waren: die Tierhetzen dem Saturn, das Theater dem Liber, die Zirkusspiele dem Neptun; später seien auch anderen Göttern Festspiele gewidmet und nach ihnen benannt worden, „wie es Sinnius Capito in seinem Werk über die Festspiele darlegt“ (sicut Sinnius Capito in libris spectaculorum docet: inst. 6.20.35). Unabhängig von der müßigen Frage, ob sich Lactanz hier direkt oder über eine Zwischenquelle auf Capito bezieht,459 erhellt die knappe Notiz, dass auch in diesem Bereich Varro kein Wissensmonopol zugeschrieben werden kann. Eine direkte Abhängigkeit ist zwar denkbar, bleibt aber Spekulation. Die mehrbändige Fachschrift des Capito scheint nach dem Testimonium des Laktanz die Aitiologien der einzelnen römischen Schauspiele behandelt zu haben, wobei das Ganze vermutlich ebenfalls nach dem bewährten, am Beispiel von Lydos’ De magistratibus herausgearbeiteten Prinzip einer primär sachorientierten Darstellung gegliedert war, die einem größeren chronologischen Rahmen folgte (siehe oben Kap. 4.2.2). Umfangreiche Auszüge aus dem Werk sind mit ziemlicher Sicherheit in Verrius’ monumentales Reallexikon eingegangen, eine explizite Werkangabe fehlt dort jedoch.460 Einschlägig sind die beiden folgenden Einträge in Festus, von denen der zweite darauf schließen lässt, dass Capitos Werk auch technische Details enthielt:461

„Salva resest dum cantatsenex“, quare parasiti Apollinis in scaena dictitent, causam Verrius in lib. V, quorum prima est P littera, reddidit […]. At in hoc libro refert Sinni Capitonis verba, quibus eos ludos Apollinares Claudio et Fulvio cos. factos dicit ex libris Sibyllinis et vaticinio Marci vatis institutos.

„Solange der Alte tanzt, ist alles gut.“ Warum die Parasiten im Theater zu Ehren Apollos diesen Vers rezitieren, erklärt Verrius im 5. Buch jener Bücher, die den Anfangsbuchstaben P haben […]. Und im selben Buch zitiert er eine Stelle des Sinnius Capito, an der dieser schreibt, dass die Ludi Apollinares unter dem Konsulat des Claudius und des Fulvius im Namen der sibyllinischen Bücher und gemäß der Prophezeiung des Sehers Marcus eingeführt wurden.

Fest. p. 436, 31–438, 16 Lindsay

Tensam ait vocari Sinnius Capito vehiculum, quo exuviae deorum ludicris circensibus in circum ad pulvinar vehuntur.

Tensa ist nach Sinnius Capito die Bezeichnung für einen Wagen, auf dem bei den Zirkusspielen die Götterbilder in den Zirkus zum Göttermahl gebracht wurden.

Fest. p. 500, 2–4 Lindsay

Es ist denkbar, dass die antiquarische Kalenderforschung im Umfeld der caesarischen Reform (und der nachfolgenden augusteischen Korrektur im Jahre 8 v. Chr.) eine zusätzliche literarische Dynamik entfaltete.462 Für die Durchführung des Projektes war ein antiquarisches Fachwissen jedoch nicht von Nöten. Es erscheint daher höchst unwahrscheinlich, dass entsprechende Spezialisten in die von Caesar eingesetzte „Kommission“ zur Berechnung des neuen Kalenders berufen wurden (Plut. Caes. 59.5: τοῖς ἀρίστοις φιλοσόφων καὶ μαθηματικῶν [„die herausragendsten Philosophen und Mathematiker“]). Sosigenes, der von den Quellen in den Mittelpunkt gestellte Berater Caesars, war ein griechischer Astronom, möglicherweise aus Alexandria.463 Historisierende Argumentationen könnten allenfalls in der öffentlichen Vermittlung und publizistischen Legitimation des Gesetzgebungsvorhabens eine Rolle gespielt haben. Das nur vage rekonstruierbare Korpus der die Reform begleitenden Publikationen, allen voran die Commentationes des Sosigenes und Caesars De astris, war, soweit ersichtlich, naturwissenschaftlich orientiert. Plinius der Ältere wird später (vielleicht nicht ganz ohne Ironie) die caesarische Astronomie als vierte Schule (secta) neben der chaldäischen, ägyptischen und der griechischen aufführen.464

Caesars Kalenderreform hatte durch eine verlässliche naturwissenschaftliche Berechnungsgrundlage den zuständigen republikanischen Instanzen die Kontrolle über den Kalender weitgehend entzogen, die bürgerliche Zeitbestimmung also gleichsam ihrer menschlichen Komponente und damit auch ihrer unmittelbaren politischen Bedeutung entledigt. Die frei gewordene politische Macht wurde jedoch, wenn auch (noch) nicht von Caesar, so doch von seinen Nachfolgern vereinnahmt: Seit Augustus wurde das herrscherliche Monopol über Zeit und Kalender durch Uhren sowie durch gemalte und inschriftliche fasti städtebaulich sichtbar gemacht. Das Herrscherhaus schrieb sich zudem folgewirksam in die kalendarische Zeitordnung ein, sei es durch die Umbenennung der Monate (dauerhaft nur bei Quinctilis und Sextilis), sei es durch die Etablierung kaiserlicher Festtage (Geburtstage, Triumphe).465

Einen literarischen Niederschlag fand der beschriebene Vorgang in Ovids Kalendergedicht (siehe oben Kap. 1.2.1), in dem gerade durch die aitiologische Reflexion den Lesern die historische „Gemachtheit“ und Kontingenz des römischen Kalenders gegenüber der astronomischen Komponente nachhaltig ins Bewusstsein gerufen wurde.466 Ovids gelehrte Vereinnahmung der historisierenden antiquarischen Kalenderforschung verdeutlicht den Stellenwert dieser Literatur innerhalb des zeitgenössischen Diskurses.

Neben Varro und den überlieferungsbedingt nicht mehr identifizierbaren Gelehrten Tit⟨i⟩us467 und Mallius468 werden in den antiken Nachrichten auch der augusteische Gelehrte Verrius Flaccus sowie ein Freigelassener Hygins, Iulius Modestus, mit einschlägigen Kalenderschriften in Verbindung gebracht.

Für Verrius Flaccus ist die Verfasserschaft eines kalendarischen Werkes nicht belegt, doch sprechen Indizien für dessen Existenz. Eindeutig bezeugt ist seine geistige Verantwortung für einen monumentalen Steinkalender in Praeneste, dessen Fragmente bei Ausgrabungen Ende des 18. Jahrhunderts gefunden wurden, die sogenannten Fasti Praenestini (Suet. gramm. et rhet. 17.3): Statuam habet Praeneste in superiore fori parte circa hemicyclium, in quo fastos a se ordinatos et marmoreo parieti incisos publicarat („Praeneste besitzt eine Statue [des Verrius] im oberen Teil des Forums, in der Nähe des Hemicyclium, auf der er die von ihm zusammengestellten Fasti veröffentlichte, die in die Marmorwand eingemeißelt sind.“).469 Die erhaltenen Fragmente, die schon der erste Herausgeber Foggini mit der Sueton-Stelle in Verbindung gebracht hat, zeigen neben den üblichen Kalenderangaben (Nundinalzahlen, Tagesqualitäten etc.) und kleineren Zusätzen (Spielnotizen, Begründungen neuer Feste etc.) gelehrte antiquarische Kommentare, welche die Monats- und Festnamen erläutern und kultische Details zu einzelnen feriae liefern.470 Zwei Beispiele aus den Einträgen zum Monat April:

Aprilis aVenere, quod ea cumMarte iungitur mater Aeneae regis Latinorum a quo populus Romanus ortus esthoc mense, quia fruges flores animaliaque ac maria et terrae aperiuntur.

Der April leitet sich von Venus ab, weil sie sich mit Mars vereinigte und die Mutter des Aeneas war, des Königs der Latiner, von dem das römische Volk abstammt. ⟨…⟩ in diesem Monat, weil die Feldfrüchte, die Blumen und die Tiere, die Meere und die Erde sich öffnen.

Fast. Praen. CIL I2.1, p. 235

Ludi M.D.M.I. Megalensia vocantur, quod ea dea megale appellatur. Nobilium mutitationes cenarum solitae sunt frequenter fieri, quod mater magna ex libris Sibullinis arcessita locum mutavit ex Phrygia Romam.

Die Festspiele dieses Tages [4. April] werden Megalensia genannt, weil diese Göttin Megale heißt. In den vornehmen Häusern finden dann üblicherweise abwechselnd Gastmähler statt, da die Magna Mater, nachdem sie nach Vorgabe der sibyllinischen Bücher herbeigerufen wurde, ihren Wohnsitz von Phrygien nach Rom verlegt hat.

Fast. Praen. CIL I2.1, p. 235

Seit Mommsen werden die gelehrten Einträge als komprimierte Auszüge aus einem umfangreichen antiquarischen Kalenderwerk gedeutet, das Verrius als Vorlage für den Steinkalender gedient haben soll.471 Die Argumentation stützt sich auf zwei Textstellen bei Macrobius, die Verrius als Autorität in Fragen des römischen Kalenders ausweisen, doch fehlt eine eindeutige Werkzuweisung, weshalb Funaioli eine der beiden Stellen in die Fragmente von De verborum significatu aufgenommen hat. Inhaltlich könnte man sich beide Auszüge ohne weiteres als Einträge im enzyklopädischen Lexikon vorstellen.472 Das postulierte Kalenderwerk (mit den imaginierten Titeln De fastis Romanis, Commentarii de feriis fastisque bzw. Commentarii fastorum) spielt eine gewisse Rolle in der modernen wissenschaftlichen Diskussion um die Quellen von Ovids Fasti.473 Vermutungen, dass es sich bei dieser Schrift um einen Bestandteil von Verrius’ Libri rerum memoria dignarum gehandelt habe, sind rein hypothetisch.474

Demgegenüber ist für Hygins Freigelassenen Iulius Modestus eine kalendarische Fachschrift eindeutig belegt (Macr. Sat. 1.4.7):475 item Iulius Modestus de feriis, „Saturnaliorum“, inquit, „feriae“; et in eodem libro, „Antias“, inquit, „Agonaliorum repertorum Numam Pompilium refert“ („Auch Iulius Modestus schreibt in Über die Festzeiten: ‚die Festtage der Saturnalien‘, und im selben Buch: ‚Antias berichtet, dass Numa Pompilius der Begründer der Saturnalien gewesen sei.‘ “). Die Schrift, deren Titel aus Macrobius’ Formulierung nicht eindeutig hervorgeht, war offensichtlich den religiösen Festzeiten (feriae, wohl ausschließlich: publicae) gewidmet. Das Verhältnis zum achten Buch von Varros Res divinae ist unklar. Immerhin gewährt die zufällige Nachricht einen seltenen Einblick in den Spezialisierungsgrad der antiquarischen Monographien in spätaugusteischer Zeit: behandelt wurden – in zwei weiteren möglichen Fragmenten – die rechtlich-definitorische Bestimmung der feriae sowie die causae der einzelnen Festtage.476 Die Ursprungsforschung war ein Bereich, mit dem sich Modestus auch in anderen Wissensdisziplinen befasste; in diesen Studien folgte er, wie Sueton vermerkt, dem Vorbild seines Lehrers und Patrons Hygin.477

6.2.1.6 Kulturaitiologische und heurematographische Sammlungen

Nicht alle bezeugten antiquarischen Schriften fügen sich nahtlos in das oben (S. 143–145) festgelegte fachwissenschaftliche Gerüst der definierten Textfamilie ein. In der sich ausdifferenzierenden Literatur entstanden – mit eigenen literarischen Wirkungsinteressen und wohl auch mit Blick auf ein breiteres Publikum – kategorienübergreifende Sammlungen, die kulturaitiologische und heurematologische Wissensbestände in Auswahl zusammenstellten.

Die wichtigste Gruppe bilden die katalogartigen Aitien-Sammlungen, die seit Kallimachos’ viel gelesenen Αἴτια den Rang einer elegischen Gattung einnahmen, aber auch in Prosa gepflegt wurden. Dass in der Nachfolge des Alexandriners in augusteischer Zeit eine Reihe römischer Dichter sich zu eigenen antiquarisch-didaktischen Dichtungen anregen ließ, ist längst Gegenstand moderner literaturwissenschaftlicher Untersuchungen.478 Die antiquarische Ausrichtung dieser Texte ist in Methode und Fragestellung offensichtlich, ihr Verhältnis zur prosaischen Fachliteratur ist jedoch nicht unproblematisch. Am Beispiel von Ovids Fasti wurde bereits auf das hochkomplexe generische Wechselspiel zwischen römischen Adaptionen der hellenistisch-kallimachischen Aitiendichtung mit ihrem hohen poetischen Reflexions- und Selbstinszenierungspotential einerseits und antiken Prosaschriften andererseits hingewiesen (siehe oben Kap. 1.2.1).

Aitiologische Lehrdichtung zu römischen Themen gab es auch in griechischer Sprache. Die näheren Entstehungsumstände sowie Aufbau, Wirkungsabsicht und Adressaten dieser Schriften liegen jedoch im Dunkeln. Unklar sind Entstehungszeit und Inhalt der Elegie, auf die sich Dionysios von Halikarnassos zu Beginn seiner an dieser Stelle ganz auf die griechische Tradition bezogenen Erörterung der Irrfahrten des Aeneas nach dem Fall Trojas bezieht (ant. 1.49.1–2): Nach den Arcadica des Ariaithos und gleichnamigen Werken weiterer Autoren sei Aeneas nach Arkadien gekommen und dort geblieben (FGrHist 316 F1); andere hingegen, darunter der Dichter Agathyllos von Arkadien, wären der Meinung, dass der Held zwar nach Arkadien gekommen sei, dann aber nach Italien weitergezogen und dort einen Sohn namens Romulus gezeugt habe (FGrHist 321 F2 = SH 15). Die Identität des Agathyllos und seiner Schrift kann nicht näher bestimmt werden: Vorstellbar sind poetische Ἀρκαδικά aus dem dritten oder zweiten Jahrhundert v. Chr. oder eine elegische Behandlung römischer Aitien durch einen jüngeren hellenistischen Dichter.479 Die Ansicht, dass Romulus ein Sohn des Aeneas war, ist seit dem vierten Jahrhundert v. Chr. belegt (FGrHist 560 F4); dass er nach Italien gezogen war, wusste schon Hellanikos von Lesbos (FGrHist 4 F84).480 Das von Dionysios zitierte Distichon, das die genannten Ereignisse in aller Kürze wiedergibt, lässt zumindest darauf schließen, dass Aeneas selbst nicht Gegenstand der Elegie war.

Römische Aitia in elegischen Distichen schrieb nachweislich Butas (Plut. Rom. 21.8: Βούτας δέ τις αἰτίας μυθώδεις ἐν ἐλεγείοις περὶ τῶν Ῥωμαϊκῶν ἀναγράφων [„Ein gewisser Butas schrieb in elegischen Distichen mythologische Aitien über römische Bräuche“]). Er wird – mangels Alternativen – mit einem Freigelassenen des jüngeren Cato identifiziert.481 Zwei Zeugnisse sind erhalten (SH 234–235): das eine behandelt die Aitiologie des Laufes der Luperci, das andere die Gebote und Riten des Bona Dea-Kultes.482 Die Tatsache, dass Arnobius in seiner antiheidnischen Polemik neben dem bereits erwähnten Sextus Clodius (siehe oben S. 287 f.) auch Butas als Gewährsmann zitieren konnte (nat. 5.18.3), spricht für dessen Einbindung in jenes heterogene Traditionskonglomerat, aus dem die Kirchenväter und die spätantiken Vergilkommentatoren und Enzyklopädisten ihr antiquarisches Wissen schöpften.

Ein weiterer schwer zu datierender Dichter ist Simylus (SH 724 + 725?). Aitiologien sind aus den erhaltenen Fragmenten nicht erkennbar. Seine Erotisierung des Tarpeia-Mythos war zu seiner Zeit historisch kontrovers, da er die Episode – entgegen der konventionellen römischen Überlieferung – nicht in die Zeit des Romulus, sondern in die des Galliersturms verlegte.483 Umfang und mediale Präsentationsform der Elegie sind unbekannt; denkbar ist, dass sie Teil einer größeren aitiologischen Gedichtsammlung war. Eine Datierung in die augusteische Zeit ist möglich; es gibt aber auch Argumente für eine frühere Entstehungszeit.484

Ein in P. Hamb. inv. 666 (= SH 957) erhaltenes Textfragment könnte aus einem vergleichbaren späthellenistischen Elegienbuch stammen. Einzelne Schlüsselwörter wie „König“ (2: βασιλῆ[os), „Kinder“ (5: τεκέων) und „Wölfin“ (14: λύκαινα) sind noch deutlich lesbar, weshalb an eine aitiologische Behandlung des Romulus-Remus-Mythos gedacht wurde.485

Auf dem Gebiet der Prosa ist für das erste Jahrhundert nur für Varro eine Sammlung von römischen Aitia belegt.486 Umfang, Datierung und Zweck der Schrift liegen weitgehend im Dunkeln. Die beiden einzigen mit Titeln überlieferten Fragmente (Varro in Aetiis: Serv. Verg. ecl. 8.29; Serv. Verg. Aen. 8.128) betreffen Bräuche des römischen Alltags, deren Ursprünge Varro mit Hilfe der antiquarischen Methodik herleitet.487 Aufgrund einer geistreichen Emendation hat man, vermutlich zu Recht, noch eine Passage aus Charisius unter die Fragmente aufgenommen (gramm. 1 p. 183,10–12 Barwick = frg. 3 Mercklin): Spinu, ab hac spinu Varro in Aetiis: fax [codd. in Asia (fyl)axe] ex spinu alba praefertur, quod purgationis causa adhibetur („spinus [der Schlehdorn], von diesem spinus schreibt Varro in seinen Ursachen: Ein Kienspan vom weißen Schlehdorn wird aus Gründen der Reinigung vorausgetragen.“). Wenn die überlieferte thematische Ausrichtung auf römische Bräuche verschiedener Art repräsentativ ist, lassen sich Bezüge zu De vita populi Romani herstellen. Dort ist das Material in der Makrostruktur nach chronologischen Gesichtspunkten geordnet, hier ist eher an eine sachliche Gliederung zu denken. Ob mit der programmatischen Titelwahl der Anschluss an die gelehrte alexandrinische Tradition gesucht wurde, kann weder ausgeschlossen noch belegt werden. Die von Servius an anderer Stelle gezogene Verbindung zu Kallimachos ist jedenfalls kaum ein Auszug aus dem Proömium von Varros Aetia, sondern eher eine Charakterisierung des methodischen Vorgehens:488

cur dextrae iungere dextram Maiorum enim haec fuerat salutatio; cuius rei τὸ αἴτιον, id est causam, Varro, Callimachum secutus, exposuit, adserens: omnem eorum honorum dexterarum constitisse virtute.

warum die rechte mit der rechten verbinden Bei unseren Vorfahren war es nämlich Brauch, sich so zu begrüßen; das Aition, das heißt die Ursache dieses Brauchs, berichtete in der Nachfolge des Kallimachos Varro, wobei er erklärt, dass diese Art der Ehrbezeugungen in der Tüchtigkeit der rechten Hand begründet liege.

Serv. Verg. Aen. 1.408 = frg. 2 Mercklin 1848

Ritschl wollte aus inhaltlichen Gründen weitere Fragmente aus Servius geltend machen, doch ist die aitiologische Fragestellung bei Varro so ubiquitär, dass sich Zuordnungsversuche dieser Art erübrigen.489 Diskussionswürdig ist allenfalls die von der älteren Quellenforschung ausführlich behandelte Frage nach dem Abhängigkeitsverhältnis von Plutarchs Schrift Αἴτια Ῥωμαῖκά, aus der bereits Mercklin eine Reihe von Fragmenten für Varro postuliert hatte (frgg. 6–12).490 Die aitiologische Fragestellung und die antiquarischen Leitthemen dieser Schrift – Rituale, Bräuche, Institutionen, Kalender – machen neben der Ähnlichkeit des Titels Varros Aetia als Quelle auch durchaus wahrscheinlich. Andererseits deutet das klare Schema des Werkes, in dem auf eine Eingangsfrage (διὰ τί) eine Reihe sich meist ausschließender Antwortfragen (ἢ ὅτι; ; πότερον) folgt, darauf hin, dass mehrere Referenzwerke konsultiert wurden, was auch durch Plutarchs Zitierpraxis bestätigt wird: Neben Varro werden jüngere Fachautoren wie Nigidius Figulus, Antistius Labeo und Ateius Capito genannt.491 Damit scheiden die Aetia als Hauptquelle für Plutarchs Werk aus; trotz des (vor allem über De lingua Latina) nachgewiesenen varronischen Gedankenguts bleibt die Bedeutung der Αἴτια Ῥωμαῖκά als Fundort weiterer Aetia-Fragmente daher offen.

Varros Aetia waren gewiss nicht die einzige römische Prosasammlung mit kulturaitiologischen und heurematologischen Wissensbeständen. Weitere Autoren lassen sich aufgrund der bruchstückhaften Überlieferung aber nicht identifizieren.492 Denkbar wäre einzig die Zuschreibung einer Schrift des Sinnius Capito, wenn die beiläufige Erwähnung bei Hieronymus auf ein Werk über Kulturaltertümer verweist:493

Legamus Varronis de antiquitatibus libros et Sinnii Capitonis et Graecum Phlegona ceterosque eruditissimos viros, et videbimus omnes poene insulas et totius orbis litora terrasque mari vicinas Graecis accolis occupatas, […].

Lesen wir die Bücher des Varro über die römischen Altertümer, die des Sinnius Capito oder die des Griechen Phlegon und die der anderen Gelehrten; dann werden wir sehen, dass fast alle Inseln der Welt, alle Küstengebiete und alle an das Meer grenzenden Länder von griechischen Siedlern bewohnt sind. […]

Hier. Hebr. Quaest. in Gen. 10.5 ed. P. de Lagarde, CCSL 72, 1959, 12,10–15

Auffallend ist, dass die in der griechischen Literatur der klassischen und hellenistischen Zeit gut bezeugten Schriften περὶ εὑρημάτων (siehe oben Kap. 5.2.) in Rom außerhalb der literaturinternen Erfinderkataloge der Kaiserzeit nicht belegt sind.494 An eine heurematographische Schrift hat man bei Varros Logistoricus Scaurus gedacht, dessen zweiter, auf das behandelte Thema verweisender Titel verloren ist.495 Die vier von Riese gesammelten Fragmente könnten tatsächlich für eine Sammlung nach Art der περὶ εὑρημάτων des Philostephanos sprechen, zumal Varro mit dem Logistoricus Gallus Fundanius de admirandis auch ein paradoxographisches Werk vorgelegt hatte.496 Mehr als eine ansprechende Vermutung ist das aber nicht, zumal heuremata auch im Gallus Fundanius behandelt wurden.497

6.2.2 Synthesebildung: Varros Antiquitates und Verrius Flaccus’ De verborum significatu

Die sich im Laufe des ersten Jahrhunderts innerhalb des aufgezeigten Themenspektrums dynamisch vollziehende literarische Diversifizierung der antiquarischen Ursprungsforschung führte zu einer bis dahin nicht gekannten Anhäufung historischer Deutungsangebote der res Romanae. Die tatsächliche Verfügbarkeit dieses Wissens dürfte jedoch nicht nur aufgrund der natürlichen Beschränkungen des römischen Literaturbetriebs begrenzt gewesen sein. Die wissenschaftliche Ausdifferenzierung hatte zu einer nur noch schwer zu überschauenden Fülle von partikularen Detailinformationen geführt, die auf Dutzende von mehr oder weniger gut zugänglichen Monographien verteilt waren. Diese paradoxe Ausgangssituation ist heute nur allzu bekannt: Je mehr Fachliteratur es gibt, desto schwieriger wird es, verlässliche und verbindliche Informationen zu finden. Was fehlte, war eine große Gesamtschau, die das im Zuge der Spezialisierung fragmentierte Wissen wieder zu einem Ganzen zusammenfügte. Um die Jahrhundertmitte nahm Varro mit den Antiquitates rerum humanarum et divinarum in 41 Büchern dieses ehrgeizige Großprojekt in Angriff.498 Dem Werk war ein durchschlagender Erfolg beschieden; indem er das Panorama des römischen Antiquarianismus in Form einer Synthese thematisch zusammenfasste, machte er dessen Ergebnisse einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich.499

Das Bestreben, komplexe Wissensgebiete enzyklopädisch zu erfassen, wird gerne als Grundzug der varronischen Fachschriftstellerei bezeichnet. Die Tendenz zu einer systematisierenden „Wissensordnung“ lässt sich aber generell in der gelehrten Literatur der Zeit feststellen.500 Varro veröffentlichte im Alter drei große Handbücher: die Antiquitates (41 Bücher, vor 49 und 47/46 v. Chr.?), De lingua Latina (25 Bücher, ab 47 v. Chr. in Arbeit) und die Disciplinae (9 Bücher, um 34/33 v. Chr.?). Alle folgen demselben methodischen, nach sachlichen Kriterien systematisierten Aufbau; die Disciplinae haben vielleicht erstmals die lose Gruppierung der antiken Disziplinen zu einem klar definierten Wissenschaftssystem zusammengefasst.501 Über den Inhalt der fünfzehn Bücher De iure civili, die nur im Katalog des Hieronymus erwähnt werden, ist wenig bekannt; möglicherweise gehörte auch dieses Werk zur Gruppe der disziplinübergreifenden Übersichtswerke.502 Welche Absichten Varro mit diesen Großprojekten letztlich verfolgte, ob er gleichsam das gesamte verfügbare Wissen der res Romanae in seinem Oeuvre bündeln wollte,503 ist hier nicht Gegenstand der Erörterung. Dass er sowohl für die Antiquitates als auch für De lingua Latina jeweils eine Epitome zu neun Büchern verfasste, ist als Ausdruck des zeitgenössischen literarischen Erfolgs, aber auch als Indiz für den damaligen, auf Kürze und Übersichtlichkeit drängenden Rezeptionskontext zu werten.504 Dem gleichen Projekt pragmatischer Wissensverdichtung war sein dialogisches Spätwerk, die drei Bücher De re rustica, verpflichtet. Im Proömium verspricht der mittlerweile achtzigjährige Varro seiner Frau Fundania eine handliche Synthese der kaum mehr überschaubaren griechisch-punisch-römischen Fachliteratur, „worauf du zurückgreifen kannst, wenn du in irgendeiner Sache nicht weißt, wie und was du beim Landbau zu tun hast.“ (ad quos revertare, siqua in re quaeres, quem ad modum quidque te in colendo oporteat facere: rust. 1.1.4).505 Im programmatischen Anspruch auf knappe, aber allumfassende Vollständigkeit – veranschaulicht durch das alphabetische Namensverzeichnis griechischer Agrarschriftsteller zu Beginn des Werks (rust. 1.1.8–9) – verbindet sich die Topik der Epitome mit derjenigen der enzyklopädischen Kompilation: Der praktische Nutzen des Kompendiums liegt neben seiner lesbaren Kürze in der (scheinbar) erschöpfenden Zusammenfassung eines partikularen Spezialwissens (rust. 1.1.8: scripserunt dispersim alius de alia re [„Man schrieb darüber verstreut; jeder für sich und jedes Mal über etwas anderes“]). Dasselbe Motiv findet sich auch in der Miszellan- und Exempla-Literatur.506

Aus literaturgeschichtlicher Sicht ergeben sich für eine angemessene Würdigung der Stellung und Bedeutung der varronischen Antiquitates für die Entwicklung und Diversifizierung der antiquarischen Fachliteratur Roms zwei grundlegende methodische Probleme:

(1) Die erste Schwierigkeit besteht darin, dass aufgrund unserer mangelnden Kenntnis der relativen Chronologie der antiquarischen Werke Varros nicht wirklich klar ist, in welchem Verhältnis diese zueinander standen. Verfasste Varro zunächst eine umfassende Gesamtdarstellung, die er dann in einzelne Reduktionstypen zerlegte und monographisch erweiterte, oder sind die Antiquitates umgekehrt die sekundäre Synthese einer Reihe einschlägiger Spezialschriften? Diese Frage beschäftigte schon Ritschl. Dessen pragmatischer Ansatz ist methodisch unbefriedigend, könnte aber der Wahrheit relativ nahe kommen: „Als Ergänzungen des großen Hauptwerks, und zwar der ersten die weltlichen Dinge umfassenden Hälfte, ist eine Reihe historischer und antiquarischer Specialschriften zu betrachten, die entweder in solcher Absicht von Varro nach der Vollendung der Antiquitates verfasst wurden, wie diess von den Büchern de vita und denen de gente populi Romani durch Zeitbestimmungen […] feststeht, oder auch zum Theil als Vorbereitungen dazu früher geschrieben sein können.“507

(2) Weitet man den Blick auf die antiquarischen Fachschriften anderer römischer Autoren, so steht man vor einem analogen Problem: In welchem Verhältnis stand die antiquarische Fachliteratur Roms zu Varros Antiquitates? War das umfangreiche Werk dynamischer Motor oder kompilierende Synthese der antiquarischen Forschungen in Rom? De re rustica war die komprimierte Synthese einer langen literarischen Tradition, die auf jahrhundertealtem Erfahrungswissen beruhte. Ähnliches wird man für die Antiquitates schon wegen des schieren Umfangs der Schrift nicht annehmen dürfen. Andererseits hat Varro die Arbeiten früherer Generationen (und wahrscheinlich auch seiner Zeitgenossen) ausgiebig benutzt und verwertet. Die Wahrheit dürfte auch hier irgendwo in der Mitte liegen; Gewissheit ist kaum zu erlangen. Die in der modernen Forschung immer wieder anzutreffende Tendenz, die antiquarische Literatur Roms durch das Prisma der varronischen Schriftstellerei zu betrachten, dürfte durch die hier vorgelegte literaturgeschichtliche Skizze hinfällig geworden sein. Der Rezeptionserfolg Varros ließ Vorläufer verschwinden und hat Nachfolger unweigerlich in seinen Schatten gestellt. So kann Varro im Humanismus (und heute) nur deshalb als Kristallisationspunkt und Systembildner der römischen Altertumskunde erscheinen, weil die Autoren nicht mehr greifbar sind, die sich vor, neben und nach ihm mit dieser Thematik monographisch auseinandergesetzt haben. Seine herausragende Stellung dürfte jedoch weniger in der methodischen Durchdringung und Systematisierung antiquarischer Wissensbestände zu suchen sein, als vielmehr in deren enzyklopädischer Zusammenführung, mit der er die antiquarische Fachliteratur transgredierte und damit den Weg ebnete, dass die in ihr gespeicherten Wissensbestände von der kaiserzeitlichen Wissens- und Bildungsliteratur absorbiert werden konnten (siehe unten Kap. 6.3.2.).

Umfassende Synthesen dieser Art waren im republikanischen Rom ein literaturgeschichtliches Novum. Die Idee, bestimmte Wissensgebiete (dem Anspruch nach) erschöpfend zusammenzufassen, war jedoch wesentlich älter; spätestens im Hellenismus waren enzyklopädisch ausgerichtete Kompendien eine etablierte Form textueller Wissensordnung und -bewältigung.508 Allerdings fehlen vor Varro eindeutige Belege für den „universalistischen“ Ansatz einer Wissenskompilation, die gleichsam als Atlas das gesamte Feld eines Wissensgebietes flächendeckend kartographierte und die gewonnenen Ergebnisse pragmatisch zusammenfasste. Varro wählte dafür die Textsorte des systematischen Handbuchs, in dem das Material logisch nach Sachkategorien geordnet und in eine sinnstiftende und leicht nachvollziehbare Struktur eingebunden war. Dass dabei zugleich der Eindruck umfassender Fülle und autoritativer Ordnung und Kohärenz entstandt, gehörte zur Textstrategie enzyklopädischer Tätigkeit.509 Schon die programmatische Vierteilung des Materials (Aug. civ. 6.4 = Ant. rer. div. I frg. 4 Cardauns: qui agant, ubi agant, quando agant, quod agant [„wer, wo, wann was macht“]) – ein auch in der Rhetorik verbreitetes Schema – suggeriert auf der Makroebene Vollständigkeit. Dasselbe vermittelt auch der an den zeitgenössischen Weisheitsbegriff angelehnte Titel (rerum humanarum et divinarum).510 Auf der Mikroebene wird derselbe Eindruck durch entsprechende Textstrategien (wie Listen und Kataloge) verstärkt. Varros monumentale Synthese blieb denn auch einzigartig: Kein späterer Gelehrter hat, soweit wir sehen, den Stoff noch einmal so umfassend und systematisch aufgearbeitet. Konkurrenz kam in spätaugusteischer Zeit aus einer anderen Richtung, und zwar in Gestalt einer alternativen Form umfassender textueller Wissensspeicherung, deren Anfänge weit vor Varro liegen: das enzyklopädische Reallexikon.

Als eine frühe Form antiquarischer Synthesebildung sind die oben (S. 219–222) genannten Herkunftswörterbücher zu nennen, die zwar kaum den Anspruch auf erschöpfende Vollständigkeit erheben konnten, aber doch implizit den Eindruck erwecken wollten, zumindest das wesentliche Material, wenn auch in dekontextualisierter Form, zur Verfügung zu stellen. Der Lexikalisierung antiquarischer Wissensbestände, das heißt in diesem Fall vor allem die etymologisch-aitiologische Deutung von Namen und Begriffen, stellte sowohl in ihrem konzeptionellen Ansatz als auch in ihren publikumsorientierten Wirkungsabsichten eine vom systematischen Handbuch grundsätzlich verschiedene Kategorie der Textualisierung von Wissen dar: Lexika sind sekundäre Aneinanderreihungen von Wort- und Begriffserklärungen, die aus unterschiedlichen Kontexten zusammengetragen und dadurch verallgemeinert und verabsolutiert werden. Der vorausgesetzte Rezeptionskontext des Lexikons war zunächst der einer punktuellen Konsultation eines Nachschlagewerks mit bedingtem Vorwissen: man war auf der Suche nach klärender Bestätigung oder vertiefender Einsicht, sei es auf der Funktionsebene der höheren Schule, sei es auf der Ebene des Spezialisten. Natürlich konnte auch ein Handbuch die Funktion eines Nachschlagewerkes erfüllen, wie die kaiserzeitlichen und spätantiken Rezeptionsspuren der Antiquitates zeigen (z. B. Gell. 13.12.5; siehe oben S. 279 f.), doch bot das Handbuch darüber hinaus eine Reihe weiterer (didaktischer, appellativer oder affirmativ-legitimatorischer) Wirkungsmöglichkeiten, insofern der Autor mit meta- und paratextuellen Mitteln aus der Darstellung ein Narrativ entwickelte, das eine sukzessive Lektüre herausforderte. Sowohl bei Celsus als auch beim älteren Plinius wird die Rhetorik der Nützlichkeit und Kohärenz in den proöminalen Partien verwendet.511 Unsere Analyse von Iohannes Lydos’ De magistratibus hat exemplarisch gezeigt, wie die auktoriale Entwicklung eines leserlenkenden Narrativs innerhalb einer antiquarischen Fachschrift ablaufen konnte (siehe oben Kap. 4.2.).

Ein zweiter, folgenschwerer Unterschied zwischen Handbuch und Wörterbuch besteht in der Dekontextualisierung der aufgenommenen Wissensbestände, die sich vor allem daraus ergibt, dass ursprünglich kontextbezogene Worterklärungen aus den textbegleitenden Glossaren (etwa zu den Zwölftafeln oder den Annales des Ennius) kompiliert und damit verallgemeinert wurden. Dieser Verdichtungseffekt hatte, wie im Fallbeispiel zur Geschichte des Münzwesens (Kap. 2.3.) deutlich wurde, spätestens in der Kaiserzeit weitreichende Folgen, da mit dem Wegfall des kontextuellen Zusammenhangs in der Regel auch die Diskursebenen verwischt und damit die argumentative Kohärenz des generierten Wissens aufgelöst wurde, was neben konkurrierenden Mehrfacherklärungen auch zu Diskrepanzen zwischen Sach- und (etymologischer) Spracherklärung führen konnte.

Eine in Umfang und Anspruch den varronischen Antiquitates ebenbürtige antiquarische Gesamtsynthese der res Romanae in lexikographischer Form bildete Verrius Flaccus’ De verborum significatu.512 Das monumentale Reallexikon – Gellius (5.17.1) zitiert aus dem vierten Buch zum Buchstaben A, Festus (p. 436, 34–35 Lindsay) aus dem fünften zu P – stellte eine Generation nach Varro den augusteischen Kulminationspunkt einer über hundertjährigen Tradition glossographisch-lexikographischer Praxis in Rom dar. Abgesehen von zwei namentlichen Fragmenten (Gellius 5.17.1; 5.18.2) ist es nur auszugsweise in der ursprünglich auf zwanzig Bände gekürzten Fassung des Sextus Pompeius Festus (2. Jhd. n. Chr.) erhalten, die ihrerseits handschriftlich nur lückenhaft (Buchstaben MV) und ergänzend in der Epitome des Paulus Diaconus (720/730–799 n. Chr.) überliefert ist.513 Die moderne Rekonstruktion des verrianischen Originalbestandes ist hochkomplex und methodisch nicht unproblematisch, zumal bei beiden Bearbeitern Interpolationen nachweisbar sind und gerade Festus sich nicht als serviler Epitomator, sondern als eigenständig denkender Sprachforscher verstand, in dessen Rolle er sich – bisweilen durch ostentative Kritik an Verrius – zu inszenieren wusste.514

Die Exzerpte weisen innerhalb fast jedes einzelnen Buchstabens zwei verschiedene Lemma-Abschnitte auf: der erste ist (fast immer) alphabetisch geordnet (bis zum zweiten oder dritten Buchstaben), im zweiten Abschnitt stehen die Glossen in der Reihenfolge des Fundkontextes, das heißt der Quellenautoren, aus denen Verrius die Stellen exzerpiert hat. Seit Karl Müller, der diese Struktur als erster entdeckte, und Richard Reitzenstein, der beide Bearbeitungsstufen Verrius zuschrieb, wird dieser Befund allgemein als Hinweis auf eine Unvollständigkeit gedeutet: Verrius habe das Lexikon ursprünglich alphabetisch durchstrukturiert, dann aber sukzessive um weiteres Material ergänzt. Zu einem späteren Zeitpunkt wollte er es nach berichtigender – das heißt auch die zweiten Buchstaben der Stichwörter beachtender – alphabetischen Ordnung umstellen, sei aber durch den Tod davon abgehalten worden.515 Der innovative Charakter einer (weitgehend) alphabetischen Anordnung des Stoffes innerhalb der lateinischen Lexikographie wird immer wieder behauptet, muss aber angesichts unserer geringen Kenntnis der vorverrianischen Tradition Hypothese bleiben. Wissensgeschichtlich spannender sind hier Fragen nach den intendierten Wirkungs- und Rezeptionskontexten dieser Präsentationsform.516 Die mehr als dreitausend erhaltenen Lemmata zeigen, dass es sich bei dem gesammelten Material überwiegend, aber keineswegs ausschließlich, um seltene, alte oder allgemein erklärungsbedürftige Wörter und Bedeutungen handelt, die gemäß der seit dem Hellenismus etablierten grammatischen Methodik durch Parallelstellenvergleich, Etymologie und Aitiologie entschlüsselt wurden.517 Verrius’ wissenschaftliche Arbeitsweise scheint derjenigen Varros und der von ihm ausgiebig konsultierten grammatischen und antiquarischen Fachliteratur entsprochen zu haben. So tritt neben die Darstellung der verschiedenen Fachmeinungen bei abweichenden Auffassungen ein eigener, meist ausführlich begründeter Erklärungsansatz.518 Wie die vereinzelte Kritik durch Festus zeigt, ließ sich Verrius dabei – seiner enzyklopädischen Zugriffsweise entsprechend – zu umfangreichen Exkursen hinreißen, die auf sachliche Erläuterungen abzielten und nur noch bedingt mit der Wortbedeutung zu tun hatten.519

Die Behandlung des Lemma nuptiae (vom Epitomator zweifellos stark gekürzt) kann als exemplarisch für die Arbeitsweise des augusteischen Gelehrten angesehen werden:520

Nuptias dictas esse ait Santra ab eo, quod νυμφεῖα dixerunt Graeci antiqui γάμον, inde novam nuptam νέαν νύμφην. Cornificius, quod nova petantur coniugia. Curiatius, quod nova ratio fiat. Aelius et Cincius, quia flammeo caput nubentis obvolvatur, quod antiqui obnubere vocarint: ob quam causam legem quoqueparens tamiubere caput eius obnubere, qui parentem necavisset, quod est obvolvere.

Nuptiae [„Hochzeit“] sagt man deshalb, schreibt Santra, weil die alten Griechen numpheia für gamos [„Hochzeitsfeier“] sagten; daher bedeutet nova nupta dasselbe wie nea numphe [„frisch vermählte Braut“]. Cornificius [sagt], weil neue Ehebündnisse [nova coniugia] geschlossen würden; Curiatius, weil eine neue Geschäftssache [nova ratio] eintrete; Aelius und Cincius, weil der Kopf der Braut mit einem roten Schleier eingehüllt werde [obvolvere], was die Alten obnubere [„verhüllen“] nannten. Aus diesem Grund † besage das Gesetz, dass der Kopf eines Vatermörders zu verhüllen sei, was auch obvolvere [„verschleiern“] heißt.

Fest. p. 174, 20–28 Lindsay

Die sprachaitiologische Behandlung der Passage spricht eindeutig für den antiquarischen Charakter des Ganzen, was durch zahlreiche weitere Belegstellen untermauert werden könnte. Dennoch war das Lexikon weit mehr als nur eine Sammlung von Etymologien. Soweit ersichtlich, hat die sachbezogene Ursprungsforschung in ihren unterschiedlichen Kategorien einen großen Teil des erhaltenen Materials geprägt. Nachweisbar ist dies zumal für die Lexik diskursrelevanter semantischer Felder, wie im vorliegenden Beispiel zu Kult und Brauchtum (mit vielen Hundert Einträgen),521 ferner zur Topographie (mit über 150 Einträgen) sowie zum Kalender und zu Rechtsinstituten.522 Auch Wortglossare und Lexika zur juristischen Fachsprache sowie solche, die sich mit dem dunklen und unverständlichen Vokabular der archaischen Literatur (vor allem der Dichtung) befassten, sind eingeflossen.523 Obwohl also Verrius’ Reallexikon durch die Einbeziehung der in ihrer Zielsetzung insgesamt relativ heterogenen lexikologischen Forschungen Roms den engeren Rahmen der antiquarischen Spezialforschung sprengte, stellte das monumentale Werk, soweit ersichtlich, nach Varros Antiquitates die einzige und zugleich letzte umfassende Synthese antiquarischen Wissens dar.524 Wie in den Antiquitates war es auch in De verborum significatu kaum möglich, eine vollständige und universelle Erfassung aller Sachgebiete zu erreichen, dürfte aber durchaus dem kommunizierten auktorialen Selbstverständnis entsprochen haben. Inwieweit sich die im Vergleich zu den Entstehungsbedingungen der Antiquitates gewandelten gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen auf die verrianische Wissenskonzeption ausgewirkt haben, wäre im Einzelnen noch zu untersuchen.525

Völlig unklar sind dagegen Inhalt, Umfang und Gliederung der Libri rerum memoria dignarum des Verrius, die nur einmal bei Gellius (4.5.6) erwähnt werden. Das Werk gibt bis heute Anlass zu spekulativen Hypothesen. Die ältere Forschung wollte es zu einer Hauptquelle der Naturgeschichte des älteren Plinius machen, doch fehlen dafür schlicht die Belege, zumal Verrius zwar regelmäßig in den plinianischen Autorenverzeichnissen auftaucht, aber keine seiner Schriften namentlich zitiert wird.526 Ähnlich unsicher ist die vermutete Bedeutung des Werks für Sueton, Solinus und die Origo gentis Romanae.527 Das Fehlen direkter Rezeptionszeugnisse schließt ein enzyklopädisch ausgerichtetes Großwerk nicht prinzipiell aus, doch ist fraglich, ob der Titel tatsächlich in diese Richtung weist und das Werk nicht eher in der Tradition der historiographischen Memoirenliteratur oder der gelehrten Poikilographie stand. Das einzige Testimonium betrifft die exemplarische Bestrafung wortbrüchiger etruskischer Wahrsager – eine mahnende Anekdote, die Verrius offenbar dem elften Buch der Annales Maximi entnommen hatte.528 In der monographischen Fachtradition des griechisch-römischen Antiquarianismus wäre ein Werktitel, der die Erinnerungsfunktion so explizit hervorhebt, überdies ein Unikat.

6.2.3 Kontexte und Wirkungen: Antiquarianismus in der Literatur des 1. Jahrhunderts v. Chr.

Nescire autem quid ante quam natus sis acciderit,

id est semper esse puerum.

Cic. orat. 120

6.2.3.1 Vorbemerkungen

In der vorliegenden Untersuchung wurde eine nähere Analyse der Funktionen, Intentionen und Wirkungsabsichten der textlichen Manifestationen der antiquarischen Fragestellung bisher weitgehend ausgeklammert. Ebenso wurde die Aufarbeitung der die antiquarische Fachliteratur bedingenden und fördernden historisch-politischen und literarisch-kulturellen Kontexte zurückgestellt. In der folgenden Skizze wird nun der Versuch einer notgedrungen im Exemplarischen verbleibenden Kontextualisierung des römischen Antiquarianismus unternommen. Im Mittelpunkt stehen Varro und die Dichtung der spätrepublikanisch-augusteischen Zeit, weil hier die Überlieferungslage besonders günstig ist und zugleich die Komplementarität von antiquarischer Forschung und historiographischen, epischen und anderen literarischen und nichtliterarischen Formen der Vergangenheitsbefassung deutlich werden lässt. Das Ziel der folgenden Überlegungen ist ein doppeltes: Zum einen soll aus den zeitgebundenen Kontexten, in denen Antiquarianismus virulent war, mit der gebotenen Vorsicht auf die Wirkungsweisen und Intentionen der antiquarischen Fachliteratur geschlossen werden, zum anderen soll die generelle Relevanz der antiquarischen Fragestellung innerhalb des literarischen Diskursfeldes der untersuchten Epoche beleuchtet und nach den Gründen dafür gefragt werden.

Der folgende synchrone Querschnitt wird anhand der literaturgeschichtlichen Leitthese eines zweistufigen Funktionalisierungsprozesses entwickelt, den die antiquarische Ursprungsforschung innerhalb des Traditionalismus-Diskurses dieser Epoche mutmaßlich durchlaufen hat. Überlieferungsbedingt muss der postulierte Paradigmenwechsel allerdings anhand zweier unterschiedlicher Texttypen nachgezeichnet werden; dadurch ist der Geltungsanspruch der vorgetragenen Überlegungen zwangsläufig eingeschränkt. Eine weitere Einschränkung ergibt sich aus der ebenfalls überlieferungsbedingten Fokussierung auf Varro, dessen Eigentümlichkeiten nur in begrenztem Maße verallgemeinert werden können.

In dem für die betrachtete Epoche postulierten Funktionalisierungsprozess der antiquarischen Fragestellung steht die erste historische Phase unter den Vorzeichen einer „Anamnese“, das heißt eines kulturellen Wiedererinnerns als Ausweg aus einer selbst empfundenen gesellschaftlichen Krise: Trotz der fortschreitenden Aushöhlung politischer Verhaltensnormen sahen historisch reflektierende Persönlichkeiten wie Cicero und Varro die Lähmung des politischen Systems noch nicht als vollständig an und hielten die selbst diagnostizierte Dekadenz der Zeit durch eine Rückbesinnung auf traditionelle Wert- und Handlungsmaßstäbe seitens der politisch führenden Klasse für reversibel. Der diesem Denkmuster folgende Impuls zur memorialen Traditions(re)konstruktion war eine zentrale Triebfeder historisierender Gegenwartsdeutung, wie sich an Varros Schriften exemplarisch nachvollziehen lässt.529 Sein Werk stand somit im Horizont eines Restaurierungsprogramms, das die res publica durch die Rückkehr zu ihren Ursprüngen wiederherstellen wollte. Unter Octavian/Augustus setzte dann, so die These weiter, ein mehr oder weniger fließender Paradigmenwechsel ein, der unter der selten explizit ausgesprochenen Prämisse eines Traditionsbruchs nun das Programm der „Neugründung“ in den Mittelpunkt stellte.530 Die Konstruktion des Neuen aus dem Alten erfolgte (unter anderem) mittels des antiquarischen Denkmodells, aber die diskursive Perspektive hatte sich insofern verändert, als nun die erinnerungsverfestigende Gegenwartsdeutung nicht mehr im Zentrum stand. Die Ursprungsforschung diente jetzt in erster Linie der Erzeugung eines statischen Vergangenheitsbildes, vor dessen kontrastierender Folie sich die augusteische Gegenwart neu konstituierte. Manifest wird diese Entwicklung in der augusteischen Dichtung.

Beide postulierten Funktionstypen antiquarischer Vergangenheitsbefassung, die spätrepublikanische Anamnese und die augusteische Neubegründung, erweisen sich damit letztlich als Kehrseiten desselben Phänomens, nämlich der Suche nach einem verbindlichen Bezugsrahmen gesellschaftlicher Ordnung und nach einem konsensfähigen autoritativen Wertesystem, das dem eigenen Handeln in einem größeren historischen Rahmen Sinn und Kohärenz verleiht. Der Prozess des Wiedererinnerns geht dem des Wiederaufbauens logisch voraus. So hat die memoriale „Resemantisierung“ Roms im Zuge der spätrepublikanischen Altertumsforschung die nötigen Grundlagen für die augusteische restitutio gelegt.

6.2.3.2 Zwischen Rekonstruktion und Dokumentation: Varro und die Resemantisierung der Gegenwart aus den begründenden Ursprüngen

Auf der Suche nach der Motivation, die Varro zu seiner antiquarischen Fachschriftstellerei führte, und nach den literarischen Wirkungsinteressen, die ihn dabei maßgeblich leiteten, wendet sich die Forschung gerne seinen Menippeischen Satiren zu.531 Die Fragmente dieser Sammlung von ursprünglich 150 Büchern, die in Anlehnung an den kynischen Philosophen und Literaten Menippos von Gadara (1. Hälfte 3. Jhd. v. Chr.) wohl zwischen 80 und 60 v. Chr. entstanden ist, zeigen Varro als kulturkritischen Schriftsteller, der einer als dekadent empfundenen Gegenwart in heiterer und lockerer Form ein Spiegelbild entgegensetzt. Varros durchweg römische, auf praktische Sittenreform zielende Adaption des κυνικὸς τρόπος, die den Alltag zum Ausgangspunkt einer Zeitkritik macht und die Mitmenschen in witzig-satirischer Form zur richtigen Lebensführung anregen soll, lässt eine moralisierende Ausrichtung erkennen, deren belehrende Tendenz sich auch in seinen späteren Werken wiederfindet.532 Hinter der stilistisch reizvollen Gestaltung verbergen sich ernsthafte Paränese und praktische Unterweisung – wesentliche Grundbestandteile des varronischen Oeuvres.533

Wie in der Gattung üblich, gewinnt das thematisch wie formal überaus reichhaltige Sittengemälde unter anderem durch den Kontrast zur „guten alten Zeit“ an Kontur; mit dem Blick auf die Vergangenheit wird die eigene Andersartigkeit oder besser: Dekadenz literarisch profiliert.534 Dies wird unter anderem in der Satire Sexages(s)is („sechzig As“ bzw. „der Sechzigjährige“) deutlich, in der ein Knabe nach fünfzigjährigem Zauberschlaf als Greis (frg. 485 Cèbe = 490 Bücheler) in einem veränderten Rom erwacht (frg. 488 Cèbe = 491 Bücheler: Romam regressus ibi nihil offendi quod ante annos quinquaginta, cum primum dormire coepi, reliqui [„Als ich nach Rom zurückkehrte, fand ich dort nichts mehr von dem vor, was ich vor fünfzig Jahren zurückgelassen hatte, als ich zu schlafen begann.“]) und bestürzt den zwischenzeitlich erfolgten Sittenzerfall registriert (frg. 489 Cèbe = 488 Bücheler: Ergo tum Romae parce pureque pudentis / vixere; en patriam! nunc sumus in rutuba [„Einst lebte man in Rom sparsam, rein und keusch; jetzt schaut auf das Vaterland: wir leben im Chaos!“]). Die Fragmente, die Nonius bietet, eröffnen ein Panorama zeitgenössischer Laster aus dem gängigen Motivschatz römischer Zeitkritik (Vatermord: frg. 491 Cèbe = 496 Bücheler; Korruption: frg. 492 und 494 Cèbe = 497 und 499 Bücheler; Gesetzlosigkeit: frg. 493 Cèbe = 498 Bücheler; Tafelluxus: frg. 495 Cèbe = 501 Bücheler).535 Das Motiv des Zauberschlafes ist hier insofern sinnstiftend, als es – wie im aristotelischen Gleichnis von den sardischen Schläfern (phys. 4.11) – verdeutlicht, dass Zeit nur dann wirklich wahrnehmbar wird, wenn sich der umgebende Raum verändert. Die Antithese „Einst-Jetzt“ wird also erst aus der Differenz zweier unterschiedlicher Zeiträume erfahrbar. Die Erfahrung einer pathologisch empfundenen Veränderung ist daher nur dem erwachten Schläfer (oder dem mit den Relikten der Vergangenheit beschäftigten Altertumsforscher) möglich. Seine unablässigen moralischen Anklagen stoßen daher bei seinen Zeitgenossen auf taube Ohren (frg. 505 Cèbe = 505 Bücheler: erras, inquit, Marce; accusare noli: ruminaris antiquitates [„Du irrst dich, Marcus; hör auf zu beschuldigen: du käust das Alte wieder“]). Schließlich wird der Störenfried durch einen obskuren Brauch aus dem Weg geräumt (frg. 498 Cèbe = 493 Bücheler: acciti sumus ut depontaremur [„Wir wurden herbeigerufen, um von der Brücke gestürzt zu werden“]; frg. 499 Cèbe = 494 Bücheler: vix ecfatus erat cum more maiorum ultro casnares [coni. Iunius; codd. carnales] arripiunt, de ponte in Tiberim deturbant [„Kaum hatte er geendet, als sie die Alten ergriffen und von der Brücke in den Tiber stürzten“]). Damit ist dasselbe Problem aus zwei unterschiedlichen Perspektiven benannt: Fehlte dem römischen Rip Van Winkle der Bezug zur Gegenwart,536 so lebten seine Zeitgenossen gleichsam zeitlos, ohne jeden Bezug zur Vergangenheit. Die gegenseitige Entfremdung ist also Folge einer Zäsur im natürlichen Kontinuum der Zeit, der erlebte Anachronismus Symptom einer Traditionskrise.

Dass der Weg in eine ersprießliche Zukunft über die Vergangenheit führt, war eine Grundprämisse der traditionsorientierten römischen Nobilität. Cicero konnte dem jüngeren Scipio die gleichermaßen sorgen- wie verheißungsvollen Worte in den Mund legen, dass das römische Staatswesen ewig sein könnte, „würde man nach den Sitten und Gebräuchen der Väter leben“ (quae poterat esse perpetua, si patriis viveretur institutis et moribus: rep. 2.41). Solange im Rahmen der Geschichts- und Erinnerungskultur gewährleistet war, dass der normsetzende und handlungsleitende mos maiorum und die dazugehörigen exempla im kollektiven Gedächtnis präsent blieben, war die fortwährende Identifikation des Einzelnen mit der res publica und die Gemeinschaftsfähigkeit des populus Romanus gesichert.537 Die kulturelle Erinnerung war damit, was Gegenwartsgestaltung und Zukunftsfähigkeit eines Staatswesens betrifft, eine eminent wichtige soziale und politische Größe.538

Dieses Denkmuster gewinnt in Varros Der Sechzigjährige insofern an Relevanz, als dieser in der Rolle des hartnäckigen Mahners und sprichwörtlichen laudator temporis acti539 den Zeitgenossen die sich ihm aufdrängende Distanz zwischen Gegenwart und Vergangenheit vor Augen führt und damit letztlich den im Kontrastbild aufgedeckten Verfall der zeitgenössischen mores als Krise des kulturellen Gedächtnisses identifiziert, das nicht mehr in der Lage ist, die gegenwartsleitenden und zukunftsweisenden exempla der Vergangenheit in Erinnerung zu halten.540 Die nach römischer Vorstellung über die Jahrhunderte vorgelebten und tradierten Tugenden der pietas, fides und pudicitia seien vergessen und in ihr Gegenteil verkehrt worden (frg. 490 Cèbe = 495 Bücheler: in quarum locum subierunt inquilinae impietas, perfidia, impudicia [„an ihre Stelle rückten als neue Bewohnerinnen Pflichtvergessenheit, Treulosigkeit, Unzüchtigkeit“]). Nur durch die Wiederaufnahme der Traditionslinien, durch die kulturelle Rückbesinnung auf die zukunftsträchtigen Normen der Vorfahren könne das gegenwärtige Chaos und die Aushöhlung der gesellschaftlichen Institutionen (frg. 491–495 Cèbe) überwunden werden. Jetzt stehe nichts weniger auf dem Spiel als das Vaterland und die Romanitas (frg. 489 Cèbe = 488 Bücheler).

Liest man das Stück als satirische Warnung vor dem drohenden Identitätsverlust einer ganzen Gesellschaft, so verbirgt sich in der Metapher des Erwachens aus dem Tiefschlaf der eigentliche Appell der moralischen Paränese: Notwendig sei – als Voraussetzung für einen Neuanfang – gleichsam ein Erwachen in der Vergangenheit, eine kulturelle Anamnese, die die historische Bedingtheit der Gegenwart wieder ins Bewusstsein rückt.

Seit Mommsen wird die Sprecherfigur des Sexagessis mit der Person Varros identifiziert oder zumindest als dessen literarisches Sprachrohr angesehen. Diese Gleichsetzung beruht zum einen auf vermuteten textinternen Signalen (frg. 505 Cèbe = 505 Bücheler: Identität des Vornamens und mögliche Selbstkarikatur durch Anspielung auf die Antiquitates), zum anderen auf dem textexternen Rückschluss auf die allgemeine erinnerungsstabilisierende Funktion, die man der varronischen Schriftstellerei, insbesondere seinen Antiquitates, zuschreibt.541 In dieser biographischen Lesart ist die Satire literarischer Ausdruck einer selbstdiagnostizierten Entfremdung, die durch die identitätsstiftende Wiederentdeckung der Vergangenheit einen Weg aus der Krise weist. Diese positive Selbsterfahrung habe Varro an seine Mitmenschen weitergegeben, indem er selbst zur Verkörperung der kulturellen Erinnerung geworden sei und unablässig „das Alte wiederkäute“ (vgl. frg. 505 Cèbe = 505 Bücheler). Seine antiquarischen Schriften wären in diesem Sinne gleichsam das literarische Heilmittel, mit dem er gegen das kulturelle Vergessen seiner Zeit ankämpfte.

Der Plausibilität dieses etablierten Interpretationsansatzes, der jüngst wieder von Irene Leonardis überzeugend vertreten wurde,542 steht die gesunde Skepsis gegenüber, die jedem auf Zufallsnachrichten beruhenden Forschungsnarrativ entgegengebracht werden sollte.543 Im Folgenden geht es jedoch nicht darum, für die eine oder andere Seite zu argumentieren. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht vielmehr der Nachweis des angewandten antiquarischen Modells, mittels dessen die vermutete Resemantisierung der Gegenwart überhaupt erst vollzogen wurde. In der Tendenz zeigt sich dieser Ansatz bereits in der Satire Ταφὴ Μενίππου („Das Grab des Menippos“), in der vermutlich die alljährliche feierliche Versammlung der römischen „Kyniker“ anlässlich des Todestages des Menippos als Rahmenhandlung inszeniert wurde (frg. 537 Cèbe = 537 Bücheler): Haec Numa Pompilius fieri si videret, sciret suorum institutorum nec volam nec vestigium apparere („Wenn Numa Pompilius dies so geschehen sähe, wüsste er, dass von seinen religiösen Einrichtungen keinerlei Spur mehr existiert.“). Der Kontext der Stelle, die Nonius wegen des seltenen Wortes vola („Fußsohle“) zitiert, kann nur erahnt werden; deutlich wird aber erneut das Motiv der Entfremdung, die in der literarischen Imagination diesmal den „Stifter“ der römischen Religion selbst trifft. Die ursprüngliche Funktion, der eigentliche Sinn der sacra sei verloren gegangen. Numa selbst würde im modernen Ritual keine Spur seiner Stiftung mehr erkennen – deutlicher kann ein Traditionsbruch kaum ausgedrückt werden.544 Um diese Distanz zu überwinden und die Vergangenheit wieder sinnstiftend in die Gegenwart zu holen, war es notwendig, die in der Frühzeit gelegten gesellschaftlichen Grundlagen Roms in Erinnerung zu rufen und die kausalen Zusammenhänge, die sie mit der Gegenwart verbinden, aufzuzeigen.

Vor diesem Hintergrund und angesichts der anhaltenden politischen Verwerfungen, die das römische Staatswesen zu seinen Lebzeiten erschütterten, liegt es nahe, Varros Vergangenheitsforschung im Lichte einer literarischen Krisenbewältigung zu sehen (siehe oben Kap. 1.3.). Tatsächlich manifestiert sich dieses Krisenbewusstsein programmatisch in einer Reihe von Fragmenten und Zeugnissen, die Varros antiquarische Fachschriften in den Dienst einer sinn- und traditionsstiftenden Historisierung der republikanischen Gegenwart stellen – mit dem auktorialen Anspruch, einem drohenden Identitätsverlust durch Aufklärung und Belehrung entgegenzuwirken.545

An den Anfang der Res divinae wird gewöhnlich eine metatextuelle Passage gestellt, die sich in der Paraphrase des Augustinus erhalten hat:

Cum vero deos eosdem ita coluerit colendosque censuerit, ut in eo ipso opere litterarum suarum dicat se timere ne pereant [dei], non incursu hostili, sed civium neglegentia, de qua illos velut ruina liberari a se dicit et in memoria bonorum per eius modi libros recondi atque servari utiliore cura, quam Metellus de incendio sacra Vestalia et Aeneas de Troiano excidio penates liberasse praedicatur.

Doch er verehrte diese Götter so sehr und hielt ihre Verehrung für so notwendig, dass er in ebendiesem Werk [sc. den Antiquitates] erklärte, er fürchte, die Götter würden untergehen, nicht durch einen feindlichen Angriff, sondern durch die Gleichgültigkeit der Bürger. Vor diesem drohenden Zusammenbruch, sagt er, werde er sie bewahren und durch seine diesbezüglichen Bücher im Gedächtnis gutgesinnter Männer erhalten und bewahren, was ein größerer Dienst sei als der, für den Metellus bekannt ist, weil er die vestalischen Kultgegenstände aus dem Feuer rettete, oder Aeneas, weil er die Penaten vor dem Untergang Trojas bewahrte.

Aug. civ. 6.2 = Ant. rer. div. I frg. 2a Cardauns

Neben der markanten Selbststilisierung als „Retter“ und „Bewahrer“ eines vom Vergessen bedrohten sakralen Traditionswissens wird hier zugleich der mahnende Finger auf die Ursache des Übels, die neglegentia civium, gelegt. Dieses in den Fragmenten mehrfach wiederkehrende Motiv fügt sich in die relativ breit belegte zeitgenössische Klage über das Vergessen und die Missachtung der mores und die Vernachlässigung der sacra ein.546 Eines der Hauptziele der Res divinae war es daher, wie Augustinus an anderer Stelle schreibt, die römischen Bürger davon zu überzeugen, „die Götter mehr zu verehren als zu verachten“ (ad eum finem illa scribere ac perscrutari, ut potius eos [deos] magis colere quam despicere vulgus velit: Aug. civ. 4.31 = Ant. rer. div. I frg. 12 Cardauns). Dazu musste das Wissen über die Götter vor dem drohenden Zusammenbruch gerettet, dem Gedächtnis der Patrioten (emphatisch: boni) wieder eingepflanzt und bewahrt werden (de qua … ruina liberari … et in memoria bonorum recondi atque servari: civ. 6.2). Wenn man die hier formulierte „aufklärerische“ Programmatik der Antiquitates für Varros antiquarische Fachschriftstellerei verallgemeinern darf,547 dann trat Varro seinen Zeitgenossen als Autor mit einer klaren paränetisch-didaktischen Botschaft gegenüber, die neben der moralischen Erbauung auch den unmittelbaren, praktischen Nutzen (utiliore) der dargebotenen Wissensbestände betonte. Programmatisch wird der letztgenannte Anspruch an anderer Stelle noch einmal für die Res divinae bezeugt:

Quid est ergo, quod pro ingenti beneficio Varro iactat praestare se civibus suis, quia non solum commemorat deos, quos coli oporteat a Romanis, verum etiam dicit quid ad quemque pertineat? Quoniam nihil prodest, inquit, hominis alicuius medici nomen formamque nosse, et quod sit medicus ignorare: ita dicit nihil prodesse scire deum esse Aesculapium, si nescias eum valetudini opitulari atque ita ignores cur ei debeas supplicare. Hoc etiam alia similitudine adfirmat dicens, non modo bene vivere, sed vivere omnino neminem posse, si ignoret quisnam sit faber, quis pistor, quis tector, a quo quid utensile petere possit, quem adiutorem adsumere, quem ducem, quem doctorem; eo modo nulli dubium esse asserens ita esse utilem cognitionem deorum, si sciatur quam quisque deus vim et facultatem ac potestatem cuiusque rei habeat. „Ex eo enim poterimus,“ inquit, „scire quem cuiusque causa deum advocare atque invocare debeamus, ne faciamus, ut mimi solent, et optemus a Libero aquam, a Lymphis vinum.

Was bedeutet es nun, wenn Varro sich rühmt, seinen Mitbürgern dadurch eine große Wohltat zu erweisen, dass er nicht nur die Götter aufzählt, die von den Römern verehrt werden müssen, sondern auch darlegt, wer für was zuständig ist? Er sagt: Wie es nichts nützt, wenn man einen Arzt dem Namen und der Gestalt nach kennt, aber nicht weiß, dass er ein Arzt ist, so nützt es auch nichts, wenn man weiß, dass Äskulap ein Gott ist, aber nicht weiß, dass er der Gesundheit hilft, und so auch nicht weiß, warum man ihn anrufen soll. Er verdeutlicht dies mit einem weiteren Gleichnis: Man könne nicht gut leben, ja niemand könne überhaupt überleben, wenn man nicht wisse, wer denn der Handwerker, wer der Bäcker, wer der Gipser sei, bei wem man Hausgeräte kaufen könne, wer als Gehilfe, Führer oder Lehrer eingestellt werden könne. Daher, so versichert er, könne es keinen Zweifel geben, dass die Kenntnis der Götter nur insoweit von Nutzen sei, als man auch wisse, welcher Gott in welchen Dingen welche Macht, Fähigkeit und Gewalt besitze. „Denn daraus,“ sagt er, „können wir ersehen, welche Gottheit wir in welcher Sache herbeiziehen und anrufen müssen, damit wir nicht, wie es die Mimen zu tun pflegen, von Liber Wasser und von den Lymphen Wein erbitten.“

Aug. civ. 4.22 = Ant. rer. div. I frg. 3 Cardauns

Die Legitimationsstrategie, mit der Varro die Bücher der Res divinae bei den Lesern anpries, bestand also unter anderem darin, durch lebensweltliche Analogien den immensen, ja geradezu lebensnotwendigen Nutzen (vivere omnino neminem posse) zu verdeutlichen, den die Kenntnis der Götter mit sich brächte (esse utilem cognitionem deorum).548 Das besondere Verdienst seines Werks für die römische Bürgerschaft sei dabei nicht nur die erinnernde Vergegenwärtigung der einzelnen Gottheiten, zu deren Verehrung die Römer verpflichtet wären; entscheidend sei vielmehr die Offenlegung ihrer spezifischen Wirkungsbereiche (quid ad quemque pertineat), das heißt die Erläuterung, „welche Gottheit wir in welcher Sache herbeiziehen und anrufen müssen“ (quem cuiusque causa deum advocare atque invocare debeamus). Dieses programmatische Anliegen, mit dem sich der Autor nichts weniger als die Resemantisierung des römischen Kultwesens vornimmt, verdeutlicht das hermeneutische Potenzial des Antiquarianismus: Um (wieder) zu wissen, was welcher Gottheit gebührt, müssen die causae aufgedeckt und der Ursprung und die Herkunft von Namen, Festen und Riten rekonstruiert werden.

Bestätigt wird das skizzierte varronische Selbstbild des belehrenden „Retters“ durch das bekannte Rezeptionszeugnis in Ciceros Academica, in der er seinen Dialogpartner Varro zum Führer durch die Erinnerungslandschaft Roms stilisiert, der den gleichsam kopflos umherirrenden Mitbürgern „den Weg nach Hause“ und damit zur (Wieder-)Erkenntnis ihrer historischen Identität gezeigt habe (Cic. ac. 1.9): Nam nos in nostra urbe peregrinantes errantesque tamquam hospites tui libri quasi domum deduxerunt, ut possemus aliquando qui et ubi essemus agnoscere („Denn deine Bücher haben uns, die wir wie Fremde in unserer eigenen Stadt umherirrten, wieder nach Hause geführt, sodass wir endlich erkennen konnten, wer und wo wir sind.“).549 Die identitätsstiftende Heimholung der Römer gelang, wie Cicero weiter ausführt, durch die Erklärung der „Namen, Arten, Funktionen und Anfänge aller menschlichen und göttlichen Dinge“, wobei die aufgeführte Systematik (aber wahrscheinlich nicht das emphatische Bild der Heimholung550) möglicherweise direkt auf das im Anfangsprolog der Antiquitates genannte Programm anspielt.551 Mag das feierliche Lob – dem aristokratischen Usus des gegenseitigen literarischen Komplimentierens folgend – einer gewissen enkomiastischen Hyperbole nicht entbehren,552 so zeigt doch die Differenziertheit, mit der Cicero sich hier äußert, dass er Varros herausragenden Verdiensten um die historisierende Gegenwartsforschung durchaus Respekt und Anerkennung zollen wollte.

Das Thema der sinn- und traditionsstiftenden commemoratio antiquitatis (orat. 120) lag Cicero nicht nur aus mutmaßlich nostalgischen Reflexen553 besonders am Herzen. Wenige Jahre zuvor hatte er im Prolog des fünften Buches seines Dialogs De re publica die zunehmende identitäre Orientierungslosigkeit seiner Mitbürger explizit mit der politischen Krise der Zeit in Verbindung gebracht und deren Ursachen seinerseits als Krise der memoria bestimmt:

Nostra vero aetas, cum rem publicam sicut picturam accepisset egregiam sed iam evanescentem vetustate, non modo eam coloribus isdem quibus fuerat renovare neglexit, sed ne id quidem curavit ut formam saltem eius et extrema tamquam liniamenta servaret. Quid enim manet ex antiquis moribus, quibus ille dixit rem stare Romanam? Quos ita oblivione obsoletos videmus, ut non modo non colantur, sed iam ignorentur. […] Nostris enim vitiis, non casu aliquo, rem publicam verbo retinemus, re ipsa vero iam pridem amisimus.

Aber unsere Zeit, die den Staat wie ein prächtiges, aber altersbedingt bereits verblassendes Gemälde erhalten hatte, hat es nicht nur versäumt, es mit den ursprünglichen Farben wieder aufzufrischen, sondern hat sich nicht einmal darum gekümmert, seine Form und seine äußeren Umrisse zu erhalten. Denn was bleibt von den alten Sitten, auf denen, wie jener [Ennius] sagt, der römische Staat beruht? Wir sehen, dass sie in Vergessenheit geraten sind, so sehr, dass man sie nicht nur nicht mehr beachtet, sondern nicht einmal mehr kennt. […] Durch unsere eigene Schuld, nicht durch irgendein Unglück, bewahren wir den Staat dem Worte nach, in Wirklichkeit aber haben wir ihn längst verloren.

Cic. rep. 5.1.2 = Aug. civ. 2.21

Der gesamtgesellschaftliche Wissensvorrat über die eigene Vergangenheit nimmt zwangsläufig ab, wenn das Gedächtnis nicht durch bewusste Erinnerungsarbeit immer wieder erneuert wird (renovare). Für die Römer bestehe aber noch Hoffnung: Der Prozess des kulturellen Vergessens sei umkehrbar, das überkommene Bild zwar in der Farbe verblasst, aber noch vorhanden.

Das wissenschaftliche Unterfangen, der Gegenwart Roms, das heißt in erster Linie den öffentlichen Plätzen, Gebäuden und Institutionen, durch die Wiedergewinnung der sie begründenden vetustas Sinn und Kohärenz zu verleihen, wurde also von Cicero durchaus begrüßt, auch wenn er selbst vor dieser Arbeit zurückschreckte und sich stattdessen auf die Ebene der philosophischen Reflexion konzentrierte.554 Grundsätzliche methodische Vorbehalte scheint er – wie andere Zeitgenossen auch – vor allem gegenüber der Methode der Etymologie gehegt zu haben, auf die er selbst gleichwohl immer wieder zurückgriff, wenn es seiner Argumentation dienlich war.555

Diese knappe Skizze der autorintentionalen Werkprogrammatik der Antiquitates und ihrer zeitgenössischen Rezeption hat deutlich gemacht, dass die mit Hilfe der antiquarischen Zeichenarchäologie unternommene Rekonstruktion der die gegenwärtige Lebenswelt fundierenden historischen Kausalitäten als ein zentraler Aspekt der antiquarischen Schriftstellerei Varros angesehen werden kann. Die herausgearbeitete Sonderstellung der Antiquitates, die durch ihren singulären enzyklopädischen Charakter untermauert wird (siehe oben Kap. 6.2.2.), hat erhebliche Konsequenzen für die Bewertung der Zweckausrichtung und der zeitgebundenen Darstellungsinteressen der antiquarischen Fachliteratur insgesamt. Dies gilt nicht zuletzt für die vermuteten innenpolitischen Implikationen dieser Literatur beziehungsweise die parteipolitische Positionierung einzelner Autoren – eine Problematik, auf die am Beispiel von Lydos’ De magistratibus bereits hingewiesen wurde (siehe oben S. 168 f.).

Aufschlussreich wäre in diesem Zusammenhang unter anderem die Frage, wie genau das Wissen um die causae und origines in den antiquarischen Fachschriften bewertetund funktionalisiert wurde. Eine Antwort auf diese Frage ist schon deshalb schwierig, weil hier diachrone Verschiebungen und divergierende auktoriale Zielsetzungen zu berücksichtigen wären, die nicht mehr rekonstruierbar sind. Die an frühneuzeitlichen Mustern orientierte moderne Vorstellung, es habe sich bei den behandelten Wissensbeständen überwiegend um obskure Sprachrelikte und obsolete Altertümer gehandelt, die dem Vergessen entrissen werden sollten, verkennt die ungebrochene Bedeutung, die den alten magistratischen und priesterlichen Spruchformeln oder der Rechtskodifikation der XII-Tafeln in der Späten Republik immer noch zukam. Die disparaten Zeugnisse bieten denn auch schlaglichtartige Beispiele für die tagespolitische Instrumentalisierung dieses Wissens im inneraristokratischen Machtkampf, weshalb die These von der politischen Validierung des römischen Antiquarianismus in der Forschung auch allgemein vertreten wird.556 Allerdings sind auch hier Vorbehalte angebracht, zumal es sich bei den entsprechenden Stellen ausschließlich um Rezeptionszeugnisse handelt. Dass antiquarische Wissensbestände in bestimmten Einzelfällen politisches Sprengpotenzial besaßen, ist unstrittig; ebenso, dass Prozesse der Traditionsbewahrung an gesellschaftliche Diskurse gebunden sind. Doch weder die allgemeinere Annahme, dass die römische Altertumskunde sich „dadurch legitimiert sah, dass sie den gegenwärtigen Diskussionen um die staatlichen Institutionen … mit ihren Beispielen aus der Vergangenheit beratend zur Seite stehen konnte,“557 noch die spezifischere Behauptung, dass bestimmte Autoren mit ihren Traktaten eine dezidiert politische Agenda verfolgt hätten, kann anhand der Fragmente verifiziert werden. Die beratende Funktion antiquarischer Experten wird vor allem für die augusteische Zeit angenommen, doch geht auch hier die Überlieferung nicht über entsprechende Reflexe in der Dichtung hinaus. Von Verallgemeinerungen ist daher grundsätzlich abzuraten. Das Wenige, was wir über die auktorialen Zielsetzungen der antiquarischen Monographien Roms wissen, beschränkt sich, wie erwähnt, auf Varro. Der in der Forschung viel diskutierte Umstand, dass Varro die Res divinae dem Pontifex Maximus Caesar widmete (so Lact. inst. 1.6.7; Aug. civ. 7.35), gibt zwar berechtigten Anlass zu Vermutungen über politische Wirkungsabsichten. Allerdings wissen wir von Cicero zur Genüge, wie komplex die Entscheidungsfindung bei der Widmung eines literarischen Werkes innerhalb der römischen Aristokratie sein konnte. Was Varro mit den Antiquitates offensichtlich im Sinn hatte, war die Bereitstellung eines remedium antiquitatis, ein Programm, dem aufgrund der ihm innewohnenden Kulturkritik eine innenpolitische Relevanz nicht abzusprechen ist. Näheres lässt sich aus dem Erhaltenen nicht mit Sicherheit erschließen. Auch für seine anderen Schriften, denen mit mehr oder weniger überzeugenden Argumenten eine politische Funktion zugeschrieben wurde (insbesondere De familiis Troianis und De vita populi Romani), fehlen letztlich die belastbaren Belege.

6.2.3.3 Dichter und „Antiquare“: Die Verfertigung des Augusteischen

Delicta maiorum immeritus lues,

Romane, donec templa refeceris

aedesque labentes deorum et

foeda nigro simulacra fumo.

Hor. carm. 3.6.1–4

Mit der Herrschaft Octavians änderten sich die kulturelle Ausgangslage und der politische Bezugsrahmen der Altertumsforschung in Rom grundlegend. Die jüngere Vergangenheit (Sulla, Pompeius, Caesar) hatte deutlich gemacht, dass eine rein militärisch begründete Herrschaft auf Dauer nicht funktionsfähig war und dass es daher neuer Rahmenstrukturen und Modelle bedurfte, um eine Alleinherrschaft längerfristig konsolidieren zu können. Rückblickend vermerkte Augustus in seinem Rechenschaftsbericht (Res gestae divi Augusti) implizit, wie sehr er sich der Problematik bewusst war, eine stabile Monarchie in einer aristokratisch geprägten Gesellschaft wie Rom zu errichten, in der die Tradition des Machtwechsels und der Machtteilung fest verankert war. So zählt er katalogartig auf, welche monarchischen Ämter er abgelehnt habe (c. 5–6): die Diktatur, das immerwährende Konsulat, die Erhebung zum curator legum et morum summa potestate – mit expliziter Betonung des handlungsleitenden Grundsatzes: nullum magistratum contra morem maiorum delatum recepi („Ich habe kein mir angetragenes Amt übernommen, das gegen die Sitte der Vorfahren verstoßen hätte.“). Der unbedingte Respekt des Princeps (und der ihn tragenden Kreise) vor dem mos maiorum war einer der Grundpfeiler der nach 30 v. Chr. einsetzenden Umstrukturierung von Staat und Gesellschaft (der sogenannten augusteischen Reform) sowie des öffentlich verkündeten Programms der Neugründung Roms unter der Leitung des „zweiten Romulus“ Augustus.558 Der Erfolg der gesellschaftlichen Implementierung dieser imperialen Ideologie beruhte letztlich auf ihrer durchgängigen Abstützung auf einen in der römischen Gesellschaft konsensfähigen traditionalistischen Diskurs.559 Die kulturell durchwirkte augusteische Politik stellte sich also nicht so sehr als innovativ und vorwärtsgerichtet dar, vielmehr zeigte sie sich als eine Politik der Wiederherstellung der Tradition und der Rückkehr zu den guten alten Sitten – in den Res gestae verdeutlicht in der Häufung von Verben mit der Vorsilbe re- (remisi, reduxi, reposui, refeci usw.). Nachdem mit dem Ende der Caesarmörder der endgültige Bruch mit den obsoleten Institutionen der alten Republik vollzogen worden war, begann nach dem Sieg bei Actium und der Aufhebung aller verfassungswidrigen Akte der Triumviratszeit im Jahr 28 v. Chr. das Zeitalter der res publica restituta,560 der Neuordnung der Republik unter monarchischen Vorzeichen. Ein Neuanfang wurde postuliert, ohne jedoch den allgegenwärtigen Traditionsbruch zu dramatisieren (August. res gest. 8): legibus novis me auctore latis multa exempla maiorum exolescentia iam ex nostro saecolo reduxi („Durch neue Gesetze, die auf meinen Antrag hin erlassen wurden, habe ich viele mustergültige Einrichtungen der Vorfahren, die schon aus dem Gedächtnis unserer Zeit verschwanden, wieder erneuert.“).561

In diesem diskursiven Zusammenhang gewann die antiquarische Ursprungsforschung, so wird im Folgenden argumentiert, eine neue Perspektive. Ihr Fokus verschob sich von der memorialen, sinn- und traditionsstiftenden Historisierung der spätrepublikanischen Gegenwart hin zur rekonstruktiven Archivierung der Vergangenheit, um die nunmehr imperiale Gegenwart nach dem autoritativen Vorbild einer imaginierten Ursprungszeit zu rekonstituieren.562 Auf die Zerstörungen des Bürgerkrieges und die Lähmung des politischen Systems folgte ein symbolisch verhandelter Prozess der inneren Wieder(er)findung und des äußeren Wiederaufbauens, orientiert an einem Rom-Bild, an dessen (Re-)Konstruktionsprozess sich der (von den Eliten geführte) gesellschaftspolitische Diskurs über die Architektur dieser neu-alten Gegenwart überhaupt erst entzündete. Gradmesser dieser Zeitstimmung und zugleich prekärer Kronzeuge des damit einhergehenden Funktionswandels antiquarischer Forschung ist die augusteische Dichtung.563 Der antiquarische Paradigmenwechsel der Prinzipatszeit spiegelt sich programmatisch in Properz’ Frage (carm. 4.4.9) „quid tum Roma fuit?“ („Was war damals Rom?“). Die hermeneutische Gewichtung hat sich von der immer noch konstitutiven cur-Frage auf die phänomenologische Erfassung der als Kontrast zur Gegenwart imaginierten Gründungszeit verschoben.

Einen entscheidenden Ausgangspunkt bietet dazu Vergils Aeneis, namentlich das achte Buch, auf dessen Antithese „Einst-Jetzt“ (nunctum/olim) sich Properz – wie kurz vor ihm Tibull (carm. 2.5) und nach ihm Ovid in den Fasti – denn auch direkt bezieht.564 Das vergilische Kontrastbild besitzt in seiner gedanklichen Grundausrichtung eine klare aitiologische Funktion.565 Bei der Ankunft des Aeneas in der vorrömischen Siedlung Euanders wird die augusteische Weltstadt Rom den bescheidenen Hütten von Pallanteum gegenübergestellt (Aen. 8.98–100): cum muros arcemque procul ac rara domorum / tecta vident, quae nunc Romana potentia caelo / aequavit, tum res inopes Euandrus habebat („Da sehen sie in der Ferne Mauern, eine Burg und verstreute Dächer von Häusern, die heute die römische Macht an Höhe den Bergen gleich gemacht hat. Damals hatte Euander dort seinen kärglichen Besitz“). Vor den Augen der Troer (und der Leser) entfaltet sich eine Landschaft, in der sich Zukunft und Vergangenheit in mehreren Schichten überlagern, sichtbar gemacht durch ostentative Anachronismen (Aen. 8.347–348): hinc ad Tarpeiam sedem et Capitolia ducit, / aurea nunc, olim silvestribus horrida dumis („Von hier führt er ihn [Aeneas] zum Sitz der Tarpeia und zum Kapitol, golden heute, einst überwuchert von wildem Gestrüpp.“). Beide Orte werden erst in der Königszeit benannt, was den scharfen Gegensatz nunc-olim durch die Einbeziehung mehrerer dazwischen liegender Zeit- und Entwicklungsstufen relativiert. Die evozierte Landschaft ist aber keine leere Projektionsfläche späterer augusteischer Größe, sie ist selbst Erinnerungsort früherer Epochen, deren Denkmäler in die Zeit Euanders hineinreichen (Aen. 8.312: virum monumenta priorum [„Denkmäler früherer Helden“]) und deren Erinnerung lebendig gehalten wird. Die Troer erreichen die Siedlung der Arkadier, als diese gerade den Sieg des Herkules über Cacus feiern. Euander weist den Besucher auf die Ruinen und ihre Erbauer hin, die den Orten ihren (späteren) Namen gaben (Aen. 8.356–358): reliquias veterumque vides monumenta virorum, / hanc Ianus pater, hanc Saturnus condidit arcem; Ianiculum huic, illi fuerat Saturnia nomen („Hier siehst du mehrere Ruinen, die Denkmäler früherer Helden: diese Burg hier erbaute Vater Ianus, diese dort Saturnus; diese hieß Ianiculum, jene Saturnia.“). Dass Vergil die gelehrte (aber nicht unbestrittene566) Etymologie seiner eigenen Zeit einer intradiegetischen Sprecherfigur in den Mund legt, ist hier bereits ein bewährtes didaktisches Muster. Euanders Periegese ist reich an lokalaitiologisch-etymologischen Deutungen, die der augusteischen Topographie nicht nur eine prähistorische Aura verleihen, sondern dem zeitgenössischen Publikum auch ihre Ursprünge, Benennungsgründe und Funktionen näherbringen.567

Properz, Tibull und Ovid gestalten das vergilische „Einst-Jetzt“-Motiv weiter aus, lassen dabei aber die aitiologische Komponente in den Hintergrund treten. Das daraus resultierende statische Kontrastbild ließ sich literarisch refunktionalisieren: Es konnte präskriptive Vorbildfunktion beanspruchen, nostalgischen Schwermut entfalten oder enkomiastisches Potential freisetzen – simplicitas rudis ante fuit: nunc aurea Roma est („kunstlose Einfachheit war früher einmal, jetzt ist Rom golden!“: Ov. ars. 3.113).568 Die Antwort auf die neu gewichtete quid-Frage der augusteischen Dichtung konnte aus der Sicht der antiquarischen Fachtradition nicht eindeutig ausfallen. Doch gerade die autoritative Unbestimmtheit der dargestellten Deutungsalternativen machte sie für die poetische Auseinandersetzung interessant, da sie den Dichtern bei ihrer Arbeit am Mythos eine große Gestaltungsfreiheit einräumte und Raum für semantische Mehrdeutigkeiten ließ.569

6.2.3.3.1 Die Arbeit am Mythos: Vergil und Properz

Im Prozess der traditionalistischen Neuausrichtung der Prinzipatszeit, das heißt hier: der Verfertigung des Neuen aus dem „Ursprünglichen“,570 gewann die Diskursform des mythologischen Erzählens in der Dichtung neue Relevanz. Mythen waren in Rom zunächst Gründungsmythen.571 Sie bildeten mit ihrem ambivalenten Figurenpersonal (Romulus, Tarpeia, Ianus, Hercules usw.) die Kulisse der augusteischen Selbstinszenierung des neu-alten Rom, das nun – durch den typologischen Bezug auf die mythischen Gründergestalten – untrennbar mit der Person des Princeps verbunden war.572

Im Zuge dieser spezifisch augusteischen Arbeit am Mythos wurden mit Blick auf die prominent in den Mittelpunkt gerückte Königszeit antiquarische Wissensbestände zwangsläufig zu einem Brennpunkt des Vergangenheitsdiskurses. Dass die einschlägige antiquarische Fachliteratur (neben der Historiographie) die Grundlage für die vielschichtigen mythischen und urgeschichtlichen Bezüge der augusteischen Dichtung bildete, ist seit der Quellenforschung des späten 19. Jahrhunderts communis opinio, auch wenn man sich lange Zeit mit dem lapidaren Hinweis auf Parallelstellen bei Varro, Verrius Flaccus oder Gellius begnügte. Erst in jüngerer Zeit sind – nicht zuletzt durch die intensive Beschäftigung mit Ovids Fasti – detailliertere (vor allem religiös fokussierte) Untersuchungen zu Formen und Ausmaß möglicher Abhängigkeiten und Wechselwirkungen, auch zu den in dieser Zeit geführten antiquarischen Diskursen und der Beteiligung der Dichter daran, sowie zu den Auswirkungen und Folgen dieser (gemeinsamen) Arbeit an Mythos, Kult und Ritual entstanden.573 Deutlich wird dabei insbesondere der eigenständige diskursive Beitrag, den die augusteische Dichtung (wie auch die zeitgenössische Historiographie574) im Wechselspiel von gelehrter Traditionsrekonstruktion, kulturellem self-fashioning575 und politisch motivierter Aktualisierung „urrömischer“ Wissensbeständen zu den innerhalb der Eliten geführten Verhandlungen um die kulturellen und identitären Wesensbestimmungen der Romanitas leistete.

Die komplexe Verflechtung von Dichtung, Politik und Altertumsforschung lässt sich eigentlich nur am konkreten Einzelfall nachvollziehen. Die methodischen Probleme sind vielfältig, wie bereits am Beispiel von Ovids Fasti gezeigt wurde (Kap. 1.2): Zum einen sind die Angaben, Interpretationen und Aitiologien der Dichter stets in bestimmte narrative Kontexte eingebunden und unterliegen wechselnden Wirkungsabsichten, zum anderen lassen sich aufgrund der lückenhaften Überlieferung der antiquarischen Fachliteratur Interferenzen und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Dichtern und antiquarischen Fachschriftstellern nicht mehr wirklich nachvollziehen. Als symptomatisch für die Aporie der Forschung kann der Fall des C. Iulius Hyginus gelten, dessen nachweisbare Fachschriften zwar in auffälliger Nähe zur gelehrten Vergilexegese stehen, deren chronologisches Verhältnis zu Vergils Dichtungen aber unbestimmt bleibt (siehe oben S. 322–325 und 346–348). Die antike Dichterkommentierung hilft in Fragen der Quellenforschung ohnehin nur bedingt weiter, zumal unklar bleibt, ob der jeweilige Dichter (in den Augen des Kommentators) die zitierte antiquarische Quelle benutzt hat oder ob der Kommentator jeweils lediglich einen zweiten Beleg für eine vom Dichter aufgestellte Behauptung liefert.576 Ein anschauliches Beispiel ist Porphyrios Kommentar zu Horaz, Epoden 16.11–14, wo erwähnt wird, dass durch die Nennung der ossa Quirini die Vergöttlichung des Romulus implizit bestritten werde (in epod. 16.13 ed. Holder, p. 213): Hoc sic dicitur, quasi Romulus sepultus sit, non ad caelum raptus aut discerptus. Nam Varro post rostra fuisse sepultum Romulum dicit („Das ist so gesagt, als sei Romulus bestattet und nicht in den Himmel gehoben oder in Stücke gerissen worden. Denn Varro berichtet, Romulus sei hinter der Rostra bestattet worden.“). Die Bemerkung ist der einzige Hinweis auf einen heute verloren antiquarischen Diskurs von nicht unerheblicher politischer Brisanz.577

Angesichts der beschriebenen Unwägbarkeiten ist es angezeigt, sich in der Analyse auf das zu konzentrieren, was vorliegt. Anstelle spekulativer quellenkundlicher Tiefenbohrungen werden daher im Folgenden die Aneignungsformen der antiquarischen Fragestellung innerhalb der augusteischen Dichtung näher betrachtet, um auf dieser Basis die für dieses Kapitel formulierte Leitthese des Paradigmenwechsels zu präzisieren.

In der Makrobetrachtung lassen sich zwei Erscheinungsformen dichterischer Aneignung der antiquarischen Fragestellung unterscheiden, die im Folgenden jeweils an einem Beispiel, Vergils Aeneis und dem vierten Elegienbuch des Properz, kurz skizziert und auf ihr Verhältnis zur antiquarischen Fachliteratur hin kritisch befragt werden: (1) die Realisierung des antiquarischen Denkmodells innerhalb größerer poetischer Erzähleinheiten – seit Homer Bestandteil der historischen Epik; (2) die poetische Aneignung des Antiquarianismus durch schöpferische Anlehnung an die Denk- und Schreibmuster des antiquarischen Fachdiskurses – seit Kallimachos Element der gelehrten Aitiendichtung.

(1) Früh erkannt und vergleichsweise gut aufgearbeitet ist die „antiquarische Matrix“ in Vergils Aeneis, in der die mythische Prähistorie über eine Vielzahl etymologischer, aitiologischer und genealogischer Bezüge und prospektiver Vorausblendungen mit der augusteischen Gegenwart in teleologisch-eschatologischer Zielsetzung verwoben wird.578 Neben Zukunftsvisionen wie der Rede Jupiters im ersten Buch, der Heldenschau im sechsten Buch und der Schildbeschreibung im achten Buch werden Ortsnamen, Bräuche, Kulte und Familienverbände der augusteischen Lebenswelt durch ein dichtes Gewebe außertextlicher Assoziationen, Anspielungen und Verweise so in die Erzählstruktur eingebettet,579 dass dem Leser die Zeitebene der augusteischen Gegenwart stets präsent bleibt. Ihr gilt das Telos der Erzählung, aus ihr rechtfertigt sich in der Retrospektive auch das schicksalhafte Handeln und Leiden der Protagonisten (Aen. 1.33: tantae molis erat Romanam condere gentem. [„So viel Mühe brauchte es, das Volk der Römer zu gründen.“]).

Das ganze Potential der im Einzelnen aufgerufenen Gegenwartsbezüge lässt sich – analog zu den aufgerufenen Intertexten – heute nur erahnen. Dies gilt nicht nur für Vergil, sondern für die augusteische Dichtung überhaupt. Hinter den „großen“ Themen und Motiven (etwa die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters oder die Antithesen „Einst-Jetzt“ und „moderne Weltstadt-bäuerliche Landidylle“) treten unterschwellige Diskurse fast nur in Widersprüchen und Brüchen (etwa in den typologischen Bezügen zwischen Aeneas, Romulus und Octavian/Augustus) oder in Form von nicht auf Anhieb verständlichen Textpassagen hervor, sodass die Partizipation der augusteischen Dichter am antiquarischen Diskurs oft nur en passant greifbar wird. Dies gilt selbst dort, wo die aitiologische Deutungspluralität zum provozierenden Element der dichterischen Selbstinszenierung wird, etwa wenn in Properz 4.2 die Statue des Vertumnus dem Vorübergehenden mehrere Erklärungen seines Namens anbietet (siehe unten S. 410). Konkrete Rückschlüsse auf die außertextlichen Zusammenhänge und Implikationen der jeweiligen Deutungsangebote, also auf die Mikrostruktur des zeitgenössischen Diskurses, sind bestenfalls ansatzweise möglich.

Zum semantisch anspruchsvollen Komplex der (heute nur mehr bedingt fassbaren) außertextlichen Zeitbezüge tritt in der Aeneis die intellektuell nicht minder herausfordernde poetologische Selbstverortungsstrategie, die in intertextueller Auseinandersetzung mit der epischen Gattungstradition und der gehobenen griechisch-römischen Dichtung die Ausbildung bestimmter aitiologischer Erzählsequenzen beeinflusste, zum Beispiel wenn bei der Beschreibung des Palastes des Latinus das homerische Vorbild, der Palast des Alkinoos (Od. 7.86–132), anklingt, in seiner Gestaltung aber die politischen Funktions- und Repräsentationsbauten des augusteischen Roms vorwegnimmt (Aen. 7.170–191).580 Ähnliche Muster wiederholen sich bekanntlich in viel dichterer Form in der vorrömischen Siedlung Euanders am Tiber (Aen. 8.306–369). Die antike Dichtung beanspruchte generell die Lizenz, die erzählte „Wirklichkeit“ nach den Maximen ihrer eigenen Gestaltungsprinzipien zu beugen: in der Ilias illustriert durch märchenhafte Details (etwa die aus Gold und Silber gefertigten Wachhunde der Phäaken), in der Aeneis durch eine Reihe ostentativer Anachronismen.581 Generell vermischen sich in Vergils Darstellung erzähl- und handlungslogische Zwänge, artifizieller Gestaltungswille und historische Sachinformation in einer Weise, dass die moderne Analyse im Einzelfall sowohl hinsichtlich der aufgerufenen aitiologischen Zusammenhänge als auch hinsichtlich der Quellenfrage (und damit auch bezüglich des Verhältnisses zur antiquarischen Fachliteratur) methodisch schnell an ihre Grenzen stößt.

Ein prominentes Beispiel moderner Interpretationsansätze und ihrer Bewertungskriterien ist in diesem Zusammenhang die Diskussion um den italischen Heldenzug in Aen. 7.647–817. Auf die nach dem Zwischenproömium (7.37–45) zweite Musenanrufung des Buches (7.641–646), in welcher der Dichter-Erzähler erneut die göttliche Inspiration als Quelle des dargebotenen Wissens betont (und damit implizit die dichterische Freiheit gegenüber der gelehrten Altertumskunde akzentuiert), folgt in dreizehn Abschnitten die Aufzählung italischer Kontingente und Individualhelden: Etrusker (7.647–654), Latiner (7.655–669), Tiburtiner (7.670–677), Praenestiner (7.678–690), Messapus (7.691–705), Sabiner (7.706–722), Aurunker (7.723–732), Sarraster (7.733–743), Äquer (7.744–749), Umbro (7.750–760), Virbius (7.761–782), Rutuler (7.783–802), Volsker (7.803–817).582 Neben der offensichtlichen Anlehnung an Homers Schiffskatalog (Il. 2.484–877) ist die Passage voller gelehrter etymologischer Anspielungen und aitiologischer und genealogischer Zeitbezüge, die Vergils zeitgenössisches Italien in teils erklärender, teils märchenhaft-verklärender Absicht in die Vorzeit zurückspiegeln.583 Poetische Kreativität und antiquarische Gelehrsamkeit sind in alexandrinischer Manier geschickt miteinander verwoben: Neben Heldengestalten, die heute (mangels Parallelüberlieferung) mehrheitlich der Phantasie Vergils zugeschrieben werden (zum Beispiel Aventinus, Umbro und Camilla), finden sich nuancierte Referenzen auf die gelehrte römische Traditionsforschung. Ein Beispiel bietet die Erwähnung des Caeculus:

Nec Praenestinae fundator defuit urbis,
Vulcano genitum pecora inter agrestia regem
inventumque focis omnis quem credidit aetas
Caeculus. […]

Auch der Gründer der Stadt Praeneste, Caeculus, fehlte nicht, über den jedes Zeitalter glaubte, dass er als künftiger König von Vulcan zwischen ländlichem Vieh gezeugt und am Herdfeuer aufgefunden wurde.

Aen. 7.678–680

Den aitiologisch-etymologische Hintergrund der Geschichte behandelte nachweislich Cato in den Origines:584

[Caeculus] Cato in originibus ait Caeculum virgines aquam petentes in foco invenisse ideoque Vulcani filium eum existimasse et, quod oculos exiguos haberet, Caeculum appellatum. Hic collectis pastoribus urbem Praeneste fundavit.

[Caeculus] Cato schreibt in den Anfängen, Caeculus sei von jungen Frauen, die Wasser holen wollten, im Hausherd gefunden und deshalb für den Sohn des Vulkan gehalten worden. Weil er so kleine Augen gehabt habe, hätten sie ihn Caeculus genannt. Er gründete mit einer Gruppe von Hirten die Stadt Praeneste.

Schol. Veron. Verg. Aen. 7.681 = FRHist 5 F67

Vergil muss hier nicht zwangsläufig auf Cato angespielt haben, die Geschichte war bekannt. In quellenkundlichen Fragen beruhen unsere Kenntnisse ohnehin weitgehend auf der antiken Kommentarliteratur, die, wie erwähnt (siehe oben S. 400), in Detailfragen ebenfalls oft nur Vermutungen anstellen konnte.585 Diese Feststellung gilt prinzipiell auch für das entfaltete ethnographische Wissen, dessen starke Akzentuierung Vergils Italikerkatalog von Homer abhebt und Assoziationen zur historiographischen Literatur weckt, etwa zu Herodots Beschreibung des persischen Heeres (7.61–88), in der die exotische Ausrüstung und Bewaffnung der verschiedenen Völker im Vordergrund steht.586

Im Hinblick auf die Quellenfrage wurde von der Forschung dem Ordnungsprinzip des Katalogs besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Während auf der Mikroebene die einzelnen Abschnitte nach einem variablen Schema aufgebaut sind – Kernelemente sind die Beschreibung von Aussehen, Herkunft und Charakter des Anführers, der Städte und Regionen, aus denen seine Gefolgsleute stammen, ihrer Waffen und ethnographischen Merkmale – , ist auf der Makroebene die Rangordnung der Helden zunächst ringförmig nach ihrer Gewichtung innerhalb der epischen Handlung ausgerichtet: Mezentius und Lausus bilden den Anfang, Turnus und Camilla den Schluss. Die Aufzählung der Truppenführer dazwischen erfolgt (mit einer Ausnahme) dann allerdings in alphabetischer Reihenfolge: Aventinus, Catillus und Coras, Caeculus, [Messapus], Clausus, Halaesus, Oebalus, Ufens, Umbro, Virbius, was eine rege Forschungsdiskussion über die Intentionalität sowie über mögliche geographische beziehungsweise antiquarische Vorlagen ausgelöst hat.587 Die gewagte Hypothese von Dalys, der den Katalog auf ein alphabetisches Namensverzeichnis aus Varros Antiquitates zurückführen wollte,588 hat zwar wenig Anklang gefunden, doch hält man grundsätzlich an einer varronischen Vorlage fest.589 Gegen die Plausibilität der Hypothese lassen sich die oben genannten methodischen Bedenken anführen; die von der älteren Forschung zusammengetragenen Analogien zwischen Varro und Vergil590 verlagern jedoch die Beweislast von den Befürwortern auf die Seite der Skeptiker.

Gewinnbringender als die Frage nach der Herkunft der verarbeiteten Informationen ist die Ermittlung der zugrunde liegenden Selektionsprinzipien, der Verarbeitungsmodi und des Mitteilungscharakters der daraus generierten Wissensbestände. Denn angesichts des historisch-mythologischen Traditionsgewirrs,591 das sich in den Mehrfacherklärungen der antiquarischen Synthesen spiegelt, rückt die individuelle Auswahl und Gestaltung der Dichter, das heißt: ihre Arbeit am Mythos, unvermittelt ins Zentrum der Betrachtung. So lässt sich Vergils Beitrag zum augusteischen Vergangenheitsdiskurs besonders gut dort erfassen, wo die aitiologische Verschmelzung von mythischer Urgeschichte mit aktuellen politisch-ideologischen Botschaften und symbolischen Handlungen des Princeps deutlich wird, nämlich bei der Beschreibung des lusus Troiae (Aen. 5.596–604), der Öffnung des Ianus-Tempels (Aen. 7.605–622) oder der Aitiologie der Ara Maxima (8.102–305). Gerade an der letztgenannten Passage lässt sich der immanente Gegenwartsbezug des Epos mit seiner Fokussierung auf die Figur des Princeps exemplarisch aufzeigen. Die antiquarische Rekonstruktion steht hier zumindest vordergründig ganz im Dienst augusteischer Gegenwartskonzepte; Vergil lässt im Gegensatz zu seinen jüngeren Dichterkollegen (siehe unten) kaum semantische Ambivalenzen zu, sodass sich die Folie des bildhaft-imaginierten vorromulischen Roms weitgehend störungsfrei über das augusteische Gegenstück legt und dieses affirmativ mit historischem Sinngehalt füllt.592

(2) Innerhalb der augusteischen Dichtung wird – mit Ausnahme der Fasti Ovids (siehe oben Kap. 1.2.) – nirgendwo so programmatisch auf den zeitgenössischen antiquarischen Fachdiskurs rekurriert wie in Properz’ viertem Elegienbuch. Die poetische Aneignung der antiquarischen Fragestellung, das heißt die Suche nach den begründenden Ursachen gegenwärtiger kultureller Phänomene, bleibt jedoch bei näherer Betrachtung ein Torso: dem oft erwähnten „aitiologischen Charakter“ von Properz Elegien fehlt mit der erklärenden Historisierung zumeist das konstitutive Element.593 Entgegen der verbreiteten Forschungsmeinung scheint das Verfahren der Aitiologie bei ihm in erster Linie ein generischer Bezugswert für die poetologische Auseinandersetzung mit Kallimachos gehabt zu haben.

Das relativ kurze Spätwerk von elf Einzelgedichten entstand in der Hochphase der öffentlichkeitswirksamen Inszenierung des augusteischen Erneuerungsprogramms, das in den Säkularfeiern des Jahres 17 v. Chr. gipfelte.594 Im einleitenden Programmgedicht (4.1) wird zunächst in Form einer Palinodie die Neuausrichtung properzischer Liebeselegien an der restaurativen Kultur- und Moralpolitik des Princeps angekündigt. Auf einen topographischen Rundgang durch Rom, bei welchem der Dichter dem als fremdländischen Gast imaginierten Leser anspielungsreich das vergilische Kontrastbild Gegenwart-Frühzeit (nunc-olim) vor Augen führt (4.1.1–54), folgt in den Versen 55–70 im euphorischen Ton des Patrioten die futurische Ankündigung einer geplanten „nationalrömischen“ Dichtung (emphatisch in 4.1.60: hoc patriae serviet omne meae [„dieser [sc. Strom, der aus meiner Brust fließt,] soll ganz meinem Vaterland dienen“]) mit aitiologisch-etymologischem Schwerpunkt (4.1.69): sacra diesque [deosque coni. Wellesley] canam et cognomina prisca locorum („Von den Opferbräuchen und den Festtagen will ich singen und von den alten Namen der Orte“).595 Das entworfene Programm einer historisierenden Dichtung im Dienste Roms (Roma fave, tibi surgit opus [„Rom, sei mir geneigt: für dich entsteht dieses Werk“]: 4.1.67) markiert emphatisch die Peripetie vom elegischen Liebesdienst (und Frauenbild) der Bücher 1–3 zum traditionalistischen augusteischen Vergangenheitsdiskurs: der Dichter-Erzähler wandelt sich als selbsternannter Callimachus Romanus (4.1.64) scheinbar zum antiquarischen Altertumsforscher, der den Ursprüngen der Stadt Rom und den Ursachen ihrer Feste und Orte596 auf die Spur gehen will. Der renommierte Dichter scheint sich also in seinem nachgereichten Gedichtband doch noch dem Zeitgeist geöffnet zu haben, insofern er, wie suggeriert, die kallimacheische Aitiendichtung nach Rom verlegt hat, um für das Vaterland und den Princeps an der Arbeit am Mythos mitzuwirken,597 nachdem er Jahre zuvor im dritten Elegienbuch in Form einer recusatio das Versprechen eines römischen Gründungsgedichts vorausgeschickt hatte (3.9.49–50): celsaque Romanis decerpta Palatia tauris / ordiar et caeso moenia firma Remo, / eductosque pares silvestri ex ubere reges („Ich werde davon singen, dass der hohe Palatin von römischen Stieren abgegrast wurde, dass die Mauern Roms nach dem Mord an Remus fest wurden und dass die königlichen Zwillinge am Euter eines Waldtieres gesäugt wurden.“).598

Im Programmgedicht des vierten Elegienbuches stößt die voraussetzungsreiche Neuorientierung jedoch überraschend auf die harsche Kritik des dubiosen Astrologen Horos, der sich dem im Überschwang taumelnden Elegiker in den Weg stellt (quo ruis imprudens, vage, dicere fata, Properti? „Wohin stürzt du, unsteter Properz, unkundig das Schicksal zu verkünden?“: 4.1.71) und ihn an seine Bestimmung als Liebesdichter erinnert (4.1.71–150). Die so inszenierte Ambivalenz bleibt für das vierte Gedichtbuch (und die darin verhandelte elegische Metapoetik) insgesamt bestimmend. Die versprochene Teilhabe des Dichter-Erzählers am politisch-historischen Diskurs der Zeit wird zwar insofern eingelöst, als mit Vertumnus (4.2), Herkules (4.9) und Romulus (4.10) die mythistorische Vorzeit Roms in die (dezidiert elegische) Welt des augusteischen Rom integriert wird. Neben die Gedichte mit vordergründig „nationalrömischer“ Thematik treten jedoch alternierend solche, welche die Tradition properzischer Liebeselegie unter anderem dadurch fortsetzen, dass sie mit Tarpeia (4.4), Cynthia (4.7; 4.8) und Cornelia (4.11) nicht nur äußerst ambivalente und der offiziellen augusteischen Kulturideologie widersprechende Frauenfiguren in den Mittelpunkt stellen, sondern auch durch den Wechsel von Erotik und Trauer- und Todesthematik implizit an die früheren Elegienbücher anschließen und so auf unterschiedlichen Ebenen werkimmanente Kontinuitätslinien herstellen.599

Der antiquarische Fokus ist also lediglich ein Aspekt der elegischen Neugestaltung; die postulierte poetische Innovation geht über die römische Adaption des kallimacheischen Themas hinaus. Obwohl im vierten Gedichtbuch der antiquarische Zugriff auf die Vergangenheit mit Hilfe der konventionellen Verfahren der Aitiologie, Etymologie und Genealogie über lange Strecken präsent bleibt, ist Properz doch weit davon entfernt, die sinn- und traditionsstiftende Gegenwartsdeutung zum bestimmenden Faktor seiner Elegien werden zu lassen. Anders als vor ihm Kallimachos und nach ihm Ovid (fast. 1.1: tempora cum causis [„die Festzeiten und ihre Ursachen“]) werden bei ihm die causae nicht explizit als Gegenstand der Dichtung formuliert.600 Der Rückgriff auf die kallimacheische Aitiendichtung und die auf der Textebene inszenierte Anlehnung an die antiquarische Fachliteratur Roms verläuft analog zu Properz’ Aufnahme weiterer literarischer Gattungen, Motive und Intertexte. Die vielschichtige generische Mehrstimmigkeit des vierten Buches zeigt somit insgesamt die Akzentuierung eines Dichters, der offensichtlich mehr an der poetologischen Auslotung des gattungsspezifischen Potentials der Elegie, ihrer Motive und Sprecherfiguren interessiert war als an Fragen des römischen Mythos und an seiner politisch opportunen Verstetigung.

Dieser Befund wird durch das im vierten Buch vermittelte Geschichts- und Vergangenheitsverständnis unterstrichen. Denn der Aspekt der Vergangenheit ist hier konzeptionell untrennbar mit der generischen Reflexion über das elegische Genre selbst verbunden, dessen flexible Wandelbarkeit im Verlauf des Buches gerade in seiner potentiellen Vielgestaltigkeit vorgeführt wird. So wird die Dimension der Zeit vor allem als Ursache des Wandels begriffen. Properz’ Blick in die Vergangenheit dient also weder einem varronischen Wiedererinnern noch einer deutenden Traditionsstiftung im Sinne von Vergils Aeneis. Die beschworene Frühzeit liefert vielmehr das Kontrastbild, das die augusteische Gegenwart (und die elegischen Sprecherfiguren) zur Selbsterkenntnis benötigen:

Hoc quodcumque vides, hospes, qua maxima Roma est,
ante Phrygem Aenean collis et herba fuit;
atque ubi Navali stant sacra Palatia Phoebo,
Euandri profugae procubuere boves.

Alles, was du hier siehst, Fremder, wo sich das gewaltige Rom erstreckt, waren vor dem Phryger Aeneas Hügel und Wiesen; und dort, wo der Tempel des Phoebus, des Schutzherrn der Schiffe steht, lagerten einst die Rinder des heimatflüchtigen Euander.

Prop. 4.1.1–4

Nicht die Kausalzusammenhänge, welche die Gegenwart mit der begründenden Vergangenheit verbinden, bestimmen die ersten sechsundzwanzig Verse von der Elegie, sondern das Sichtbarmachen des Unterschieds zwischen der einfachen Frühzeit und der mondänen Gegenwart.601 In den vier Anfangsversen ist der Kontrast auch metrisch ausgedrückt: während der „heroische“ Hexameter das gegenwärtige Rom beschreibt, sind die bescheidenen Anfänge jeweils im Pentameter aufgeführt. Damit rückt die Veränderlichkeit der Welt als natürliche Folge der geschichtlichen Entwicklung in den Mittelpunkt, nicht die aitiologische Verknüpfung von begründender Vorzeit und Gegenwart.

Paradebeispiel für den Wandel und damit gleichsam metapoetisches Sinnbild für die dichterische Neuorientierung des vierten Buches ist die sprechende Statue des rätselhaften Gottes Vertumnus im Vicus Tuscus, der je nach Attribut oder Kleidung als Mann oder Frau, als Gärtner, Fischer oder Jäger erscheint und wahlweise die Funktion von Pan, Priapus, Bacchus oder Apollo einnehmen kann.602 Die profilierte Stellung von carm. 4.2 nach dem ambivalenten Einleitungsgedicht verleiht dem Aspekt der (Ver-)Wandlung leitmotivische Programmatik. In der Erwartungshaltung der Leserschaft scheint sich zunächst der angekündigte Paradigmenwechsel von der erotischen Liebes- zur aitiologischen Nationaldichtung zunächst zu erfüllen – so bleibt die Intervention des Horos (vorerst) eine wenn auch eigentümlich verstörende Episode. Tatsächlich beginnt das Gedicht indirekt mit der causa-Frage, die allerdings sogleich vom epigraphischen Motiv des sich wundernden Passanten überlagert wird (Prop. 4.2.1–2): Qui mirare meas tot in uno corpore formas, / accipe Vertumni signa paterna dei („Du, der du dich wunderst über die verschiedenen Gestalten in einem Körper, lerne die ererbten Merkmale des Gottes Vertumnus kennen!“). Der Gott gibt dann zunächst – ebenfalls nach epigraphischer Konvention – seine Herkunft (4.2.3: Tuscus ego Tuscis orior [„Ich bin Etrusker und stamme von Etruskern ab“]) und seinen Namen an, wobei er letzteren in Form von drei alternativen Etymologien angibt. Das nun folgende wissenschaftliche Referat, das bestimmte Wesenszüge der sprachaitiologischen Fachliteratur aufnimmt, insgesamt aber die epigraphische Fiktion stört, füllt das Gedicht fast vollständig aus (4.2.7–48). Die Elegie schließt ringförmig, indem am Ende die etruskische Origo (4.2.49–54) und die epigraphische Kommunikationssituation (4.2.57–64) wieder aufgenommen werden. Bezeichnend für den oben skizzierten Vergangenheitszugang und bedeutsam für den leitmotivischen Aspekt des Wandels ist die Art der etymologischen Argumentation. Allein die erste Etymologie ist historisierend:

Hac quondam Tiberinus iter faciebat, et aiunt
remorum auditos per vada pulsa sonos:
at postquam ille suis stagnum concessit alumnis,
Vertumnus verso dicor ab amne deus.

Hier nahm einst der Tiber seinen Lauf und man erzählt, dass man über seine Furten hinweg Ruderschläge hörte. Aber seit er seinen Zöglingen dieses Sumpfgebiet überlassen hat, werde ich als Gott nach dem geänderten Flusslauf mit Vertumnus angeredet.

Prop. 4.2.7–10

Die zwei Distichen verschränken in einem Parallelismus kunstvoll mythistorisches Aition und antiquarische Gelehrsamkeit: Der Hexameter enthält jeweils die historische Erzählung (quondam-postquam), der Pentameter die sie begründende wissenschaftliche Argumentation.603 Vert-amnis nannte man den Gott also, seit das Velabrum trockengelegt wurde. Damit ist zugleich impliziert, dass er früher anders hieß. Das Muster entspricht gängiger lokalaitiologischer Praxis. So hieß laut Varro das Kapitol einst mons Tarpeius und noch früher mons Saturnius (ling. 5.41–42). Hier wird also kein „Ammenmärchen“ (Dieter Flach) referiert, sondern ein beweiskräftiger Parallelbeleg ins Feld geführt.604

Die zweite Namensdeutung ist bereits nicht mehr in der mythistorischen Frühzeit verankert, sondern resultiert aus gegenwärtigem Brauchtum, dessen Ursprünge aber nicht erklärt werden (Prop. 4.2.11–12): Seu, quia vertentis fructum praecerpimus anni, / Vertumni rursus credis id esse sacrum („Oder aber, weil ich die erste Frucht des sich wandelnden Jahr abpflücke, glaubst du, sie sei dem Vertumnus heilig.“). Der Name des Gottes ist hier kein Relikt aus der Vergangenheit, kein Mahnmal mythischer Ereignisse, die noch in irgendeiner Form in die Gegenwart hineinwirken. Wie bei der homerischen Nachtigall (Od. 19.518–519; siehe oben S. 74) ist die Namensgebung zeitlos, indem die Ursache der Benennung sich stetig und vor aller Augen (4.2.15–16: hic … hiccernis) reproduziert. Die Verwandlungsfähigkeit des Gottes, der den Jahreswechsel einläutet (Vert-annus), entspricht einer Alltagserfahrung des augusteischen Betrachters. Der immer geschwätziger werdende Gott verdeutlicht dies durch einen Katalog der Früchte, die ihm als erstem dargebracht werden (4.2.11–18). Damit übernimmt er selbst den argumentativen Part, der in der vorangehenden historisierenden Etymologie den antiquarischen Fachgelehrten (aiunt) zugekommen war.

Auch die dritte Alternative, mit der Vertumnus seine Aretologie abrupt abbricht, weil er nun endlich die seiner Meinung nach richtige Etymologie präsentieren will (Prop. 4.2.19: mendax fama, vaces: alius mihi nominis index [„lügnerisches Gerücht, bleibe fern: es gibt einen anderen Hinweis auf meinen Namen.“]), ist präsentisch (4.2.21): opportuna mea est cunctis natura figuris („meinem Wesen kommt es entgegen, sämtliche Gestalten anzunehmen“:). Der Gott ist in der Lage, sich (mit fremder Hilfe) in variable Gestalten zu verwandeln, was wiederum in einem diesmal noch umfangreicheren Katalog (4.2.23–48) verdeutlicht wird, bevor er schließlich zu einem Resümee kommt: Vert-omnis ist der richtige Name (4.2.47–48: at mihi, quod formas unus vertebar in omnis, nomen ab eventu patria lingua dedit [„Doch hat mich, weil ich mich als einer in alle Gestalten verwandelte, die Muttersprache nach diesem Ereignis benannt“]). Der durch Tempuswechsel (vertebar, dedit) bezeichnete Rückfall auf die historisierende Etymologie nimmt unvermittelt die antiquarische Fragestellung wieder auf. Aufgrund der behaupteten etruskischen Herkunft des Gottes (4.2.3–4), die auch im folgenden Aition des Vicus Tuscus (4.2.49–54) aufgegriffen wird, ergeben sich allerdings offenkundige semantische Unstimmigkeiten zur patria lingua, dem Lateinischen.

Das eingängige Kontrastbild „Ur-Rom-augusteisches Rom“, das Properz in einzelnen Elegien des vierten Buches anhand ausgewählter topographischer Kernpunkte entwirft, deckt sich insofern mit der kommunizierten Geschichtsideologie des Princeps, als es trotz des betonten unaufhaltsamen Wandels der zeitlichen Entwicklung historische Kontinuitäten suggeriert. Die Statue des Vertumnus, der Tarpeische Felsen, die Ara Maxima, der Tempel des Iuppiter Feretrius symbolisieren trotz ihrer ambivalenten Präsentation die ungebrochenen historischen Traditionslinien zwischen römischer Frühzeit und Gegenwart. In diesem Sinne ist die an Kausalitäten interessierte antiquarische Fragestellung hier lediglich ein funktionales Strukturelement, insofern sie mittels des aitiologischen, etymologischen und genealogischen Modells gedankliche Brücken zwischen den beiden Zeitebenen zu schlagen vermag. Damit kristallisiert sich als eines der tragenden Leitthemen des vierten Elegienbuches aber nicht die rückwirkende Gegenwartsdeutung vergilischer Prägung heraus, sondern vielmehr das komplexe Ineinandergreifen von Wandel und Kontinuität.

Diese These findet ihre Bestätigung im zweiten Rahmengedicht des vierten Buches, der Elegie auf die augusteische Matrone Cornelia (4.11). Die in den ersten Versen aufgerufene epigraphische Situation schließt (über Cynthias Totenepiphanie in 4.7 hinweg) ostentativ an 4.2 an. Hier wie dort ist die evozierte kommunikative Situation bewusst verschwommen, bleibt die Art des Sprechakts (Steininschrift oder mündlicher Vortrag?) bis zum Schluss unklar. Das vielstimmige Stück, das sich eingleisiger Interpretationen entzieht, verhandelt auf mehreren Ebenen Fragen der Kontinuität: die memoria nach dem Tod, der Fortbestand von Gens und Familie (serie fulcite genus: 4.1.69), die Persistenz altrömischer mores unter den Vorzeichen augusteischer Herrschaft.605 Mit besonderem Nachdruck stellt sich Cornelia in die Tradition ihrer ruhmreichen Vorfahren, deren Leistungen (und Ehrungen) sie durch ihre eigene tugendhafte Lebensführung zu perpetuieren beansprucht. Zwar gibt es deutliche Signale, welche die elegische Sprecherfigur „Cornelia“ von der historischen Cornelia, der Tochter der Scribonia und Halbschwester der Iulia, distanzieren.606 Dennoch sind – schon durch die Namensnennungen selbst – zeitgeschichtliche Überblendungen beabsichtigt, was durch die Anspielung auf die Ehegesetze des Augustus noch verstärkt wird.607

Die soziale Kodierung der römischen Matrone im Kontext der leges Iuliae und der restitutio morum unter den Auspizien des Kaisers ist jedoch nur ein Aspekt der gesellschaftspolitischen Dimension des Gedichts.608 In der Cornelia-Elegie werden augusteische Gegenwartsvision und Vergangenheitsprojektion programmatisch übereinandergelegt. Cornelia steht nicht nur zwischen Leben und Tod, sondern auch an der Scheidelinie zwischen den Zeiten: Als brückenschlagendes exemplum manifestiert und garantiert sie die genealogisch verbürgte Kontinuität des republikanischen mos maiorum in die Zeit des Prinzipats.609 Wie Vertumnus symbolisiert somit auch die Figur der Cornelia das Ineinandergreifen von historischem Wandel und Kontinuität. Die zeitliche Bezugsebene ist jedoch verschoben: Nicht die Königszeit bildet die evozierte Kontrastfolie, sondern die Republik Scipios. Anders als in der Vertumnus-Elegie erfolgt die Historisierung der Gegenwart auch nicht vermittels eines etymologisch-aitiologischen Rückschlusses, sondern über das Verfahren der Genealogie. Gerade in diesem zentralen Punkt scheint sich aber ein entscheidender Bruch im Text abzuzeichnen. Denn die Ahnenreihe der Scipionen, auf die sich Cornelia mehrfach beruft, ist weitgehend usurpiert. Die historische Cornelia war, anders als in 4.11.29–30 und 37–40 behauptet, keine direkte Nachfahrin des kinderlosen Scipio Africanus des Jüngeren. Dasselbe gilt für die behauptete Abstammung ihres Ehemannes von L. Aemilius Paullus, dem Sieger von Pydna.610 Die Elegie (und damit das vierte Buch) endet bekanntlich offen; der Standpunkt des Dichter-Erzählers zum augusteischen Restitutions-Narrativ bleibt daher in der Schwebe. Das abschließende Urteil über den Rechenschaftsbericht der Cornelia und damit über Augustus’ Vision eines neu-alten Rom, das über die Brüche der Zeit hinweg Traditionslinien hochhält und ererbte Kontinuität suggeriert, bleibt den Zeitgenossen überlassen.

6.2.4 Zusammenfassung

Die sich im Laufe des ersten Jahrhunderts dynamisch vollziehende literarische Diversifizierung der antiquarischen Ursprungsforschung führte zu einer bis dahin nicht gekannten Anhäufung historischer Deutungsangebote der res Romanae. Ältere Forschungen zu den römischen Rechtsinstitutionen, zur Volksgenese und zum Kalender wurden aktualisiert, methodisch verfeinert und die Ergebnisse in gesonderten Spezialschriften zusammengestellt. Hinzu kamen sprach-, lokal- und kulturaitiologische Abhandlungen sowie genealogische und heurematographische Sammlungen und Handbücher. Begleitet wurde dieser Prozess von ersten großen Synthesewerken, die das verstreute Material in enzyklopädischem Zugriff zusammenführten.

Das wesentliche Merkmal dieser Literaturepoche liegt in der systematischen Auffächerung und literarischen Verfügbarmachung der immensen Wissensbestände des Antiquarischen, in deren Verlauf eine Vielzahl von Texttypen, Lesarten und Deutungsweisen entstanden, die je nach Autor, Gattung und Leserkreis variierten. Die monographische Textualisierung des antiquarischen Denkmodells war, soweit dies aufgrund der Überlieferungslage nachvollzogen werden kann, aber kaum je absolut. Logisch begründende Ursprungsforschung verband sich häufig mit situationsbedingter, praktisch-funktionaler Wissensvermittlung. Viele antiquarische Fachschriften waren offenbar mehrheitlich hybride Texte, in denen antiquarische Informationen in kontextpragmatischer Weise semantisiert, das heißt als spezifisches Funktionswissen umgesetzt wurden. Auch Varros Antiquitates erschöpften sich, den spärlichen Textzeugnissen zufolge, in ihrem Anspruch und Anliegen nicht in der Systematisierung und katalogartigen Auflistung oder narrativen Darlegung der origines und causae. Die Durchsicht der Fragmente zeigt, dass seine antiquarischen Schriften in der Regel über die origo-Forschung hinaus ein situativ einsetzbares Handlungswissen speicherten, das auf die innerfachlichen oder gesellschaftspolitischen Diskurse der Zeit abgestimmt war.

Diese allgemeine Feststellung dürfte in besonderem Maße für die Behandlung der Rechts- und Sakralinstitute zutreffen; wie im zweiten Jahrhundert scheint hier konzeptionell neben einer ursprungsbezogenen Legitimierung die normsetzende Kodifizierung einer Ansammlung überkommener (und häufig mündlich tradierter) Pflichten und Verhaltensregeln im Mittelpunkt gestanden zu haben. Innerhalb der im ersten Jahrhundert aufblühenden religiösen Spezialliteratur lassen die vorhandenen Zeugnisse indes keine scharfe Trennung zwischen einer spezifisch antiquarischen Ausrichtung und der Dokumentation eines allgemeinen, die Religion und den Kult betreffenden Sonderwissens zu. Durch historische Rückprojektionen, Namenserklärungen und Kultaitien ist die antiquarische Fragestellung zwar omnipräsent, doch lag die Zweckausrichtung dieser Literatur nicht primär im Nachvollzug historisierender Kausalitäten, sondern in der Aufspeicherung, Vermittlung oder historischen Rekapitulation eines konkreten religiös-politischen Handlungs- und Orientierungswissens. Konservierend-restitutive Aufspeicherung, explikative Erläuterung und praktische Anleitung sind hier also sich gegenseitig komplementierende Funktionen derselben komplexen Wissensbewältigungsstrategie.611 Allerdings war – zumindest nach Ansicht Varros – gerade im Bereich der Religion dem angestrebten Prozess der Resemantisierung der römischen Lebenswelt offenbar noch nicht Genüge geleistet, solange sich das präsentierte Wissen auf eine rein äußerliche Orientierungsfunktion beschränkte. Analog zu Ciceros Dialogen De divinatione und De natura deorum – jedoch nicht mit derselben Konsequenz und griechischen Perspektive – war seine Behandlung römischer res divinae von philosophisch-theologischen Reflexionen durchdrungen, die über die bloße Kategorienbildung hinausgingen und dem Ganzen eine an Varros eigenen Weltbild ausgerichtete eigenwillige Prägung verlieh.612 Es ist fraglich, ob derselbe philosophische Zugriff auch für die Res humanae anzusetzen ist, selbst wenn prinzipiell nicht ausgeschlossen werden kann, dass die tiefere philosophische Durchdringung ein Herausstellungsmerkmal der varronischen Synthese darstellte. Für die antiquarische Fachliteratur insgesamt ist eine solche philosophische Durchdringung wohl kaum zu postulieren. Beim Großteil der sprach-, lokal- und kulturaitiologischen Abhandlungen sowie der genealogischen, kalendarischen und heurematographischen Schriften dürfte der Fokus auf dem – gleichwohl immer diskursorientierten – Sammeln, Systematisieren und Erklären gelegen haben.

Vor dem Hintergrund der historisch-politischen und literarisch-kulturellen Bedingungen, die die Entstehung einer antiquarischen Fachliteratur in spätrepublikanischer und augusteischer Zeit prägten und begünstigten, zeichnet sich ein zweistufiger Funktionalisierungsprozess ab, den das generierte antiquarische Wissen innerhalb des Traditionalismusdiskurses dieser Epoche durchlief. Die erste Phase wird durch das in den auktorialen Selbstzeugnissen Varros rekonstruierbare Bedürfnis nach einer kulturellen Anamnese repräsentiert, die als Ausweg aus der gesellschaftlichen Krise dargestellt wird. Die zweite Phase ist durch einen mehr oder weniger fließenden Paradigmenwechsel gekennzeichnet, in dem das varronische Kulturprogramm der memorialen Traditions(re)konstruktion durch das Programm einer imperialen Neugründung des Gemeinwesens unter den Auspizien von Octavian/Augustus abgelöst wurde. Die erinnerungsverfestigende Gegenwartsdeutung stand im augusteischen Erinnerungsdiskurs nicht mehr im Mittelpunkt. Stattdessen diente die antiquarische Ursprungsforschung nunmehr vor allem der Erzeugung eines statischen Vergangenheitsbildes, vor dessen kontrastierender Folie sich die augusteische Gegenwart neu konstituieren konnte. Beide Prozesse sind innerlich verbunden: Dem Akt der Neugründung ging das Erinnern notwendigerweise voraus. So legte die memoriale Resemantisierung Roms, die im Zuge der spätrepublikanischen Altertumskunde erzielt wurde, erst den Grundstein für das augusteische Restitutionsprogramm.

6.3 Die Kaiserzeit: Kompilation, Reorganisation und neue Sinnbildungen

In der historischen Entwicklung der antiquarischen Fachliteratur Roms nimmt die frühe und hohe Kaiserzeit eine Sonderstellung ein.613 Auf den ersten Blick auffällig ist die offensichtliche Diskrepanz zwischen der ungebrochenen Geltung des Antiquarianismus in der Bildungskultur der Zeit und dem Befund einer scheinbar nachlassenden wissenschaftlichen Eigenleistung in diesem Wissensbereich. Dass die antiquarische Fragestellung nicht nur für den kaiserzeitlichen Vergangenheitsdiskurs, sondern generell im kulturellen Leben der literarisch Gebildeten weiterhin Relevanz besaß, zeigt sich unter anderem daran, dass mit Ti. Claudius Nero Germanicus (Kaiser Claudius) ein Mitglied des Herrscherhauses ein ostentatives Interesse an antiquarischen Wissensbeständen an den Tag legte (siehe unten S. 433–436 und 469). Auch die Parodie aitiologischer und etymologischer Deutungsansätze, die sich gerade in der griechischen Literatur verschiedentlich nachweisen lassen, verweisen auf die weite Verbreitung der antiquarischen Hermeneutik innerhalb der philologisch-historischen Diskurse der Kaiserzeit.614 Dennoch finden sich kaum Spuren einschlägiger Monographien. Textlich relativ gut greifbar ist die antiquarische Praxis dagegen in der expandierenden Wissens- und Bildungsliteratur, sei es in enzyklopädischem Zugriff wie in Plinius’ Historia naturalis oder in stärker eklektisch-poikilographisch ausgerichteten Texttypen, repräsentiert etwa durch Gellius’ Noctes Atticae und Plutarchs Quaestiones. Zusammen mit der Exempla-Literatur handelt es sich dabei um Gattungsformen, die sich zu Belehrungs- oder Unterhaltungszwecken vornehmlich aus Auszügen der Literatur früherer Jahrhunderte konstituierten. Die genannten Werke weisen zwar im Einzelfall unterschiedlich starke antiquarische Schwerpunktsetzungen auf, doch wurde dieser Wissensbereich in der Regel nicht gesondert abgehandelt und im Falle der sogenannten „Buntschriftstellerei“ – dem Kompositionsprinzip der variatio folgend – auch nicht systematisiert. Die darin in fragmentierter, aber zugleich kohärenter Form versammelten antiquarischen Wissensbestände weisen in ihrer Gesamtheit auch auf ein neues Rezeptionsverhalten hin: Im Rahmen einer tendenziell enzyklopädischen Bildungskultur tritt die gegenwartsbezogene Begründungsfunktion zugunsten einer neuen Lesegewohnheit und Ästhetik zurück, was im Vergleich zur Literatur des ersten Jahrhunderts auf eine veränderte Zielrichtung des Antiquarianismus hindeutet (siehe unten Kap. 6.3.2.).

Verstreute Testimonien und Fragmente lassen jedoch darauf schließen, dass in einigen der oben definierten Segmente der antiquarischen Textfamilie durchaus noch gelehrte Abhandlungen vorgelegt wurden. Allerdings lassen sich aus dem Erhaltenen kaum verlässliche Rückschlüsse auf Umfang, Form und Zweck dieser Schriften ziehen, sodass die folgende Rekonstruktion nur selten über den Status einer plausiblen Vermutung hinauskommt. Vor allem lässt sich nicht mehr eindeutig feststellen, ob es sich um eigenständige Forschungsbeiträge handelte, in denen Schriftzeugnisse und Objekte der Sachkultur gleichermaßen berücksichtigt wurden, oder ob die Wissensgenese im Rahmen eines primär textbasierten wissenschaftlichen Diskurses stattfand.615 Für letzteres spräche nicht nur der allgemein erkennbare kompilierend-epitomierende Trend innerhalb der Fach- und Wissensliteratur (siehe unten Kap. 6.3.2.), sondern auch die veränderten Produktionsbedingungen der kaiserzeitlichen Buchkultur insgesamt. So ermöglichte die Existenz umfangreicher öffentlicher und privater Doppelbibliotheken in Rom und in den Provinzen die Konsultation gelehrter Nachschlagewerke in einer Dimension, wie sie die Historia naturalis des Plinius in ihren Quellenverzeichnissen so anschaulich dokumentiert.616 Die Bibliotheksgründungen trugen auch dazu bei, die Schriftstellerei über die res Romanae über den begrenzten Radius der Stadt Rom hinaus zu erweitern und in den Provinzen zu ermöglichen: Gellius schrieb in Athen (Gell. praef. 4). Plutarch lebte in Chaironeia, als er die Αἴτια Ῥωμαϊκά verfasste, und Athenaios stützte sich für sein in Rom spielendes Gelehrtengastmahl (Δειπνοσοφισταί) auf die Bücherschätze in Naukratis oder Alexandria.

Andererseits zeigt das Beispiel des Sextus Pompeius Festus (siehe oben S. 376), dass man zu kurz greift, wenn man die kaiserzeitlichen Fachschriftsteller und Bildungsautoren als epigonale Abschreiber qualifiziert. Das verdichtenden Kompilieren war wie das analoge Epitomieren ein schöpferischer Prozess, der sich an stilistischen und formalen Konventionen, Gattungstraditionen und Vorbildern orientierte und in unterschiedlichen Ausprägungen und Kontexten zum Einsatz kam.617 Der Prozess der Wissenskompilation entsprach in der Antike ohnehin einer allgemein üblichen fachpraktischen Arbeitsweise, bei der durch beständige Lektüre literarische Vorgänger routinemäßig herangezogen, exzerpiert, ergänzt, bestätigt oder korrigiert wurden (siehe oben S. 132).618 Originalität und Innovation waren hier – vielleicht mit Ausnahme der Lehrdichtung – keine zwingenden Gattungsanforderungen.619 Dominante Texttypen kaiserzeitlicher Wissensbewältigung wie der Katalog, der Komplexität reduziert, indem er bestimmte Wissensbestände aus verschiedenen Verwendungszusammenhängen herauslöst und in eine neue, überschaubare Ordnung bringt (siehe unten S. 464–466), halten den Bezug zur exzerpierten Vorlage in der Regel durch para- oder metatextuelle Signale aufrecht. Der hintergründige Selektions- und Verdichtungsprozess ihrer Arbeitsweise war dabei Teil des impliziten Vertrags zwischen Text und Leser. Dieses auf Komplexitätsreduktion ausgerichtete ordnende Vermitteln und kontextadäquate Validieren von Wissen ist letztlich auch ein Dienst, den Plinius und andere Großkompilatoren ihren Leser leisten wollten. Inwiefern dabei Vollständigkeitsansprüche suggeriert und Kanonisierungen vorgenommen wurden, ist für jeden Fall gesondert zu klären.

Vor diesem Hintergrund erscheint der in der modernen Forschung sicherlich überbewertete Paradigmenwechsel von der Erforschung der Primärquellen zur Kompilation gelehrter Nachschlagewerke in einem anderen Licht. Die maßgebliche Signatur der Epoche liegt denn auch woanders: Ihre Innovativität und Kreativität bestand im Bereich der Wissensbewältigung, das heißt in der Ordnung, Reorganisation und Validierung von Wissen. Die entsprechenden literarischen Darstellungsformen bewegen sich je nach Zielpublikum und dessen Lesegewohnheiten im Freiraum zwischen den Polen praxisorientierter didaktischer Unterweisung, deskriptiv-enumerativer Wissensvermittlung und gelehrter Unterhaltung (siehe unten Kap. 6.3.2.).620

Angesichts dieses Befundes ist der Antiquarianismus der Kaiserzeit als eigenständiges Phänomen zu bewerten, das im Folgenden auch einer gesonderten literaturwissenschaftlichen Behandlung bedarf. In einem ersten Schritt soll die antiquarische Fachliteratur der Kaiserzeit anhand der erhaltenen Fragmente und der belegten Titel als eigenständiges Textkorpus rekonstruiert werden. Der zweite Teil dieses Abschnitts widmet sich den vielfältigen und vielschichtigen Erscheinungsformen des antiquarischen Denkmodells in der Literatur und Bildungskultur der Kaiserzeit. Ziel ist es hier, einen summarischen Einblick in die Wirkungsweisen und Funktionen des römischen Antiquarianismus innerhalb ausgewählter literarischer Kontexte zu geben.

6.3.1 Die antiquarische Fachliteratur vom ersten bis zum dritten Jahrhundert n. Chr.

6.3.1.1 Rechtsinstitute

6.3.1.1.1 Staatsinstitute

Auf dem Gebiet des ius publicum finden sich neben den oben (S. 275 f.) behandelten Kollektaneen des C. Ateius Capito mehrere Zeugnisse einschlägiger verfassungsrechtlicher Fachschriften, die für eine gewisse publizistische Kontinuität in diesem Rechtsbereich sprechen. Ab der Mitte des zweiten Jahrhunderts n. Chr. lässt das überlieferte Material sogar eine zeitweilige Blüte dieser Art von Rechtsliteratur erkennen. Die Sichtung der spärlichen Fragmente und Testimonien ergibt für die vorliegende Fragestellung allerdings ein ähnlich ambivalentes Bild wie für das erste Jahrhundert v. Chr. Die antiquarische Fragestellung tritt zwar vereinzelt hervor, doch scheint der rechtspraktische Aspekt der Kodifizierung eines anwendungsorientierten Funktions- und Handlungswissens überall im Mittelpunkt gestanden zu haben. Etwas anders stellt sich die Situation bei den Rechtsschriften dar, die nicht von iuris periti, das heißt anerkannten und durch ihre Gutachtertätigkeit ausgewiesenen Rechtsgelehrten, sondern von gelehrten Beamten verfasst wurden, die durch ihren aktiven Staatsdienst mit Rechtsfragen vertraut waren. Wie bei Varro war in diesen Fällen die antiquarische Fragestellung ungleich stärker gewichtet, blieb aber durch die Verbindung von begründender Ursprungsforschung mit praktischer Wissensvermittlung mehr als bloße Heurematographie. Insgesamt rechtfertigt der Befund die Hypothese eines hybriden rechtskundlichen Gattungstyps, der beide Funktionsbereiche, den antiquarisch-explikativen und den phänomenologisch-instruktiven, in unterschiedlicher Nuancierung pragmatisch in sich vereinte.

Eine erste Gruppe von Schriften umfasst eine Reihe von staatsrechtlichen Traktaten unterschiedlichen Umfangs über die römischen Magistraturen, die seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts vorlagen: De officio proconsulis (bezeugt für Venuleius Saturninus, Iulius Paulus und Ulpian); De officio quaestoris (bezeugt für Iulius Paulus und Ulpian); De officio consulis (bezeugt für Ulpius Marcellus und Ulpian); De officio praesidis (bezeugt für Aemilius Macer); De officio praefecti urbi (bezeugt für Iulius Paulus und Ulpian); De officio assessorum (bezeugt für Iulius Paulus); De officio praetoris tutelari (bezeugt für Iulius Paulus); De officio praefecti vigilum (bezeugt für Iulius Paulus); De officio praefecti praetorio (bezeugt für Arcadius Charisius).621 Offensichtlich als praktische Anleitungen für designierte Magistrate gedacht, behandelte diese Literatur konkrete Aufgabenbereiche, Verfahrensgrundsätze und Formalitäten und gab weitere praktische Hinweise und Empfehlungen. Ein singuläres Rezeptionszeugnis hierzu liefert Gellius (14.2.1), der berichtet, wie er sich als junger Mann, nachdem er von den Prätoren zum ersten Mal zum Richter berufen worden war, in einschlägigen griechischen und lateinischen Texten de officio iudicis über die Amtspflichten eines Richters kundig gemacht habe. Dort habe er zwar Informationen zu gewissen Prozessformalitäten gefunden, zum Vorgehen bei verwickelten Rechtsfällen (negotiorum ambages) habe er aber nichts erfahren.622 In Einzelfällen lassen sich Aufbau und Struktur dieser Texte noch in groben Zügen rekonstruieren. So behandelte Ulpian in den ersten drei Büchern seiner Schrift De officio proconsulis den Beginn der prokonsularischen Verwaltungstätigkeit in der Provinz (Anreise, Delegierung der Legaten, Inspektionsreisen usw.), die folgenden Bücher waren der Strafgerichtsbarkeit (3–6) und dem Munizipalrecht (6–10) gewidmet.623

Im Gegensatz zu Iohannes Lydos’ De magistratibus, der sich mehrfach namentlich auf diese Literatur bezieht (siehe oben S. 156–159), lässt sich aus den Resten dieser Texte, die vor allem in den justinianischen Digesten erhalten sind, keine durchgängig historisierende Perspektive ableiten. Ein Auszug aus Ulpians Monobiblos De officio quaestoris belegt jedoch, dass sich der bedeutende Jurist darin mit den Ursprüngen des Amtes befasste und dabei teilweise auf ältere Fachliteratur (Iunius Gracchanus; siehe oben S. 231 f.) zurückgriff.624 Ähnliche gründungsgeschichtliche Passagen finden sich auch in den Fragmenten von Paulus’ De officio praefecti vigilum (Dig. 1.15.1) und in Charisius’ De officio praefecti praetorio (Dig. 1.11.1). Angesichts der Überlieferungslage und möglicher literarischer Vorläufer ist es daher wahrscheinlich, dass gerade die umfangreicheren Instruktionsschriften der hohen und späten Kaiserzeit durch gelehrte Erläuterungen zur Entstehung und Entwicklung des jeweiligen Amtes ergänzt beziehungsweise eingeleitet wurden.625

Auch die einzige bekannte rechtsgeschichtliche Abhandlung Roms, das Enchiridion des Pomponius (um 130/140 n. Chr.), widmet dem Ursprung der Magistraturen einen längeren Abschnitt (Dig. 1.2.2.(13–34)).626 Die Rechtstradition hatte damit ihre eigenen Ursprungsnarrative entwickelt; die Überreste sind in den justinianischen Digesten erhalten. Dass in der Zeit der Adoptivkaiser und unter den Severern auch außerhalb des engeren juristischen Diskurses ein Interesse an solchen Wissensbeständen bestand, zeigt ein Blick in die zeitgenössische Historiographie. Im Traditionsfeld der staatsrechtlichen Exkurse des Tacitus, etwa Annales 11.22 zu den Ursprüngen der römischen Quaestur, hatte sich auch Cassius Dio ausführlich zu den Anfängen der republikanischen Magistraturen geäußert.627

Trotz unterschiedlicher Produktions- und Rezeptionskontexte ist es denkbar, dass Werke wie De consulum potestate oder De officio iuris consulti des vielleicht ins späte zweite oder frühe erste Jahrhundert v. Chr. zu datierenden Rechtsgelehrten L. Cincius (siehe oben S. 245–253) einen ähnlichen Leserkreis angesprochen haben könnten wie die hoch- und spätklassischen de officio-Schriften.628 Im Falle des L. Cincius hätte dann jedoch ein grundsätzlich anderer Rezeptionsfilter dafür gesorgt, dass die erhaltenen Überreste neben der Tendenz zur Traditionssicherung auch Spuren eines antiquarisch-historisierenden Deutungsansatzes aufweisen, der sich in etymologisch-aitiologischen Ausführungen über den ursprünglichen Bedeutungsgehalt der behandelten Objekte äußert.

Ähnliche epochenübergreifende Parallelen lassen sich auch am Beispiel einer zweiten Gruppe staatsrechtlicher Schriften, nämlich den militärrechtlichen Spezialabhandlungen, aufzeigen. Da Gellius, der einzige Gewährsmann von L. Cincius’ mindestens sechsbändiger Schrift De re militari, in erster Linie an archaischen Rechtsformeln interessiert war (Bremer 1, 254–255), bleibt unklar, welche gattungsspezifischen und inhaltlichen Bezüge zu den gleichnamigen Werken hoch- und spätklassischer Rechtsgelehrter wie Tarruntenus Paternus, Arrius Menander und Aemilius Macer im Detail bestanden. Die den Digesten zu entnehmenden Zitate der drei Juristen befassen sich unter anderem mit dem Heereseintritt sowie dem Standes- und Militärstrafrecht, lassen also wiederum eine klare rechtspraktische Orientierung erkennen.629 Wenn aber Iohannes Lydos in De magistratibus I.9 mit den Τακτικά des Paternus dessen De re militari meinte, wäre dies ein Beleg dafür, dass auch in diesem Gattungstyp historisch-antiquarische Wissensbestände berücksichtigt wurden.630 Ein weiteres Argument ergibt sich aus dem fachtechnischen Seitenzweig dieser Literatur: Über den Stoff, den Frontin in seinem verlorenen militärwissenschaftlichen Werk behandelt hat, lassen sich zwar nur Vermutungen anstellen,631 seine Vorgehensweise in den Commentarii de aquaeductu urbis Romae lässt jedoch vermuten, dass auch den militärtechnischen Erörterungen in De re militari längere historisch-antiquarische Ausführungen vorausgegangen sind.

Eine monographische Behandlung verfassungsrechtlicher Wissensbestände aus antiquarischer Perspektive legte der Literat und kaiserliche Hofbeamte C. Suetonius Tranquillus in der Schrift De institutione officiorum vor. Die namentlich nur einmal bei Priscian erwähnte Abhandlung fehlt im Werkkatalog der Suda (IV, τ 895 p. 581 Adler):

Puer pueri: Cuius femininum „puera“ dicebant antiquissimi, unde et „puerpera“ dicitur, quae puerum vel pueram parit, id est puellam, quod est diminutivum puerae […]. Ovidius etiam hoc approbat, qui in V metamorphoseon de puella Proserpina narrans dicit: „Tantaque simplicitas puerilibus adfuit annis.“ Quod derivativum non pertineret ad feminas, nisi etiam „puera“ esset dictum. Quod tamen comprobat etiam Suetonius diversos ponens usus in libro, qui est de institutione officiorum.

Puer, pueri [„der Knabe, des Knaben“]: die Alten benutzten die weibliche Form puera. Deshalb sagt man auch puerpera [„Wöchnerin“] für eine Frau, die einen puer oder eine puera zur Welt bringt, das heißt eine puella [„Mädchen“], was der Diminutiv von puera ist […]. Auch Ovid stimmt dem zu, wenn er im 5. Buch der Metamorphosen über die puella Proserpina sagt: „Solch große Arglosigkeit war ihren kindlichen Jahren [puerilibus annis] eigen.“ [met. 5.400]. Man könnte diese Ableitung [sc. das Adjektiv puerilis] nicht auch auf Frauen anwenden, wenn nicht auch puera gesagt worden wäre. Dem pflichtet auch Sueton bei, da er in seinem Buch mit dem Titel Über die Einrichtung der Ämter verschiedene Verwendungen aufführt.

Prisc. inst. 6.41 GL 2, 230, 27–231, 9 = XIII Roth p. 302; frg. 199 Reifferscheid

Die antiquarische Ausrichtung ergibt sich allein schon aus der Titelgebung, bei der – anders als bei den de officio-Schriften der Fachjuristen – der Schwerpunkt offensichtlich auf der institutio, der Einrichtung des Amtes, liegt. Die Monobiblos war möglicherweise Teil des Pratum, doch ist die Indizienlage in dieser Frage allgemein sehr dünn (siehe dazu unten S. 475–480). Reifferscheid hatte sich noch für ein eigenständiges Werk entschieden. Die spätere Forschung brachte aus inhaltlichen Gründen und entgegen der abweichenden Zitierweise den Beleg mit einem anderen bei Priscian bezeugten Zitat in Verbindung und deutete deshalb De institutione officiorum als Sondertitel des vierten Buches des Pratum:632

Ecce hic active, Suetonius autem passive protulit in IIII pratorum [codd. praetorum]: „Plaetoria [codd. Laetoria] quae vetat minorem annis viginti quinque stipulari, ἐπερωτᾶσται.“

Hier wird es aktiv gebraucht, Sueton verwendet es jedoch passiv im 4. Buch seiner Wiesen: „Die Lex Plaetoria, die es verbietet, dass jemand unter fünfundzwanzig Jahren eine stipulatio, ein förmliches Vertragsangebot, abgibt.“

Prisc. inst. 8.21 GL 2, 387, 23–388, 1 = frg. 111 Reifferscheid

Reifferscheid brachte die Stelle thematisch mit dem aus der Suda bekannten Werktitel Περὶ Ῥώμης καὶ τῶν ἐν αὐτῇ νομίμων καὶ ἠθῶν βιβλία β′ („Über Rom und ihre Gesetze und Bräuche in zwei Büchern“) in Verbindung, wobei er De Roma allerdings als Überbegriff auffasste und den zweiten Teil des Titels in modifizierter Form zum Obertitel des vierten und fünften Buches des Pratum bestimmte (Περὶ τῶν ἐν Ῥώμῃ νομίμων καὶ ἠθῶν).633 Als Fragment aus De institutione officiorum wird darüber hinaus eine Passage in Iohannes Lydos’ De magistratibus erwogen:634

Τὸ γὰρ τῶν ἔργων σκρινίον οὐκ ὂν ἀπἀρχῆς ὁ Αὔγουστος προσένειμε τῇ ἀρχῇ, τὴν ἐν τῇ Ῥώμῃ βασιλικὴν ἀνεγείρων, ὡς ὁ Τράγκυλλος εἶπε φιλόλoγoς.

Die Aufsicht über Akten der Bauarbeiten hat erst Augustus durch den Bau der Basilika in Rom diesem Amt zugewiesen, wie der gelehrte Tranquillius berichtet.

Lyd. mag. I.34.7 (= XIII Roth p. 303; frg. 200 Reifferscheid)

Angesichts der äußerst dürftigen Quellenlage sind die zum Teil weitreichenden hypothetischen Rekonstruktionen der Sueton-Forschung mit Skepsis zu betrachten. Unabhängig von der umstrittenen Frage, ob die Schrift Bestandteil des Pratum war oder nicht, handelt es sich aber in jedem Fall um einen weiteren Beleg für die Kontinuität staatsrechtlicher Literatur mit antiquarischer Perspektivierung.

6.3.1.1.2 Sakralinstitute

Das ius sacrum blieb bis in die späte Kaiserzeit in praktischer Geltung. Eigene Schriften über die römischen Sakralinstitute haben die hoch- und spätklassischen Rechtsgelehrten nach den libri de iure pontificio des Antistius Labeo und des C. Ateius Capito (siehe oben S. 297–301) aber offenbar nicht mehr verfasst.635 Einschlägig könnten allenfalls die nur einmal bei Gellius bezeugten Commentarii de indigenis aus der Hand von Capitos Nachfolger Masurius Sabinus gewesen sein, der auch in anderen Wissensbereichen als (antiquarisch interessierter) Fachschriftsteller fassbar ist (siehe unten S. 442). Weder das singuläre Fragment noch der schwer zu deutende, vermutlich verkürzte oder paraphrasierte Titel lassen jedoch eindeutige Rückschlüsse auf den Inhalt dieser Schrift zu:

Masurius autem Sabinus in commentariis, quos deindigeniscomposuit „religiosum“, inquit, „est quod propter sanctitatem aliquam remotum ac sepositum a nobis est; verbum a relinquendo dictum, tamquam caerimoniae a carendo.“

Masurius Sabinus schreibt aber in seinen Abhandlungen, die er über †einheimische [Götter/Wörter/Bewohner?]† verfasst hat: „religiosus ist das, was wegen einer gewissen Heiligkeit von uns entfernt und abgelegen ist; das Wort ist von relinquere [„zurücklassen“] abgeleitet, wie caerimonia [„Ehrfurcht“] von carere [„sich fern halten von“].“

Gell. 4.9.8 = Bremer 2.1, 366–367

Es ist offensichtlich, dass sich der unter Tiberius tätige Jurist bei seiner Definition eng an die Rechtstradition anlehnte. Sie entspricht fast wörtlich der von Macrobius zitierten Fassung des spätrepublikanischen Juristen Servius Sulpicius Rufus:

Servius Sulpicius religionem esse dictam tradidit, quae propter sanctitatem aliquam remota ac seposita a nobis sit, quasi a relinquendo dicta, ut a carendo caerimonia.

Servius Sulpicius überliefert, dass religio genannt werde, was wegen einer gewissen Heiligkeit von uns entfernt und abgelegen ist; es ist von relinquere [„zurücklassen“] abgeleitet, wie caerimonia [„Ehrfurcht“] von carere [„sich fern halten von“].

Macr. Sat. 3.3.8 = frg. 3 Bremer 1, 241

Bremer hat daher, vielleicht zu Recht, an eine sakralrechtliche Schrift über die dei indigetes gedacht.636 Vom Titel her prinzipiell möglich, aber wenig wahrscheinlich wäre auch eine sprachaitiologische („Über genuin latinischen Wortschatz“) oder eine lokalaitiologisch-genealogische Abhandlung („Über die latinische Urbevölkerung“).637

Völlig unklar bleibt der Werkcharakter der libri memorialium desselben Autors.638 Die spärlichen Fragmente und Zitate der mindestens elf Bücher umfassenden Schrift betreffen sakral- und verfassungsrechtliche Altertümer (über Hercules, die Arvalbrüder, den flamen Dialis, die corona civica, den Triumphzug, Hochzeitsriten usw.), doch könnte sich dahinter eine bestimmte Überlieferungstendenz verbergen (siehe oben Kap. 3.3). Rein spekulativ bleiben Bezüge zu Verrius Flaccus’ Res memoria dignae (siehe oben S. 379 f.).

Außerhalb des juristischen Fachdiskurses deuten einige verstreute, meist schwer zu interpretierende Zeugnisse und Fragmente auf eine, wenn auch begrenzte, literarische Kontinuität im Bereich der römischen Sakralinstitute hin, ohne dass sich jedoch Fachmonographien im engeren Sinne ausmachen ließen. Ein Baebius Macer, der vielleicht mit dem gleichnamigen Briefpartner des jüngeren Plinius (epist. 3.5) zu identifizieren ist, schrieb gemäß Fulgentius (serm. ant. 6) in einem ungenannten Werk über die Opferfeiern (festalia sacrorum).639 An der zitierten Stelle wird mit den ambegnae oves [cod. ambignae] eine Erscheinung des römischen Opferrituals erklärt, bei dem zwei Lämmer zu beiden Seiten eines anderen Opfertieres (hier eines Schafes) aufgestellt wurden. Möglicherweise aus demselben Werk stammen die bei Servius einem Baebius Macer zugeschriebenen Angaben über die Waffen und Rüstung der pueri beim lusus Troiae (Serv. Verg. Aen. 5.556) sowie über das sidus Iulium (Serv. auct. Verg. ecl. 9.46).

Nur bei Macrobius ist von einem gewissen Hyllus die Rede, der in einem einbändigen Werk De dis erklärt haben soll, dass der Name der Göttin der Fröhlichkeit „Vitula“ lauten würde.640 Autor und Entstehungszeit sind nicht mehr feststellbar. Mommsen vermutete einen Verschreiber für Hyginus. Stein hielt das Werk für ein mythologisches Handbuch.641 Ein bloßer Schatten bleibt auch (Aemilius?) Lepidus’ Περὶ ἱερέων („Über Priester“), aus dem – über eine Zwischenquelle – Iohannes Lydos die Information über die etruskische Herkunft des römischen Schnürstiefels (campagus) entnommen hat.642

Ein einzigartiges Zeugnis dichterischer Umsetzung sakralrechtlicher Stoffe stellen die beim spätantiken Vergilkommentator Philargyrius zitierten iambischen Dimeter aus den Lupercalia des vielleicht kaiserzeitlichen Dichters Marianus dar:643

Roma et ante Romulum fuit et ab ea sibi nomen adquisisse Marianus Lupercaliorum poeta sic ostendit:

Sed diva flava et candida
Roma, Aesculapi filia,
nomen novum Latio facit,
quod conditricis nomine
ab ipso omnes Romam vocant.

Die Stadt Roma gab es schon vor Romulus, und von ihr habe er seinen Namen bezogen, schreibt der Dichter Marianus in seinen Lupercalia mit folgenden Worten:

„Doch Roma, die schneeweiße Göttin mit dem blonden Haar, Tochter des Äskulap, gab Latium einen neuen Namen, den jetzt alle nach dem Namen der Gründerin ‚Rom‘ nennen.“

Philarg. Verg. ecl. 1 = FPL Blänsdorf 348–349

Trotz des unepischen Versmaßes scheint Marianus hier direkt an die Tradition der antiquarisch-didaktischen Dichtung der augusteischen Zeit angeknüpft zu haben (siehe oben S. 365–367). Die zufällige Nachricht verdeutlicht einmal mehr, wie gering unsere Kenntnis der (Klein-)Dichtung dieser Zeit tatsächlich ist.644

Wohl erst in die zweite Hälfte des dritten Jahrhunderts gehört Cornelius Labeo, dessen Werke ein ausgeprägtes philosophisch-theologisches Wirkungsinteresse erkennen lassen.645 Die namentlich erhaltenen Testimonien und Fragmente seiner religiösen Schriften zeigen eine an Porphyrios (um 234–305/310 n. Chr.) orientierte neuplatonische Ausrichtung, gegen die sein Zeitgenosse Arnobius und später Augustinus polemisierten. Angesichts der für das erste Jahrhundert v. Chr. konstatierten Polymorphie des religiösen Diskursfeldes, in dem die Grenzen zwischen antiquarischer Gegenwartsdeutung, religionsphilosophisch-theologischer Reflexion und traditionsorientierter Sakralrechtsliteratur fließend waren (siehe oben S. 283 f.), wäre es gleichwohl verfehlt, Labeos literarisches Werk kategorisch vom sakralrechtlichen Diskurs abzugrenzen. Während sein umfangreiches Handbuch zur etruskischen Divinationskunst (Etruscae disciplinae libri) ganz in der Tradition dieses in der Späten Republik kodifizierten Spezialdiskurses stehen dürfte,646 bezeugen seine libri fastorum ein grundsätzliches Interesse an historisierender Gegenwartsdeutung (siehe unten S. 443–446). Auch in der Monobiblos De oraculo Apollinis Clarii, in der sich Labeo die Auslegung eines spezifischen Orakelspruchs zur Aufgabe machte, dürfte eine antiquarische Hermeneutik zur Bestätigung der prävalenten theologischen Argumentation herangezogen worden sein.647

6.3.1.2 Sprachaitiologie

Im weiten und differenzierten Feld der philologisch-grammatischen Studien der frühen und hohen Kaiserzeit blieb die sprachaitiologische Ursprungsfrage weiterhin ein wichtiges Forschungsgebiet, dessen Ergebnisse in unterschiedlichen literarischen Darstellungsformen veröffentlicht wurden. Dennoch scheint es nur selten zu einer fachkundlichen Monographisierung dieser Wissensbestände gekommen zu sein. Einschlägige Fachtraktate wie Varros De origine linguae Latinae oder etymologische Vertiefungen wie die Verba a Graecis tracta des Cloatius Verus (siehe oben S. 303–306 und 311–313) haben, soweit ersichtlich, keine Nachfolger gefunden. Dass die Commentarii de indigenis des Masurius Sabinus dem lateinischen „Urwortschatz“ gewidmet waren, wie in der Gellius-Forschung vereinzelt zu lesen ist, darf bezweifelt werden (siehe oben S. 426 f.).

Ungebrochen war die grammatische ἔτυμα-Forschung im Bereich der Textexegese. Die erläuternde Kommentierung (interpretatio) des von einem Autor verwendeten Wortschatzes gehörte neben der Textkritik und der Stilistik zum festen Bestandteil der kaiserzeitlichen Schulpraxis. Ihre Ergebnisse wurden in verschiedenen, an unterschiedliche Leserkreise gerichtete Darstellungsformen veröffentlicht. Im Texttyp des monographischen Werkkommentars (u. a. zu Terenz, Vergil, Horaz, Sallust und Cicero) steht die sprachaitiologische und realienphilologische Exegese neben textkritischen und textvergleichenden Erläuterungen, wobei nicht auszuschließen ist, dass sich einzelne Autoren durch eine individuelle Schwerpunktsetzung (z. B. Metrik oder realienphilologische Exegese) ein eigenes Profil zu verschaffen suchten. Das Material ist uns heute größtenteils nur noch über die spätantike Kommentarliteratur zugänglich. Dies ist für die vorliegende Fragestellung methodisch insofern problematisch, als in der Zeit von Donat und Servius der Gegenstand der Exegese – analog zur Frühen Neuzeit – zeitlich verschoben ist: Erklärt wird die Lebenswelt des kommentierten Textes und – als natürliche Folge sozialer, kultureller und politisch-ökonomischer Transformationen – nur noch bedingt, wenn überhaupt, die Gegenwart des Rezipienten. Der gleiche Fall liegt vor, wenn Telephos von Pergamon (FGrHist 505), ein griechischer Grammatiker des zweiten Jahrhunderts n. Chr., ein Werk Über Gesetze und Sitten der Athener veröffentlicht (Περὶ τῶν Ἀθήνησι νόμων καὶ ἐθῶν: Suda IV, τ 495 p. 539 Adler). Die Schrift, die vermutlich der Exegese der attischen Redner diente, kann nach der in dieser Studie zugrunde gelegten Definition des Antiquarianismus nur dann als antiquarische Monographie gelten, wenn – was nicht auszuschließen ist – ein epochenübergreifender kausaler Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt wurde.648 Demgegenüber dürfte in seiner Periegese von Pergamon (Περιήγησις Περγάμου: Suda IV, τ 495 p. 539 Adler) die antiquarische Gegenwartsforschung mit hoher Wahrscheinlichkeit bestimmend gewesen sein.

Auch bei den lexikographischen Texttypen des Wörterbuchs, des textbegleitenden Glossars und des enzyklopädisch ausgerichteten Realkompendiums ist es ebenso wie bei den grammatischen Untersuchungen zum Thema De latinitate für die vorliegende Fragestellung essentiell, dass zwischen der eigentlichen Sprachaitiologie und der erläuternden Darstellung überlieferter Sprachzustände und Sprachdenkmäler unterschieden wird. Im Falle des textbegleitenden Glossars werden im Gegensatz zum etymologischen Wörterbuch keine direkten gegenwartsbezogenen Interpretationsziele verfolgt. Aufgrund der kompilierenden und dekontextualisierenden Arbeitsweise der Lexikographie ist es jedoch oft schwierig, hier klare Trennlinien zu ziehen. So konnten ursprünglich vorhandene Gegenwartsbezüge im Traditionsprozess verloren gehen. Umgekehrt wurden neue Kontinuitätsprämissen postuliert und Gegenwartsbezüge hergestellt.649 Das Ergebnis sind hybride Sammlungen mit unterschiedlicher thematischer Nuancierung, die aufgrund des fragmentarischen Überlieferungszustandes dieser Literatur oft nur noch anhand der Titel erkennbar sind. Telephos’ alphabetisch geordnetes Onomastikon über Gebrauchsgegenstände und Kleider (Περὶ χρήσεως ἤτοι ὀνομάτων ἐσθῆτος καὶ τῶν ἄλλων οἷς χρώμεθα· ἔστι δὲ κατὰ στοιχεῖον: Suda IV, τ 495 pp. 539–540 Adler) enthielt – analog zur traktathaften (?) Schrift De genere vestium seines Zeitgenossen Sueton (siehe unten S. 479) – wahrscheinlich sowohl Historisches wie Gegenwärtiges. Dasselbe Phänomen findet sich in den zahlreichen, meist polythematischen Wissenslisten und -katalogen, die in der kaiserzeitlichen Bildungskultur in unterschiedlichen Präsentationsformen zirkulierten (siehe unten S. 463–466).

In diesem Zusammenhang ist bedeutsam, dass Sextus Pompeius Festus die im Reallexikon des Verrius Flaccus enthaltenen Sprachdenkmäler ohne Gebrauchswert (intermortua iam et sepulta verba … nullius auctoritatis) bewusst aussonderte, um sie in den Libri priscorum verborum cum exemplis separat aufzuführen.650 Nicht zur antiquarischen Fachliteratur im definierten Sinn gehören daher neben Festus’ Libri priscorum verborum zwei weitere umfangreiche Schriften aus der Zeit Hadrians, Caesellius Vindex’ Stromateis sive Commentaria lectionum antiquarum und Velius Longus’ Commentarium de usu antiquae lectionis, die, soweit ersichtlich, in erster Linie einem archaistisch interessierten Publikum ein alternatives, vom klassischen Normkanon abweichendes Wortmaterial aus der älteren Literatur (mit Erläuterungen zur Orthographie, Formenlehre und Metrik) darbieten wollten.651 In diese Kategorie gehören wohl auch die Forschungen des Valerius Probus (spätes erstes Jahrhundert n. Chr.), der gemäß Sueton „eine umfangreiche Fundgrube an Beobachtungen über Sprachaltertümer“ hinterlassen hat.652 Die Tradition ist noch im sechsten Jahrhundert mit der eigenwilligen Expositio sermonum antiquorum des Fulgentius lebendig.653

Etymologische Herkunftswörterbücher in der Art von Gavius Bassus’ De origine verborum et vocabulorum (siehe oben S. 310 f.) lassen sich für den betrachteten Zeitraum nicht mit Sicherheit benennen.654 Eine etymologische Orientierung verrät indes das einzige Fragment der Libri de vocabulis rerum des Statius Tullianus, doch ist seine Datierung völlig ungewiss.655 Die spätantike Vergilkommentierung zitiert ihn zur Deutung des Namens der Camilla:

„Matrisque vocavit / nomine Casmillae mutata parte Camillam“ [Aen. 11.542 f.]. Nam Statius Tullianus de vocabulis rerum libro primo ait dixisse Callimachum [frg. 723 Pf.] Tuscos Camillum appellare Mercurium, quo vocabulo significant praeministrum deorum. Unde Vergilius ait Metabum „Camillam“ appellasse filiam, Dianae scilicet praeministram.

„Er nannte sie Camilla mit einer leichten Abwandlung des Namens seiner Mutter, Casmilla.“ Denn Statius Tullianus berichtet im ersten Buch seiner Schrift Über die Namen der Dinge, Kallimachos habe geschrieben, dass die Etrusker Merkur „Camillus“ nannten, womit sie ihn als Diener der Götter beschrieben. Deshalb hat Vergil gesagt, Metabus habe seine Tochter „Camilla“ genannt, nämlich Dienerin der Diana.

Macr. Sat. 3.8.5–6; vgl. Serv. auct. Verg. Aen. 11.543

Der realienphilologische Ansatz des Lexikons war, wie der Titel nahelegt, kaum auf Vergil beschränkt, sondern wohl universal ausgerichtet. Eine Parallelstelle bei Varro legt die Vermutung nahe, dass Tullianus sein Wissen zumindest teilweise aus der glossographischen Dichterauslegung geschöpft hatte:

In Medo:Caelitum hospita, expectata advenis; salve, hospital.“ [frg. 232 Ribbeck3] Camillam qui glossemata interpretati dixerunt ‚administram‘; […] Hinc Casmilus nominatur Samothreces mysteriis dius quidam amminister diis magnis. Verbum esse Graecum arbitror, quod apud Callimachum in poematibus eius inveni.

Im Medus [des Pacuvius]: „göttliche Camilla, lang ersehnt kommst du: sei gegrüßt, du aus der Fremde!“ Diejenigen, die schwierige Dichterworte erklären, sagen eine Camilla sei eine Dienerin. […] Daher wird in den Samothrakischen Mysterien einer bestimmten Gottheit, die den Großen Göttern dient, der Beiname Casmilus gegeben. Ich halte das Wort für griechisch, denn ich habe es in den Gedichten des Kallimachos gefunden.

Varro ling. 7.34

Angesichts der Heterogenität der römischen Wortkunde, die in den erhaltenen Zeugnissen meist mehrere Filter durchlaufen hat, ist allerdings fraglich, ob ein singuläres Fragment die Hypothese einer primär sachbezogenen Ursprungsforschung der Schrift De vocabulis rerum hinreichend zu stützen vermag.

Als genuin antiquarische Fachschrift, die sich im weitesten Sinne mit Aspekten der Sprachaitiologie befasste, kann man die Monographie des Ti. Claudius Nero Germanicus über das lateinische Alphabet ansehen, die Sueton im Kapitel über die kulturellen und literarischen Interessen des Kaisers summarisch bespricht:

Novas etiam commentus est litteras tres ac numero veterum quasi maxime necessarias addidit; de quarum ratione cum privatus adhuc volumen edidisset, mox princeps non difficulter optinuit ut in usu quoque promiscuo essent. Extat talis scriptura in plerisque libris ac diurnis titulisque operum.

Er erfand auch drei Buchstaben und fügte sie den bestehenden hinzu, als ob sie äußerst notwendig wären. Bevor er Kaiser wurde, veröffentlichte er ein Buch über deren Bedeutung. Als er dann Kaiser war, gelang es ihm leicht, sie in allgemeinen Gebrauch zu bringen. Diese Zeichen erscheinen in den meisten Büchern, Journalen und Bauinschriften.

Suet. Claud. 41.3

Demnach hatte Claudius die Schriftreform bereits als Privatmann angedacht und schriftlich begründet, bevor er sie als Kaiser umsetzte. Bei der Beurteilung der politischen Dimension des Unterfangens und im Hinblick auf die von Claudius vermutlich angestrebte Anknüpfung an die Rechtschreibreform seines berühmten Vorfahren Appius Claudius, des Zensors von 312 v. Chr., mag diese Information durchaus Gewicht haben.656 Von der Schrift selbst sind keine Fragmente erhalten, doch ist die moderne Forschung seit Friedrich Leo bereit, den schriftgeschichtlichen Exkurs, den Tacitus im Rahmen seines Berichts über die Zensurtätigkeit des Claudius entwickelt (ann. 11.13.2–14), als Paraphrase des claudischen Traktats anzusehen.657 Während Tacitus nützliche Leistungen des Kaisers, darunter die Fertigstellung eines neuen Aquädukts nach Rom, mit knappen Sätzen übergeht, widmet er der aus seiner Sicht eher unbedeutenden Reform des Alphabets größere Aufmerksamkeit.658 Trotz der summarischen Dichte der Darstellung enthält der Exkurs eine Reihe heurematologischer Details, deren argumentativer Duktus eine eigene Forschungsleistung erkennen lässt:

Primi per figuras animalium Aegyptii sensus mentis effingebant – ea antiquissima monimenta memoriae humanae impressa saxis cernuntur – , et litterarum semet inventores perhibent; inde Phoenicas, quia mari praepollebant, intulisse Graeciae gloriamque adeptos, tamquam reppererint quae acceperant. Quippe fama est Cadmum classe Phoenicum vectum rudibus adhuc Graecorum populis artis eius auctorem fuisse. Quidam Cecropem Atheniensem vel Linum Thebanum et temporibus Troianis Palamedem Argivum memorant sedecim litterarum formas, mox alios ac praecipuum Simoniden ceteras repperisse. At in Italia Etrusci ab Corinthio Demarato, Aborigines Arcade ab Euandro didicerunt; et forma litteris Latinis quae veterrimis Graecorum. Sed nobis quoque paucae primum fuere, deinde additae sunt. Quo exemplo Claudius tres litteras adiecit, quae in usu imperitante eo, post obliteratae, adspiciuntur etiam nunc in aere publicandis plebiscitis per fora ac templa fixo.

Die Ägypter waren die ersten, die ihre Gedanken in Tierbildern ausdrückten. Diese ältesten Denkmäler menschlicher Überlieferung kann man in Fels gehauen betrachten. Auch behaupten sie von sich selbst, die Erfinder der Buchstaben zu sein. Von dort hätten die Phönizier, da sie das Meer beherrschten, sie nach Griechenland gebracht und den Ruhm erlangt, als hätten sie erfunden, was sie selbst übernommen hatten. Denn der Legende nach war es der Phönizier Kadmus, der mit seiner Flotte übersetzte und den noch ungebildeten Griechen als erster die Kunst der Schrift vermittelte. Einige berichten, der Athener Kekrops oder der Thebaner Linus und in trojanischer Zeit der Argiver Palamedes hätten sechzehn Buchstaben erfunden, später hätten andere, vor allem Simonides, die übrigen erfunden. Doch in Italien lernten die Etrusker vom Korinther Demaratus, die Aborigines von dem Arkadier Euander; auch die Form der lateinischen Buchstaben entspricht derjenigen der alten griechischen. Doch auch wir hatten am Anfang nur wenige, später kamen weitere hinzu. Nach diesem Vorbild hat Claudius drei Buchstaben ergänzt, die während seiner Herrschaft in Gebrauch waren, später aber wieder vergessen gingen; sie sind noch heute auf den Erztafeln zu sehen, die zur Bekanntgabe von Volksbeschlüssen auf den Foren und in den Tempeln aufgestellt wurden.

Tac. ann. 11.14.1–3

Indem dokumentarische Indizien benannt (monimenta … cernuntur), Kausalzusammenhänge eröffnet (inde … quia mari praepollebant) und eingesessene Missverständnisse aufgeklärt werden (tamquam reppererint quae acceperant), bewegen sich die Ausführungen auf dem hohen wissenschaftlichen Niveau antiquarischer Fachschriften des ersten vorchristlichen Jahrhunderts. Die offenbar bewusste terminologische Unterscheidung zwischen den figurae der Ägypter und den späteren Buchstaben (litterae) sowie zwischen dem Phänomen Schrift (ars) und dem eigentlichen Alphabet (formae litterarum) deutet auf ein technisch ausdifferenziertes Vokabular hin und unterstreicht den fachwissenschaftlichen Anspruch der Darlegungen.659 Darüber hinaus ist eine deutliche Tendenz zur Eliminierung traditionsbedingter Mehrfacherklärungen zu erkennen, indem die Entstehung der Schrift in verschiedene, entlang der Raum-Zeit-Achse verlaufende Prozesse unterteilt wird: (1) Die Entdeckung der Schrift in Ägypten – (2) Übermittlungsprozesse: (a) durch die Phönizier an die Griechen, (b) durch die Korinther an die Etrusker, (c) durch die Arkadier an die Aborigines – (3) Individuelle Schöpfungen von Buchstabenformen: in Griechenland: (a) in Athen durch Kekrops, (b) in Theben durch Linos, (c) in Argos durch Palamedes, (d) später durch Simonides von Keos; in Italien: (a) ungenannt, (b) durch Claudius. Dieser Deutungsansatz setzt (dokumentarische?) Kenntnis von Lokalalphabeten voraus.660 Inwiefern in diesem Zusammenhang die Betonung der Seefahrt als Erklärung für die Entstehung der Kadmos-Legende eine eigenständige Rekonstruktionsleistung des Claudius darstellt, muss aufgrund der Überlieferungslage offenbleiben.661

Die vieldiskutierte Quellenfrage hängt mit der Beurteilung der Intention des taciteischen Exkurses und der (vermeintlichen) antiquarischen Interessen des Historikers zusammen, zwischen denen abzuwägen ist: Sollte die „bis ins Pedantische gesteigerte Gelehrsamkeit des Exkurses“662 das Unterfangen des Kaisers ins Lächerliche ziehen, oder bestand umgekehrt dessen Bloßstellung gerade in der professionellen Korrektur durch den Historiker? Die Frage wird kaum zu entscheiden sein, zumal inhaltlich nichts dagegen spricht, dass Tacitus hier (neben Claudius) auf die reiche griechische und in Rom bis auf Varros De antiquitate litterarum (siehe oben S. 303–308) zurückgehende einschlägige Fachliteratur zurückgegriffen hat. Mit einem Seitenblick auf Senecas Apocolocyntosis könnte die eigentliche Pointe des Ganzen aber auch einfach darin liegen, dass Claudius am Ende in die Reihe der mythistorischen Buchstabenerfinder aufgenommen wird (quo exemplo Claudius), unter denen er mit seiner kurzlebigen Erfindung (quae in usu imperitante eo, post obliteratae) ebenso fehl am Platze war wie unter den olympischen Göttern. Für diese Deutung spräche, dass Tacitus gerade die altrömischen inventores (z. B. Spurius Carvilius: Plut. quaest. Rom. 54), die bei Claudius sicher ausführlich behandelt worden sind, auffallend unbenannt lässt (sed nobis quoque paucae primum fuere, deinde additae sunt). Die erst aus diesem Kontrast entstehende Hybris des Kaisers tritt dadurch umso deutlicher hervor. Denn wenn Claudius’ schriftgeschichtlicher Traktat tatsächlich eine legitimatorische Funktion hatte, dann wird er die aus seiner Sicht unbedingt notwendige Ergänzung der drei Buchstaben (quasi maxime necessarias: Suet. Claud. 41.3) zweifellos als Vervollständigung des lateinischen Alphabets dargestellt haben.

6.3.1.3 Lokalaitiologie

Die Reflexion über die causae der wahrnehmbaren Welt gehörte schon früh zum geographisch-ethnographischen Diskursfeld, an dem sich spätestens seit Herodot auch die historiographische Literatur beteiligte (siehe oben S. 182–185, 194–197). Während im späteren ersten Jahrhundert v. Chr. die antiquarische Fachliteratur de locis, soweit erkennbar, eine eigene Untergattung ausgebildet hatte (siehe oben S. 315–325), scheint die lokalaitiologische Forschung der Kaiserzeit weitgehend von der Fachdisziplin der Geographie und der geographisch-kulturgeschichtlichen Periegese vereinnahmt worden zu sein (siehe unten S. 470–474).

Ein topographisches Werk über Rom aus der Hand des hadrianischen Schriftstellers Phlegon von Tralleis ist mit Titel nur in der Suda belegt (IV, φ 527 p. 745 Adler = FGrHist 257 T1: Περὶ τῶν ἐν Ῥώμηι τόπων καὶ ὧν ἐπικέκληνται ὀνομάτων [„Über die Orte Roms und ihre Namen“]). Die für ein griechisches Publikum konzipierte Schrift (ein Onomastikon?) dürfte – wie ein Quervergleich mit Plutarchs Quaestiones nahelegt (siehe unten S. 483–487) – einen lokalaitiologischen Schwerpunkt gehabt haben. Antiquarische Spezialschriften zum Thema sind für den lateinischen Bereich nicht nachweisbar. Wissensgeschichtliche Kontinuität blieb aber durch das anhaltende sachbezogene Interesse innerhalb der kaiserzeitlichen Bildungskultur gewahrt.663

6.3.1.4 Genealogie und Volksgenese

Ähnlich wie bei der Lokalaitiologie verhält es sich mit der antiquarischen Fachliteratur zur Abstammung, Herkunft und Entstehung von Völkern, Dynastien und Familienverbänden. Trotz des ungebrochenen Interesses an der Thematik664 fehlen die belastbaren Belege für die Kontinuität einschlägiger Monographien in der Nachfolge von Varros De gente populi Romani und Hygins De familiis Troianis. Erst in der Spätantike lebte das Genre – unter neuen Vorzeichen – wieder auf. Eine Eigendynamik mit anderer Ausgangslage und Zielsetzung erfuhr die genealogische Forschung dagegen in christlich-theologischen Kontexten.665

Allein im Bereich der Genealogie von Dynastien und Familienverbänden finden sich Hinweise auf antiquarische Erörterungen. Hintergrund solcher Studien war die Hoffnung auf Prestige- und Legitimationsgewinn, dem sich auch die kaiserliche Familie nicht verschloss: Die Leichenprozession des Drusus fiel durch den langen Zug der Ahnenmasken auf; voraus gingen neben Aeneas, den albanischen Königen und Romulus auch Attus Clausus, der sabinische Ahnherr der patrizischen gens Claudia (Tac. ann. 4.9.3). Mitunter wurden auch publizistische Mittel eingesetzt, um die eigene Genealogie aufzuwerten oder zusätzlich zu untermauern. Wie Sueton berichtet (Vit. 1–2), verfasste ein Elogius im Auftrag des Q. Vitellius, eines Quaestors des Augustus, einen libellus über den Stammbaum der Vitellier.666 Darin führte er den Ursprung der Gens auf Faunus, einen König der Aborigines, und die vielerorts als Göttin verehrte Vitellia zurück. Einer ihrer Nachkommen sei dann aus dem Sabinerland nach Rom gekommen und dort unter die Patrizier aufgenommen worden. Der abduktive Indizienschluss der antiquarischen Zeichendeutung ist in Suetons Ausführungen noch in Ansätzen erkennbar.667 Auf die Mythistorie ließ der Autor offenbar eine seriösere, quellengestützte Behandlung folgen. Gegen diese Genealogie zog unter anderem der für seine Verunglimpfungen hochgestellter Persönlichkeiten bekannte und deshalb von Augustus verbannte Redner Cassius Severus (gest. 32 n. Chr.) publizistisch ins Feld, indem er behauptete, der Ahnherr des Geschlechts der Vitellier sei ein Flickschuster (sutor veteramentarius) gewesen.668 Die zufällige Nachricht verdeutlicht das ungebrochene soziale Kapital genealogischen Wissens, verweist aber auch auf eine heute gänzlich verlorene politische Publizistik, zu der Sueton noch Zugang hatte.669

6.3.1.5 Kalenderforschung

Die Kodifizierung des ursprünglich überwiegend mündlich tradierten Kalenderwissens führte im ersten Jahrhundert v. Chr. zur Entstehung einer antiquarischen Subgattung, die das praktische Wissen der inschriftlich fixierten fasti ergänzte und inhaltlich erläuterte. In einem größeren Rahmen, aber mit weitgehend identischer Thematik, standen die antiquarischen Fachschriften de temporibus, die sich den natürlichen und sozialen Ordnungen der Zeit und ihren Ursprüngen widmeten (siehe oben S. 348–364). Beide Genres blieben in der Kaiserzeit lebendig.

Eine antiquarisch ausgerichtete Fachschrift über die römische Zeitordnung stammt nachweislich von Sueton. Auch hier ist sich die Forschung nicht einig, ob es sich bei der in der Suda erwähnten Monobiblos Über das römische Jahr (Περὶ τοῦ κατὰ Ῥωμαίους ἐνιαυτοῦ α´: IV, τ 895 p. 581 Adler) um eine eigenständige Abhandlung handelte oder ob sie Teil des Pratum war. Das entscheidende Zitat bei Priscian muss sich nicht unbedingt auf dieses Werk beziehen, sondern kann ohne weiteres auch in einem anderen Kontext gestanden haben (inst. 8.20 GL 2, 387, 2–4 = frg. 114 Reifferscheid): Suetonius in VIII pratorum (codd. praetorum): fasti dies sunt, quibus ius fatur, id est dicitur, ut nefasti, quibus non dicitur („Sueton schreibt im 8. Buch des Pratum: Fasti sind jene Tage, an denen Recht verkündet [fatur], das heißt gesprochen wird; so sind nefasti, an denen nicht [Recht] verkündet wird.“).670 Wie in allen postulierten Teilen dieses undurchsichtigen Sammelwerks sind auch hier die modernen Rekonstruktionsversuche in problematischer Weise mit quellenkundlichen Hypothesen verbunden, die aufgrund vereinzelter sachlicher Übereinstimmungen und deckungsgleicher Formulierungen unterschiedlicher Autoren ganze Schriften oder Textblöcke auf eine gemeinsame singuläre Quelle zurückführen wollen. Das Werk ist außerhalb der Suda nirgends namentlich bezeugt, galt aber seit Reifferscheid und Wissowa lange Zeit als Hauptquelle des in Censorinus, Macrobius (Sat. 1.12–16), Solinus (1.34–47) und Isidor überlieferten römischen Kalenderwissens.671 Auch hinter den thematisch einschlägigen Eklogen des Ausonius (ecl. 1: die sieben Wochentage; ecl. 2–7 die Monate; ecl. 8–11: das Jahr und die Jahreszeiten) hat man Suetons Fachabhandlung über das römische Jahr sehen wollen, was inhaltlich zwar durchaus möglich wäre, aber auch hier über eine Vermutung nicht hinausgeht.672 Ob sich ein so profilierter Dichter wie Ausonius bei diesem vielfach behandelten Thema mit einer epitomierenden Versifizierung einer singulären Vorlage begnügt hätte, ist allerdings fraglich.

Beispielhaft für das methodische Vorgehen der modernen Rekonstruktionsarbeit ist das Beweisführungsverfahren im Falle von Isidor: Dem Herausgeber von Isidors De natura rerum, Gustav Becker, war aufgefallen, dass Sueton im letzten Teil dieser Schrift dreimal zitiert wurde, zweimal davon das Pratum (Tranquillus in pratis nono libro: nat. 38 = frg. 152 Reifferscheid; nat. 44 = frg. 157 Reifferscheid). Dies führte ihn zur Annahme, Isidor müsse sich hier weitgehend auf Sueton gestützt haben. Da im ersten Kapitel (nat. 1.4) das obige Zitat, das Priscian dem achten Buch des Pratum zugeordnet hatte, wörtlich wiederkehrt, schloss Becker, dass auch dieser Teil (nat. 1–7) auf Sueton zurückgehen müsse.673 Reifferscheid hat auf dieser Grundlage das Bild weiter vervollständigt, indem er die Priscian-Stelle mit der Suda kurzschloss und Isidor, De natura rerum 1–8 unter dem (von ihm aus dem Griechischen rückübersetzten) Sondertitel De anno Romanorum dem achten Buch des suetonischen Pratum zuordnete. Wörtliche Parallelen zu den Etymologiae, in denen Sueton ebenfalls mehrfach zitiert wird, führten ihn weiter zu der Annahme, dass auch dieses Werk in seinen sachlich relevanten Teilen auf das Pratum zurückgeführt werden könne.674 Nicht weniger spekulativ ist die quellenkundliche Argumentation im Falle von Censorinus und Macrobius, die an mehreren Stellen auffällige inhaltliche Überschneidungen aufweisen.675 Als zentraler Beleg für die Bedeutung Suetons wird hier auf eine Passage bei Censorinus verwiesen:

Annum vertentem Romae Licinius quidem Macer et postea Fenestella statim ab initio duodecim mensum fuisse scripserunt; sed magis Iunio Gracchano et Fulvio et Varroni et Suetonio aliisque credendum, qui decem mensum putarunt fuisse, ut tunc Albanis erat, unde orti Romani.

Licinius Macer und später Fenestella haben geschrieben, dass der Jahreskreis in Rom von Anfang an zwölf Monate umfasste. Besser ist es aber, Iunius Gracchanus, Fulvius, Varro, Sueton und anderen zu glauben, die meinen, es seien zehn Monate gewesen, wie es damals die Einwohner von Alba hatten, von denen die Römer abstammen.

Cens. 20.2 = III Roth p. 281 = frg. 119 Reifferscheid

Dass Sueton chronologisch am Ende dieses an einer spezifischen Fragestellung ausgerichteten doppelten Quellenkatalogs (Historiker und kalendarische Fachschriften) steht, kann kaum als Beleg dafür gelten, dass er der zentrale Gewährstext war, aus dem Censorinus sein kalendarisches Wissen im Wesentlichen bezogen hat.676 Der vergleichsweise bescheidene Umfang der suetonischen Schrift lässt hier eher auf eine inhaltlich verdichtende Kompilation älterer Literatur schließen. Umfassendere Spezialtraktate zu diesem Thema wurden dadurch sicherlich nicht ersetzt, sondern dürften sowohl Censorinus als auch den spätantiken Autoren mit großer Wahrscheinlichkeit vorgelegen haben.677 Die auffälligen inhaltlichen Überschneidungen zwischen Censorinus, Macrobius und Solinus sprechen jedenfalls eher für einen in dieser Zeit autoritativ gefestigten und damit weitgehend homogenisierten Stoff als für eine singuläre Vorlage. Gleichwohl ist kaum zu bezweifeln, dass Suetons Fachschrift – sei es als Teil des Pratum, sei es in Form einer selbständigen Monographie – in den heute nicht mehr überschaubaren und daher meist unterschätzten Traditionsstrang antiquarischer Wissensbestände eingegangen war, lebhaft rezipiert wurde und spätere Darstellungen inhaltlich und strukturell beeinflusst hat.

Die nur in einer Glosse zu Velleius Paterculus 1.6.6 bezeugte Schrift De annis populi Romani eines zeitlich nicht näher bestimmbaren Aemilius Sura dürfte trotz des ungewöhnlichen chronographischen Titels ein Geschichtswerk gewesen sein.678

Überlieferungsgeschichtlich besser fassbar als die konzeptionell breiter angelegten und den Zeitkategorien im Allgemeinen gewidmeten Schriften de temporibus679 sind die Fachabhandlungen zum römischen Festkalender. Von den unzähligen Autoren (innumeri auctores), die sich laut Macrobius (Sat. 1.15.4) mit den römischen feriae auseinandergesetzt haben, sind aus der Kaiserzeit noch eine Handvoll namentlich greifbar. Bis auf einen späten kaiserzeitlichen Ausläufer mit abschnittsweise erkennbarer antiquarischer Ausrichtung, Censorinus’ Geburtstagsschrift De die natali (siehe unten S. 452–454), sind jedoch alle Werke verloren und bestenfalls noch in einigen Fragmenten und Testimonien erhalten. Wie die folgende summarische Übersicht zeigt, deutet das vor allem bei Censorinus sowie in den kalendarischen Ausführungen bei Macrobius (Sat. 1.12–16) und Solinus (1.34–47) überlieferte Material in Einzelfällen auf eine neue Nuancierung des von Varro, Verrius Flaccus und Iulius Modestus bearbeiteten Stoffes hin.

Dem spätaugusteischen Fastenkommentar des Iulius Modestus (siehe oben S. 364) zeitlich am nächsten stehen die libri fastorum des Masurius Sabinus, der mit dieser Schrift seine anderweitig bezeugte sakralrechtliche Exegese fortgeführt zu haben scheint (siehe oben S. 426 f.). Die drei bei Macrobius namentlich erhaltenen Fragmente (Bremer 2.1, 363–364) lassen auf die üblichen kalendarischen Erläuterungen schließen, auch wenn Macrobius die Stellen aus rein grammatischem Interesse aufgrund der Varianz in der Flexion der Festnamen (-orum neben -ium) zitiert. Wenn der Festkalender bei Sabinus sukzessive abgehandelt wurde, so war der Umfang des Werks im Vergleich mit anderen Fachtraktaten eher bescheiden: Neben den Liberalia (17. März) und den Vinalia (23. April) wurden im zweiten Buch auch die Lucaria (19. bis 21. Juli) behandelt.680 Aber auch eine andere Gliederung oder stoffliche Auswahl (nur feriae publicae?) ist denkbar, zumal auffällt, dass Macrobius in diesem Zusammenhang mehrfach Sabinus als Autorität nennt.

In die zweite Hälfte des ersten Jahrhunderts n. Chr. wird gewöhnlich der Grammatiker Nisus datiert, aus dessen Commentarii fastorum Macrobius etymologische Mutmaßungen über den Namen des Monats Juni zitiert:

Iunius Maium sequitur aut ex parte populi, ut supra diximus, nominatus aut ut Cincius [codd. Cingius] arbitratur [= frg. 4 Bremer 1, 253] quod Iunonius apud Latinos ante vocitatus diuque apud Aricinos Praenestinosque hac appellatione in fastos relatus sit, adeo ut (sicut Nisus in commentariis fastorum dicit) [= GRF Mazzarino p. 340] apud maiores quoque nostros haec appellatio mensis diu manserit. Sed post detritis quibusdam litteris ex Iunonio Iunius dictus est.

Auf den Mai folgt der Juni. Er hat seinen Namen entweder von einem Teil des Volkes, wie ich oben sagte, oder, wie Cincius meint, weil er früher bei den Latinern Iunonius hieß und unter diesem Namen lange Zeit in Aricia und Praeneste in den Fasten verzeichnet war. Auch bei unseren Vorfahren (wie Nisus in seinem Fastenkommentar berichtet) war diese Namensform lange Zeit gebräuchlich. Später wurden jedoch einige Buchstaben weggelassen und aus Iunonius wurde Iunius.

Macr. Sat. 1.12.30

Das Zitat lässt vermuten, dass Macrobius an dieser Stelle die alternative Etymologie des L. Cincius über den Kommentar des Nisus rezipiert hatte, doch könnte er auch einfach nur einem Usus der antiquarischen Fachliteratur gefolgt sein und den ältesten Gewährsmann (und damit den „Erfinder“) dieser Deutung an die erste Stelle gesetzt haben. Nisus scheint indes die quellengestützte Argumentation des Cincius übernommen und durch weitere dokumentarische Indizien ergänzt zu haben. Der Hinweis auf das Fortbestehen der angeblich alten Schreibweise auch in Rom, die dann später aufgegeben worden sei, findet sich jedenfalls nur hier.

Auch von dem mehrbändigen Kalenderkommentar des Cornelius Labeo sind nur wenige Fragmente erhalten.681 Das Werk, dessen antiquarisch-explikativer Modus in den erhaltenen Teilen noch deutlich erkennbar ist,682 scheint für Macrobius eine ebenso wichtige Quelle gewesen zu sein wir für Iohannes Lydos.683 Labeo scheint neben kalendertechnischen Fragen (zur Anzahl der Monatstage: Lyd. mens. III.10 Wünsch = frg. 6 Mastandrea 1979) offenbar vorzugsweise zur Klärung der Namen einzelner Gottheiten herangezogen worden zu sein:

Adfirmant quidam, quibus Cornelius Labeo consentit, hanc Maiam cui mense Maio res divina celebratur terram esse, hoc adeptam nomen a magnitudine, sicut et Mater Magna in sacris vocatur, adsertionemque aestimationis suae etiam hinc colligunt quod sus praegnans ei mactatur, quae hostia propria est terrae. Et Mercurium ideo illi in sacris adiungi dicunt, quia vox nascenti homini terrae contactu datur; scimus autem Mercurium vocis et sermonis potentem. Auctor est Cornelius Labeo huic Maiae, id est terrae, aedem Kalendis Maiis dedicatam sub nomine Bonae Deae et eandem esse Bonam Deam et Terram ex ipso ritu occultiore sacrorum doceri posse confirmat: hanc eadem Bonam Faunamque, Opem et Fatuam pontificum libris indigitari. Bonam quod omnium nobis ad victum bonorum causa est, Faunam quod omni usui animantium favet, Opem quod ipsius auxilio vita constat, Fatuam a fando quod, ut supra diximus, infantes partu editi non prius vocem edunt quam attigerint terram.

Einige, denen Cornelius Labeo zustimmt, versichern, dass diese Maia, der im Monat Mai Opfer dargebracht werden, die Erde sei, und dass sie diesen Namen wegen ihrer Größe erhalten habe, da sie im Opferdienst auch Magna Mater [„Große Mutter“] genannt wird. Eine Bestätigung dieser Vermutung findet man auch darin, dass ihr [sc. Maia] eine trächtige Sau geschlachtet wird, die ein geeignetes Opfer für die Erde darstellt. Sie sagen auch, dass ihr im Opferdienst Merkur deshalb zugesellt sei, weil dem Menschen die Sprachfähigkeit beim [ersten] Kontakt mit der Erde verliehen werde,684 und wir wissen, dass Sprache und Ausdrucksfähigkeit in der Macht von Merkur liegen. Cornelius Labeo vertritt die Ansicht, dass dieser Maia, das heißt der Terra, unter dem Namen Bona Dea [„Gute Göttin“] an den Kalenden des Monats Mai ein Tempel geweiht worden sei, und er versichert, dass man aus einem geheimen Opferritus erkennen könne, dass sie [sc. Maia] mit Bona Dea und Terra identisch sei: Im Buch der Priester werde sie als Bona, Fauna, Ops und Fatua angerufen. Als Bona, weil sie die Urheberin alles Guten [bonus] für unser Leben ist; als Fauna, weil sie alles Nützliche für die Lebewesen fördert [favere]; als Ops, weil sie dem Leben selbst Hilfe [ops] bringt; als Fatua, vom Sprechen [fari], weil, wie ich oben sagte, die neugeborenen Säuglinge die Fähigkeit zu sprechen erst erwerben, wenn sie die Erde berührt haben.

Macr. Sat. 1.12.20–21 = frg. 5 Mastandrea

Die Paraphrase des Macrobius lässt die Hermeneutik und das Beweisverfahren des vorliegenden Interpretationsansatzes in ihren Grundzügen noch gut erkennen. Argumentatives Ziel war die Identifizierung von Maia mit Magna Mater/Terra sowie mit Bona Dea.685 Der erste Schritt ist etymologisch: Der Name Maia leite sich von der Größe der Erde (magnitudo) ab. Dann folgt ein doppelter Verweis auf die Kultpraxis: (1) Sie werde (wie Terra/Tellus686) in der Sakralsprache auch Magna Mater genannt; (2) ihr werde ein ähnliches Opfer dargebracht wie Terra. Der dritte Schritt ist allegorisch-assoziativ: Da der Mensch seine Sprachfähigkeit durch den Kontakt mit der Erde erhalte, sei Merkur (als personifizierter Logos) kultisch mit Maia verbunden. Auf der Grundlage dieser religionsphilosophischen Identifikation (adfirmant quidam) bewies Labeo (auctor est Cornelius Labeo) dann seinerseits die Einheit von Maia/Terra mit Bona Dea (und anderen mit ihr identifizierten Gottheiten). Die Identifizierung erfolgte, soweit ersichtlich, anhand von Details der Kultpraxis und unter Bezugnahme auf die priesterlichen Anrufungsformeln (indigitamenta). Dass Labeo durch seine synkretistische Methode in der Lage war, lange Listen identischer Gottheiten aufzustellen, belegt Iohannes Lydos am Beispiel der Venus (mens. I.21 Wünsch = frg. 3 Mastrandrea): ὅτι τριακοσίοις ἐγγὺς ὀνόμασιν εὑρίσκομεν καλουμένην τὴν Ἀφροδίτην, κεῖται δὲ παρὰ Λαβεῶνι τὰ ὀνόματα („Denn wir wissen, dass Aphrodite mit fast dreihundert Namen genannt wird; diese finden sich bei Labeo“).687 Dasselbe Muster zeigt sich in Labeos Behandlung der verschiedenen Kultnamen des Ianus, die in Lydos’ Paraphrase erhalten ist:

ὁ Λαβεὼν οὖν φησιν αὐτὸν καλεῖσθαι Ἰανὸν Κονσίβιον τουτέστι βουλαῖον, Ἰανὸν Κήνουλον καὶ Κιβούλλιον – οἱ γὰρ Ῥωμαῖοι κίβους τὴν τροφὴν ἐκάλουν – οἷον εὐωχιαστικόν, Πατρίκιον ὡσεὶ αὐτόχθονα, Κλουσίβιον ἀντὶ τοῦ ὁδιαῖον, Ἰουνώνιον τουτέστιν ἀέριον, Κυρῖνον ὡσανεὶ πρόμαχον, Πατούλκιον καὶ Κλούσιον οἱονεὶ θυρεόν, Κουριάτιον οἱονεὶ ἔφορον εὐγενῶν·Κουριάτιοι γὰρ καὶ Ὁράτιοι ὀνόματα εὐπατριδῶν εἰσι.

Labeo schreibt, er heiße Ianus Consivius, das heißt „Rat gebend“; Ianus Cenulus und Cibullius, das heißt „zum Essen gehörend“, denn die Römer nannten das Essen cibus; Patricius das heißt „einheimisch“; Clusivius, das heißt „die Wege beschützend“; Iunonius, das heißt „luftig“; Quirinus, das heißt „Vorkämpfer“; Patulcius und Clusius, das heißt „die Tür betreffend“; Curiatius, das ist der „Aufseher der Adligen“ – denn Curiatius und Horatius sind Namen von Adelsgeschlechtern.

Lyd. mens. IV.1 Wünsch = frg. 2 Mastandrea 1979

Lässt sich diese spezifische Deutungsweise, die man mit den auch sonst erkennbaren neuplatonischen Tendenzen Labeos in Verbindung gebracht hat,688 für seine libri fastorum verallgemeinern, so stand hier die antiquarische Gegenwartsdeutung als sekundäres Beweisverfahren im Dienste einer übergeordneten religionsphilosophischen Reflexion. Sollte diese Annahme zutreffen, dürfte eine solche Nuancierung innerhalb der römischen Fastenkommentierung eine Neuerung gewesen sein.

Eine dreibändige heortologische Fachschrift Über die Festtage Roms (Περὶ τῶν παρὰ Ῥωμαίοις ἑορτῶν βιβλία γ´) stammt aus der Hand des hadrianischen Schriftstellers Phlegon von Tralleis. Das Werk, das die Suda unter diesem Titel aufführt,689 wird von Iohannes Lydos als Quelle eines exotischen phönizischen Beinamens der Venus zitiert:

Ὅτι ὁ Νουμᾶς τὴν βασιλικὴν ἐσθῆτα εἰς τιμὴν Ἡλίου καὶ Ἀφροδίτης ἐκ πορφύρας καὶ κόκκου κατασκευάζεσθαι διετύπωσεν – καὶ Βλάττα δέ, ἐξ ἧς τὰ βλάττια λέγομεν, ὄνομα Ἀφροδίτης ἐστὶ κατὰ τοὺς Φοίνικας, ὡς ὁ Φλέγων ἐν τῷ περὶ ἑορτῶν φησι.

Numa setzte zu Ehren des Helios und der Aphrodite fest, dass das königliche Gewand mit Purpur und Scharlach gefärbt werde; und Blatta (weswegen wir von blattia reden) ist ein phönizischer Name der Aphrodite, wie Phlegon in seinem Werk Über die Feste sagt.

Lyd. mens. I.21 Wünsch

Die Stelle steht unmittelbar vor dem oben zitierten Testimonium über die dreihundert Beinamen der Venus, sodass ein quellengeschichtliches Abhängigkeitsverhältnis wahrscheinlich ist, doch wird man hier über Spekulationen kaum hinauskommen. In welchem Zusammenhang Phlegon in einer Schrift über römische Festtage auf Blatta zu sprechen kam, ist nicht ersichtlich.

Zeitlich völlig unbestimmt bleiben zwei kalendarische Fachschriften, die jeweils einmal bei Iohannes Lydos zitiert werden: eine die Monate betreffende Spezialschrift des Anysius (Περὶ μηνῶν) sowie eine heortologische Abhandlung des Elpidianus (Περὶ ἑορτῶν). Beide Autoren sind nicht näher bekannt und wurden von Lydos oder seiner Zwischenquelle wegen ihrer auffälligen Etymologien herangezogen:

Ἀνύσιος δὲ ἐν τῷ περὶ μηνῶν Φεβροῦον τὸν καταχθόνιον εἶναι τῇ Θούσκων φωνῇ λέγει, θεραπεύεσθαι δὲ πρὸς τῶν Λουπερκῶν ὑπὲρ ἐπιδόσεως τῶν καρπῶν.

Aber Anysius sagt in seinem Werk Über die Monate, dass Februus in der etruskischen Sprache „der Unterirdische“ bedeute, und dass er von den Luperci wegen des Erntewachstums verehrt werde.

Lyd. mens. IV.25 Wünsch

ὁ δὲ Ἐλπιδιανὸς ἐν τῷ περὶ ἑορτῶν στρήναν τὴν ὑγείαν τῇ Σαβίνων φωνῇ λέγεσθαί φησι, διἣν φύλλα δάφνης ἐπεδίδοτο τοῖς ἄρχουσι φησι, παρὰ τοῦ δήμου τῇ πρώτῃ τοῦ Ἰανουαρίου μηνός· ὑγείας γάρ ἐστιν ἐργαστική.

Elpidianus sagt in seinem Werk Über die Feste, dass in der sabinischen Sprache die Gesundheit strena genannt werde, um derentwillen das Volk den Magistraten am ersten Tag des Monats Januar Lorbeerblätter schenkte, denn diese bringen Gesundheit.

Lyd. mens. IV.4 Wünsch

Die Methode, unverständliche Kultnamen aus dem Etruskischen oder Sabinischen abzuleiten, besaß aus römischer Sicht schon deshalb eine gewisse Plausibilität, weil man die Ursprünge der religiösen Institutionen Roms in der archaischen Frühzeit verortete. Varro hatte, wie oben erwähnt (S. 251 f.), in bewusstem Gegensatz zur älteren Literatur Romulus als fundator der Monatsnamen abgelehnt und diese stattdessen konsequent auf die Latiner zurückgeführt (Cens. 22.10). Die knappen Ausführungen des Lydos lassen hier allerdings keine genaueren Rückschlüsse auf die Ausrichtung und Zielsetzung der historisierenden kalendarischen Erörterungen des Anysius und des Elpidianus zu. Es ist möglich, dass die antiquarische Fragestellung dominierte und die Etymologien durch kultpraktische Indizien und aitiologische Erzählungen authentifiziert wurden. Aber auch ihre Einbettung in einen übergeordneten religionsphilosophisch argumentierenden Kontext (wie bei Cornelius Labeo) wäre denkbar. Während die ältere römische Fachtradition den Monat Februarius vor allem mit februum („kultisches Reinigungsmittel“) und dessen Ableitung februare („kultisch reinigen“) in Verbindung brachte,690 was Varro als eine sabinische Entlehnung ansah (ling. 6.13), war in der Spätantike die alternative Ableitung vom (etruskischen) Gott Februus verbreitet.691 Die Frage, ob Anysius – wenn man ihn in das zweite oder dritte Jahrhundert datieren darf – als „Erfinder“ dieser Deutung gelten kann, ist rein hypothetisch.692 Die etymologische Identifizierung des Monatsnamens mit den Unterweltsgöttern (inferi) wurde bereits in varronischer Zeit diskutiert, allerdings nicht im Zusammenhang mit einem agrarischen Fruchtbarkeitsritual, wie es Anysius offenbar postulierte (ὑπὲρ ἐπιδόσεως τῶν καρπῶν).693

Einen Sonderbereich des antiquarischen Schrifttums de temporibus bilden die Fachabhandlungen über die römischen Schauspiele. Thematisch gehören sie zum Bereich der sakralen Sonderzeiten. In den Antiquitates rerum divinarum hatte Varro den Stoff in zwei Kategorien unterteilt: Buch IX war den Zirkusspielen gewidmet (de ludis circensibus), Buch X dem Bühnenwesen (de ludis scaenicis), wobei er den letztgenannten Bereich zusätzlich monographisch vertiefte (siehe oben S. 355–358).

Unter der Werkliste des Sueton führt die Suda eine zweibändige Schrift Περὶ τῶν παρὰ Ῥωμαίοις θεωριῶν καὶ ἀγώνων („Über römische Schauspiele“: IV, τ 895 p. 581 Adler). Die Forschungsdiskussion verläuft hier ähnlich wie bei den anderen verlorenen suetonischen Fachschriften, indem nämlich aus den überlieferten Fragmenten und gelegentlich bezeugten Titeln mit unterschiedlicher Plausibilität entweder eine eigenständige Schrift oder ein Untertitel des Pratum rekonstruiert wird. Auch in diesem Fall muss der Imagination überlieferungsbedingt viel Raum belassen werden: Anhand einer zusätzlichen in der Suda belegten Schrift Suetons (Περὶ τῶν παρἝλλησι παιδιῶν βιβλίον α´ [„Über griechische Kinderspiele in einem Buch“]: IV, τ 895 p. 581 Adler) sowie weiterer einschlägiger Zitate und bezeugter Werktitel (Serv. Verg. Aen. 5.602: liber de puerorum lusibus; Gell. 9.7.3: et Suetonius etiam Tranquillus in libro ludicrae historiae primo [„ebenso Sueton im Buch über die Geschichte des Spielewesens“]) hatte Reifferscheid ein vierbändiges lateinisches Werk Historia ludicra rekonstruiert, in dem neben den öffentlichen Schauspielen auch die privaten Kinder- und Gesellschaftsspiele sowohl für den griechischen als auch den römischen Bereich behandelt waren. Seither dreht sich die Diskussion neben der Frage der Sprache und der Anzahl der Bücher vor allem um die Rezeptionsgeschichte (vgl. Isid. orig. 18.16–58) und die mutmaßliche Einordnung in das Pratum.694 Am wahrscheinlichsten erscheint, dass Sueton das Thema in mehreren getrennten lateinischen und griechischen Schriften behandelt hat, von denen die lateinischen vielleicht von Anfang an als Kollektion im Pratum enthalten waren oder bei der Zusammenstellung der Sammlung in diese aufgenommen wurden.695 Wäre aber der von Gellius angegebene Titel Historia ludicra tatsächlich der Oberbegriff dieser Kollektion, die Schmidt mit der in der Suda genannten Schrift Περὶ τῶν παρὰ Ῥωμαίοις θεωριῶν καὶ ἀγώνων und der von Servius erwähnten De puerorum lusibus identifiziert,696 wäre dies ein klarer Bruch mit der fachwissenschaftlichen Gattungskonvention antiquarischer Traktate in der Tradition von Varros’ De scaenicis originibus. Denn an der antiquarischen Ausrichtung der suetonischen Ausführungen über das griechische und römische Spielewesen kann trotz aller überlieferungsbedingten Unsicherheiten kaum gezweifelt werden:697

troiaque nunc pueri ut ait Suetonius Tranquillus, lusus ipse, quem vulgo pyrrhicham appellant, Troia vocatur, cuius originem expressit in libro de puerorum lusibus.

Troia noch heute die Knaben wie Suetonius Tranquillus schreibt, hieß jenes Spiel, das man gewöhnlich pyrricha nennt, Troja; über dessen Ursprung berichtet er in seinem Buch Über die Kinderspiele.

Serv. Verg. Aen. 5.602

Eng an die Tradition antiquarischer Fachliteratur angelehnt ist der Abschnitt aus Tertullians De spectaculis, in dem die kultischen Hintergründe von öffentlichen Schaustellungen aller Art (Theateraufführungen, Wagenrennen, Gladiatorenkämpfe, sportliche und musische Agone) untersucht werden (spect. 5–13). Für die vorliegende Untersuchung ist das christliche Mahnschreiben in erster Linie von rezeptions- und wissensgeschichtlicher Bedeutung: Um seinen Mitchristen die moralische Verwerflichkeit der römischen Schauspiele vor Augen zu führen und sie von deren Besuch und Teilnahme abzuhalten, weist Tertullian systematisch und relativ ausführlich den inneren Zusammenhang zwischen dem Spielewesen und dem heidnischen „Götzenkult“ (idolatria) nach. Aus naheliegenden inhaltlichen Gründen, aber auch – ganz in apologetischer Tradition – zur argumentativen Untermauerung und Beglaubigung des Gesagten bediente er sich dabei der ihm zugänglichen antiquarischen Fachliteratur, aus der namentlich Sueton hervorgehoben wird:698

De originibus quidem ut secretioribus et ignotis penes plures nostrorum altius nec aliunde investigandum fuit quam de instrumentis ethnicalium litterarum. Extant auctores multi, qui super ista re commentarios ediderunt. Ab his origo sic traditur: […]

Was die Ursprünge [der Schauspiele] betrifft, so musste ich, da sie ziemlich entlegen und den meisten unserer Mitbrüder unbekannt sind, tiefer forschen, und zwar nirgendwo anders als in den Werken der heidnischen Literatur. Es gibt viele Autoren, die darüber Abhandlungen geschrieben haben. Von ihnen wird der Ursprung folgendermaßen überliefert: […]

Tert. spect. 5.1–2

Qui quos quem [coni. Wissowa; codd. quoque] per ordinem et quibus idolis ludos instituerint, positum est apud Suetonium Tranquillum vel a quibus Tranquillus accepit.

Wer welche Spiele in welcher Reihenfolge und für welche Abgötter einrichtete, steht bei Suetonius Tranquillus oder bei denen, von denen er sein Wissen bezog.

Tert. spect. 5.8

Die im Folgenden von Tertullian gebotene Übersicht über die Ursprünge der einzelnen Arten von Schauspielen, über ihre Bezeichnungen, Ausstattung, Schirmgottheiten und „Erfinder“ folgt nicht nur inhaltlich, sondern allem Anschein nach auch in der Systematik den benutzten Fachtraktaten.699 Dies zeigt sich bereits zu Beginn der sachlichen Ausführungen, wo Tertullian verschiedene etymologische Herleitungen des lateinischen Sammelbegriffs ludus / ludius referiert, der von einigen Autoren mit der auf Timaios von Tauromenion (FGrHist 566 F62) zurückgehenden aitiologischen Sage von der Einwanderung der Lyder nach Etrurien in Verbindung gebracht wird.700 Tertullian verzichtet hier bewusst auf eine ausführliche Darstellung der einschlägigen Fachdiskussion, da es ihm nicht um das Wort selbst, sondern um die Sache gehe (spect. 5.2–4a). Es folgt ein kurzer Bericht über die Stiftungen der römischen Könige (spect. 5.4b–8a). Einzelheiten werden auch hier ausgespart, stattdessen wird auf Sueton verwiesen (spect. 5.8b, Zitat oben). Spätere Epochen werden ebenfalls nur summarisch behandelt (spect. 6.1). An diese Übersicht schließt Tertullian terminologische Differenzierungen an, nämlich zwischen Spielen, die allgemein gefeiert werden, und solchen, die ihren Ursprung „von den Geburts- und Feiertagen der Herrscher, von den für das Staatswesen günstigen Ereignissen und von den Festen der Munizipalstädte“ haben (de natalibus et solemnibus regum et publicis prosperitatibus et municipalibus festis: spect. 6.2). Als Untergruppe werden Spiele zum Andenken von Privatpersonen definiert, was zu einer grundlegenden funktionalen Unterscheidung zwischen Spielen zu Ehren von Göttern und Spielen zu Ehren von Toten führt (spect. 6.3).

Hinter der vom Autor in voller Absicht reproduzierten fachwissenschaftlichen Systematik ist unschwer zu erkennen, dass die Auswahl des dargebotenen Stoffes weniger nach sachlichen als nach rhetorisch-persuasiven Gesichtspunkten erfolgte: Spiele, aus deren Namen der idolatrische Charakter nicht unmittelbar hervorgeht, wurden weggelassen (ludi Romani), während eine alternative Aitiologie der Consualia in eine moralische Polemik gegen Romulus umgemünzt wurde, für die ausnahmsweise auch indiziengestützte Details antiker Gelehrsamkeit offengelegt werden (spect. 5.5–7). Dieses aus der Rhetorik hinlänglich bekannte Verfahren der Stoffauswahl hatte sich auch Ovid zunutze gemacht, als er die in scheinbar erschöpfender Fülle ausgebreiteten etymologischen Varianten zur Erklärung der Agonalia gezielt auf seine daran anschließende Geschichte des Tieropfers abstimmte (fast. 1.319–332).701 Auch in den folgenden, katalogartig verdichteten Abschnitten über die Ausstattung, Örtlichkeit und Schaustellungen der Zirkusspiele (spect. 7.2–8.6), des Theaters (spect. 10.1–12), der sportlichen und musischen Agone (spect. 11) sowie der Gladiatorenkämpfe (spect. 12) dominiert durchgehend eine aitiologisch-etymologische Hermeneutik, mit der die „Unreinheiten der Schauspiele“ aufgedeckt werden, „durch welche die Dämonen die Menschen von Gott abbringen und auf ihre eigene Verehrung verpflichten wollen“ (spectaculorum inquinamenta, quibus hominem a domino avocarent et suo honori obligarent: spect. 10.12). Tertullians Schrift dokumentiert damit indirekt wesentliche Inhalte antiquarischer Kalendertraktate.

Ein in der überlieferten Literatur einzigartiges Schriftstück stellt das vom Grammatiker Censorinus verfasste Geburtstagsbuch De die natali dar. Das Werk, das sich im Proömium als Geburtstagsgeschenk für den „an Tugend und Geld gleichermaßen reichen“ Q. Cerellius ausgibt (Cens. 1.1), behandelt zunächst verschiedene Aspekte des Geburtstages, um dann auf allgemeinere Fragen der Chronographie und des Kalenders einzugehen.702 Trotz einer in Einzelteilen unverkennbaren Anlehnung an die antiquarische Fachliteratur, die sich, wie erwähnt (siehe oben S. 354 f.), in der quellenkundlichen Bedeutung des Censorinus für die Rekonstruktion der antiquarischen Kalenderforschung insgesamt niederschlägt, erhebt der Verfasser den Anspruch auf ein Wissensgebiet, das weit über dasjenige eines antiquarischen Kalendertraktats hinausgeht. So werden mit der Philosophie, der Musiklehre, der Medizin, der Sternenkunde und der Chronographie weitere Diskursfelder einbezogen und mit den antiquarischen Wissensbeständen verknüpft. Damit ist die Schrift zwar Teil jenes heterogenen Traditionskonglomerats, in dem und mittels dessen antiquarisches Wissen literarisch verhandelt und aktualisiert wurde, positioniert sich selbst aber außerhalb des engeren fachwissenschaftlichen Rahmens.

Im Proömium werden zwei Gattungstypen, die für den vorliegenden Anlass üblicherweise herangezogen werden, die ethische Erbauungsschrift und das Enkomium, daher auch bewusst abgelehnt. Stattdessen entscheidet sich der Verfasser für eine Auswahl „kleiner Fragen aus den Fachbüchern der historisch interessierten Exegeten“ (ex philologis commentariis quasdam quaestiunculas: Cens. 1.6).703 Damit ist mit der προβλήματα-Literatur, in der miszellenhaft verschiedene Aspekte eines spezifischen Themenkreises in literarisch anspruchsvoller Form präsentiert werden, die Textsorte benannt, an der sich die Geburtstagsschrift im Wesentlichen orientiert.704 Im Hauptteil tritt der didaktische Fragemodus als strukturelles Gestaltungsmittel der Wissensvermittlung auch unmittelbar in Erscheinung (Cens. 2.2: hic forsitan quis quaerat, quid causae sit [„Hier könnte vielleicht jemand fragen, was der Grund dafür sei“]; 2.3: sed et hoc a quibusdam saepe quaesitum solvendum videtur [„Auch folgende oft gestellte Frage scheint mir beantwortet werden zu müssen“]; 4.2: prima et generalis quaestio [„die erste und grundlegende Frage“]; 5.2: semen unde exeat [„woher der Samen kommt“]; 5.4: utrumnean [„ob von … oder“] usw.). Dennoch ist das Buch, das Probleme der menschlichen Existenz und ihrer Zeitlichkeit aufwirft, deutlich philosophisch akzentuiert. Aber auch die pflichtgeschuldete Laudatio des Geehrten durfte nicht fehlen (Cens. 15). Sie steht im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Darstellung, die sich in einen anthropologischen Teil (Cens. 2–14) und einen chronographisch-kalendarischen Teil (Cens. 16–24) gliedert, die beide innerlich mit dem Geburtstag des Caerellius verbunden bleiben.705

Stellenweise tritt der explikative Modus antiquarischer Gegenwartsdeutung hervor, der zu Beginn des Referats bezeichnenderweise aus der Perspektive der grammatischen Textexegese entwickelt wird:

Nunc quoniam liber de die natali inscribitur, a votis auspicia sumantur. Itaque „hunc diem“, quod ait Persius, „numera meliore lapillo,“ idque quam saepissime facias exopto, et, quod idem subiungit, „funde merum Genio“ [Pers. 2.1 und 3]. Hic forsitan quis quaerat, quid causae sit, ut merum fundendum Genio, non hostia faciendum putaverit. Quod scilicet, ut Varro testatur in eo libro, cui titulus est Atticus et est de numeris [= frg. I Riese 1865, p. 247], id moris institutique maiores nostri tenuerunt, ut, cum die natali munus annale Genio solverent, manum a caede ac sanguine abstinerent, ne die, qua ipsi lucem accepissent, alii demerent.

Nun soll, weil das Buch den Titel Über den Geburtstag trägt, der Anfang mit feierlichen Wünschen gemacht werden: Denn Persius sagt: „Zähle diesen Tag mit einem besseren Zählstein!“ Das mögest du noch sehr oft tun, und auch das, was derselbe Dichter hinzufügt: „opfere dem Genius Wein!“ Hier wird vielleicht jemand fragen, was der Grund dafür sei, dass der Dichter glaubt, man müsse dem Genius Wein spenden und nicht ein Schlachtopfer erbringen. Der Grund dafür ist, wie Varro in jenem Buch darlegt, das den Titel Atticus trägt und über Zahlen handelt, folgender: Unsere Vorfahren hielten an diesem Brauch und an dieser Einrichtung fest, damit sie, wenn sie dem Genius das jährliche Opfer darbrachten, ihre Hände vom Schlachten und Blutvergießen fernhielten, um nicht an dem Tag, an dem sie selbst das Licht der Welt erblickt hatten, anderen das Leben zu nehmen.

Cens. 2.1–2

Den Ausführungen über das Weinopfer für den Genius folgt eine kurze Darstellung seines Wesens und seiner Funktion (Cens. 2.3: quis sit Genius, curve eum potissimum … veneremur [„wer der Genius ist und warum wir vor allem ihn verehren“]), die mit Hilfe einer Etymologie und weiterer Informationen aus der gelehrten Literatur (unter anderem Granius Flaccus’ De indigitamentis) erläutert wird (Cens. 3.1–5). Es folgt ein längerer Exkurs über den Ursprung der Menschheit, in dem neben den Ansichten griechischer Philosophen auch die Ursprungslegenden namenloser „Herkunftsforscher“ (genealogoe auctores) dargelegt werden (4.1–12). So bestimmt die Frage nach den hintergründigen causae wesentliche Partien des ersten Werkteils, aber auch im zweiten Teil führt der Autor seine Leser immer wieder erläuternd in die Welt altrömischer Lebens- und Zeitordnungen zurück.

Trotz ihrer unbestreitbaren Bedeutung stellt die Ursprungsforschung letztlich nur einen Teilaspekt des für Caerellius zusammengetragenen Bildungswissens dar. Die Geburtstagsschrift verdeutlicht damit exemplarisch, wie noch in der Mitte des dritten Jahrhunderts durch kluge und kreative Kompilation der älteren Literatur eine neue – auch ästhetisch motivierte – Sinnbildung antiquarischer Wissensbestände möglich war und für die Lektüre innerhalb eines dafür empfänglichen bildungsbeflissenen Milieus fruchtbar gemacht werden konnte.

6.3.1.6 Kulturaitiologische und heurematographische Sammlungen

Kategorienübergreifende Sammlungen, die sich außerhalb des engeren fachwissenschaftlichen Rahmens befinden und einem breiteren Publikum ausgewählte antiquarische Wissensbestände in Vers oder Prosa präsentieren, sind in der Kaiserzeit vor allem in der Heurematographie fassbar. Kontinuität ist zwar auch für die aitiologische Lehrdichtung hellenistisch-augusteischer Prägung anzunehmen, doch ist die Indizienlage hier äußerst dünn. An hexametrische Lehrdichtung im Sinne von Plutarchs Quaestiones Romanae wurde bei Albinus’ Res Romanae (FPL Blänsdorf p. 374 f. = Courtney p. 425 f.) gedacht.706 Nur ein Fragment ist auf uns gekommen:

‚cui‘ quoque inveniuntur quidam bissyllabe protulisse per diaeresin, ut Albinus Rerum Romanarum I:

Ille, cui ternis Capitolia celsa triumphis
sponte deum patuere, cui freta nulla repostos
abscondere sinus, non tutae moenibus urbes.

cui findet sich bei einigen auch zweisilbig durch Diärese gedehnt, wie bei Albinus im 1. Buch der Res Romanae:

„Er, dem der Wille der Götter dreimal das hohe Kapitol zum Triumph öffnete, vor dem keine Meerenge einen entlegenen Zufluchtsort verbarg, keine Stadt hinter ihren Mauern sicher war.“

Prisc. inst. 7.22 GL 2, 304, 22–24

Die drei Verse besingen in hymnischem Ton den siegreichen Feldherrn Pompeius. Kontrastierend zum Lobgesang könnte im weiteren Verlauf des Gedichts die Schilderung seines schmachvollen Todes gestanden haben.707 Dies scheint jedoch – wie bei den Res Romanae des augusteischen Dichters Cornelius Severus – eher auf ein historisches Epos als auf eine Aitiendichtung hinzudeuten.

Während die in der griechischen Literatur der klassischen und hellenistischen Zeit in beträchtlicher Zahl belegten Peri heurematon-Schriften mit großer Wahrscheinlichkeit eigenständige Abhandlungen waren (siehe oben Kap. 5.2.), ist die kaiserzeitliche Heurematographie ausschließlich als Bestandteil größerer literarischer Einheiten überliefert.708 Ergänzt wird das Korpus durch vereinzelte Zeugnisse in dokumentarischer Überlieferung, jedoch ebenfalls nicht in eigenständiger Form, sondern im Rahmen polythematischer Wissenslisten.709 Dieser Befund hat die Forschung zu vorschnellen texttypologischen Rückschlüssen auf die antike Heurematographie verleitet, doch erweisen sich die kaiserzeitlichen Erfinderkataloge bei näherer Betrachtung als das Ergebnis eines zweckorientierten, mehrstufigen Kompilations- und Selektionsprozesses, der das in ihnen gespeicherte Wissen in dekontextualisierter Form einem unterschiedlichen Leserkreis in variablen Argumentations- und Wirkungszusammenhängen präsentierte.710 Dabei sind drei Ebenen zu unterscheiden: (1) Formal stellt die bei Plinius dem Älteren, Klemens von Alexandrien und anderen repräsentierte Struktur der Wissensvermittlung eine katalogartige, mehr oder weniger systematisierte Darstellungsform dar. (2) Inhaltlich offenbaren Mehrfacherklärungen und Harmonisierungsbestrebungen die Überlagerung und Verschmelzung unterschiedlicher Traditionsschichten und Diskurszusammenhänge. (3) Funktional sind die erhaltenen Erfinderkataloge enzyklopädisch-informativen, apologetisch-argumentativen und didaktisch-erklärenden Zusammenhängen zugeordnet. Damit soll nicht gesagt werden, dass katalogartige Sammlungen in der Kaiserzeit nicht eine typische Darstellungsform heurematographischer Wissensbestände gewesen wären, doch sollte man sich aufgrund der einseitigen Überlieferung davor hüten, den Texttyp des Katalogs in dieser Funktion zu verabsolutieren. Denn die Frage nach der medialen Repräsentation ist auch hier eng mit der Frage nach den produktions- und rezeptionsästhetischen Verwendungszusammenhängen verknüpft. Dies zeigt schon das karge Gewand, in dem sich die literaturinternen Erfinderkataloge präsentieren. Nachfolgend sind fünf beliebige Beispiele aufgeführt:

Aes conflare et temperare Aristoteles Lydum Scythen monstrasse, Theophrastus Delam Phrygem putant, aerariam fabricam alii Chalbybas, alii Cyclopas, ferrum Hesiodus in Creta eos qui vocati sunt Dactyli Idaei. Argentum invenit Erichthonius Atheniensis, ut alii, Aeacus; auri metalla et flaturam Cadmus Phoenix ad Pangaeum montem, ut alii, Thoas aut Aeacus in Panchaia aut Sol Oceani filius, cui Gellius medicinae quoque inventionem ex metallis assignat.

Erz zu schmelzen und zu legieren hat nach Aristoteles der Lyder Scythes, nach Theophrast der Phrygier Delas gelehrt; die Metallverarbeitung nach den einen die Chalbyber, nach den anderen die Kyklopen; das Eisen nach Hesiod die sogenannten idäischen Daktyler [„Fingerlinge“]. Das Silber hat der Athener Erichthon entdeckt, andere meinen Aiakos; den Abbau und das Schmelzen von Gold der Phönizier Kadmos am Berg Pangaion, andere meinen Thoas oder Aiakos in Panchaia, oder Sol, der Sohn des Okeanos, dem Gellius auch die Erfindung der Medizin aus Mineralien zuschreibt.

Plin. nat. 7.197

Τελμησσέων μὲν γὰρ οἱ δοκιμώτατοι τὴν διὀνείρων ἐξεῦρον μαντικήν, Κᾶρες τὴν διὰ τῶν ἄστρων πρόγνωσιν, πτήσεις ὀρνίθων Φρύγες καὶ Ἰσαύρων οἱ παλαίτατοι, Κύπριοι θυτικήν, ἀστρονομεῖν Βαβυλώνιοι, μαγεύειν Πέρσαι, γεωμετρεῖν Αἰγύπτιοι, τὴν διὰ γραμμάτων παιδείαν Φοίνικες.

Bei den Telmissern haben die herausragendsten Männer die Traumweissagung entdeckt, die Karer die Sternenprognostik, die Deutung des Vogelflugs die Phryger und in uralter Zeit die Isaurier, die Kyprier die Opferschau, die Sternkunde die Babylonier, das Zaubern die Perser, die Landvermessung die Ägypter, die Buchstabenlehre die Phönizier.

Tatian. or. ad Graec. 1.1

Εἰσὶν δὲ οἳ Κᾶρας [οἳ] τὴν διἀστέρων πρόγνωσιν ἐπινενοηκέναι λέγουσιν. Πτήσεις δὲ ὀρνίθων παρεφυλάξαντο πρῶτοι Φρύγες, καὶ θυτικὴν ἠκρίβωσαν Τοῦσκοι, Ἰταλίας γείτονες. Ἴσαυροι δὲ καὶ Ἄραβες ἐξεπόνησαν τὴν οἰωνιστικήν, ὥσπερἀμέλειΤελμισεῖς τὴν διὀνείρων μαντικήν.

Einige sagen, die Zukunft anhand der Gestirne zu erforschen, haben sich die Karer ausgedacht. Die Phryger achteten als erste auf den Vogelflug. Die Weissagung durch Opfer wurde von den Etruskern, den Nachbarn Italiens, entwickelt. Die Isaurier und die Araber haben die Auspizien hervorgebracht und die Telmisser die Traumweissagung.

Clem., strom. 1.16.74.3–5

Cadmus Agenoris filius aes Thebis primus inventum condidit, Aeacus Iovis filius in Panchaia in monte Taso aurum primus invenit. Indus rex in Scythia argentum primum invenit quod Erichthonius Athenas primum attulit.

Kadmus, der Sohn des Agenor, formte als erster die von ihm entdeckte Bronze in Theben. Aiakos, der Sohn des Zeus, entdeckte als erster Gold in Panchaia auf dem Berg Tasus. König Indus von Skythien entdeckte als erster das Silber, welche Erichthonius als erster nach Athen brachte.

Hyg. fab. 274.4

Inventor autem testudinis Artemon Clazomenius fertur, idemque arietis repertor dicitur. Scuta aerea gestare Curetes primi invenerunt. Galea Thracicum tegmen est. Thoraces Thorax quidam rex dicitur invenisse. Lycaon Arcas gladium longiore lamina produxisse narratur. Peleus primus machaeram dicitur invenisse. Harpen, id est curvum gladium in modum falcis, a Perseo inventam multi dixerunt.

Als Erfinder des Schutzdachs gilt Artemon von Klazomenai, derselbe soll auch Erfinder des Sturmbocks sein. Das Tragen eherner Schilde haben die Kureter als erste erfunden. Der Helm ist [ursprünglich] ein Schutz der Thraker. Brustpanzer soll ein gewisser König Thorax erfunden haben. Man erzählt, Schwerter mit längerer Klinge habe der Arkadier Lykaion [als erster] hergestellt. Die Machaira soll Peleus als erster erfunden haben. Viele behaupten, die Harpe, das ist ein nach Art einer Sichel gekrümmter Säbel, habe Perseus erfunden.

Serv. auct. Verg. Aen. 9.503

Bei den fünf angeführten Beispielen handelt es sich um Listen der rudimentärsten Art, die in knapper Form ein Höchstmaß an Informationen bereitstellen. Für eine ausführlichere Darstellung, die unter anderem Quellenbelege oder Begründungen anführen würde, fehlt diesen Texten der Anlass und die Intention: Die parataktische Aufzählung ist für Plinius’ Monumentalprogramm einer enzyklopädischen Welterfassung ebenso wie für Klemens’ oder Tatianos’ apologetisch-argumentative Ziele hier das adäquate Darstellungsmittel.711 In Hygins Fabulae (oder Genealogiae) sind Listen dieser Art ein dominierendes Darstellungsprinzip, um Bildungswissen in leicht memorierbarer Form zu präsentieren.712 Ähnliches gilt sinngemäß für den erweiterten Vergilkommentar des Servius sowie für die dokumentarisch überlieferten Wissenslisten, in denen nach dem Muster von Hygin (Fabulae 264–277) Heuremata neben anderen Wissensbeständen aufgeführt werden. In diesem Zusammenhang muss noch einmal betont werden, dass diese Art der Katalogisierung einer gängigen Praxis antiker Wissensbewältigung entsprach.713 Die überlieferten Heuremata-Kataloge spiegeln somit in erster Linie zeitgenössische Kompilations- und Wissensvermittlungspraktiken wider und erst in zweiter Linie einen Texttyp der protos heuretes-Frage.714

Eine andere Ausgangslage wird für die eigenständigen Heuremata-Schriften anzunehmen sein. Ohne ausschließen zu wollen, dass es unter ihnen seit hellenistischer Zeit auch katalogartige „Materialsammlungen trockenster Art“ (Kleingünther) gegeben hat, sprechen Indizien für die Existenz weiterer im Umlauf befindlicher heurematographischer Texttypen. Zunächst ist nämlich schwer vorstellbar, wie man nach dem plinianischen Modell mehrere Buchrollen715 hätte füllen können: Selbst bei einer Verzehnfachung des von ihm gebotenen Materials, das – seinem enzyklopädischen Anspruch folgend – immerhin über zweihundert Erfindungen aus allen erdenklichen Bereichen umfasst, würde man gerade einmal den Mindeststandard einer Prosarolle erreichen. Es ist daher anzunehmen, dass die einzelnen Erfindungen in längere narrative Passagen eingebettet waren, in denen mythologisch-aitiologische Zusammenhänge erläutert und etymologische, genealogische und dokumentarische Begründungen und Belege angeführt wurden.716 Auch euhemeristische Ansätze könnten hier eine Rolle gespielt haben, wie ein Eintrag bei Plinius zeigt (nat. 7.191): Ceres frumenta [sc. invenit], ob id dea iudicata („Ceres entdeckte das Getreide, deshalb hielt man sie für eine Göttin“).717 Die Spuren einer rational-spekulativen Heuristik, der in der Antike trotz aller Skepsis ein wissenschaftlicher Erkenntniswert zugeschrieben wurde, sind nicht nur in den Fragmenten, sondern auch in den kaiserzeitlichen Katalogen noch deutlich zu erkennen: Etymologisches findet sich bei Skamon (FGrHist 476 F 2), Plinius (nat. 7.194; 7.203), Hygin (fab. 274.1) und im erweiterten Vergilkommentar des Servius (Serv. auct. Verg. Aen. 9.503); Aitiologisches bei Hygin (fab. 274.10–13) und Gregor von Nazianz (orat. 4.108); Dokumentarisches bei Plinius (nat. 7.210; 7.212).

Da Heuremata-Schriften nicht monothematisch, sondern ganz offensichtlich als Sammlungen von Erfindungen angelegt waren, legen die bisherigen Ausführungen die Hypothese nahe, dass diese Werke eine in der Makrostruktur nach thematischen Gesichtspunkten (z. B. Zeit- und Kalenderwesen, Technologien, Künste usw.718) systematisierte Kette von heurematographischen Kausalnarrativen umfassten, die in der Mikrostruktur jeweils einem weitgehend chronologischen Darstellungsprinzip folgten. Mit einem Seitenblick auf die antiquarische Fachliteratur ist darüber hinaus vorstellbar,719 dass der Darlegung des Stoffes theoretische Ausführungen vorausgingen, etwa zum Zusammenhang zwischen Erfindungen und menschlicher necessitas/utilitas (χρεία) oder zur vermuteten Vorbildfunktion der Natur im Erfindungsprozess.720 Denkbar wäre auch eine Stellungnahme des Autors zum gängigen heuresis-mimesis-Modell,721 das in Bezug auf Erfindungen den Vorrang der „Barbaren“ unterstellte und in dieser Form von der jüdischen und christlichen Apologetik bereitwillig übernommen wurde.722 Die Römer hat die griechische Mimesis-Theorie auch im Zuge ihrer eigenen kulturellen und identitären Auseinandersetzung mit den Griechen beschäftigt.723 Bei solchen grundsätzlichen Fragen hatten unterschiedliche Auffassungen offenbar gelegentlich polemische Reaktionen und Gegenpositionen zur Folge.724

Diese Überlegungen schließen die Existenz gesonderter katalogartiger Heuremata-Sammlungen allerdings nicht aus. In diesem Zusammenhang ist ein Blick auf mythographische Listen aufschlussreich. Diese weisen aufgrund der Allgegenwart mythologischer Inhalte in der griechisch-römischen Kulturwelt eine ähnlich komplexe Quellenproblematik auf und stehen häufig in vergleichbaren Wissenszusammenhängen wie Heuremata, verfügen aber über ein ungleich breiteres und besser überliefertes Korpus. Relevant ist hier besonders eine Reihe von eigenständig überlieferten Katalogen unterschiedlichen Komplexitätsgrades, die von genealogischen Namenslisten über kurze Zusammenfassungen von Mythemen bis hin zu umfangreicheren Kompendien reichen.725 Einen Mittelweg schlägt ein Papyrusfragment aus dem späten zweiten oder frühen dritten Jahrhundert n. Chr. ein, das Reste eines alphabetisch geordneten „Lexikons“ mit mythologischen Verwandlungssagen enthält:

Ἀκταίων ὁ Ἀρισταί[ο]υ καὶ Αὐ[τονόης, τῶν Σεμέ-
λης ἐφιέμενος γάμων αυτ[
το πρὸς τοῦ μητροπάτορο[ς μετεμορ-
φώθη εἰ[ς] ἐ̣λάφου δόκησιν διὰ βο[υλὴν] Ἀ̣ρτέμ̣[ι-
δος κα̣ὶ διεσπαράσθη ὑπὸ τῶν ἑ[α]υτ[οῦ] κυνῶν, [ς
φησ̣ιν Ἡσίοδ̣ο̣ς ἐν Γυναικῶν̣ Κα[τ]α̣λ̣[]γωι.

Actaion, der Sohn des Aristaios und der Autonoe, begehrte die Ehe mit Semele, … vom Vater seiner Mutter … wurde verwandelt in die Gestalt eines Hirsches durch den Willen der Artemis und von seinen eigenen Hunden zerrissen, wie Hesiod im Katalog der Frauen sagt.

Ἀρέθουσα θυγατὴρ μὲν Ὑπέρ[ο]υ̣, Π[οσ]ε̣ι̣[δῶνι δὲ συν-
ελθοῦσ[α] κατ̣ὰ̣ τὸν Βοϊκον Εὔριπον, [εἰς κρήνην
ἠλλάγη ἐν Χ̣[αλκίδι] ὑπ̣ὸ [τῆς] Ἣρ̣α̣ς, ὡς Ἡσίοδος ἱστορε[

Arethusa, die Tochter des Hyperos, die mit Poseidon in der euböischen Gegend des Euripus das Lager teilte, wurde auf Chalkis von Hera in eine Quelle verwandelt, wie Hesiod berichtet.

Αἴθυαι Ἁλιάκμονος τοῦ Ἁλιάρτου θυγατ[έρες
ἑπτὰ τὸν ἀριθμὸν θρηνοῦσαι τὴν Ἰνὼ μ[ετε-
μορφώθησαν ὑπὸ Ἣρας εἰς
παρΑἰσχύλωι καλοῦνται μισοκόρων[οι]

Die Aithyien, Töcher des Haliakmon, des Sohns des Haliartos, sieben an der Zahl, als sie Ino beklagten, wurden sie von Hera verwandelt … werden von Aischylos Misokoronoi genannt.

P. Mich. inv. 1447, col. II726

Der kurze Ausschnitt verdeutlicht die einheitliche Struktur der alphabetisch geordneten Lemmata: Auf den Namen und die genealogische Bestimmung folgt eine kurze Verwandlungssage der genannten Person(en); am Ende steht der Hinweis auf einen Dichter, der die Autorität des Eintrages verbürgt. Das Beispiel illustriert, wie ein bestimmter Typ von eigenständigen Heuremata-Katalogen ausgesehen haben könnte. Ansätze einer alphabetischen Ordnung lassen sich für eine der Vorlagen von Klemens’ Stromata rekonstruieren.727 Strukturelle Parallelen (Name, Genealogie, Sage) finden sich in den thematisch geordneten Einträgen des Hygin:

Midas rex Cybeles filius Phryx plumbum album et nigrum primus invenit. […] Phoroneus Inachi filius arma Iunoni primus fecit, qui ob eam causam primus regnandi potestatem habuit. Chiron Cenaurus Saturni filius, artem medicinam chirurgicam ex herbis primus instituit.

Der phrygische König Midas, Sohn der Kybele, entdeckte als erster Zinn und Blei. […] Phoroneus, Sohn des Inachus, hat als erster Waffen für Juno gefertigt und wurde deshalb der erste, dem die Macht zu herrschen verliehen wurde. Der Kentaur Chiron, der Sohn des Saturn, hat als erster die auf Pflanzen beruhender chirurgische Medizin eingeführt.

Hygin. fab. 274.8–9

Wissenslisten dieser Art scheinen in der Kaiserzeit in großer Zahl im Umlauf gewesen zu sein.728 Die thematische Vielfalt der papyrologischen Zeugnisse ist beachtlich: Neben Verwandlungen und Heuremata finden sich Kataloge von Musen (P. Stras. W.G. 332), Kindsmörderinnen (P. Oxy. 62, 4307) oder Listen mit den Namen von Inseln, Städten, Bergen und Quellen (P. Berol. 13044r). Separate Listen wie in P. Mich. inv. 1447 kursierten neben polythematischen Katalogsammlungen in der Art wie sie L. Ampelius im 3. Jahrhundert n. Chr. zu einem didaktischen „Gedächtnisbuch“ (Liber memorialis) zusammengestellt hatte.

Ein anschauliches Beispiel für eine monothematische Wissensliste in Werkgröße, die gattungsmäßig unklar zwischen naturwissenschaftlicher Katalogschrift und aitiologischem Onomastikon changiert, ist die in der handschriftlichen Überlieferung Plutarch zugeschriebene Monobiblos Über die Benennung von Flüssen und Bergen und der in ihnen gefundenen Dinge (Περὶ ποταμῶν καὶ ὄρων ἐπωνυμίας καὶ τῶν ἐν αὐτοῖς εὑρισκομένων; im Folgenden De fluviis).729 Datierung und Autorschaft sind unklar. Die Communis opinio entscheidet sich für ein Pseudepigraph des späten zweiten oder frühen dritten Jahrhunderts, doch liegt der Terminus ante quem mit Stobaios erst im fünften Jahrhundert.730 In struktureller Hinsicht lassen sich wiederum auffällige Parallelen zum mythographischen Lexikon in P. Mich. inv. 1447 feststellen: In den insgesamt 25 Kapiteln werden die Flüsse Asiens, Thrakiens und Griechenlands in der Weise beschrieben, dass zunächst immer die Aitiologie des Namens (meist ein erotischer Mythos), dann die seltsamen Steine oder Pflanzen besprochen werden, die sich im oder am Fluss befinden (formelhaft: γεννᾶται δὲ ἐν αὐτῷ λίθος [„hervorgebracht wird in ihm ein Stein“]). Schließlich werden auch die angrenzenden Berge (wiederum formelhaft: παράκειται / ὑπόκειται δὲ αὐτῷ ὄρος [„neben / über ihm liegt der Berg“]), die Aitiologie ihres Namens und dort vorkommende seltsame Steine oder Metalle erwähnt.731 Als Belege werden zahlreiche Quellenautoren angeführt, deren Authentizität in der Forschung jedoch in vielen Fällen angezweifelt wird.732

Die engen Verbindungslinien zwischen den verschiedenen Wissenslisten dieser Art, dem literarischen Kanon und dem antiken Bildungssystem sind offensichtlich. Derartige Kataloge sind Inventarlisten im „Kulturarchiv des Wissens“, die dieses Wissen ordnen, validieren und verfügbar machen. Ihre Inhalte spiegeln einen Bildungsschatz wider, der zu unterschiedlichen didaktischen, literarisch-rhetorischen, kulturellen oder sozialen Anlässen zur Geltung gebracht werden konnte.

Diese summarischen Ausführungen verdeutlichen, dass die Heurematographie in der antiken Wissens- und Bildungskultur in literarisch vielfältigen Kontextualisierungen präsent war. Der Texttyp des Katalogs tritt dabei als eine überlieferungsbedingt bedeutsame, aber keineswegs singuläre Form der medialen Kodifizierung heurematographischer Wissensbestände in Erscheinung.

Die Einbettung von Erfinderkatalogen in die Literatur der Kaiserzeit erlaubt darüber hinaus gewisse Rückschlüsse auf die Relevanz und mögliche Rezeptionsräume heurematographischer Wissensbestände innerhalb der Bildungskultur dieser Epoche. Ausgangspunkt solcher Überlegungen ist die Katalogisierungsform in ihrer Funktion als verdichtende und kompilierende Zusammenstellung bestimmter als relevant erachteter Wissensbestände. Eine Liste ist funktional betrachtet zunächst ein Ordnungsmittel. Katalogartige Aufzählungen sind in der Regel das Ergebnis einer sekundären Wissenskompilierung, bei der gleichartige Elemente in horizontaler oder vertikaler Richtung (das heißt nach thematischen oder chronologischen Kriterien) gruppiert werden.733 Diese pragmatische Art der Wissensbewältigung, die, wie bereits erwähnt (siehe oben S. 84), eng mit der Entwicklung des Bibliothekswesens und der Verfügbarkeit großer Buchbestände zusammenhängt, fand in der kaiserzeitlichen Literaturpraxis breite Anwendung.

Im Spektrum möglicher Erscheinungsformen der Wissensverdichtung (mittels der Techniken der Kompilation und der Epitomisierung) zeichnet sich der Texttyp des Katalogs vor allem dadurch aus, dass Komplexität reduziert wird, indem bestimmte Wissensbestände aus ihren Kontexten herausgelöst und in eine neue, überschaubare Ordnung gebracht werden.734 Auch hier erweist sich das Phänomen der Mehrfacherklärung (zum Beispiel Plin. nat. 7.197: alii … alii; ut alii … ut alii) als eine natürliche Folge der Wissenskompilation und damit als Teil des impliziten Vertrags zwischen Text und Leser.735 Da der Bezug zu den exzerpierten Vorlagen in der Regel durch para- oder metatextuelle Signale aufrechterhalten wird, stellen sich auch keine grundsätzlichen Fragen hinsichtlich der Autorität oder dem Wahrheitsgehalt der präsentierten Informationen.

Derselbe Vorgang liegt auch den erhaltenen literaturinternen Erfinderkatalogen zugrunde:736 Die summarische Aufzählung von protoi heuretai bei Plinius oder Hygin wird von den kaiserzeitlichen Rezipienten als Ergebnis einer kontextpragmatischen Wissensverdichtung wahrgenommen und in diesem Sinne inhaltliche Autorität zugewiesen. Genau dieses ordnende, auf Komplexitätsreduktion ausgerichtete Sammeln (und Validieren) von Wissen ist letztlich auch der Dienst, den die jeweiligen Autoren dem Leser erweisen wollten. Inwieweit dabei Vollständigkeitsansprüche suggeriert und Kanonisierungen vorgenommen wurden, ist im Einzelfall zu klären. Bei Tatian, Klemens und der christlichen Apologetik stehen die Kataloge zwar in einem etwas anderen literarischen Zusammenhang, aber auch hier wird impliziert, dass es sich um eine verlässliche, kontextadäquate Verdichtung etablierter Wissensbestände handelt. Ob die Kataloge im Einzelfall in toto aus einer Vorlage übernommen wurden oder das Ergebnis einer eigenständigen Zusammenstellung waren, ist dabei unerheblich, da dies nur die individuelle Arbeitsweise der Kompilatoren, nicht aber den Verdichtungsprozess an sich betrifft.

6.3.2 Kontinuität und neue Sinnbildungen: Antiquarianismus in der Literatur und Bildungskultur der Kaiserzeit

Im begrenzten Rahmen dieser Untersuchung kann es nicht darum gehen, die vielfältigen und vielschichtigen Erscheinungsformen des antiquarischen Denkmodells in der kaiserzeitlichen Literatur im Einzelnen nachzuzeichnen. Stattdessen wird in den folgenden beiden Abschnitten ein summarischer Einblick in mögliche Wirkungs- und Erscheinungsformen des kaiserzeitlichen Antiquarianismus innerhalb ausgewählter literarischer Kontexte gegeben.

Die wissensgeschichtliche Entwicklung dieser Epoche ist in den Grundlinien noch zur Genüge erkennbar: Der antiquarische Wissensvorrat, der sich in zahlreichen Spezialtraktaten und den großen Synthesen der spätrepublikanisch-augusteischen Zeit angesammelt hatte, wurde zerstreut und in verschiedenen literarischen Kontexten neu akkumuliert, wo er auf unterschiedliche Weise aktualisiert, ergänzt und damit neu validiert wurde. Teilweise bildeten sich thematische „Knäuel“ wie in der Jurisprudenz oder in der Grammatik, teilweise sind ganze Abschnitte antiquarisch geprägt, etwa in Plinius’ Heurematographie in nat. 7.191–215 oder in den einleitenden disziplingeschichtlichen Abschnitten römischer Fachschriften über Architektur, Medizin und Wasserbau.737 Diese allgemeine Feststellung wird im vorliegenden Kapitel zunächst am Beispiel einiger historisch orientierter Literaturgattungen summarisch verdeutlicht (1). Besonders die enzyklopädische und eklektisch-poikilographische Bildungsliteratur zeichnet sich durch eine von Fall zu Fall unterschiedlich gewichtete Akzentuierung antiquarischer Wissensbestände aus. In einem zweiten Schritt werden daher mit Suetons Pratum, Gellius’ Noctes Atticae und Plutarchs Quaestiones Romanae drei unterschiedliche Modi kaiserzeitlicher Wissensbewältigung mit einer klaren antiquarischen Akzentuierung exemplarisch analysiert (2). Ziel dieser Erörterungen ist es, die epochale Charakteristik der Kaiserzeit im Hinblick auf den Antiquarianismus zu skizzieren und dabei einige zentrale Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur vorhergehenden Epoche herauszuarbeiten.

6.3.2.1 Historiographie, Ethnographie, Geographie und historische Periegese

Seit den Anfängen der römischen Geschichtsschreibung im ausgehenden dritten Jahrhundert v. Chr. gehörte die historisierende Gegenwartsdeutung zu den spezifischen Merkmalen dieser Gattung (siehe oben S. 204–214).738 Mit dem Aufkommen einer antiquarischen Fachliteratur nahm dann in der Späten Republik der Anteil antiquarischen Spezialwissens innerhalb der die res gestae behandelnden Geschichtswerke im Vergleich zur vorklassischen Zeit deutlich ab. In Einzelfällen scheint diese Entwicklung in der Kaiserzeit wieder rückgängig gemacht worden zu sein: Während die römische Geschichtsschreibung der frühen und hohen Kaiserzeit im Wesentlichen den Gattungslinien der Späten Republik folgte, ergaben sich sowohl innerhalb als auch an der Peripherie der etablierten Gattungstypen – das heißt der Annalistik, der monographischen Zeitgeschichte, der Universalgeschichte, der Vergangenheitsgeschichte sowie der Memoiren- und Biographienliteratur – zwangsläufig epochenspezifische Akzentuierungen. Die für unsere Untersuchung relevante Entwicklung betrifft ein Interesse an curiosa, mirabilia und antiquarischen Wissensbeständen, das in den Fragmenten einiger kaiserzeitlicher Historiker in auffallender Weise zum Vorschein kommt. Am Beispiel des Fenestella wurde bereits diskutiert, inwieweit diese Tendenz als Ergebnis überlieferungsbedingter Selektionsprozesse zu interpretieren ist (siehe oben Kap. 3.3.). Das bei dieser Gelegenheit geäußerte methodische Caveat schließt jedoch nicht aus, dass solche Werke tatsächlich von einem dezidierten Interesse an antiquarischen Details geprägt waren, zumal sich ähnliche Tendenzen bereits in der Historiographie des zweiten Jahrhunderts v. Chr. abzeichneten. Allerdings sind auch dort überlieferungsgeschichtliche Faktoren zu berücksichtigen. Dennoch sollte angesichts des breiten Spektrums der historiographischen Literatur die Existenz einer antiquarisch akzentuierten Geschichtsschreibung für die Kaiserzeit nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Inwieweit diese Wissensbestände wie bei Livius, Sallust oder Tacitus in Exkursen behandelt oder aber kontinuierlich in die Erzählung integriert waren, ist nicht mehr ersichtlich. Um welche Werke es sich im Einzelfall handelte, lässt sich aufgrund der bruchstückhaften Überlieferung ebenfalls nicht mehr eindeutig feststellen. Für die vorliegende Fragestellung ist zudem problematisch, dass für einzelne Autoren zwar antiquarische Wissensbestände belegt sind, aber ohne dass dahinter ein klarer kausal-explikativer Gegenwartsbezug erkennbar wäre.

Als Vertreter einer „antiquarischen Geschichtsschreibung“ wird neben Fenestella auch der nicht eindeutig identifizierbare Granius Licinianus (Mitte 2. Jhd. n. Chr.?) angesehen.739 Fragmente aus den Büchern 26–36 deuten auf ein umfangreiches Geschichtswerk in annalistischer Tradition. An zwei Stellen verweist der Autor programmatisch auf seine wohl im Proömium geäußerte Entscheidung, auf Exkurse (auch kulturgeschichtlicher Art) verzichten zu wollen,740 doch lassen die Fragmente des Codex unicus (British Library, Add MS 17212) gleichwohl ein Interesse an mirabilia und antiquarischen Wissensbeständen erkennen.741 Von einer antiquarischen Akzentuierung im eigentlichen Sinne finden sich im überlieferten Material jedoch keine eindeutigen Spuren. Einen möglichen Hinweis liefert ein Testimonium bei Macrobius (Macr. Sat. 1.16.30 = T1A Criniti 1981): Causam vero huius varietatis [sc. der Bedeutung der nundinae] apud Granium Licinianum libro secundo diligens lector inveniet („Den Grund aber für diese abweichenden Meinungen findet der aufmerksame Leser im zweiten Buch des Granius Licinianus.“). Die Stelle, auf die Macrobius hier verweist, muss aber nicht zwingend aus dem Geschichtswerk stammen, zumal Granius Licinianus bei Servius (zu Verg. Aen. 1.737) als Verfasser einer Cena genannt wird, deren Werkcharakter (eine Miszellanschrift? eine antiquarische Spezialabhandlung?) völlig unklar ist.742

Nur durch Plinius ist ein Fabius Vestalis bekannt, der in Naturalis historia 7.213 als Gewährsmann für den ersten Römer genannt wird, der eine Sonnenuhr aufstellen ließ. Nach den Quellenangaben zu Buch 35 scheint er auch über Malerei geschrieben zu haben, ob in monographischer Form oder – wie Peter vermutete – in einem Geschichtswerk ist nicht zu klären.743 Bardon wollte auch Cornelius Bocchus, der von Plinius für spanische Merkwürdigkeiten zitiert wird, als Historiker vom Typus des Fenestella sehen, aber die wenigen Fragmente und Testimonien deuten eher auf eine geographisch-paradoxographische Schrift hin.744

Nur ein Fragment über karthagische Menschenopfer für Saturn ist aus den Historiae (per saturam?) des Pescennius Festus erhalten.745 Trotz des Titels, bei dem Kroll an eine Übersetzung von ποικίλη ἱστορία dachte, lassen sich keine Aussagen über den Werkcharakter und die Ausrichtung der Schrift machen.746

Diskussionswürdig sind Vermutungen über eine mögliche antiquarische Akzentuierung in den für Ti. Claudius Nero Germanicus (Kaiser Claudius) belegten Geschichtswerken in lateinischer und griechischer Sprache, auch wenn die Überlieferung hier nur indirekte Hinweise liefert. Claudius hat sich in seinen Reden und Edikten sowie in mindestens einer antiquarischen Fachschrift (siehe oben S. 433–435) öffentlich als Kenner der frühen Geschichte, insbesondere der res Etruscae, inszeniert. Auch seine bekannte Gallier-Rede legt nahe, dass er seine altertumskundlichen Studien als historisierende Gegenwartsdeutung politisch zu nutzen wusste.747

Ein antiquarisches Interesse zeigt sich auch in einer Reihe von Schriften, deren Werkcharakter allerdings aufgrund der spärlichen Zeugnisse weitgehend im Dunkeln bleiben muss. Inwieweit die für den Juristen Masurius Sabinus bezeugten libri memorialium gattungsmäßig in die weitere Tradition der Geschichtsschreibung beziehungsweise in die der libri rerum memoria dignarum des Verrius Flaccus einzuordnen sind, bleibt offen. Ähnlich unklar sind die Inhalte und die Gattungszugehörigkeit der Res reconditae des Serenus Sammonicus (um 200 n. Chr.), die nur bei Macrobius und Servius mit Titel zitiert werden.748 Der von Macrobius (Sat. 3.16.6) als bedeutender Gelehrter der Zeit des Septimius Severus (reg. 193–211 n. Chr.) vorgestellte Sammonicus befasste sich in diesem mindestens fünfbändigem Werk unter anderem mit Kultur- und Rechtsaltertümern und schrieb über alte Evokations- und Devotionsformeln (Macr. Sat. 3.9.6), weissagende Vögel (Serv. auct. Verg. Aen. 1.398), Blitzmale (Serv. auct. Verg. Aen. 2.649), die Etymologie des Capitols (das Grab des Olus Vulcetanus: Arnob. 6.7) sowie über die Insel Thule (Serv. auct. Verg. georg. 1.30) und den Idagipfel Gargara in Mysien (Serv. auct. Verg. georg. 1.102). Ob die Ausführungen über den Stör, den kaiserzeitlichen Tafelluxus und die lex Fannia von 161 v. Chr. (über Luxusbeschränkung), zu denen Macrobius in Sat. 3.16.5–9 und 3.17.4–5 längere Zitate aus Serenus Sammonicus anführt, ebenfalls aus dessen Res reconditae stammen, ist eher unwahrscheinlich, zumal in einem Fall die beiden Augusti, Septimius Severus und Caracalla, direkt angesprochen werden. Die Kommunikationssituation deutet jedenfalls auf eine andere literarische Einkleidungsform als die eines Traktats oder Geschichtswerks hin.749

In der umfangreichen ethnographisch-geographischen Literatur der Kaiserzeit lassen sich ähnliche Muster antiquarischer Wissensvermittlung wie in der historiographischen Literatur nachweisen.750 In diesem Diskursfeld waren, wie bereits erwähnt (S. 182–185, 194–196), altertumskundliche Wissensbestände zwar seit frühester Zeit ein integraler Bestandteil, doch war hier der Ausgangspunkt vieler Ausführungen über Herkunftsmythen, Sitten, Gesetze, Lebensweisen und Siedlungsräume verschiedener Völker sowie über geographische Landschaften und ihre Besonderheiten in der Regel nicht antiquarisch-explikativ, sondern vorwiegend deskriptiv-phänomenologisch. Das nur begrenzt antiquarische Fragespektrum und Erkenntnisinteresse der antiken Ethnographie verdeutlicht der Dichter Lucan in exemplarischer Weise, wenn er Caesar mit folgender Aufforderung an den ägyptischen Priester Acoreus herantreten lässt:

O sacris devote senex quodque arguit aetas,
non neglecte deis, Phariae primordia gentis
terrarumque situs volgique edissere mores
et ritus formasque deum; quodcumque vetustis
insculptum est adytis profer noscique volentes
prode deos.

O Greis, der du dem Opferdienst ergeben bist und, wofür dein Alter spricht, die Götter nicht vernachlässigst, berichte mir von den Anfängen des ägyptischen Volkes, von der Lage der Landesteile, von den Sitten seiner Bewohner und von den Riten und Gestalten der Götter! Sag mir, was auf den Wänden der alten Tempel eingeritzt ist, und nenne mir die Götter, die bekannt werden wollen!

Lucan. 10.177–181

Die Vergangenheit eines Volkes ist hier insofern von Interesse, als sie in einem kausalen Zusammenhang mit der Gegenwart steht.751 Dasselbe ethnographische Muster wiederholt sich in der Germania des Tacitus, deren vollständiger Titel wahrscheinlich De Germanorum origine et situ lautete.752 Trotz der prinzipiellen Berücksichtigung der Ursprünge ging es hier, wie in der antiken Ethnographie überhaupt, in erster Linie darum, das Zeitgenössische festzuhalten, ohne stets auf die historischen Wurzeln der beschriebenen mores et instituta einzugehen. Häufig wurden spezifische Besonderheiten überhaupt nicht in einen Zeithorizont eingeordnet oder es wurde über die Vergangenheit berichtet, als ob sie immer noch gültig wäre.753

Auch die fast vollständig erhaltene Erdbeschreibung (Γεωγραφία) des Strabon (um 60 v. Chr.–ca. 20 n. Chr.) war im Anschluss an die geographisch-historischen Untersuchungen des stoischen Universalgelehrten Poseidonios (um 135–51 v. Chr.) an den Kausalitäten der physischen Welt nur insoweit interessiert, als sie für die aktuelle Identität eines Ortes oder Volkes bedeutsam waren. In seiner die ersten beiden Bücher umfassenden Auseinandersetzung mit der geographischen Vorgängerliteratur kritisiert Strabon Poseidonios allerdings wegen dessen „Aristotelisierens“ (τὸ Ἀριστοτελίζον) in der Ursachenergründung (τὸ αἰτιολογικὸν), die dessen eigene Schule (das heißt die Stoa) wegen der Verborgenheit dieser Ursachen (διὰ τὴν ἐπίκρυψιν τῶν αἰτιῶν) grundsätzlich ablehnen würde.754 Soweit aus Strabons vorausgehender Diskussion erkennbar ist, scheint Poseidonios’ historisch fundierte Geographie grundsätzlich auch ethnographische Erklärungsansätze berücksichtigt zu haben, die den Zusammenhang zwischen klimatischen Bedingungen und menschlichen Lebensumständen betrafen.755 Obwohl Strabon seinerseits mehrfach betont, dass sich die Geographie mit der Gegenwart zu befassen habe (7.3.11; 9.4.18; 16.2.24), ist ein wesentlicher Teil seiner Erdbeschreibung in der einen oder anderen Weise mit der Vergangenheit befasst.756 So haben sich an den meisten Orten im Laufe der Zeit Landschaft, Bevölkerung, Lebensweise, Sprache und politische Systeme radikal verändert, was entsprechende Erläuterungen erforderlich machte.757 Zu den typischen Manifestationen der Vergangenheit in Strabons Werk gehört die Stadtgeschichte.758 Indem sich die Erzählung jeweils vornehmlich auf die entscheidenden historischen Phasen (Gründung, Neugründung, Umbenennung, Zerstörung etc.) konzentriert, übernimmt sie zumindest implizit eine gegenwartsbezogene Orientierungsfunktion. In einigen Fällen wird auch explizit ein Bezug zur Lebenswelt der kaiserzeitlichen Rezipienten hergestellt, etwa wenn der Kontrast zwischen dem einstigen Glanz einer Stadt und ihrer Bedeutungslosigkeit zur Zeit des Autors (und umgekehrt) betont wird. Gelegentlich wird der Gegenwartsbezug durch eine gelehrte etymologische Erläuterung noch zusätzlich bekräftigt (5.3.1): „Kyres ist heute ein kleines Dorf, war aber einst eine bedeutende Stadt, aus der die römischen Könige Titus Tatius und Numa Pompilius stammten – daher nennen die öffentlichen Redner die Römer auch Kyriten (= Quirites).“759 Der Zugang zur Vergangenheit ist hier vor allem deshalb antiquarisch, weil die Erzählung keine Orientierung in der Vergangenheit selbst bieten will, sondern diese vor allem im Hinblick auf gegenwartsbezogene Kausalitäten in den Blick nimmt. Die Gegenwart erscheint somit weniger als natürliche Folge eines kontinuierlich nachvollziehbaren historischen Prozesses, sondern vielmehr als Ergebnis einer kettenartigen Abfolge von Ereignissen und Zäsuren.760

Eine Entsprechung findet Strabons Vorgehen im geographisch-kulturgeschichtlichen Werk des Pausanias (Mitte 2. Jahrhundert n. Chr.), für dessen Reisebeschreibung Griechenlands (Titel nicht gesichert: Περιήγησις Ἑλλάδος) die ältere Forschung den nicht unproblematischen Begriff der „antiquarischen Periegese“ geprägt hat.761 Im Mittelpunkt des Interesses von Pausanias’ literarischen Reisen durch die Regionen des griechischen Festlandes steht die Vergangenheit, insbesondere in ihrer Bedeutung für die physisch wahrnehmbare Gegenwart.762 In Form einer Ich-Erzählung führt der Autor seine Leser in der Rolle eines Orts- und Sachkundigen durch die Denkmäler und Monumente der (vor allem frühen) griechischen Geschichte und beschreibt und erklärt die Kulte und religiösen Praktiken seiner Zeit.763 In der narrativ-visuellen Verlebendigung der Vergangenheit tritt der antiquarische Modus zwar unmittelbar hervor,764 doch ist er nicht absolut zu setzen: Pausanias’ Aufmerksamkeit gilt vereinzelt auch zeitgenössischen Sehenswürdigkeiten (z. B. 1.18.6: Statuen des Kaisers Hadrian; 1.19.6: das Stadion des Herodes Atticus) und seine Exkurse (λόγοι) betreffen mitunter Zeitgeschichtliches (z. B. 8.43 zu Antoninus Pius).765 Darüber hinaus werden zeitpolitische Diskurse entfaltet,766 sodass sich insgesamt ein lebendiges, wenn auch „nostalgisch“ gefärbtes Porträt der griechischen Kulturwelt zur Zeit der Zweiten Sophistik ergibt.767

6.3.2.2 Enzyklopädische und eklektisch-poikilographische Bildungsliteratur

Die Kompilation von Wissensbeständen und ihre mediale Präsentation in Enzyklopädien und Miszellanschriften gehört zweifellos zu den epochalen Merkmalen der expandierenden Wissens- und Bildungsliteratur der römischen Kaiserzeit. Die Prävalenz dieser Kompositionsweise ist in der Tat erstaunlich. Die Zahl der griechisch-römischen Prosaautoren, die sich literarisch der einen oder anderen Form der Wissensakkumulation zugewandt haben, offenbart die „Poetik des Sammelns“ als ein Epochenprofil, das grundsätzliche Aussagen über die Lese- und Bildungskultur der Zeit erlaubt, aber auch Fragen nach auktorialen Wirkungsinteressen und der Leserbeteiligung aufwirft.768 Als aufschlussreich für die Leserlenkung, für das auktoriale Selbstverständnis und für die gattungsspezifische Selbstverortung dieser Literatur können in diesem Zusammenhang die Proömien von Plinius und Gellius gelten, in denen trotz offensichtlicher Analogien auch die Differenzen zwischen dem Monumentalprogramm enzyklopädischer Welterfassung und einer belehrend-unterhaltenden Miszellanschrift deutlich hervortreten. Im Zusammenhang der vorliegenden Studie sind diese variablen Formen literarischer Wissensakkumulation insofern von Interesse, als sie antiquarische Wissensbestände verarbeitend aufnehmen und damit in ihrer gesellschaftlichen Relevanz neu validieren. Im Gegensatz zur weitgehend verlorenen Enzyklopädie des Celsus (ca. 25–50 n. Chr.) ist die Naturalis historia zwar in fachlich-thematischer Hinsicht enger konzipiert, erweist sich aber schon deshalb als einzigartiger Fundus antiquarischer Wissensbestände, weil Plinius in den von ihm behandelten Bereichen offensichtlich das Interesse seiner Gewährsleute an historisierender Ursprungs- und Herkunftsforschung teilte.769

Im Mittelpunkt der folgenden drei Fallstudien stehen jedoch nicht die Großkompilationen, sondern die Kollektaneen-Literatur, da sich hier autorspezifische Präferenzen ungleich stärker auf die thematische Gewichtung und Auswahl auswirkten. Am Anfang steht eine kritische Auseinandersetzung mit dem nur noch vage rekonstruierbarem Pratum Suetons, das von einem Teil der Forschung immer noch als dessen „antiquarisches Hauptwerk“ angesehen wird. Anschließend werden mit Gellius’ Noctes Atticae und Plutarchs Quaestiones Romanae zwei ungleichartige belehrend-unterhaltende Miszellanschriften kritisch beleuchtet, die nach gängiger Auffassung ebenfalls als literarische Manifestationen des römischen Antiquarianismus gelten.

6.3.2.2.1 Sueton, Pratum

Die irritierende Diskrepanz zwischen der schmalen Appendix der verlorenen Fachschriften Suetons, die Karl Roth in seine Edition von 1858 aufgenommen hat, und der monumentalen, mehrere hundert Textseiten umfassenden Fragmentsammlung, die August Reifferscheid zwei Jahre später vorlegte, markiert bis heute einen empirisch nicht entscheidbaren Forschungsstreit um die Rekonstruktion dieses einst wohl bedeutendsten Teils des suetonischen Oeuvres.770 Die Beurteilung des Gesamtcharakters dieser thematisch erstaunlich disparaten Textgruppe, die sich vor allem aus dem Werkkatalog der Suda (IV, τ 895 p. 581 Adler) erschließt, ist forschungsgeschichtlich wesentlich mit der spekulativen Frage verbunden, ob es sich um ein Konglomerat von Einzelschriften oder um eine umfangreichere Miszellanschrift handelt, die Sueton unter dem Titel Pratum (oder Prata [„Blumenwiese“]) veröffentlichte.771 Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, die Diskussion im Detail nachzuzeichnen oder durch neue Argumente oder Hypothesen zu beleben. Nachdem die Aufgabe der Identifikation und Bewertung der antiquarischen Fragestellung innerhalb der als relevant anzusehenden Schriften des suetonischen Korpus im Ansatz bereits geleistet wurde (S. 439–441 und 448 f.), geht es im Folgenden darum, die Forschungshypothese eines von Sueton verfassten antiquarisch akzentuierten Sammelwerkes (erneut) auf den Prüfstand zu stellen.

Die verlorenen Fachschriften Suetons werden üblicherweise vor dem Hintergrund der im zweiten Jahrhundert aufkommenden bildungsbeflissenen „Archäophilie“ interpretiert,772 die in einem direkten kulturgeschichtlichen Zusammenhang mit dem Sprach- und Stilphänomen des Archaismus steht. In Anlehnung an Gellius, einen prominenten Vertreter dieser Modeströmung, geht die Communis opinio seit Reifferscheid trotz divergierender Rekonstruktionsansätze von einem „antiquarischen Hauptwerk“ Suetons aus, das (in mehr oder weniger systematisierter Form) Varros Antiquitates „stark komprimiert, zugleich durch andere Belege supplementiert und damit teilweise modernisiert“ habe.773 Im maßgeblichen Rekonstruktionsversuch von Peter Lebrecht Schmidt war Suetons Wiese thematisch allerdings nicht auf antiquarische Bemühungen beschränkt (Bücher 1–8: Realien, Gebräuche, Festspiele, Kalender), sondern umfasste, wie die folgende Grafik zeigt, zugleich Naturkunde (Bücher 9–10), Mythistorie (Bücher 11–14) und „Literaturgeschichtliches“ (Bücher 15–20):774

De Roma

De regibus

1 (Im Bereich foris)

11 (Asien)

2 (Im Bereich domi)

12 (Europa)

3 De genere vestium

13 (Afrika)

4 De institutione officiorum

14 (De libris)

Historia ludicra

Catalogus virorum illustrium

5 De spectaculis

15 (De poetis)

6 De spectaculis

16 (De poetis comicis et tragicis)

7 De lusibus puerorum

17 De historicis

8 De anno Romanorum

18 (De oratoribus et philosophis)

9 De naturis rerum

19 De grammaticis et rhetoribus

10 De naturis animantium

20 De notis

Die Tragfähigkeit dieser Hypothese muss hier nicht im Detail geprüft werden.775 Vielmehr soll im Kontext der vorliegenden Skizze die Frage nach ihrer literatur- und wissensgeschichtlichen Plausibilität gleichsam aus der Makroperspektive kurz aufgeworfen werden. Denn ist man bereit, Schmidts einfallsreiche Rekonstruktion in ihren Grundzügen zu akzeptieren, so hat dies nicht nur weitreichende wissensgeschichtliche Konsequenzen, sondern verändert zwangsläufig auch unsere Vorstellung von den literarischen Schreib- und Darstellungsformen, in denen sich der kaiserzeitliche Antiquarianismus manifestierte: Die „varronischen“ Teile des Pratum wären in diesem Fall als ein für die Kaiserzeit sonst nicht belegter Versuch zu werten, verschiedene antiquarische Forschungsfelder in einer den Stoff durchgehend systematisierenden Synthese zusammenzufassen, wobei diese Synthese ihrerseits in den größeren Rahmen einer enzyklopädisch ausgerichteten Miszellanschrift eingebettet gewesen wäre. Dagegen sprechen allerdings nicht nur die allgemeinen Tendenzen der zeitgenössischen Wissens- und Bildungsliteratur, sondern auch die antiquarische Fachtradition und ihre Wissensordnungen. Zwar belegt das Reallexikon des Sextus Pompeius Festus die Kontinuität großer Synthesewerke mit antiquarischen Wissensbeständen im zweiten nachchristlichen Jahrhundert (siehe oben S. 376 f.). Dies besagt aber zunächst wenig, da in der kaiserzeitlichen Grammatik, wie das (verlorene) 95-bändige Monumentalwerk Über Glossen und Namen (Περὶ γλωσσῶν καὶ ὀνομάτων) des alexandrinischen Grammatikers Pamphilos (2. Hälfte 1. Jhd. n. Chr.) zeigt,776 entsprechende Großkompilationen weiterhin üblich waren. Außerhalb dieses Bereichs hat es keine nachweisbaren Versuche gegeben, das Panorama der griechisch-römischen Ursprungsforschung in einem kategorienübergreifenden Ansatz zu erfassen. Dass eine solche Leistung Suetons, die darüber hinaus die antiquarische Synthese mit Naturkundlichem und „Literaturgeschichtlichem“ (den Biographien) in der von Schmidt postulierten Struktur verbunden hätte, ausgerechnet unter dem Titel Pratum (mit dem erläuternden Untertitel De rebus variis777) veröffentlicht worden wäre, erscheint auch mit Blick auf die kaiserzeitliche Kollektaneen-Literatur eher fragwürdig, zumal die über das Kleinteilige hinausgehende Systematisierung mit dem literarischen Leitprinzip der variatio, welche die Metapher der Blumenwiese ja implizieren soll, nur schwer in Einklang zu bringen wäre.

Folgt man dem Werkkatalog der Suda, so erscheint nicht die verdichtende Synthetisierung, sondern im Gegenteil gerade die Partikularisierung etablierter Wissensordnungen als Charakteristikum von Suetons antiquarischer Schriftstellerei. Die dort an sechster Stelle in paraphrasierender Form wiedergegebene Schrift Περὶ ὀνομάτων κυρίων καὶ ἰδέας ἐσθημάτων καὶ ὑποδημάτων καὶ τῶν ἄλλων οἷς τις ἀμφιέννυται („Über die Namen der Herrscher und die Arten von Kleidern, Schuhen und anderen Kleidungsstücken“), die Servius als Monobiblos De genere vestium zitiert,778 passt in keine der definierten Kategorien der antiquarischen Textfamilie. Dieser Stoffbereich ist sonst nur als Bestandteil eines größeren Werkganzen fassbar.779 Der Befund spricht zunächst für die bereits von Reifferscheid postulierte Eingliederung der Schrift in das Pratum, doch müsste dann dasselbe Argument auch für die an gleicher Stelle erwähnte Abhandlung über griechische Kinderspiele (Περὶ τῶν παρἝλλησι παιδιῶν) gelten, die aber nachweislich in griechischer Sprache verfasst und daher sicher nicht Bestandteil des Pratum war. Sieht man auf dieser Grundlage die Schrift De genere vestium (und andere von der Suda genannte Spezialtitel) als eigenständiges Werk an, so würde dies Suetons Leistung insofern in ein neues Licht rücken, als er das Feld der antiquarischen Fachmonographie weiter ausdifferenziert und um neue Segmente ergänzt hätte.

Erscheint es also insgesamt wenig plausibel, dass Sueton die Gesamtheit seiner antiquarischen Schriften im Rahmen einer umfangreicheren Miszellanschrift zusammengefasst hat, so bestehen an seiner wissensgeschichtlichen Bedeutung in der (selektiven) Aufarbeitung und Vermittlung antiquarischer Wissensbestände kaum Zweifel. Dies gilt nicht zuletzt unter Berücksichtigung einer griechischen Leserschaft. Aber auch hier lässt sich nichts Genaueres sagen. Schmids anregende Hypothese, Sueton habe Varros Antiquitates unter den Bedingungen der Monarchie fortgesetzt, indem er den gesellschaftspolitischen Rahmen durch eine stärkere Gewichtung privater und kultureller Aspekte gelockert und damit gleichsam eine „Privatisierung und Säkularisierung der varronischen Anregungen“ vorgenommen habe, bleibt im Bereich des Spekulativen.780

6.3.2.2.2 Aulus Gellius, Noctes Atticae

Für die Rekonstruktion der römischen antiquarischen Literatur spielt der kaiserzeitliche Bildungsautor Aulus Gellius eine herausragende Rolle. Die Noctes Atticae enthalten eine Fülle einschlägiger Exzerpte, die ihrem Verfasser nicht nur ein dezidiertes Interesse an der römischen Ursprungsforschung der spätrepublikanisch-augusteischen Zeit bescheinigen, sondern ihn in modernen Literaturgeschichten bisweilen auch als Verkörperung des römischen Antiquarianismus schlechthin erscheinen lassen.781 Diese Darstellung ist irreführend, zumal der Autor sein Werk im Proömium programmatisch in die Tradition der kaiserzeitlichen Kollektaneen-Literatur stellt (praef. 2–9) und dann in durchdachter Erzählform782 und mit ausgeprägt pädagogisch-moralischer Absicht eine Sammlung sorgfältig ausgewählter Lesefrüchte präsentiert, die „hellen und aufmerksamen Köpfen auf leichtem und schnellem Weg die Freude an standesgemäßer Bildung wecken und zur Beschäftigung mit den nützlichen Künsten anregen oder vielbeschäftige Männer vom Vorwurf einer schändlichen und bäurischen Unwissenheit in Sachen der Worte und Dinge befreien soll.“783 Die Tatsache, dass der Leserschaft der Noctes Atticae überhaupt Auszüge aus der antiquarischen Fachliteratur dargeboten werden, dokumentiert in erster Linie die Bedeutung dieser Wissensbestände im intellektuellen Milieu des zweiten Jahrhunderts.784

Substanz schöpfen diese Wissensbestände aus ihrer „urrömischen“ Prägung, die eines der Hauptziele des gellianischen Kulturprogramms zu erhellen scheint: Informationen über öffentliche und private römische Institutionen und Gebräuche, über Besonderheiten des lateinischen Wortschatzes, der Sprache und Literatur setzen innerhalb der griechisch-hellenistisch geprägten Gelehrsamkeit der Zeit einen dezidiert römischen Akzent.785 Aus der Sicht der vorliegenden Studie ist dabei die qualitative Transformation entscheidend, die antiquarische Wissensbestände in dieser spezifischen Rezeptionsform erfuhren: Im Arbeitsprozess der poikilographischen Dekontextualisierung verlieren sie größtenteils ihre konstitutive Funktion einer kausalen Gegenwartsdeutung786 und werden stattdessen zu Bausteinen eines literarisch-philosophischen Bildungsprogramms, dessen Inhalte und Konzepte Gellius anhand der Noctes Atticae exemplarisch skizziert. Am Beispiel der grammatischen Fachliteratur wurde bereits auf entsprechende Tendenzen hingewiesen (siehe oben S. 429–436). In der Spätantike wird der Fall dann deutlicher: So zeigt sich in den Traktaten des Iohannes Lydos, dass ein beträchtlicher Teil der vermittelten Wissensbestände (z. B. die Ausführungen über die Insignien der römischen Patrizier: mag. I.17) keine gegenwartserklärende Funktion mehr besaß (siehe oben Kap. 4.2.). Hinzu kommt ein zweiter Aspekt, der die Noctes Atticae deutlich von der Tradition der antiquarischen Fachliteratur abhebt, zugleich aber eng mit dem Bildungsgedanken der Zeit verbunden ist. Im 18. Buch berichtet Gellius von einem Gastmahl in Athen, an dem er gemeinsam mit einigen Römern, die sich dort zu Studienzwecken aufhielten, an den Saturnalien teilgenommen habe. Zur Unterhaltung wurden reihum gelehrte Rätselfragen aufgegeben, „wie zum Beispiel die dunkle Formulierung eines alten Dichters […], die Deutung eines Vorfalls der alten Geschichte, die Klarstellung eines missverstandenen philosophischen Lehrsatzes oder die Erforschung eines seltenen Wortes.“787 Der innerhalb der griechisch-römischen Konvivialkultur fest verankerte Wettstreit veranschaulicht hier sowohl den Unterhaltungswert als auch den exotischen Charakter kaiserzeitlicher eruditio, die in ihrem Streben nach dem Ausgefallenen, Ungewöhnlichen und Entlegenen die wissenschaftliche Neugier und das Unterhaltungsbedürfnis der Bildungselite bediente.788 Neben Anekdoten und Mirabilien erfüllen in den Noctes Atticae auch antiquarische Details und historische Denkwürdigkeiten diese Funktion. Es ist kein Zufall, dass der jüngere Seneca in seiner Polemik gegen den seiner Meinung nach fehlgeleiteten Wissenseifer seiner Zeitgenossen Heuremata als Beispiel für nutzloses Wissen anführt.789 So ist es unter anderen auch Gellius anzulasten, dass das Phänomen des römischen Antiquarianismus heute oft mit dem Schlagwort der curiositas überschrieben wird.790 Ohne auf diesen Punkt näher eingehen zu wollen, muss an dieser Stelle noch einmal die Feststellung genügen, dass – im Lichte der hier vorgestellten Neukonzeption – weder dem Unterhaltungsinteresse noch der wissenschaftlichen Neugier per se eine konstitutive Bedeutung für das Denkmodell des Antiquarianismus beigemessen werden kann. Diese Aspekte ersetzten vielmehr die ursprünglich gegenwartsbezogene Orientierungsfunktion, die diese Wissensbestände im Zuge ihrer Aktualisierung und Re-Validierung in den enzyklopädischen Medienformaten der Kaiserzeit zunehmend verloren hatten.791 „Memorialen Eigenwert“ haben Informationen über die vetustas innerhalb der Erinnerungskultur des zweiten Jahrhunderts gleichwohl besessen. Gellius inszeniert seine Schrift nicht nur als „eine Gedächtnishilfe nach Art eines Wissensvorrats“ (subsidium memoriae quasi quoddam litterarum penus: praef. 2) und als „kleine Erinnerungsvergnügungen“ (memoriarum delectatiunculae: praef. 23), sondern reflektiert literarisch auf verschiedenen Ebenen die Medien und Wirkungen kultureller Memoria, weshalb man zu Recht auf die erinnerungs- und identitätsstiftende Funktion seines Werkes hingewiesen hat.792

Halten wir also fest: Im Spannungsfeld zwischen pädagogischem Kulturprogramm und Traditionspflege, zwischen Wissenseifer und Unterhaltungsabsicht sind antiquarische Wissensbestände in den Noctes Atticae zwar durchaus präsent, die antiquarische Fragestellung selbst, im Sinne ihrer konstitutiven, die gegenwärtige Lebenswelt erklärenden Orientierungsfunktion, tritt aber klar hinter den allgemeinen sozial- und kulturhistorischen Fokus zurück.

6.3.2.2.3 Plutarch, Quaestiones Romanae

Plutarchs Quaestiones (προβλήματα), wie die Αἴτια in der handschriftlichen Überlieferung auch genannt werden, stehen mit ihrer akzentuierten Erklärungsfunktion der Tradition antiquarischer Fachliteratur ungleich näher als die Noctes Atticae des Aulus Gellius.793 Die beiden erhaltenen Schriften, die Quaestiones Romanae (Αἴτια Ῥωμαϊκά) und die Quaestiones Graecae (Αἴτια Ἑλληνικά), erwecken zunächst den Eindruck einer relativ willkürlich zusammengestellten Sammlung von Lesefrüchten.794 Werktitel und Thematik suchen offenbar einen bewussten Anschluss an die antiquarische Textgruppe der kulturaitiologischen Sammlungen, aber auch die Tradition der hellenistischen Aitiendichtung ist präsent. Zunächst fällt das Strukturprinzip der Aneinanderreihung von Kausalfragen (διὰ τί) auf, die – und dies gilt nun besonders für die Quaestiones Romanae – mit disjunktiven Gegenfragen (πότερον) beantwortet werden, ohne dabei eine bestimmte Erklärung als richtig herauszustellen. Der Leser kann somit aus dem angebotenen Deutungsrepertoire die für ihn plausibelste Hypothese auswählen.795 Anders also als Kallimachos oder Ovid, die implizit auf die Grenzen der aitiologischen Heuristik hinweisen, den Stoff aber dennoch als kunstvolle Erzählung präsentieren, bildet Plutarch in den Quaestiones Romanae die Aporie der Altertumsforschung gleichsam in der literarischen Form selbst ab, indem er sie in die Tradition der wissenschaftlichen Προβλήματα-Literatur stellt.796 Die Mehrfacherklärungen, die sich aus der reichhaltigen Berücksichtigung und dem Vergleich der oft direkt genannten Quellen ergeben,797 weisen den Autor seinerseits als eine Forscherpersönlichkeit aus, der widersprüchliche Fachmeinungen nicht nur nach dem Kriterium der gängigen Logik beurteilt,798 sondern ihnen durchaus auch eigene Lösungsvorschläge zur Seite stellt.

Der inhaltliche Hauptakzent der präsentierten Fragen liegt auf den mores et instituta, das heißt im Falle der Quaestiones Romanae auf den aus griechischer Perspektive interessanten privaten, politischen und religiösen Bräuchen und Einrichtungen der Römer. Allerdings – und das ist entscheidend – betreffen die vorgelegten Antwortfragen nur zum Teil die historischen Ursprünge. Das bedeutet, dass in den Quaestiones die kausal orientierte Historisierung der Lebenswelt nur eine Deutungsweise unter anderen darstellt. Kausalität wird vielschichtig präsentiert, indem neben historisch-mythologischen Aitien (z. B. Frage 4: ἦ τοῦ παλαιοῦ συμπτώματος ἀπομνημονεύοντες; λέγεται γὰρ … [„Ist es im Gedenken an ein altes Ereignis? Man erzählt nämlich …“]; Fragen 15–16, usw.) auch ethische oder allgemein vernunftgeleitete Beweggründe, das heißt überzeitliche anthropologische oder naturgesetzliche Ursachen geltend gemacht werden. Dies entspricht der „offenen“ aitiologischen Konzeption Plutarchs, der, wie sein Schriftenverzeichnis zeigt, die Ursachenforschung nicht nur historisch, sondern auch naturwissenschaftlich und philosophisch anging.799 Oft stehen beide Deutungsansätze nebeneinander, so etwa in Frage 17, wenn auf die Frage, warum die Römerinnen von der Mater Matuta nicht das Wohl ihrer eigenen Kinder, sondern das der Kinder ihrer Schwester erbitten, zunächst die Erklärung im Mythos gesucht und dann als Alternative auf den inhärenten ethischen Wert des Brauches hingewiesen wird: ἢ καὶ ἄλλως ἠθικὸν καὶ καλὸν τὸ ἔθος καὶ πολλὴν παρασκευάζον εὔνοιαν ταῖς οἰκειότησι; („Oder anders: Weil der Brauch gut und moralisch ist und viel Wohlwollen unter Verwandten erzeugt?“). Bei einigen Fragen fehlt die zeitliche Dimension gänzlich, wenn keine der gegebenen Antworten historisch argumentiert.800 Dies gilt sowohl für den privaten Bereich (z. B. Fragen 7–9: zum Verbot ehelicher Schenkung und zum Brauch, der Ehefrau die eigene Ankunft anzukündigen), als auch für den religiösen Bereich (z. B. Frage 13: das Honos-Opfer mit unverhülltem Haupt). Diese Eigentümlichkeit spricht jedoch nicht prinzipiell gegen die Einordnung der Quaestiones in die Tradition der antiquarischen Schriftstellerei, zumal vergleichbare rationalisierende und psychologische Deutungsmuster, wie oben herausgearbeitet, auch in einschlägigen antiquarischen Fachtraktaten (z. B. Varros De vita populi Romani) vorausgesetzt werden können.

Eine zweite Besonderheit liegt in der literarischen Darstellungsform. Man kann die Präsentation des Stoffes als Nullpunkt eines Dialoges in der Art der Quaestiones conviviales auffassen, dessen narrativen Rahmen sich die Leserschaft selbst vorstellen muss.801 Diese auf den ersten Blick ungeordnete Anhäufung von Bausteinen scheint jedoch bei näherer Betrachtung einem eigenen Kompositionsprinzip zu folgen; die Frage ist nur, welchem?802 Vor einigen Jahren hat John Scheid mit einer genialen Idee versucht, das Rätsel zu lösen, indem er die einzelnen Fragen mit der Topographie Roms in Verbindung brachte, die, nacheinander gelesen, einen gelehrten „Spaziergang“ durch einen vom Forum boarium, Forum Romanum und Kapitol begrenzten Raum ergeben.803 Eine solche auch für Plutarchs gelehrtes Publikum mangels eindeutiger Leserführung höchst anspruchsvolle und voraussetzungsreiche Lektüre hätte unübersehbare Konsequenzen für die literarische Selbstverortung des Werks. Der evozierte Traditionshorizont würde damit nicht nur die wissenschaftliche Προβλήματα-Literatur und die antiquarische Fachliteratur umfassen, sondern darüber hinaus auch die Periegese, die spätestens seit Polemon von Ilion (siehe oben S. 194 f.) eine antiquarisch-kulturhistorische Akzentuierung aufweisen konnte und in dieser Form in Rom vielleicht schon im frühen ersten Jahrhundert v. Chr. gepflegt wurde (siehe oben S. 246–248 und 316 f.). Neben den offensichtlichen Grundthemen der Quaestiones Romanae (Ritual, Verwandtschaft, Institutionen, Kalender804) verweist auch die häufige Verwendung einschlägiger griechischer Autoren wie zum Beispiel Iuba (FGrHist 274 F91–95) auf ein kulturgeschichtlich-ethnographisches Diskursfeld, in das sich auch die Quaestiones Graecae und die (heute verlorenen) Quaestiones barbaricae einordnen lassen. Scheid hat daher zu Recht auf die Ähnlichkeiten zwischen dem topographischen Vorgehen Plutarchs und der rhetorischen Technik des Pausanias hingewiesen, dessen Exkurse in der Regel durch die Betrachtung ausgewählter Monumente und Orte ausgelöst werden. Parallelen zeigen sich auch in der topographischen Auswahl, insofern der Blick des Lesers in erster Linie auf Denkmäler der älteren Vergangenheit gelenkt wird, während die eigene Zeit fast völlig ausgeklammert bleibt.805 Die in der Auswahl der kommentierten Bauten, Tempel und Orte sichtbare Vergangenheitsorientierung des Pausanias wird, wie erwähnt (siehe oben S. 473 f.), in der Forschung gemeinhin als Kennzeichen eines rückwärtsgewandten, nostalgisch verbrämten griechischen Identitätsdiskurses gewertet. Dass die antiquarische Fragestellung in solchen politisch-kultursoziologischen Zusammenhängen funktionalisiert wurde, zeigte auch der Blick auf die Späte Republik (siehe oben Kap. 6.2.3.).

Trotz der relativ breiten Palette an gattungsspezifischen Anschlussangeboten, die Plutarch den Lesern der Quaestiones Romanae als Hilfestellung zur Interpretation der Schrift unterbreitet, ist die philosophische Grundorientierung des Werkes kaum zu verkennen. Das philosophische Gespräch bleibt durch den Fragemodus stets präsent, die (mögliche) Inszenierung als Spaziergang gemahnt an die platonische Dialogtradition, in die sich Plutarch mit seinem philosophischen Oeuvre längst gestellt hatte. Aus der Perspektive der vorliegenden Studie erinnert die generische Hybridität in gewisser Weise an die Fasti Ovids: Auch wenn die Aufbereitung und Vermittlung antiquarischer Wissensbestände im Zentrum der Schrift steht, erfolgt die literarische Performanz dieses Wissens mehrdimensional. Durch die geschickte Positionierung im Schnittpunkt mehrerer sich überlagernder Diskursfelder beansprucht der Autor eine Reflexionsebene, die über den Kommentar, das systematische Lehrbuch oder die wissenschaftliche Abhandlung hinausgeht. Mit Blick auf das zweite Jahrhundert n. Chr. und die veränderten Lesehaltungen und Wissensinteressen der Epoche deutet die ästhetische Sinnbildung als Form einer Wissensvalidierung sowohl bei Gellius als auch bei Plutarch auf eine ebenso innovative wie kreativ-schöpferische Rezeption antiquarischer Spezialliteratur, in deren Tradition sich beide Literaten denn auch erfolgreich einschrieben.

6.3.3 Zusammenfassung

Die Schlagworte Kompilation und Reorganisation markieren die Kaiserzeit als eine neue Epoche in der literaturgeschichtlichen Entwicklung des römischen Antiquarianismus. Im übergreifenden wissensgeschichtlichen Bezugsrahmen einer Poetik des Sammelns liegt die Innovativität und Kreativität der Epoche vor allem im Bereich der Wissensbewältigung, das heißt im an zeitgenössischen Bedürfnissen neu ausgerichteten Ordnen, Strukturieren und Validieren überkommener Wissensbestände. Die literarischen Manifestationen dieser Arbeit bewegten sich je nach den Rezeptionsgewohnheiten des anvisierten Publikums im Freiraum zwischen den Polen praxisorientierter didaktischer Unterweisung, deskriptiv-enumerativer Wissensvermittlung und gelehrter Unterhaltung. Antiquarische Wissensbestände sind vor allem in jenen Gattungsformen greifbar, die sich überwiegend aus Ausschnitten der Literatur früherer Jahrhunderte zusammensetzen, insbesondere in der florierenden enzyklopädischen und eklektisch-poikilographischen Bildungsliteratur. Das darin in fragmentierter und dekontextualisierter Form versammelte Wissen weist in seiner Gesamtheit auf ein neues Rezeptionsverhalten und eine veränderte Zielrichtung des Antiquarianismus im Dienste einer „Archäophilie“ hin.

Bildungsgeschichtlich setzte sich die unter dem Prinzipat des Augustus erkennbare Tendenz der Isolierung antiquarischer Wissensbestände zu einem sozial und kulturell aufgeladenen Bildungswissen fort. Die konstitutive, die gegenwärtige Lebenswelt erklärende Orientierungs- und Begründungsfunktion des Antiquarianismus ging dabei im Prozess der Kompilation und Neuordnung häufig verloren oder trat hinter den allgemeinen sozial- und kulturgeschichtlichen Fokus zurück: So referieren Plinius oder Gellius alte Bräuche, Gesetze oder Lebensumstände, ohne immer einen Kausalbezug zur eigenen Lebenswelt herzustellen. Gerade auch vor dem Hintergrund der zeittypischen Neugier für das Kuriose, Entlegene und Altertümliche sind der Gegenwartsbezug und die Begründungsfunktion häufig zweitrangig. Dennoch bliebt die antiquarische Ursprungsforschung für den kaiserzeitlichen Vergangenheitsdiskurs relevant und stieß im kulturellen Leben der literarisch Gebildeten weiterhin auf reges Interesse. Dies zeigt sich in der anhaltenden Präsenz antiquarischer Wissenselemente in den historisch orientierten Literaturgattungen der Kaiserzeit, insbesondere in der Geographie, der Ethnographie und der Historiographie, in der sich wohl schon im späteren ersten Jahrhundert n. Chr. eine „Renaissance“ des antiquarisch akzentuierten Genres der Archaik anbahnte.

Obwohl sich mehrere Autoren literarisch auf dem Gebiet der antiquarischen Altertumsforschung betätigt haben, sind nur wenige Fachmonographien mit Sicherheit nachweisbar. An der Existenz eines wissenschaftlich-systematischen Textkorpus ist aufgrund der Indizienlage aber nicht zu zweifeln. Auf dem Gebiet des Rechts erscheint – wie schon im ersten vorchristlichen Jahrhundert – die Verbindung von begründender Ursprungsforschung und praktischer Wissensvermittlung, das heißt von antiquarisch-explikativer und phänomenologisch-instruktiver Zugangsweise charakteristisch. In der Sprachaitiologie war der grammatische Diskurs vorherrschend. Tacitus’ Referat über die Schriftreform des Claudius bezeugt indirekt das hohe wissenschaftliche Niveau der Fachdiskussion. Kontinuität ist auch in der lokalaitologischen Forschung anzunehmen, die allerdings von der Fachdisziplin der Geographie und der geographisch-kulturgeschichtlichen Periegese bereits weitgehend vereinnahmt worden war. Für den lateinischen Bereich sind jedenfalls keine antiquarischen Fachschriften nachweisbar. Ähnlich verhält es sich mit der antiquarischen Fachliteratur zur Genealogie und Volksgenese. Trotz des ungebrochenen Interesses an der Thematik fehlen Belege für die Kontinuität einschlägiger Monographien. Reiche Zeugnisse finden sich demgegenüber für unterschiedlich nuancierte Kommentarwerke zum römischen Festkalender. Dabei stand nicht immer die antiquarische Fragestellung im Vordergrund, sondern, wie im prominenten Beispiel des Cornelius Labeo, die religionsphilosophische Reflexion. Darüber hinaus gibt es Hinweise auf eine monographische Behandlung antiquarischer Teilbereiche, die im ersten vorchristlichen Jahrhundert noch nicht gesondert vorlagen. Kontinuität scheint auch in der Aitiendichtung vorzuliegen. Kategorienübergreifende Sammlungen sind im lateinischen Bereich vor allem in der Heurematographie fassbar. Im griechischen Bereich eröffnete Plutarch dem Genre durch die Verbindung mit der wissenschaftlichen Προβλήματα-Literatur eine neue Geltungskraft.

Die Frage nach der wissenschaftlichen Eigenleistung dieser Werke ist nicht zu beantworten. So lässt sich denn nicht mehr feststellen, ob Schriftzeugnisse und Objekte der Sachkultur gleichermaßen berücksichtigt wurden, oder ob die Wissensgenese im Rahmen eines primär textbasierten kompilatorischen Prozesses stattfand. Die Bedeutung des florierenden Bibliothekswesens in Rom und den Provinzen kann in diesem Zusammenhang jedenfalls nicht hoch genug eingeschätzt werden.

1

Die Periodisierung ist, bei aller wissenschaftlichen Nützlichkeit, eine Hilfskonstruktion; für die hier behandelten Autoren richte ich mich nach dem in HLL 1 § 102. festgelegten Zeitraum von 240–78 v. Chr.

2

Eine eingehende Besprechung ist an dieser Stelle nicht nötig. Einen guten Einblick in einzelne Problemfelder bietet Feeney 2005.

3

Lediglich in Auswahl: zum Etruskischen siehe HLL 1 § 103.6. mit weiterer Literatur; zum Oskischen Adams 2004; zur Aneignung der hellenistischen Buchkultur Mayer 1995.

4

Dazu gehört auch die Frage nach der Existenz einer urrömischen Aufzeichnung von Rechtssatzungen (leges regiae) und der zeitgleichen Literarisierung der Rechtswissenschaft (ius Papirianum). Zur Diskussion mit Berücksichtigung der Literatur bis Ende 1999 siehe HLL 1 §§ 108–109.

5

Aus der kaum noch überschaubaren Fülle der einschlägigen Fachliteratur kann im folgenden Aufriss nur in Auswahl zitiert werden. Im Allgemeinen sei auf die bis zum Jahr 1999 erschöpfende Bibliographie in HLL 1 verwiesen; für die Historiker siehe ferner die in Chassignet; FRH und FRHist aufgeführte Literatur; für die Juristen Schulz 1961, Wieacker 1988, Schiavone 2012 sowie Lehne-Gstreinthaler 2019. Die Historiker werden nach FRHist zitiert.

6

Zu der für das römische Geschichtsbewusstsein prägenden Komplementarität von Epos und Historiographie in dieser Zeit siehe Walter 2004, 220; Mutschler 2000.

7

Siehe u. a. Momigliano 1990, 88–92; Moatti 2003, 315–317; Moatti 2015, 16–27; ferner Mutschler 2000; Rüpke 2009a, 74–75.

8

Zum mos maiorum siehe unten S. 384 mit Anm. 537; zur Bedeutung der Königszeit als begründende Phase u. a. Poucet 2000.

9

Aus der neueren Literatur siehe Wiseman 1998; Manuwald 2001 (mit Fragmenten und Kommentar); Manuwald 2011, 140–144; Kragelund 2016, 25–68; zur Bedeutung des Geschichtsdramas für die Verbreitung von Geschichtswissen in dieser Zeit Walter 2004, 75–83.

10

Für eine Bestandsaufnahme der bezeugten Stücke siehe Manuwald 2001, 87–95.

11

Varro ling. 6.18: Nonae Caprotinae, quod eo die in Latio Iunoni Caprotinae mulieres sacrificant et sub caprifico faciunt; e caprifico adhibent virgam. Cur hoc, togata praetexta data eis Apollinaribus ludis docuit populum. Die didaktische Funktion (docuit populum) der Aitiologie betont Kragelund 2016, 25–27; zurückhaltender ist Manuwald 2001, 70. Der zeitliche Kontext der behandelten historischen Episode ist der Galliereinfall von 387 v. Chr.

12

So Kragelund 2016, 28–31, der etwa Ennius’ Sabinae mit den Consualia, Naevius’ Romulus mit den Parilia und Accius’ Brutus mit dem Regifugium in Zusammenhang bringt.

13

Siehe dazu die Argumentation von Kragelunt 2016, 32–45.

14

Kragelund 2016, 46–57. Aitia finden sich bei Accius (ed. Ribbeck3) in frgg. 15 (Dedikation), 38 (Prophezeiung); 40 (Servius Tullius).

15

U. a. auch in Gestalt von göttlichen Prophezeiungen, siehe etwa Feeney 1991, 108–120; in welcher Form die umfangreichen mythischen Aitiologien integriert waren, ist umstritten; für einen Exkurs argumentierte von Albrecht 1979, 18–21. Literatur zum Einfluss von Naevius’ Geschichtsteleologie auf Vergils Aeneis bietet Suerbaum 1980, 275–277.

16

Zum Beispiel soll Naevius laut Varro (ling. 5.43) den Aventin auf aves [„Vögel“] zurückgeführt haben, quod eo se ab Tiberi ferrent aves, und den Palatin auf das Blöken (balare) der Schafe (ling. 5.53: itaque Naevius Balatium appellat).

17

Exemplarisch zeigt sich dies etwa in der Schilderung des brüderlichen Streits um das Vogelaugurium (ann. 72–91 Skutsch). Siehe dazu Walter 2004, 264–265.

18

Fundierende Akte für zivile und religiöse Institutionen z. B. ann. 114–115 und 116–118 Skutsch. Zu seiner Behandlung der di genitales (ann. 110–111 Skutsch) siehe Jocelyn 1989; zu den Etymologien in den Annales und in anderen Werken (etwa dem Epicharmus) Feeney 1991, 120–121 und O’Hara 1996, 51–52.

19

Enn. ann. 282–285 Skutsch: […] multa tenens antiqua, sepulta vetustas / quae facit, et mores veteresque novosquetenentem / multorum veterum leges divomque hominumque / prudentem. In Cic. de orat. 1.256 rühmt im Jahr 91 v. Chr. der Redner Antonius seinen Freund Congus als Informationsquelle für altertumskundliches Wissen: Reliqua vero etiam si adiuvant, historiam dico et prudentiam iuris et antiquitatis memoriam [iter cod.] et exemplorum copiam […] a viro optimo et istis rebus instructissimo familiari meo Congo mutuabor. Zur möglichen Identität dieses Congus siehe unten S. 231 f.

20

Zum sich in der Literatur äußernden römischen Wertesystem siehe die Beiträge in Braun/Haltenhoff/Mutschler 2000.

21

Zur Schrift siehe u. a. Winiarczyk 1994; Courtney pp. 27–39; HLL 1 § 117. d3.

22

Ein Beispiel ist die Diskussion des auf dem Kapitol befindlichen clipeus Marcius im Geschichtswerk des griechisch schreibenden C. Acilius (FRHist 7 F3), das Livius (25.39.12–17) im Zusammenhang seiner Würdigung des L. Marcius erwähnt. Zur Bedeutung materieller Quellen für die frühen römischen Historiker siehe u. a. Beck 2018, 92; Cifani 2018.

23

FRHist 7 F1 (= Plut. Quaest. Rom. 21.9): Γάιος δἈκίλιος ἱστορεῖ πρὸ τῆς κτίσεως τὰ θρέμματα τῶν περὶ τὸν Ῥωμύλον ἀφανῆ γενέσθαι· τοὺς δὲ τῷ Φαύνῳ προσευξαμένους ἐκδραμεῖν γυμνοὺς ἐπὶ τὴν ζήτησιν, ὅπως ὑπὸ τοῦ ἱδρῶτος μὴ ἐνοχλοῖντο. καὶ διὰ τοῦτο γυμνοὺς περιτρέχειν τοὺς Λουπέρκους.

24

Das heißt indes nicht, dass die Darstellung der „Zwischenzeit“ nicht auch mehrere Bücher umfasste. Zum argumentativen Kontext der Passage bei Dionysios von Halikarnassos und der zugehörigen Forschungsdebatte siehe FRHist I, 169–170. Die Dreiteilung Zeitgeschichte – (ungenannte) Zwischenzeit – Frühzeit würde der typischen Erzählform der oral tradition entsprechen. Siehe dazu allgemein Vansina 1985 sowie (mit Blick auf die Antike) von Ungern-Sternberg 1988, 247–249.

25

Fabius Pictor: FRHist 1 F3–4; 9–10; 14–15; 18; 27–28; 30–32; zur vorausdeutenden Funktion der Vergangenheit für die Gegenwart bei Fabius Pictor siehe Timpe 1972, 958–960.

26

FRHist 1 F30 mit dem Kommentar in FRHist III, 45–47.

27

Siehe dazu die Kommentare zu FRH 1 F20 und FRHist 1 F15 mit weiterer Literatur.

28

Zur unlösbaren Frage, ob Fabius die ludi seiner eigenen Zeit beschrieb und – mit oder ohne täuschende Absicht – in die Frühe Republik zurückprojizierte, oder ob er sich dazu auf alte Aufzeichnungen stützte, siehe Piganiol 1923, 75–91; Bernstein 1998, 92–96.

29

Anders als Livius, der fast nie explizit auf die gelehrte antiquarische Fachliteratur verweist (eine Ausnahme ist 7.3.5–7) und dazu tendiert, den Variantenreichtum zugunsten einer Handlungslinie einzugrenzen, geht Dionysios gelegentlich auf antiquarische Erklärungen ein. Ein Beispiel: FRHist 1 F4 mit dem auf das griechische Publikum berechneten Zusatz ἄλας γὰρ καλοῦσι Ῥωμαῖοι τὰς μάλας. Für ein anderes Beispiel siehe Briquel 1993, der aufzuzeigen versucht, dass Dionysios’ Berücksichtigung der antiquarischen Literatur in diesem Fall in seinem Bestreben begründet liegt, die griechischen Ursprünge Roms zu erweisen. Zu Dionysios als zitierender Instanz siehe FRHist I, 61–64 mit weiterer Literatur.

30

Zur auffallenden Dichte etymologischer Erläuterungen in den Fragmenten der annalistischen Geschichtsschreiber Roms siehe mit eigener Hypothese Badou 2005.

31

Grundsätzliche Schwierigkeiten ergeben sich bei der Zuschreibung der einzelnen Fragmente, da von einem namensgleichen Autor mehrere Titel einschlägiger antiquarischer Fachschriften überliefert sind. Zur Problematik siehe zusammenfassend FRHist I, 181–183 sowie weiter unten S. 219–221 und 245–253. Zumindest F10 dürfte durch Erwähnung von Cassius Hemina eindeutig dem Historiker zuzuschreiben sein.

32

Dafür spricht auch F2, das wohl nur deshalb überliefert ist, weil Cincius ein von der Tradition abweichendes Gründungsdatum der Stadt Rom angab. Zur Frage, ob sich Cincius durch eine auf das gelehrte Detail konzentrierte Darstellung vom zeitlich nur wenig früheren Geschichtswerk des Fabius Pictor absetzen wollte, äußert sich Walter 2004, 256–258.

33

Im Zeitraum zwischen 155 und 120 entstanden mindestens zehn römische Gesamtgeschichten, vgl. Frier 1979, 207.

34

Vgl. z. B. das Aition der Nemeischen Spiele in Statius’ Thebais, siehe dazu Lovatt 2005; zu Vergils Aeneis siehe unten S. 401–406.

35

Fragmente: FRHist 5 – Literatur: FRHist I, 191–192; HLL 1 § 162.; Suerbaum 2004.

36

Vgl. Fest. p. 216, 20–23 Lindsay: originum libros quod inscripsit Cato, non satis plenum titulum propositi sui videtur amplexus, quando praegravant ea, quae sunt rerum gestarum populi Romani. Da es sich um eine Gesamtgeschichte handelte, bot der Titel bereits in der Antike Anlass zu Erklärungen, vgl. Nepos, Cato 3.3: historias scribere instituit … ob quam rem omnes Origines videtur appellasse. Die scheinbare Unvereinbarkeit zwischen Titel und Inhalt hat die moderne Forschung als Anlass genommen, die Einheit des Werks – gegen die antiken Zeugnisse – in Frage zu stellen: Cato habe zuerst über Ursprünge (Bücher 1–3) geschrieben und dies später durch Zeitgeschichtliches (Bücher 4–7) ergänzt; radikaler ist die Ansicht, es handle sich um zwei separate Schriften, die später kompiliert wurden. Siehe die ausgewogene Diskussion in FRHist I, 198–205.

37

FRH I, 152.

38

Der Einfluss der griechischen Historiker auf die archaische römische Geschichtsschreibung gehört zu den vieldiskutierten Fragen der Forschung. Während inhaltliche Einflüsse nicht generell ausgeschlossen werden können und diese im Einzelfall durchaus vorstellbar sind, besteht zumindest dahingehend Konsens, dass die Griechen die Methode, aber nicht die Inhalte lieferten. So etwa Gigon 1972, 277.

39

Zu den Hypothesen der Forschung siehe zusammenfassend FRHist I, 202–208.

40

Siehe dazu den Kommentar in FRHist III ad loc.; zu den Quellen Chassignet 1986, xxii–xxx.

41

So Chassignet 1986 ad loc.

42

Vgl. z. B. FRHist 5 F67; F71; F73.

43

Gigon 1972 schießt letztlich über das Ziel hinaus, wenn er diese Methodik für die antike Geschichtsschreibung generell postuliert. Seine Hypothese basiert kaum zufällig auf der Analyse einer Episode der römischen Urgeschichte wie sie Livius, Dionysios von Halikarnassos, Plutarch und die Origo gentis Romanae bieten. Dass sich die Historiographie für die Frühzeit des antiquarischen Modells bediente, steht außer Frage, bei zeitgeschichtlich-politischen Themen wird seine Generalisierung jedoch hinfällig.

44

Von der einschlägigen Forschung wird auch L. Calpurnius Piso Frugi (FRHist 9) hervorgehoben, vgl. Sehlmeyer 2003, 161–163.

45

Für Gellius sind mindestens 97 Bücher bezeugt (so Charisius in F10 und F11); in Buch 3 wurde der Raub der Sabinerinnen erzählt (F5), das Jahr 389 v. Chr. wird in Buch 15 verortet (F8, zum Vergleich: Livius behandelt diese Ereignisse in Buch 6); zu Heminas Fokus auf die Frühgeschichte siehe Chassignet 1998.

46

Chassignet 1999.

47

FRH I, 348; Walter 2003a, 137–138. spricht von einer „Sackgasse“; zum Vorwurf der unpolitischen Darstellung vgl. Asellios Polemik gegen die Annalistik (FRHist 20 F1 und F2 mit dem Kommentar ad loc.).

48

Auch dies könnte durch die Verzerrung der Überlieferung bedingt sein, falls der in F31 (Hist. Aug. Prob. 1.1) erwähnte Gellius tatsächlich mit unserem Autor übereinstimmt und nicht viel eher Aulus Gellius gemeint ist: certum est quod Sallustius quodque M. Cato et Gellius historici sententiae modo in litteras rettulerunt, omnes omnium virtutes tantas esse quantas videri eas voluerint eorum ingenia, qui unius cuiusque facta descripserint. Siehe dazu FRHist III, 241. Zu den innenpolitischen Problemen der Zeit siehe etwa Linke 2015; ferner Brunt 1971.

49

Durch L. Coelius Antipater (FRHist 15), M. Aemilius Scaurus (FRHist 18) und Sempronius Asellio (FRHist 20). Siehe dazu etwa Kierdorf 2003, 33–45 sowie 47–60 zur „Jüngeren Annalistik“; zur römischen Autobiographie der Republik Candau 2011.

50

FRH II, 19.

51

Dies zeigt das Beispiel des C. Licinius Macer, siehe dazu Walt 1997, 170–171 gegen Rawson 1985, 218–219 und 233–234. Generell ist unser Wissen über die Literatur dieser Periode sehr beschränkt: Ciceros Überblick in leg. 1.6–7 ist arbiträr und kaum repräsentativ: es fehlen Acilius, Postumius, Cassius Hemina, Cn. Gellius, Rutilius, Claudius Quadrigarius und Valerius Antias.

52

In diese Richtung auch Rawson 1985, 218 und 233. Allein in diesem beschränkten Sinn hat Momiglianos Differenzierung zwischen chronologisch vorgehenden Historikern und systematischen „Antiquaren“ seine Berechtigung. Allerdings finden sich beide Schreibweisen im Werks Varros angewandt. Zur Formierung einer antiquarischen Spezialliteratur in dieser Zeit siehe unten Kap. 6.1.3.

53

Falls beide Werke der archaischen Epoche angehören, was ziemlich wahrscheinlich ist, stehen sie in der (von der Forschung rekonstruierten) römischen Literaturlandschaft der Zeit ähnlich erratisch da wie die weiter unten besprochenen libri Μυσταγωγικῶν des elusiven L. Cincius oder die Libri ἐποπτίδων des Q. Valerius (Soranus) – Postumius: Da beide Fragmente (FRHist 4 F3–4) eindeutig einer eigenen Schrift zugewiesen werden, ist es neben anderen Gründen unwahrscheinlich, dass es sich um einen Teil (z. B. das erste Buch, so Schmidt, RE Suppl. 15, 1607) eines größeren Geschichtswerks handelte. Denkbar ist eine Art Vorgeschichte der Zeit bis zur eigentlichen Stadtgründung. Unklar ist, ob es sich dabei um ein Gedicht handelte (so aufgrund von Polyb. 39.1.4 etwa Schanz/Hosius 1, 177 und Bardon 1, 73). Die Frage, ob das Werk in Latein oder Griechisch geschrieben war, hängt mit der (fraglichen) Identifizierung mit A. Postumius Albinus zusammen, der nachweislich auf Griechisch schrieb (Polyb. 39.1.4; Gell. 11.8.2–3). Siehe dazu Northwood, FRHist I, 185–190 – Lutatius: Der Titel suggeriert Anschluss an die griechische κοινὴ ἱστορία (wie Diod. 1.1.1), doch ist fraglich, inwiefern Lutatius eine „Universalgeschichte“ im eigentlichen Sinn verfasste oder ob er – wie Cato – seinen Fokus einfach über Rom hinausführte. Bemerkenswert ist der antiquarische Inhalt der Fragmente, die auf eine mehrere Bücher starke κτίσις hindeuten, die durch Aitiologien und Etymologien (sporadisch oder konsequent?) einen Gegenwartsbezug herstellte. Noch im dritten der vier bezeugten Bücher ging es um Aeneas (F4) und die Albanischen Könige (F5). Zu den Hypothesen der Forschung über Charakter und Inhalt des Werks siehe Suerbaum, HLL 1 § 172.3.; Smith, FRHist I, 342–343. Zur Identifizierung des Verfassers mit Lutatius Daphnis zuletzt Smith, FRHist I, 341–342 gegen GRF p. 122; Münzer, RE 13, 2081–2083; Suerbaum, HLL 1 § 172.3.

54

Zur Wissens-Spezialisierung im 2. Jhd. v. Chr. am Beispiel der Juristen siehe Moatti 2003, 315–319; zur umstrittenen Frage der griechischen Einflüsse auf die römische Jurisprudenz u. a. Kübler 1934; Watson 1974.

55

Siehe dazu Frier 2000.

56

So etwa Wieacker 1988, 107.

57

Scheid 1998, bes. 20–28; Scheid 2005, 15–83.

58

Siehe auch die oben S. 76–77 zitierte Erörterung des Gaius zum Begriff telum (Ad legem XII tabularum 1 = Dig. 50.16.233.(2)).

59

Fragmente: GRF p. 421; Bremer 1, 111–121; zu seiner Person siehe Frier 1985, 139–148.

60

Da die Ufer öffentlich waren, bedurfte das private Bebauen der staatlichen Erlaubnis, vgl. Kaser 1971, 380–381.

61

Eine moderne Sammlung bietet Ceci 1966; ältere Fachliteratur nennt Wieacker 1988, 655.

62

Auch von Q. Mucius Scaevola Pontifex sind mehrere für die spätere Rechtstradition maßgebliche Definitionen und etymologische Herleitungen überliefert. Sie stammen wahrscheinlich aus seiner Schrift zum römischen Zivilrecht, vgl. Gell. 4.1.17 (= Bremer 1, 74; frg. 1 GRF pp. 124–125): Penus est, inquit, quod […] ex eo quod non in promptu est, sed intus et penitus habeantur, penus dicta sunt; ferner: gentiles (Cic. top. 6.29 = Bremer 1, 81; frg. 2 GRF p. 125); nefrendes (Fest. p. 156, 26–27 Lindsay = Bremer 1, 57; frg. 4 GRF p. 125); petila (Fest. p. 224, 2–4 Lindsay = Bremer 1, 57; frg. 6 GRF p. 125); pontufices (Varro ling. 5.83 = Bremer 1, 57; frg. 7 GRF p. 125); postliminium (Cic. top. 8.37 = Bremer 1, 96; frg. 8 GRF p. 126).

63

Er gilt nach Leistung und Nachwirkung als bedeutendster Jurist der Republik. Sein Hauptwerk, die 18 Bücher De iure civili, eröffnete nach dem Urteil der Klassiker eine neue Epoche. Siehe dazu Wieacker 1988, 549–551 und 596–602; Lehne-Gstreinthaler 2019, 124–125 mit der relevanten Literatur.

64

So die nicht unstrittige These von Falcone 1991.

65

Sollte der in Fest. p. 344, 3–9 Lindsay genannte Aelius (Refriva faba dicitur, ut ait Cincius quoque, quae ad sacrificium referri solet domum ex segete auspici causa […] Aelius dubitat, an ea sit, quae prolata in segetem domum referatur, an quae refrigatur, quod est torreatur) mit Aelius Gallus und nicht mit Aelius Stilo zu identifizieren sein (was völlig ungewiss ist), wäre Cincius’ Schrift noch vor die des Gallus zu datieren, falls hier nicht (was allerdings unwahrscheinlich ist) ein Zitat des Historikers Cincius Alimentus vorliegt.

66

Von Festus (Verrius Flaccus) über ein Duzend mal zitiert, bei Aulus Gellius, Gaius und Servius je einmal. Zu den einzelnen Wörtern mit der relevanten Rechtsliteratur siehe Lehne-Gstreinthaler 2019, 319–322; für eine Diskussion siehe Moreau 2007, bes. 73–77. Für die Art der Definitionen repräsentativ sind Fest. p. 126, 16–19 Lindsay (= frg. 2 Bremer 1, 247): Municeps est, ut ait Aelius Gallus, qui in municipio liber natus est. Item qui ex alio genere hominum munus functus est. Item qui in municipio ex servitute se liberavit a municipe; Fest. p. 326, 21–24 Lindsay (= frg. 13 Bremer 1, 249): Gallus Aelius ait: inter legem et rogationem hoc interest. Rogatio est genus legis; quae lex, non continuo ea rogatio est.rogationon potest non esse lex, si modo iustis comitiis rogata est. Sollte, wie Kaiser 2017 argumentierte, die in einigen Handschriften zur lex Romana Visigothorum enthaltene Abhandlung über Verwandschaftsgrade (Omnium cognationum vocabula et gradus) tatsächlich aus Aelius Gallus’ Wörterbuch stammen, wären hier auch Etymologien (avus < ab avo; atavus < alter avus) enthalten gewesen.

67

Über die Zuweisung der einzelnen Fragmente zum Historiker L. Cincius Alimentus herrscht, wie oben ausgeführt (S. 206 f.), weitgehend Unklarheit. Uneindeutige Bezeugungen sind etwa frg. 1 Bremer 1, 257 (= Serv. Verg. Aen. 2.225): aliiut Cincius: Serv. auct.⟩ dicunt delubrum esse locum ante templum, ubi aqua currit, a diluendo und frg. 8 Bremer 1, 258 (= Arnob. adv. nat. 3.38): Cincius numina peregrina novitate ex ipsa [sc. Novensiles] appellata pronuntiat: nam solere Romanos religiones urbium superatarum partim privatim per familias spargere, partim publice consecrare ac […] brevitatis et compendi causa uno pariter nomine cunctos Novensiles invocari.

68

Allgemein zur von der älteren rechtshistorischen Forschung lange in Frage gestellten „sensibilité au passage du temps“ der römischen Juristen siehe Nörr 1976; Bretone 1989; Moatti 1999; Mantovani 2018, 129–183. Zur Überlappung (begriffs-)historischer Interessen zwischen Jurisprudenz und Grammatik siehe Moatti 2015, 143–147; zur Bedeutung von Sprachtheorie und Grammatik für die (spätrepublikanischen) Juristen Wieacker 1988, 653–660.

69

Die Zuweisung zum Historiker Q. Fabius Pictor ist ebenso wie seine Autorschaft der für einen Fabius Pictor bezeugten Libri iuris pontifici völlig unklar. Siehe dazu die Diskussion in HLL 1 § 157.3. und § 194.4.

70

Klarheit über die Identität der bezeugten Cosconii und den Werkcharakter der auf einen oder mehrere Vertreter dieses Namens zurückgeführten Wissensbestände lässt die Überlieferungslage allerdings nicht zu. Siehe dazu Norden 1895, bes. IIIIV; Schanz/Hosius 1, 584–585.

71

Zu den responsa des Ti. Coruncianus (cos. 280 v. Chr.) siehe Wieacker 1988, 535 und 571.

72

Kommentiert wurden das Zwölftafelgesetz, das prätorische Edikt und die Schriften anderer Juristen; zum Kommentar in der römischen Rechtsliteratur siehe Behrends 1995.

73

Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. Zu diesem Prozess siehe Schulz 1961, 106–113; Wieacker 1988, 519–535; Fögen 2002, 125–165; Schiavone 2012, 154–174; zum Literarisierungsprozess auch Harris 1989, 171–173.

74

Von einer scharfen Zäsur kann indes kaum gesprochen werden, da viele herausragende Vertreter bis zum Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. weiterhin einem Priesterkollegien angehörten. Siehe dazu Wieacker 1988, 523; HLL 1 § 111.1.; zur Pontifikaljurisprudenz der Frühzeit Wieacker 1988, 310–318; Valgaeren 2012.

75

Liv. 9.46.5: civile ius repositum in penetralibus pontificum evolgavit fastosque circa forum in albo proposuit. Siehe dazu Wieacker 1988, 524–527; Rüpke 1995b 245–286; Cancelli 1996; Wolkenhauer 2011, 157–159.

76

Bezeugt ist etwa die Gutachtertätigkeit von Ti. Coruncanius (cos. 280 v. Chr.): Pomponius, Dig. 1.2.2.(35) und (38): Post hos fuit Tiberius Coruncanius, ut dixi, qui primus profiteri coepit; cuius tamen scriptum nullum exstat, sed responsa complura et memorabilia eius fuerunt. Zu den responsa der Priesterkollegien, die wahrscheinlich in Archiven abgelegt wurden, siehe den Forschungsüberblick bei Lehne-Gstreinthaler 2019, 53 ff. Rüpke 2005a, 1490–1493 schreibt Ti. Coruncanius eine Redaktion der libri pontificum zu.

77

Wieacker 1988, 572–595; Schiavone 2012, 105–174.

78

Die entscheidende Quelle ist Pomponius, Dig. 1.2.2.(38): Deinde Sextus Aelius et frater eius Publius Aelius et Publius Atilius (sc. Acilius) maximam scientiam in profitendo habuerunt, ut duo Aelii etiam consules fuerint, Atilius autem primus a populo Sapiens appellatus est. Sextum Aelium etiam Ennius laudavit et exstat illius liber qui inscribitur Tripertita, qui liber veluti cunabula iuris continet; Tripertita autem dicitur, quoniam duodecim tabularum praeposita iungitur interpretatio, deinde subtexitur legis actio. Siehe dazu Behrends 1995, 430–432; kritischer ist Wibier 2014, 61. Zur Ansicht, dass auf jeden Satz des Gesetzes anschließend die interpretatio und die Prozessformeln folgten, siehe Schulz 1961, 62.

79

Die Interpretation war dabei nicht auf veraltete Wörter beschränkt, siehe dazu Wieacker 1988, 571. Zur Bedeutung von interpretatio siehe Fuhrmann 1970 – anders allerdings Nörr 1976, 534–535; Behrends 1995, 431 Anm. 21 und Moatti 2015, 144, Anm. 224.

80

Dies gilt insbesondere für die responsa der Priesterkollegien, die häufig keine Begründung enthielten, sondern autoritativ festlegten. Siehe dazu Lehne-Gstreinthaler 2019, 51–53 mit weiterer Literatur.

81

So Siewert 1978; anders Ducos 1978, 37–41. Vgl. Dyck 2004, 402–403.

82

Gell. 17.7.1–4: Legis veteris Atiniae verba sunt: ‚Quod subruptum erit, eius rei aeterna auctoritas esto.‘ Quis aliud putet in hisce verbis quam de tempore tantum futuro legem loqui? Sed Q. Scaevola patrem suum et Brutum et Manilium, viros adprime doctos, quaesisse ait dubitasseque, utrumne in post facta modo furta lex valeret an etiam in ante facta; quoniam ‚subruptum erit‘ utrumque tempus videretur ostendere, tam praeteritum quam futurum. Itaque P. Nigidius, civitatis Romanae doctissimus, super dubitatione hac eorum scripsit in tertio vicesimo grammaticorum commentariorum; atque ipse quoque putat incertam esse temporis demonstrationem. Weitere Beispiele juristischer Diskussionen über Fragen der Syntax bietet Zetzel 2018, 25–26.

83

Die Iuris civilis libri XVIII des Q. Mucius Scaevola Pontifex (cos. 95) waren schon aufgrund ihrer Ausführlichkeit wahrscheinlich für die Praxis bestimmt, während die an seinen Sohn gerichteten drei (oder sieben) Bücher De iure civili des M. Iunius Brutus (Prätor 142 v. Chr.) offenbar in erster Linie eine didaktische Funktion besaßen. Zu den sog. fundatores iuris civilis (Dig. 1.2.2.(39)) siehe Lehne-Gstreinthaler 2019, 89–105 mit der relevanten Literatur.

84

Dass hier in den einschlägigen Kommentaren zu Ciceros De oratore sogleich an die Tripertita des Sex. Aelius gedacht wird, zeigt, wie wenig man der rechtswissenschaftlichen Literatur der archaischen Epoche zutraut.

85

Anhand der Fragmente nachgewiesen bei Behrends 1995, 434–435. Zur Bedeutung der Zwölftafeln im klassischen Recht siehe Flach 2004; Santucci 2008.

86

Cic. de orat. 1.193: Accedit vero, quo facilius percipi cognoscique ius civile possit, quod minime plerique arbitrantur, mira quaedam in cognoscendo suavitas et delectatio. Nam sive quem haec Aeliana [aliena cod.] studia delectant, plurima est et in omni iure civili et in pontificum libris et in XII tabulis antiquitatis effigies, quod et verborum vetustas prisca cognoscitur et actionum genera quaedam maiorum consuetudinem vitamque declarant.

87

Mantovani 2018, 134 mit den Belegstellen.

88

Bleicken 1975, 189–190.

89

Dig. 33.10.7.(2): Equidem non arbitror quemquam dicere, quod non sentiret, ut maxime nomine usus sit, quo id appellari solet: nam vocis ministerio utimur: ceterum nemo existimandus est dixisse, quod non mente agitaverit. Sed etsi magnopere me Tuberonis et ratio et auctoritas movet, non tamen a Servio dissentio non videri quemquam dixisse, cuius non suo nomine usus sit. Nam etsi prior atque potentior est quam vox mens dicentis, tamen nemo sine voce dixisse existimatur: nisi forte et eos, qui loqui non possunt, conato ipso et sono quodam καὶ τῇ ἀνάρθρῳ φωνῇ dicere existimamus.

90

Grundlegend ist Ulpian, Dig. 1.1.1.(2): publicum ius est quod ad statum rei Romanae spectat, privatum quod ad singulorum utilitatem […] publicum ius in sacris, in sacerdotibus, in magistratibus consistit. Siehe dazu die Analyse von Aricò Anselmo 1983, 452 ff.; vgl. ferner Tellegen-Couperus 2012.

91

Wieacker 1988, 532 Anm. 7: „So wird man Aelius Gallus ungern zu den praktizierenden Juristen zählen, obwohl Gell. 16.5.5 seinen lb. De significatione verborum dem Ius civile zurechnet, Gaius D. 22.1.19 praef. ihn anführt und die Kompilatoren in D. 50.16.157 ein Fragment aufnahmen.“ Sinnvoller erscheint die pragmatische Differenzierung zwischen einem allgemeinen rechtspraktischen Wissen des patronus und dem juristischen Spezialwissen eines iuris consultus wie Q. Mucius Scaevola, der seinerseits ebenfalls als Politiker und Redner tätig war. Siehe dazu Moatti 2003, 313–314.

92

Auf dünner Beweisgrundlage basiert die generalisierende Behauptung von Moatti 2015, 98: „between the second century and the first, another change had taken place: the text of the law had lost much of its practical function; it had become simply an object of scholarly curiosity. Antiquarian research, born in response to both practical and political needs, had acquired an autonomous status.“

93

So denn auch Wieacker 1988, 568. Demgegenüber behauptet Schulz 1961, 54 aufgrund von Cic. leg. 1.14, dass die römischen iuris consulti sich nicht mit dem ius publicum beschäftigten. Allerdings bezweifelt Cicero an der Stelle ihre Kompetenz im rechtsphilosophischen Gebiet des ius universum, nicht im Staatsrecht. Für die Frühzeit vgl. Cic. Cato 50: Quid de P. Licini Crassi et pontifici et civilis iuris studio loquar aut de huius P. Scipionis, qui his paucis diebus pontifex maximus factus est? Bezeichnend ist ferner die Personenidentität derjenigen, die sich literarisch sowohl juristischer als auch historiographischer Formate zugewandt haben. In diesem Zusammenhang ist Pomponius’ polemische Charakterisierung des Coelius Antipater aussagekräftig: et Coelius Antipater, qui historias conscripsit, sed plus eloquentiae quam scientiae iuris operam dedit (Dig. 1.2.2.(40)). An seiner Stellung als iuris peritus ist indes nicht zu zweifeln, vgl. Cic. Brut. 101: L. Caelius Antipater scriptor […] fuit ut temporibus illis luculentus, iuris valde peritus, multorum etiam L. Crassi magister.

94

Zu den Responsen siehe Cohee 1994; zu den Priesterschaften, ihrer Stellung und Funktion als religiöse Experten Rüpke 2002; Rüpke 2011.

95

So etwa Schulz 1961, 46–47. Es ist auffällig, dass alle bekannten Autoren von libri de auguriis Patrizier waren: L. Iulius Caesar, Ap. Claudius Pulcher und C. Claudius Marcellus; eine Prosopographie der römischen Priester bietet Rüpke 2005a.

96

Die Antwort hängt eng mit der Frage nach der Zugänglichkeit der Archive zusammen; zur regen Forschungsdiskussion darüber siehe Lehne-Gstreinthaler 2019, 57 ff. Eine zentrale Stelle sind in diesem Zusammenhang die Worte, die Cicero dem älteren Cato in den Mund legt (Cato 38): omnia antiquitatis monumenta colligo […] ius augurium, pontificum, civile tracto.

97

Fragmente in Bremer 1, 246–252. Vgl. z. B. Fest. p. 424, 13–30 Lindsay (frg. 14 Bremer 1, 250): Gallus Aelius ait sacrum esse, quocumque modo atque instituto civitatis consecratum sit, sive aedis, sive ara, sive signum, sive locus, sive pecunia, sive quid aliud, quod dis dedicatum atque consecratum sit: quod autem privati[s] suae religionis causa aliquid earum rerum deo dedicent, id pontifices Romanos non existimare sacrum. At si qua sacra privata succepta sunt, quae ex instituto pontificum stato die aut certo loco facienda sint, ea sacra appellari, tamquam sacrificium; ille locus, ubi ea sacra privata facienda sunt, vix videtur sacer esse. Für die einschlägigen Stellen siehe Lehne-Gstreinthaler 2019, 322. Weitere Fragmente des Aelius Gallus aus Festus postuliert Moreau 2007, 73–80.

98

Zum Konzept des ius pontificium in Abgrenzung zum ius civile siehe Johnson 2015.

99

Zur folgenden Diskussion siehe Liebs, HLL 1 §§ 194.4. und 194.5., sowie Northwood, FRHist I, 227–229 und III, 192–194 mit weiterer Literatur.

100

Das Spektrum potenzieller Kandidaten erhöht sich, wenn die Texte lediglich auf einen „Fabius“ verweisen. Zur Überschneidung mit Fabius Pictor kommt es z. B. bei Serv. auct. Verg. Aen. 5.73: Fabius Helymum regem in Sicilia genitum, Erycis fratrem fuisse dicit; Serv. auct. Verg. Aen. 8.630: Fabius spelunca Martis dicit.

101

Ein ähnlicher Fall könnte bei Schol. Veron. Verg. Aen. 2.717 vorliegen: Additur etiam ab L. Cassio Censorio, falls Cassius Hemina tatsächlich eine Schrift De censoribus verfasst hat, siehe dazu unten S. 231.

102

Suerbaum, HLL 1 § 157., p. 368; anders Liebs, HLL 1 § 194.4. und Bispham/Cornell, FRHist I, 165.

103

Der Text lautet in allen Handschriften de censoribus lib. II; Lindsay hat die Reihenfolge verändert und druckt stattdessen Cassius Hemina lib. II de censoribus, wohl um de censoribus als Interpretament erscheinen zu lassen. Ob es sich um eine eigene Schrift handelt, ist in der Forschung umstritten: bejahend HLL 1 § 163., p. 421; ablehnend Chassignet 2, xiii; unschlüssig FRH I, 269; Briscoe, FRHist III, 183.

104

Fragmente: Tuditanus: Bremer 1, 35–36; FRHist 10 – Gracchanus: Bremer 1, 37–40.

105

So HRR I, ccii–cciii, zustimmend Chassignet 2, xxviii–xxxiii, FRH I, 330 und FRHist I, 241 (Smith); anders Cichorius 1902, der alle Fragmente der „antiquarischen“ Schrift De magistratibus zuschrieb, zustimmend Sehlmeyer 2003, 163–164; unentschieden Liebs, HLL 1 § 194.8., jedoch mit klarer Identifikation mit dem Konsul von 129 v. Chr.

106

Dies führte zum Eintrag von Bremer 1, 37: M. Iunius Gracchanus, De potestatibus libri ad Pomponium.

107

Erwähnt auch in Schol. Bob. p. 163 Stangl als homo curiosus et diligens eruendae vetustatis. Zur Identifikation des Iunius Congus mit Gracchanus: Cichorius 1908, 123–127; Rankov 1987; Suerbaum, HLL 1 § 190.4. (kritisch). Zu Congus als Gewährsmann für römische Institutionsgeschichte vgl. auch Cic. Planc. 58: In quo, Cassi, si ita respondeam, nescisse id populum Romanum, neque fuisse qui id nobis narraret, praesertim mortuo Congo, non, ut opinor, admirer, cum ego ipse non abhorrens a studio antiquitatis me hic id ex te primum audisse confitear.

108

Aus den Atticus-Briefen sind seine Schwierigkeiten bei der Identifizierung namensgleicher Vertreter römischer Aristokratenfamilien aus dem 2. Jhd. v. Chr. bekannt, vgl. z. B. Att. 13.33 mit dem Kommentar von Shackleton Bailey 1966 ad loc. (Verwechslung des C. Sempronius Tuditanus mit dessen gleichnamigem Vater). Ein Beispiel aus späterer Zeit ist die Notiz Suetons (gramm. et rhet. 4) über die graphische Varianz im Namen des Grammatikers Aurelius Opillus (Opilus/Opillus) in den tituli der Rollen seiner Schriften.

109

Zu diesem „Ennius grammaticus“ siehe HLL 1 § 117. B, p. 125 und § 191.1., p. 546 mit weiterer Literatur; zur Identifizierung des erwähnten Cotta mit L. Aurelius Cotta (cos. 65 v. Chr.) oder L. Aurunculeius Cotta (Legat Caesars in Gallien) bzw. mit C. Aurelius Cotta (cos. 75 v. Chr.) siehe den Kommentar von Kaster 1995 ad loc.

110

Nachgezeichnet u. a. von Rawson 1985, 298 ff.; Rüpke 2006c; Rüpke 2012a, bes. 82–93 und 144–151; Moatti 2015; MacRae 2016, 13–75.

111

Vgl. Varro ling. 5.97: quod Athenis in libris sacrorum scripta est πόρκη et πόρκος. Die Übergänge vom praxisorientierten Handbuch zum gelehrten Sammelwerk waren aller Wahrscheinlichkeit nach fließend. Den Kult betreffende handbuchartige griechische Sammelwerke wie die sog. πάτρια Εὐμολπιδῶν waren im 1. Jhd. v. Chr. greifbar und dienten u. a. als Material für gelehrte Dichtung, vgl. Cic. Att. 1.9: Thyillus te rogat et ego eius rogatu Εὐμολπιδῶν πάτρια. Zu den attischen ἐξηγηταί, den Auslegern des Sakralrechts, vgl. Tresp 1914, 9–10 und 18; Jacoby 1949, 8–51.

112

Bleicken 1975, 408.

113

Man denke etwa an die im tabulinum aufbewahrten monumenta rerum in magistratu gestarum (Plin. nat. 35.7).

114

Rawson 1985, 234; Stevenson 1993, 54–55; Sehlmeyer 2003, 167.

115

Vgl. aber FRHist 10 F2 (= frg. 2 Bremer 1, 35), wo Tuditanus über das maior und minus imperium handelt. Die erwähnte These vertrat erstmals Cichorius 1902; ablehnend Peter, HRR 1, ccii–ciii; zustimmend Münzer, RE n.s. II (1921), 1443 sowie Bardon 1, 105; weiter ausgeführt von Zucchelli 1975 und Behrends 1980; zurückhaltend ist Sehlmeyer 2003, 167; zur Partizipation der Juristen an den politischen Konflikten des 2. Jhd. v. Chr. siehe Lehne-Gstreinthaler 2019, 111–117 mit weiterer Literatur.

116

So Moatti 2015, 144 mit Anm. 226. In eine ähnliche Richtung denkt Glinister 2007, 29 bei der Diskussion über den möglichen Nutzen von Verrius Flaccus’ De verborum significatu für die ins spätaugusteische Rom strömenden neuen Eliten, die sich mit der Stadt Rom und ihrer Geschichte zu identifizieren suchten.

117

Cichorius 1908, 126.

118

Dieser Befund wird mit Blick auf die pontifikalrechtlichen Werke der ausgehenden Republik und der augusteischen Zeit allerdings etwas relativiert. Siehe dazu unten S. 295–301.

119

Macr. Sat. 3.2.3: nam et ex disciplina haruspicum et ex praecepto pontificum verbum hoc sollemne sacrificantibus est, sicut Veranius ex primo libro Pictoris ita dissertationem huius verbi executus est: „exta porriciunto, dis danto, in altaria aramue focumue eoue quo exta dari debebunt.“ (vgl. dazu Varro rust. 1.29 extr.: sic quoque exta deis cum dabant, porricere dicebant; Paul. Fest. p. 243, 4 Lindsay: poriciam porro iaciam); Macr. Sat. 3.2.11: nam primo pontificii iuris libro apud Pictorem verbum hoc positum est vitulari: de cuius verbi significatu Titius ita retulit: vitulari est voce laetari. Varro etiam in libro quinto decimo rerum divinarum ita refert, quod pontifex in sacris quibusdam vitulari soleat, quod Graeci παιανίζειν vocant.

120

Zu möglichen Parallelen mit der aus Augustinus (civ. 6.2) bekannten Zielsetzung Varros, die Götter retten zu wollen, indem er sie in Büchern sammelte und bewahrte (= Varro Ant. rer. div. I frg. 1a Cardauns), siehe unten S. 387–394. Zur Funktion von öffentlich rezitierten Gebetsformeln in der Antike siehe Klinghardt 1999.

121

Macr. Sat. 3.9.6–11 (in der Vermittlung des Serenus Sammonicus; siehe zu diesem unten S. 470). Siehe dazu Bardon 1, 252; Rawson 1991, 93–101; Courtney pp. 107–112; HLL 1 § 190.2.

122

Varro ling. 6.86–88.

123

Vgl. Cic. de orat. 1.256.

124

Zum Prozess der „Politisierung“ der Religion siehe Rüpke 2001, 59–61; Linke 2000 sowie Rawson 1991, 149–168. Beispiele religiöser Kontroversen in der zweiten Hälfte des 2. Jhd. bieten Beard/North/Price 1998, 1: 108–112; zur sakralen Obstruktion als politisch instrumentalisierter Praktik siehe de Libero 1992 und Burckhardt 1988, bes. 178–209.

125

Zur Konsequenz grundlegend Bleicken 1975, 406: „Die Objektivierung der Ordnung im Recht machte die politischen Entscheidungen objektiv verbindlich […]. Die wichtigste Konsequenz dieses Vorgangs ist die, daß die staatlichen Funktionen rational erklärbar und objektiv berechenbar wurden.“

126

Cassius Hemina, FRHist 6 F35; Calpurnius Piso, FRHist 9 F14; Valerius Antias, FRHist 25 F9a und F55; Tuditanus, FRHist 10 F3. Längere Berichte bieten Liv. 40.29.3–14; Val. Max.1.1.12; Plin. nat. 13.84–88; Plut. Numa, 22.2–8; Aug. civ. 7.34; Lact. inst. 1.22.5–6. Siehe zur Affäre mit weiterer Literatur die Diskussion von Briscoe, FRHist III, 177–180 und Suerbaum, HLL 1 § 189.1.b; einen neueren Stand bietet Beck 2018. Hervorzuheben sind besonders Rosen 1985; Willi 1998 und Rosenberger 2003.

127

Numas Autorität gab der griechischen Philosophie gleichsam eine legitimierende Kraft, vgl. Willi 1998, 146: „The burning of Numa’s books looks like a reaction, not so much against the philosophic thoughts they exposed, but rather against their written form, since, at some point of the future, this could allow claims to canonical authority.“

128

Die Kernelemente der Geschichte (Fund, Funddatum und Verbrennung) sind unproblematisch. Abweichungen ergeben sich im Detail: in der Anzahl Särge (einer bzw. zwei), in der Anzahl libri (sieben bzw. zwölf) und in ihrem Inhalt. Siehe dazu FRHist I, 178–179.

129

So Plin. nat. 13.85–86 (= FRHist 6 F35): ipsius Heminae verba ponam: Mirabantur alii, quomodo illi libri durare possent; ille ita rationem reddebat: lapidem fuisse quadratum circiter in media arca evinctum candelis quoquoversum. In eo lapide insuper libros insitos [III sitos coni. May] fuisse; propterea arbitrarier non computuisse. Et libros citratos fuisse; propterea arbitrarier tineas non tetigisse. In his libris scripta erant philosophiae Pythagoricae eosque combustos a Q. Petilio praetore, quia philosophiae scripta essent. Die Abgrenzung des Zitats bereitet Schwierigkeiten, weshalb die Fragmente in Chassignet, FRH und FRHist variieren; die im Text zitierte Fortsetzung macht aber deutlich, dass bei Hemina eine nähere Inhaltsbestimmung fehlte.

130

Vgl. Walter 2004, 380 Anm. 30: „Piso könnte die sieben Bücher sakralrechtlichen Inhalts hinzugesetzt haben, um dem ‚hellenischen‘ Numa im römischen Religionsnomotheten aufgehen zu lassen.“

131

Diese ist alt und geht vielleicht bis auf Aristoxenus von Tarent (4./3. Jhd.) zurück. Zu Antias vgl. Liv. 40.29.8: Adicit Antias Valerius Pythagoricos fuisse, vulgatae opinioni, qua creditur Pythagorae auditorem fuisse Numam, mendacio probabili accomodata fide. Zur Verbindung Numas mit Pythagoras siehe Gruen 1990, 158–170. Panitschek 1990 hält die Numa-Pythagoras-Tradition für das Ergebnis antiquarischer Forschungen. Eine Problematisierung der Diskussion über die Ursprünge der pythagoreischen Philosophie in Rom bietet Humm 1996 und Humm 1997.

132

Rosen 1985, 24. Zu den angeblichen commentarii des Servius Tullius siehe oben S. 72 Anm. 52.

133

Dass es sich um eine Fälschung handelte, ist Konsens der Forschung, doch sind die Beweggründe umstritten. Siehe dazu FRHist III, 179. Indizien lassen die Urheber im Umfeld des M. Fulvius Nobilior vermuten, der sich mit Numa und pythagoreischem Gedankengut auseinandersetzte, vgl. HLL 1 § 189. 1b. Gegen die von Gruen 1990, 163–170 vorgebrachte These einer vom Senat inszenierten Charade wendet sich Beck 2018, der von einem tatsächlichen Fund von Schriften religiösen Inhalts ausgeht, die nachträglich Numa (wem sonst?) zugesprochen wurden. Dass es in der Antike Zweifel an der Authentizität gab, hat man aus dem Diskurs über die Haltbarkeit von Papyrusrollen schließen wollen, vgl. schon Cassius Hemina, FRHist 6 F35: mirabantur alii quomodo illi libri durare possent; Livius 40.29.6: libros non integros modo, sed recentissima specie.

134

Aug. civ. 7.34: Sed contra invenimus, sicut ipse vir doctissimus prodidit, de Numae Pompilii libris redditas sacrorum causas nullo modo potuisse tolerari nec dignas habitas, quae non solum lectae innotescerent religiosis, sed saltem scriptae reconderentur in tenebris. Iam enim dicam, quod in tertio huius operis libro me suo loco dicturum esse promiseram. Nam, sicut apud eundem Varronem legitur in libro de cultu deorum, „Terentius quidam cum haberet ad Ianiculum fundum et bubulcus eius iuxta sepulcrum Numae Pompilii traiciens aratrum eruisset ex terra libros eius, ubi sacrorum institutorum scriptae erant causae, in urbem pertulit ad praetorem. At ille cum inspexisset principia, rem tantam detulit ad senatum. Ubi cum primores quasdam causas legissent, cur quidque in sacris fuerit institutum, Numae mortuo senatus adsensus est, eosque libros tamquam religiosi patres conscripti, praetor ut combureret, censuerunt.“

135

Keine andere Quelle spricht von causae. Eine antiquarische Spezialisierung in dieser Form würde mit Blick auf die obigen Ausführungen einen literaturgeschichtlichen Anachronismus darstellen, aber gut zu Varro und zur antiquarischen Fachschriftstellerei seiner Zeit passen.

136

Siehe dazu die Diskussion bei Willi 1998.

137

Aug. civ. 7.34: Me admonere sufficiat sacrorum causas a rege Pompilio Romanorum sacrorum institutore conscriptas nec populo nec senatui nec saltem ipsis sacerdotibus innotescere debuisse ipsumque Numam Pompilium curiositate inlicita ad ea daemonum pervenisse secreta, quae ipse quidem scriberet, ut haberet unde legendo commoneretur; sed ea tamen, cum rex esset, qui minime quemquam metueret, nec docere aliquem nec delendo vel quoquo modo consumendo perdere auderet. Ita quod scire neminem voluit, ne homines nefaria doceret, violare autem timuit, ne daemones iratos haberet, obruit, ubi tutum putavit, sepulcro suo propinquare aratrum posse non credens […]; 7.35: Nam et ipse Numa, ad quem nullus Dei propheta, nullus sanctus angelus mittebatur, hydromantian facere compulsus est, ut in aqua videret imagines deorum vel potius ludificationes daemonum, a quibus audiret, quid in sacris constituere atque observare deberet. Quod genus divinationis idem Varro a Persis dicit allatum, quo et ipsum Numam et postea Pythagoram philosophum usum fuisse commemorat. […] His tamen artibus didicit sacra illa Pompilius, quorum sacrorum facta prodidit, causas obruit (ita timuit et ipse quod didicit), quarum causarum proditos libros senatus incendit. […] In illa igitur hydromantia curiosissimus rex ille Romanus et sacra didicit, quae in libris suis pontifices haberent, et eorum causas, quas praeter se neminem scire voluit. Itaque eas seorsum scriptas secum quodam modo mori fecit, quando ita subtrahendas hominum notitiae sepeliendasque curavit.

138

Aug. civ. 7.34: Numae mortuo senatus adsensus est, eosque libros tamquam religiosi patres conscripti, praetor ut combureret, censuerunt. Zur Bedeutung der Wendung tamquam religiosi in der Rechtfertigung Varros siehe Willi 1998, 142–143. Aus der christlichen Sicht Augustins war die Bücherverbrennung schon daher ein unverzeihliches Verbrechen, weil dadurch die Wahrheit über die heidnische Religion zerstört wurde. Doch entsprach dies der göttlichen Vorsehung, vgl. dazu seine Versicherung in civ. 7.35: Sed occulta Dei veri providentia factum est, ut et Pompilio amico suo illis conciliati artibus, quibus hydromantia fieri potuit, cuncta illa confiteri permitterentur, et tamen, ut moriturus incenderet ea potius quam obrueret, admonere non permitterentur; qui ne innotescerent nec aratro, quo sunt eruta, obsistere potuerunt, nec stilo Varronis, quo ea, quae de hac re gesta sunt, in nostram memoriam pervenerunt.

139

Aug. civ. 7.35: Aut ergo daemonum illic tam sordidae et noxiae cupiditates erant conscriptae, ut ex his tota illa theologia civilis etiam apud tales homines execrabilis appareret, qui tam multa in ipsis sacris erubescenda susceperant; aut illi omnes nihil aliud quam homines mortui prodebantur, quos tam prolixa temporis vetustate fere omnes populi gentium deos inmortales esse crediderant; nach der Übersetzung von Thimme 1997 I, 369.

140

Vgl. den Titel des 33. Kapitels, das den Abschluss der Argumentation des 7. Buches einleitet: Quod per solam Christianam religionem manifestari potuerit fallacia spirituum malignorum de hominum errore gaudentium.

141

So dezidiert Rüpke 2001, 63–64. Anders Suerbaum, HLL 1 § 117., p. 131, der Ennius’ Epicharmus und Euhemerus als in konservativen Kreisen potenziell anstößige Schriften herausstellt. Bekanntlich kam es im zweiten Jahrhundert mehrfach zu Skandalen und Prozessen, die mit dem Einfluss griechischer Denkweise in Verbindung standen, dazu etwa Latte 1960, 264 ff.; Rawson 1991, 80–81. Dabei handelte es sich aber um Reflexe eines römischen Traditionalismus und nicht um die Angst vor einer Entmythisierung. Zur These der Entmythisierung der römischen Religion siehe Montanari 1986.

142

Siehe dazu die Analyse von Willi 1998, 147–159; zu Numa als römischem exemplum Walter 2004, 374–382, das Zitat auf 381.

143

Plut. Num. 22.2: ἐκδιδάξας δὲ τοὺς ἱερεῖς ἔτι ζῶν τὰ γεγραμμένα καὶ πάντων ἕξιν τε καὶ γνώμην ἐνεργασάμενος αὐτοῖς, ἐκέλευσε συνταφῆναι μετὰ τοῦ σώματος, ὡς οὐ καλῶς ἐν ἀψύχοις γράμμασι φρουρουμένων τῶν ἀπορρήτων; in der Übersetzung von K. Ziegler, Plutarch. Große Griechen und Römer 1, 1971, 199.

144

Cic. rep. 2.28: Quae cum Scipio dixisset, ‚verene‘ inquit Manilius ‚hoc memoriae proditum est, Africane, regem istum Numam Pythagorae ipsius discipulum aut certe Pythagoreum fuisse? Saepe enim hoc de maioribus natu audivimus, et ita intellegimus vulgo existimari; neque vero satis id annalium publicorum auctoritate declaratum videmus.‘ M’. Manilius war Rechtsschriftsteller und gehörte zu den drei fundatores iuris civilis, vgl. Dig. 1.2.2.(39).

145

Rawson 1991, 59: „Cicero’s youth fell in the first heyday of antiquarianism.“

146

So schon Hertz 1842, 61 ff.; zur Diskussion siehe oben. Die zeitliche Verortung dieses L. Cincius ist umstritten. Auf die antiken Autorenlisten ist chronologisch kein Verlass (vgl. Arnob. nat. 3.38: Piso, Granius, Varro, Cornificius, Manilius, Cincius; Char. gramm. 1, p. 169, 17–18 Barwick: licet Varro et Tullius et Cincius). Hertz datiert ihn in die Zeit des Augustus, ebenso Sehlmeyer 2003, 169 (in der Meinung, dass in frg. 15 GRF p. 377 (= Gell. 16.4.1) die germanischen Hermunduren erwähnt werden, recte: Julien 1998, 171 ad loc.). Rawson 1985, 247–248 stuft ihn als nachvarronisch ein, weil er von Cicero und Varro nicht erwähnt wird. Da ihn aber Verrius Flaccus mehrfach als Autorität zitiert, war er kaum ein Zeitgenosse desselben. Nach Rüpke 2006a, 501 Anm. 24 (mit Verweis auf Fest. p. 439, 18–22 Lindsay und Fest. p. 166, 11–17 Lindsay) soll Cincius von Verrius Flaccus wegen seiner Zitate aus Aelius Stilo herangezogen worden sein, doch ist zweifelhaft, ob sich aus diesen Passagen tatsächlich auf die Chronologie der Autoren schließen lässt: Fest. p. 439, 18–22 Lindsay: Salias virgines Cincius ait esse conducticias, quae ad Salios adhibeantur apicibus paludatas, quas Aelius Stilo scripsit sacrificium facere in regia cum pontifice paludatas cum apicibus in modum Saliorum; Fest. p. 166, 11–17 Lindsay: Naucum ait Ateius Philologus poni pro nugis. Cincius, quod oleae nucisque intus sit. Aelius Stilo omnium rerum putamen. Für eine Datierung ins frühe erste Jahrhundert oder früher sprach sich Heurgon 1964, 434 aus, mit dem Argument, dass Cincius die bei Livius 7.3.5–7 erwähnte Inschrift des clavus annalis (siehe unten S. 247) gesehen habe, bevor der Capitolinische Tempel 83 v. Chr. durch Feuer zerstört wurde. Eine Datierung vor Varros Antiquitates legt auch Macr. Sat. 1.12.12 nahe: Cincius in eo libro, quem de fastis reliquit, aitCincio etiam Varro consentit.

147

Bremer 1, 252–260; GRF pp. 371–382. Siehe dazu unten S. 248–253.

148

So die etablierte Deutung von Heurgon 1964; ebenso Gabba 1981, 61, gefolgt von MacRae 2016, 34. Vgl. auch Rawson 1985, 247. Zur Bedeutung von mystagogus als „Führer in Geheimnisse“ (Mystagoge) und als „Führer durch religiöse Monumente“ siehe ThLL 8, 1752; zum Einfluss Polemons auf die spätere periegetische Literatur Angelucci 2011.

149

Vgl. Liv. 6.29.8: T. Quinctius, semel acie victor, binis castris hostium, novem oppidis vi captis, Praeneste in deditionem accepto Romam revertit triumphansque signum Praeneste devectum Iovis Imperatoris in Capitolium tulit. Dedicatum est inter cellam Iovis ac Minervae tabulaque sub eo fixa, monumentum rerum gestarum, his ferme incisa litteris fuit: „Iuppiter atque divi omnes hoc dederunt ut T. Quinctius dictator oppida novem caperet“.

150

So HRR I, cxii; Heurgon 1964; FRHist I, 183. Dagegen führen Chassignet und FRH die Passage unter den Fragmenten des Cincius Alimentus (frg. 9).

151

Heurgon 1964, 434 leitet daraus die Datierung der Schrift vor der Zerstörung des Tempels im Jahr 83 v. Chr. ab; zum Gesetz siehe Flach 1994, 45–50. Die clavi annales behandelte auch Verrius Flaccus, vgl. Paul. Fest. p. 49, 7–9 Lindsay.

152

So die allgemein akzeptierte These von Münzer 1897, 166. Zur Identifizierung dieses Procilius siehe FRHist I, 645–646, wo er im Gegensatz zu HRR und Chassignet nicht unter die römischen Historiker aufgenommen wurde. Unsere Kenntnisse beruhen auf Plin. nat. 8.4; hier wird erwähnt, dass gemäß dem Bericht des Procilius die Elefanten, die im Triumphzug des Pompeius (81 v. Chr.) mitgeführt wurden, die porta triumphalis nicht passieren konnten. Aus demselben Werk stammen wohl die aitiologisch-etymologischen Erklärungen, die Varro in ling. 5.148 (zum lacus Curtius) und 5.154 (ad Murciae) erwähnt. Cicero hat dem Procilius die Schriften des Dikaiarchos vorgezogen (Att. 2.2), doch muss dies bei seiner Vorliebe für diesen Autor (vgl. Tusc. 1.77: deliciae meae Dicaearchus) nicht viel besagen.

153

Gell. 16.4.1–5: Cincius in libro tertio de re militari fetialem populi Romani bellum indicentem hostibus telumque in agrum eorum iacientem hisce verbis uti scripsit: „Quod populus Hermundulus hominesque populi Hermunduli adversus populum Romanum bellum dicit […].“ Item in libro eiusdem Cincii de re militari quinto ita scriptum est: „Cum dilectus antiquitus fieret et milites scriberentur, ius iurandum eos tribunus militaris adigebat in verba haec: ‚C. Laelii C. fili consulis […].‘ Milites autem scriptis dies praefinibatur, quo die adessent et citanti consuli responderent; deinde ita concipiebatur ius iurandum, ut adessent, his additis exceptionibus: ‚Nisi harunce quae causa erit […].‘ Item in eodem libro verba haec sunt: „Miles cum die, qui prodictus est, aberat neque excusatus erat, infrequens notabatur.“

154

Gell. 16.4.6: Item in libro sexto hoc scriptum est: „Alae dictae exercitus equitum ordines, quod circum legiones dextra sinistraque tamquam alae in avium corporibus locabantur. In legione sunt centuriae sexaginta, manipuli triginta, cohortes decem.“

155

Fest. p. 276, 18–277, 2 Lindsay: „Albanos rerum potitos usque ad Tullum regem; Alba deinde diruta usque ad P. Decium Murem consulem populos Latinos ad caput Ferentinae, quod est sub monte Albano, consulere solitos, et imperium communi consilio administrare; itaque quo anno Romanos imperatores ad exercitum mittere oporteret iussu nominis Latini, conplures nostros in Capitolio a sole oriente auspicis operam dare solitos. Ubi aves addixissent, militem illum, qui a communi Latio missus esset, illum quem aves addixerant, praetorem salutare solitum, qui eam provinciam optineret praetoris nomine.“ Zur Bedeutung der Textstelle für die Erforschung der frühen römischen Geschichte siehe Sánchez 2014 und Drogula 2015, 29–31, der hier aber Cincius irrtümlich mit dem Historiker Cincius Alimentus identifiziert.

156

Lehne-Gstreinthaler 2019, 317.

157

U. a. Varro, ling. 6.33–34 (Zitat unten S. 251 Anm. 159); Cens. 22.9–13 (Zitat unten S. 251 Anm. 160); Macr. Sat. 1.12.16. Zum strittigen Werkcharakter von Fulvius’ Fasti siehe weiter unten S. 252 f.

158

Nach dem Zeugnis der Fasti Praenestini zog [Verrius Flaccus] die Herleitung von Aphrodite vor; die Herleitung von aperiri wird aber als Alternative erwähnt: Fasti Praen. CIL I2.1, p. 235: ⟨Aprilis aVenere, quod ea cumMarte iungitur mater Aeneae regis Latinorum a quo populus Romanus ortus est … hoc mense, quia fruges flores animaliaque ac maria et terrae aperiuntur. In Macrobius’ ausführlicher Diskussion der Monatsnamen in Sat. 1.12.8–38 wird regelmäßig Fulvius’ Deutungsansatz an erster Position, derjenige des Cincius’ an zweiter Position genannt. Der Grund liegt darin, dass Macrobius das römische 10-Monatsjahr auf Romulus zurückführt und in der Folge die Monatsnamen als seine Einrichtung darstellt (Sat. 1.12.3–5).

159

Ebenso, jedoch ohne Verweis auf Cincius, Varro ling. 6.33: Mensium nomina fere sunt aperta, si a Martio, ut antiqui instituerunt, numeres: nam primus a Marte. Secundus, ut Fulvius scribit et Iunius, a Venere, quod ea sit Ἀφροδίτη; cuius nomen ego antiquis litteris quod nusquam inveni, magis puto dictum, quod ver omnia aperit, Aprilem.

160

Cens. 22.9–12: Nomina decem mensibus antiquis Romulum fecisse Fulvius et Iunius auctores sunt. Et quidem duos primos a parentibus suis nominasse, Martium a Marte patre, Aprilem ab Aphrodite id est Venere, unde maiores eius oriundi dicebantur; proximos duos a populo, Maium a maioribus natu, Iunium a iunioribus; ceteros ab ordine, quo singuli erant, Quintilem usque Decembrem perinde a numero. Varro autem Romanos a Latinis nomina mensum accepisse arbitratus auctores eorum antiquiores quam urbem fuisse satis argute docet. Itaque Martium mensem a Marte quidem nominatum credit, non quia Romuli fuerit pater, sed quod gens Latina bellicosa; Aprilem autem non ab Aphrodite, sed ab aperiendo, quod tunc ferme cuncta gignantur et nascendi claustra aperiat natura; Maium vero non a maioribus, sed a Maia nomen accepisse, quod eo mense tam Romae quam antea in Latio res divina Maiae fit et Mercurio; Iunium quoque a Iunone potius quam iunioribus, quod illo mense maxime Iunoni honores habentur. Varros Konsequenz zeigt sich darin, dass er sogar die nachromuleische Vorschaltung von zwei Monaten (Januar und Februar) durch Numa als latinisch erklärte (Cens. 22.13): ceterum Ianuarium et Februarium postea quidem additos, sed nominibus iam ex Latio sumptis: et Ianuarium ab Iano, cui adtributus est, nomen traxisse, Februarium a februo. Die Passage stammt mit ziemlicher Sicherheit aus den Antiquitates rerum humanarum und zeigt, dass Varro (wie Cincius) seine Position auf der Kontrastfolie von Iunius und Fulvius entwickelte. Dass Varro seine Meinung ändern konnte bzw. Inkonsequenzen stehen ließ, zeigt der Eintrag zum Juni in ling. 6.33: Tertius a maioribus Maius, quartus a iunioribus dictus Iunius. Zur Diskussion der Etymologien siehe de Melo 2019, II: 839–842.

161

Macr. Sat. 1.12.16–18: Maium Romulus tertium posuit, de cuius nomine inter auctores lata dissensio est. Nam Fulvius Nobilior in fastis, quos in aede Herculis Musarum posuit, Romulum dicit postquam populum in maiores iunioresque divisit, ut altera pars consilio altera armis rem publicam tueretur, in honorem utriusque partis hunc Maium, sequentem Iunium mensem vocasse. […] Cincius mensem nominatum putat a Maia quam Vulcani dicit uxorem argumentoque utitur quod flamen Vulcanalis Kalendis Maiis huic deae rem divinam facit; Sat. 1.12.30: Iunius Maium sequitur aut ex parte populi, ut supra diximus [1.12.16], nominatus aut ut Cincius arbitrabatur quod Iunonius apud Latinos ante vocitatos diuque apud Aricinos Praenestinosque hac appellatione in fastos relatus sit. Bemerkenswert ist, dass Macrobius an dieser Stelle als Gewährsmann der latinischen Erklärung auf Cincius, aber nicht auf Varro verweist, obwohl dieser nach dem oben zitierten Zeugnis des Censorinus (Cens. 22.9–13) dieselbe Meinung vertreten hatte. Anders Rüpke 2006, 502, der (trotz Sat. 1.12.13 Cincio Varro consentit) Varro als Gewährsmann von Cincius ansieht.

162

Macr. Sat. 1.12.16. Einschlägig sind mehrere Publikationen von Jörg Rüpke, der für eine längere Dedikationsüberschrift argumentiert, in die erläuternde Passagen zur Kalendergeschichte integriert waren: Rüpke 1995a; Rüpke 1995b, 331–368; Rüpke 2006a. Vgl. ferner Sciarrino 2004.

163

Zusätzlich zur oben zitierten Stelle: Macr. Sat. 1.12.21 und Cens. 20.2–4 (wo erneut Fulvius’ auffälliges Interesse an Numa hervortritt).

164

Die Genannten haben nachweislich sakralrechtliche Abhandlungen verfasst, die von Verrius Flaccus zitiert wurden (vgl. Fest. p. 152, 6 Lindsay: quemadmodum Veranius docet, so dann auch Macr. Sat. 3.5.6: Veranius … docet) – Veranius: Datierung: GRF p. 429 (augusteische Zeit); Bremer 2.1, 5–7 (Legat des Germanicus). Schriften: Auspiciorum libri, darin ein Buch de comitiis (Fest. p. 366, 10–11 Lindsay); Pontificales quaestiones, darin ein Buch de supplicationibus (Macr. Sat. 3.6.14) und möglicherweise ein Buch de pontificalibus verbis (Macr. Sat. 3.20.2). Siehe dazu unten S. 301 – Titius: Datierung: GRF p. 556 (augusteische Zeit); Bremer 1, 131–132 (Zeit Ciceros). Schriften: Er scheint über Priesterkleider geschrieben zu haben (als Teil eines größeren Werks?), evtl. ist er identisch mit dem in Macr. Sat. 3.11.5 erwähnten Tertius. Dass er zeitlich vor Veranius schrieb, könnte sich aus Fest. p. 222, 13–17 Lindsay ergeben: Offendices ait esse Titius nodosAt Veranius coriola existimat, quae sint in loris apicis, quibus apex retineatur, quae ab offendendo dicantur. Ein weiterer Hinweis für eine (frühe) Datierung ist Macr. Sat. 3.2.11: nam primo pontificii iuris libro apud Pictorem verbum hoc positum est vitulari: de cuius verbi significatu Titius ita retulit vitulari est voce laetari. Varro etiam in libro quinto decimo rerum divinarum ita refert, quod pontifex in sacris quibusdam vitulari soleat, quod Graeci παιανζειν vocant. Unklar ist, ob es sich um denselben Titius handelt. Literatur: RE 6 A (1937), 1554; HLL 1 § 195.6. Zu seiner kalendarischen Schrift De feriis siehe unten S. 362 – Umbro: nur in Macr. Sat. 1.16.10: Prudentem expiare non posse Scaevola pontifex adseverabat, sed Umbro negat eum pollui, qui […]; möglicherweise in einer pontifikalrechtlichen Schrift. Siehe dazu HLL 1 § 195.5. Unklar ist, ob auch der mehrfach von Varro zitierte, schwer identifizierbare Man(i)lius zu den Rechtsschriftstellern zu zählen ist, vgl. GRF pp. 84–85; Bremer 1, 107: De iure sacro? (fortasse L. Manilius, proquaestor Sullae circa 84 [v. Chr.]). Siehe die Diskussion in HLL 1 § 151.

165

Zur Einbeziehung des antiquarischen Aspekts in die Konzeption der Grammatik siehe Bravo 1971; Bravo 2006, 248–253; Bravo 2007, 521–522.

166

Zu den Anfängen von Philologie und Grammatik in Rom siehe Della Corte 1981; Moussy 1996; HLL 1 § 191.1. und §§ 192–193; Baratin 2000; Zetzel 1981, 10–26 und Zetzel 2018, 15–30.

167

Zu Suetons Darstellungsinteresse siehe Zetzel 2018, 16–17 und 24; zu den Tendenzen der antiken Wissenschaftsgeschichte Zhmud 2020.

168

Vgl. Gell. 15.24.1: Sedigitus in libro, quem scripsit de poetis, quid de his sentiat, qui comoedias fecerunt, et quem praestare ex omnibus ceteris putet […] his versibus demonstrat.

169

Weniger skeptisch ist Suerbaum, HLL 1 § 191.1.g.

170

Zur modernen Diskussion urrömischer „Literatur“-Traditionen in Auseinandersetzung mit HLL 1 siehe Feeney 2005, 232–237.

171

Zetzel 1981, 10–13; Blänsdorf 1988.

172

Ausgeführt wahrscheinlich im ersten Buch der Disciplinae, das der Grammatik gewidmet war. Die Sacherklärung war Bestandteil der enarratio, einer der vier Funktionsbestimmungen (officia) der ars grammatica, vgl. Diom. GL 1, 426, 21–25 (= GLF p. 266): Grammaticae officia, ut adserit Varro, constant in partibus quattuor: lectione, enarratione, emendatione, iudicio. Lectio est […]. Enarratio est obscurorum sensuum quaestionumque explanatio […]; ferner Mar. Victorin. gramm. GL 6, 4, 4–7: ut Varroni placet, ars grammatica, quae a nobis litteratura dicitur, scientia est ⟨eorum⟩ quae a poetis, historicis oratoribusque dicuntur ex parte maiore. Eius praecipua officia sunt quattuor, ut ipsi placet: scribere, legere, intellegere, probare; dazu auch Dion. Thrax. gramm. 1: Μέρη δὲ αὐτῆς ἐστιν ἕξ· πρῶτον ἀνάγνωσις ἐντριβὴϲ κατὰ προσῳδίαν, δεύτερον ἐξήγησις κατὰ τοὺς ἐνυπάρχοντας ποιητικοὺς τρόπους, τρίτον γλωσσῶν τε καὶ ἱστοριῶν πρόχειρος ἀπόδοσις, τέταρτον ἐτυμολογίας εὕρεσις, πέμπτον ἀναλογίας ἐκλογισμός, ἕκτον κρίσις ποιημάτων, ὃ δὴ κάλλιστόν ἐστι πάντων τῶν ἐν τῇ τέχνῃ. Zum ἱστορικὸν μέρος siehe Barwick 1922, 217–226, der die römische ars grammatica auf eine stoische τέχνη des zweiten Jhds. v. Chr. zurückführen möchte; relativierend Baratin 2000, 459–464; zu Varro und der lateinischen Grammatik siehe Collart 1954; zu seiner Bedeutung Taylor 1988.

173

Dies dokumentieren u. a. Seneca (epist. 108) und Sextus Empiricus (adv. gramm. 90 ff. und 248–269). Zu Sextus Empiricus und seiner Beschreibung des τὸ ἱστορικόν als Bestandteil der Grammatik siehe Bravo 2006, 249–253; gegen die historische Dimension der Grammatik argumentiert (allerdings auf viel zu geringer Textbasis, nämlich allein auf Dionysios Thrax) Lallot 2011.

174

Dieser Gegenwartsbezug kann in unterschiedlichen Bereichen auf unterschiedliche Weise erfolgen. So können etwa in der Formenlehre alte und neue Flexionsformen in einen kausal-genetischen Zusammenhang gebracht werden.

175

Von einem fachwissenschaftlichen Diskurs wird hier gesprochen, um die für die literarische Produktion unwesentliche Differenzierung zwischen berufsmäßigen und nicht-berufsmäßigen Grammatiker zu umgehen.

176

Zum Cognomen vgl. Suet. gramm et rhet. 3: cognomine duplici fuit; nam et Praeconicus, quod pater eius praeconium fecerat, vocabatur et Stilo, quod orationes nobilissimo cuique scribere solebat.

177

Zu Leben und Werk siehe Goetz, RE 1 (1894), 532–533; Schanz/Hosius 1, 232–234; Rawson 1985, 233–235 und 269–270; Kaster 1995, 68–78; Suerbaum, HLL 1 § 192.; Zetzel 2018, 29–30.

178

Zur dahinterstehenden Tradition der stoischen Dialektik in der Nachfolge von Chrysipps περὶ ἀξιωμάτων siehe bes. Barwick 1957, 21–24; die stoische Prägung Stilos geht aus einer offenkundig negativen Bemerkung Ciceros hervor (Brut. 206: stoicus esse voluit); ferner aus seiner Applikation des berüchtigten stoischen Erklärungsprinzips ex contrario, vgl. Paul. Fest. p. 109, 22–24 Lindsay (= frg. 15 GRF pp. 61–62): militem Aelius a mollities κατὰ ἀντίφασιν dictum putat, eo quod nihil molle sed potius asperum quid gerat. Zu Stilos Kenntnisse der hellenistischen Philologie siehe u. a. Kaster 1995, 78.

179

Bezeugt auch für Aelius’ Schwiegersohn Servius Clodius, ferner Aurelius Opillus (GRF pp. 86–95, siehe unten S. 263 f.), Volcacius Sedigitus (GRF pp. 82–84) und Accius (GRF pp. 22–32). Die Methoden der Echtheitskritik orientierten sich an den Kategorien Stil und Chronologie, scheinen aber nicht selten auf reiner Intuition beruht zu haben, vgl. zu Serv. Clodius: Cic. fam. 9.16.4: facile diceret „hic versus Plauti non est, hic est.“. Siehe dazu Zetzel 1981, 17–19.

180

Zum Beispiel würde frg. 11 GRF pp. 60–61 (= Isid. orig. 10.159) inhaltlich gut zu Aelius Gallus passen: latro, insessor viarum, a latendo dictus: Aelius autem „latro est“, inquit, „latero ab latere, insidator viae“ trotz Funaiolis Hinweis auf Varro ling. 7.52: latrones […] aut quod latent ad insidias faciendas.

181

Die modernen Kommentare schweigen darüber. Vgl. als Parallelstelle noch Gell. 2.10.3: Varro rescripsit in memoria sibi esse […], sed Q. Valerium Soranum solitum dicere ait […]. Er war Nachbar und Bekannter Ciceros, siehe dazu unten. Zur Wendung dicere solitus vgl. Cic. rep. 1.27: ut Africanum avum meum scribit Cato solitum esse dicere. Im Singular ist dicere bzw. ait in De lingua Latina bei Dichterzitaten häufig. Ablehnend ist Reitzenstein 1901, 31: (zu 6.7) „hieraus [hat man] nicht notwendig auf nur mündliche Mitteilung zu schließen.“

182

Cic. de orat. 1.193: Accedit vero, quo facilius percipi cognoscique ius civile possit, quod minime plerique arbitrantur, mira quaedam in cognoscendo suavitas et delectatio; nam, sive quem haec Aeliana [aliena cod.] studia delectant, plurima est et in omni iure civili et in pontificum libris et in XII tabulis antiquitatis effigies, quod et verborum vetustas prisca cognoscitur et actionum genera quaedam maiorum consuetudinem vitamque declarant. Genuss bietet die Beschäftigung mit dem Recht auch dem Staatsmann und dem Philosophen: sive quem civilis scientia, quam Scaevola non putat oratoris esse propriam, sed cuiusdam ex alio genere prudentiae, totam hanc descriptis omnibus civitatis utilitatibus ac partibus XII tabulis contineri videbit: sive quem ista praepotens et gloriosa philosophia delectat, – dicam audacius – hosce habet fontis omnium disputationum suarum, qui iure civili et legibus continentur.

183

Dazu dezidiert Lehmann 1984; siehe ferner, mit der älteren Forschung, Dahlmann 1932, 48–51.

184

Fragmente: GRF pp. 108–110 – Zu seiner Person: Goetz, RE 4, 1669–1670. Zu den primigenia siehe unten S. 308.

185

Cic. Brut. 169: Atque etiam apud socios et Latinos oratores habiti sunt […] Q.D. Valerii Sorani, vicini et familiares mei, non tam in dicendo admirabiles quam docti et Graecis litteris et Latinis. Auf persönlichen Unterricht deutet die oben zitierte Passage in Gell. 2.10.3: Varro […] Q. Valerium Soranum solitum dicere ait […]. So schon Cichorius 1906, 60.

186

Er war ein Nachbar Ciceros am Liris (zusammen mit seinem Bruder, vicini et familiares mei: Brut. 169) und wird mit dem im Auftrag des Pompeius 82 v. Chr. ermordeten Volkstribunen gleichgesetzt (Plut. Pomp. 10.4), vgl. Broughton 1952, 68. Zu Leben und Werk siehe Cichorius 1906; Schanz/Hosius 1, 163–164; Helm, RE VIII A 1 (1955), 225–226; Bardon 1, 181–183; HLL 1 § 145.; Cairns 2010, 258–259.

187

Zum Titel und seiner möglichen Bedeutung siehe Köves-Zulauf 1970.

188

Aug. civ. 7.9: In hanc sententiam etiam quosdam versus Valerii Sorani exponit idem Varro in eo libro, quem seorsum ab istis de cultu deorum scripsit; qui versus hi sunt:Iuppiter omnipotens regum rerumque deumque / progenitor genetrixque deum, deus unus et omnes.“ Exponuntur autem in eodem libro ita: cum marem existimarent qui semen emitteret, feminam quae acciperet, Iovemque esse mundum et eum omnia semina ex se emittere et in se recipere:cum causa, inquit, scripsit Soranus ‚Iuppiter progenitor genetrixque‘; nec minus cum causa unum et omnia idem esse; mundus enim unus, et in eo uno omnia sunt.“

189

Köves-Zulauf 1970, 333 ff. Bardon 1, 182 und Granarolo 1973, 335 weisen die Verse einem eigenen Lehrgedicht (De natura deorum) zu. Suerbaum, HLL 1 § 145., p. 296 belässt die Frage offen.

190

Vgl. Rüpke 2001, 135–136; Murphy 2004; Ferri 2007; Cairns 2010; De Martino 2011.

191

Die erste Fassung: Serv. auct. Verg. Aen. 1.277 (ut ait Varro); Plin. nat. 3.65; Solin. 1.5; vgl. Lyd. mens. IV.73 (ohne Nennung des Valerius Soranus); die zweite Fassung: Plut. Quaest. Rom. 61; vgl. Macr. Sat. 3.9.2; Plin. nat. 28.18 (Valerius Flaccus auctores ponit, quibus credat in oppugnationibus ante omnia solitum a Romanis sacerdotibus evocari deum, cuius in tutela id oppidum esset, promittique illi eundem aut ampliorem apud Romanos cultum. Et durat in pontificum disciplina id sacrum, constatque ideo occultatum in cuius dei tutela Roma esset, ne qui hostium simili modo agerent.); Serv. auct. Verg. Aen. 2.351 (alle jeweils ohne Nennung des Valerius Soranus). Die Frage nach dem Namen Roms hat die Forschung seit dem frühen 19. Jhd. intensiv beschäftigt, siehe dazu in Auswahl Birt 1887; De Angelis 1937; Brelich 1949; Horstmann 1979; Mellor 1981; speziell zur evocatio/devotio aus der neueren Literatur siehe Gustafsson 2000; Ferri 2010; Sacco 2011; Blomart 2013; Tommasi 2014.

192

Köves-Zulauf 1970, 346 ff., der es jedoch 353–355 offenlässt, ob der Tabu-Bruch in den Ἐπόπτιδες oder mündlich erfolgte. Für eine mündliche Enthüllung spricht Plinius’ enuntiavit sowie die Tatsache, dass Plinius in seinem Bericht über den Skandal gewiss darauf hingewiesen hätte, dass der Tabu-Bruch in den Ἐπόπτιδες, die er ja kannte (praef. 33), erfolgte. Für eine alternative Erklärung siehe Cairns 2010, 261–263.

193

Dies ist vor allem der gut informierten Notiz zu Aen. 2.351 in Macr. Sat. 3.9.2 zu entnehmen: Constat enim omnes urbes in alicuius dei esse tutela […]. Ipsi Romani et deum in cuius tutela urbs Roma est et ipsius urbis Latinum nomen ignotum. Sed dei quidem nomen non nullis antiquorum, licet inter se dissidentium, libris insitum et ideo vetustas persequentibus, quicquid de hoc putatur, innotuit. Alii enim Iovem crediderunt, alii Lunam; sunt qui Angeronam, quae digito ad os admoto silentium denuntiat, alii autem quorum fides mihi videtur firmior, Opem Consiviam esse dixerunt. Ipsius vero urbis nomen etiam doctissimis ignoratum est, caventibus Romanis ne quod saepe adversus urbes hostium fecisse se noverant, idem ipsi quoque hostili evocatione paterentur, si tutelae suae nomen divulgaretur.

194

Vgl. Serv. auct. Verg. Aen. 1.277: Valerius Soranus […], ut quidam dicunt, raptus a senatu et in crucem levatus est, ut alii, metu supplicii fugit et in Sicilia comprehensus a praetore praecepto senatus occisus est. Zur problematischen Quellenlage siehe Cairns 2010.

195

Vgl. Plin. nat. 3.65: diva Angerona […] ore obligato obsignatoque simulacrum habet; Macr. Sat. 3.9.3: quae digito ad os admoto silentium denuntiat.

196

Dies zeigen auch die von ihm bezeugten Etymologien, vgl. Kaster 1995, 70–72.

197

Suet. gramm. et rhet. 6.2: composuitque variae eruditionis aliquot volumina, ex quibus novem unius corporis, quae – quia scriptores ac poetas sub clientela Musarum iudicaret – non absurde et fecisse et ⟨in⟩scripsisse se ait ex numero divarum et appellatione. Zum rein metaphorischen Titel siehe Schröder 1999, 51; Kaster 1995 ad loc. Anders urteilt Köves-Zulauf 1970, 329 Anm. 29, der die Musennamen als Einteilungstitel der einzelnen Bücher deutet.

198

Als Bestandteil der Indeklinabilia, vgl. Prob. inst. GL 4, 48, 36–38: Sane nomen unius cuiusque litterae omnes artis latores, praecipueque Varro, neutro genere appellari iudicaverunt et aptote declinari iusserunt; Prisc. inst. 1.7 GL 2, 7–8 (Zitat unten S. 265 Anm. 200); Varro, ling. 10.82: quod non declinetur, ut litterae omnes.

199

Fragmente: GRF pp. 183–184; Goetz/Schoell pp. 199–200; zur Schrift: Collart 1954, 112–120; Garcea 2013, 135–140.

200

Prisc. inst. 1.7 GL 2, 7, 27–28, 9: et sunt indeclinabilia tam apud Graecos elementorum nomina quam apud Latinos, sive quod a barbaris inventa dicuntur, quod esse ostendit Varro in II de antiquitate litterarum, docens lingua Chaldaeorum singularum nomina literarum ad earum formas esse facta et ex hoc certum fieri eos esse primos auctores litterarum, sive quod simplicia haec et stabilia esse debent quasi fundamentum omnis doctrinae immobile, sive quod nec aliter apud Latinos poterant esse, cum a suis vocibus vocales nominentur, semivocales vero in se desinant, mutae a se incipientes vocali terminentur, quas si flectas, significatio quoque nominum una evanescit.

201

Pomp. comm. GL 5, 98, 20–25: istae litterae apud maiores nostros non fuerunt XXIII, sed XVI. Postea additae sunt aliae. Ita etiam tractaturus est, ut doceat olim XVI fuisse, postea ex superfluo additas alias litteras et factas XXIII. Habemus hoc in libris ad Attium apud Varronem, et cur tot sint et quare eo ordine positae et quare isdem nominibus vocentur; Pomp. comm. GL 5, 108, 10–14: Varro docet in aliis libris, quos ad Attium scripsit, litteras XVI fuisse, postea tamen crevisse et factas esse XXIII. Tamen primae quae inventae sunt fuerunt XI, postea quae inventae sunt, fuerunt XVI; postea autem XXIII factae sunt. Illic commemorator, qui illam litteram fecit, qui illam.

202

Eine Übersicht der divergierenden Meinungen bietet Jeffrey 1967.

203

Pomp. comm. GL 5, 108, 7–10 (= frg. 5 Garcea 2013): Legimus apud maiores nostros primas apud Romanos XI litteras fuisse tantum modo, ut dicit Caesar in libro analogiarum primo. Siehe dazu den Kommentar von Garcea 2013, 134–140.

204

Zum Beispiel Mar. Victorin. gramm. GL 6, 194–196.

205

Für einen zeitweiligen Einbruch antiquarischer Tätigkeit in Rom nach dem Tode Stilos gibt es keine verlässlichen Hinweise. Rawson 1985, 235–236 stützt ihre These auf Cic. ac. 1.8 (a Graecis enim peti non poterant ac post L. Aelii nostri occasum ne a Latinis quidem) und Planc. 58; beide Stellen sind aufgrund ihres argumentativen Kontextes allerdings problematisch.

206

Plin. nat. 7.213: Princeps solarium horologium statuisse ante undecim annos quam cum Pyrro bellatum est ad aedem Quirini L. Papirius Cursor, cum eam dedicaret a patre suo votam, a Fabio Vestale proditur. Sed neque facti horologi rationem vel artificem significat nec unde translatum sit aut apud quem scriptum id invenerit. Zu Vestalis siehe Münzer 1897, 353–356; Schanz/Hosius 2, 395; Bardon 2, 107–108; FRHist 1, 640; zu Plinius’ Zitierweise u. a. Smith 2007, 149–155.

207

Exemplarisch ist der bekannte Jurist Antistius Labeo (gest. vor 22 n.), über den Gellius (13.10.1) Folgendes berichtet: Labeo Antistius iuris quidem civilis disciplinam principali studio exercuit et consulentibus de iure publice responsitavit; set ceterarum quoque bonarum artium non expers fuit et in grammaticam sese atque dialecticam litterasque antiquiores altioresque penetraverat Latinarumque vocum origines rationesque percalluerat eaque praecipue scientia ad enodandos plerosque iuris laqueos utebatur.

208

Zu diesem vielbeachteten Schema siehe u. a. Piras 1998, 25–56; zur mutmaßlich stoischen Herkunft Dahlmann 1932, 35–43.

209

Ritschl 1877, 445, der zur Kategorie de hominibus die Werke De familiis Troianis und De gente populi Romani stellt, zu de locis den liber tribuum sowie die Libri rerum urbanarum, zu de temporibus die Libri annalium, zu de rebus schließlich De vita populi Romani. Zur Problematik der These der varronischen „Ergänzungsschriften“ siehe unten Kap. 6.2.2.

210

Schulz 1961, 73–84; Wieacker 1988, 618–639. Ein besonderes Talent dafür legte offenbar der Rechtsgelehrte Ser. Sulpicius Rufus an den Tag, den Cicero (Cic. Brut. 155; Cic. Phil. 9.10) zu den bedeutendsten Juristen seiner Zeit zählte. Zu seinen divisiones und distinctiones siehe Miglietta 2010, bes. 400–420; Lehne-Gstreinthaler 2019, 170–172. Eine Reihe seiner teils etymologischen Definitionen, die im Zusammenhang mit dem Zwölftafelgesetz stehen, sind bei Festus überliefert (GRF pp. 423–425). Cicero scheint diesen Prozess mit der Schrift De iure civili in artem redigendo (Gell. 1.22.7) reflektierend begleitet zu haben. Zu diesem Werk und seinen Implikationen siehe u. a. Bretone 1982, 274–283.

211

Einen Rückgang der Literatur zum ius publicum im ersten Jahrhundert konstatieren Schulz 1961, 54 sowie Wieacker 1988, 568–570, der auch das lebendige sakralrechtliche Interesse der Zeit aus der fachjuristischen Betrachtung ausnimmt und den Antiquaren zuschreibt.

212

Wieacker 1988, 568–569; Wallace-Hadrill 1997, 14–15 mit weiteren Nachweisen. Einen nach Ämtern unterteilten Überblick der antiquarischen Forschungen zu den Magistraten Roms bietet Stevenson 1993, 220–281. Zur fragwürdigen Differenzierung zwischen Juristen und Antiquaren in diesem Gebiet siehe oben S. 215 f. und 227–229.

213

In ling. 6.86–88 zitiert Varro bei der Behandlung der Etymologie von inlicium aus den censoriae tabulae und den commentarii consulares. Zur regen Forschungsdiskussion über die römischen Amtsschriften, insbesondere den mutmaßlichen Gegensatz zwischen libri (normierend) und commentarii (registrierend), siehe oben S. 147 Anm. 13.

214

Varro ling. 6.89: Hoc idem Cosconius in actionibus suis scribit praetorem accensum solitum tum esse iubere, ubi ei videbatur horam esse tertiam, inclamare horam tertiam esse, itemque meridiem et horam nonam. Der Werkcharakter wurde wohl zu Unrecht bestritten. Die Identität mit dem in ling. 6.36 zitierten Grammatiker ist wahrscheinlich; ob er auch mit dem in Sueton, Vita Ter. 5 genannte Q. Cosconius identifiziert werden kann, ist ungewiss. Zu den Vertretern dieses Namens siehe oben S. 260 f.

215

Varro ling. 6.90–91: Circum muros mitti solitum quo modo inliceret populum in eum locum, unde vocare posset ad contionem, non solum ad consules et censores, sed etiam quaestores, commentarium indicat vetus anquisitionis M’. Sergii, Mani filii, quaestoris, qui capitis accusavit Trogum; in qua sic est: „Auspicio operam des et in templo auspices, tum aut ad praetorem aut ad consulem mittas auspicium petitum. Ad comitiatum praetores vocet ad te, et reum de muris vocet praeco. Id imperare oportet. Cornicinem ad privati ianuam et in Arcem mittas, ubi canat. Collegam roges ut comitia edicat de rostris et argentarii tabernas occludant. Patres censeant exquaeras et adesse iubeas; magistratus censeant exquaeras, consules praetores tribunosque plebis collegasque tuos, et in templo adesse iubeas omnes. Ac cum mittas, contionem advoces.“ Ferner 6.92: In eodem Commentario anquisitionis ad extremum scriptum caput edicti hoc est: „Item quod attingat qui de censoribus classicum ad comitia centuriata redemptum habent, uti curent eo die quo die comitia erunt, in arce classicus canat circumque muros et ante privati huiusce T. Quinti Trogi scelerosi ostium canat, et ut in campo cum primo luci adsiet.“ Siehe dazu aus der jüngeren Literatur Santalucia 1994, 50–56, sowie den Kommentar von Aricò Anselmo 2012, 1–94.

216

Zu L. Cincius siehe oben S. 245–253. Es ist durchaus möglich, dass dieser seine Schriften etwa zur gleichen Zeit wie der jüngere Varro verfasst hat.

217

Alfenus Varus war wie Ofilius ein „Schüler“ (auditor) des Ser. Sulpicius und Verfasser eines umfangreichen zivilrechtlichen Kompendiums (Digesta in 40 Büchern) sowie einer nur einmal bezeugten „vermischten Sammlung“ (Coniectanea). Von dieser Schrift stammt das einzige Fragment aus einer längeren Passage in Gell. 7.5, in der Gellius Alfenus’ etymologische Deutung des Ausdrucks pondus argenti puri puti zu widerlegen sucht, den jener in einem alten Friedensvertrag zwischen Rom und Karthago entdeckt hatte. Der Zusammenhang, in dem die gelehrte Explikation bei Alfenus stand, ist nicht mehr zu eruieren, aussagekräftig ist aber Gellius’ Charakterisierung des berühmten Juristen: Alfenus iureconsultus […] rerumque antiquarum non incuriosus (Gell. 7.5.1). Fragmente: Bremer 1, 280–330 – Literatur: Schanz/Hosius 1, 596; Wieacker 1988, 607–609. Zu Antistius Labeo, einem Schüler des Trebatius Testa (Dig. 1.2.2.(47)) siehe weiter unten S. 298 f.

218

Zu dieser Schrift siehe Kumaniecki 1974/1975; Ryan 2002; Todisco 2017.

219

Datierung und Funktion der Schrift erschließt sich aus dem Itinerarium Alexandri 6 (ed. Tabacco 2000): Igitur si Terentius Varro Gnaeo Pompeio olim per Hispanias militaturo librum illum Ephemeridos sub nomine laboravit, ut inhabiles res eidem ⟨ad⟩gressuro scire esset ex facili inclinationem oceani, utque omnes reliquos motus aerios praescientiae fide peteret vel declinaret […]. Ephemeris navalis heißt die Schrift bei Non. p. 99, 15 Lindsay. Zur Diskussion über diese Schrift siehe Ritschl 1877, 389; Dahlmann, RE Suppl. 6 (1935), 1252–1253; Rehm 1941, 113–120; Della Corte 1970, 52–54.

220

Varro hatte einen Teil seiner Bibliothek während der Proskriptionen verloren, vgl. Gell. 3.10.17: Tum ibi addit se quoque iam duodecimam annorum hebdomada ingressum esse et ad eum diem septuaginta hebdomadas librorum conscripsisse, ex quibus aliquammultos, cum proscriptus esset, direptis bibliothecis suis non comparuisse. Zu den Epistolicae quaestiones siehe Dahlmann, RE Suppl. 6 (1935), 1126; Dahlmann 1950 und Cugusi 1967, 83, der die Sammlung mit Valgius Rufus’s De rebus per epistulam quaesitis in Verbindung bringt. Begründete Vermutungen über den Entstehungs- und Wirkungskontext des Lehrbriefs an Oppianus, nämlich Augustus’ Senatsreform 29/28 v. Chr., erstellt Todisco 2017.

221

Für beträchtliche Revisionen argumentiert Todisco 2017, 53–55.

222

Prozeduralregeln und rechtliche Formeln von Zensoren, Konsuln und Quaestoren referiert Varro in ling. 6.86–88 aus den tabulae censoriae und den commentarii consulares.

223

Gell. 14.8.1–2: Praefectum urbi Latinarum causa relictum senatum habere posse Iunius negat, quoniam ne senator quidem sit neque ius habeat sententiae dicendae, cum ex ea aetate praefectus fiat, quae non sit senatoria. M. autem Varro in IIII epistolicarum quaestionum et Ateius Capito in coniectaneorum [CCLV]IIII ius esse praefecto senatus habendi dicunt; deque ea re adsensum sese Capito Tuberoni contra sententiam Iunii refert: „Nam et tribunis,“ inquit, „plebis senatus habendi ius erat, quamquam senatores non essent ante Atinium plebiscitum.“

224

Anders Bremer 2.1, 283: in colligendis rebus Capito Varronis et Q. Aelii Tuberonis libris usus est.

225

Bremer 2.1, 282 führt das Buch als eigenständige Schrift auf; Strzelecki 1967, 3 als Teil der Coniectanea und rechnet dazu auch die in Gell. 14.7.11 und 14.8.2 genannten Passagen. Gegen Strzelecki spricht, dass Gellius die Coniectanea üblicherweise explizit benennt (so in 2.24.2; 14.7.12; 14.8.2; 22.2.3), selbst wenn er daraus ein konkretes Buch zitiert (4.14.1: librum IX Atei Capitonis coniectaneorum, qui inscriptus est de iudiciis publicis), aber eben nicht immer (10.6.4: id factum esse dicit Capito Ateius in commentario de iudiciis publicis).

226

Pomponius, Enchiridion = Dig. 1.2.2.(46).

227

Literatur: Klebs, RE 1 (1893), 535–538; Schanz/Hosius 1, 321–323; Bardon 1, 261–263; zum Geschichtswerk, das von Livius und Dionysios von Halikarnassos als Quelle benutzt wurde, siehe FRH II, 346–348; FRHist I, 361–367. Die Fragmente der Rechtsschriften versammelt Bremer 1, 358–367.

228

Ausgeschlossen ist dies allerdings nicht. Bremer 1, 364 verweist u. a. auf Gell. 14.2.1 (libros utriusque linguae de officio iudicis scriptos) und auf Iustin. inst. 4.17: de officio iudicis.

229

Fest. p. 470, 5–13 Lindsay: Senacula tria fuisse Romae, in quibus senatus haberi solitus sit, memoriae prodidit Nicostratus in libro, qui inscribitur de senatu habendo. Unum, ubi nunc est aedis Concordiae inter Capitolium et Forum, in quo solebant magistratus dumtaxat cum senioribus deliberare; alterum, ad portam Capenam; tertium, citra aedem Bellonae, in quo exterarum nationum legatis, quos in urbem admittere nolebant, senatus dabatur. Historisch korrekt ist Val. Max. 2.2.6: Sed ut a luxu perditis moribus ad seuerissima maiorum instituta transgrediar, antea senatus adsiduam stationem eo loci peragebat, qui hodieque senaculum appellatur: nec expectabat ut edicto contraheretur, sed inde citatus protinus in curiam ueniebat, ambiguae laudis ciuem existimans, qui debitis rei publicae officiis non sua sponte, sed iussus fungeretur, quia quidquid imperio cogitur exigenti magis quam praestanti acceptum refertur. Siehe dazu Mommsen 1952, III: 913–915.

230

Bosch 1929, der allerdings den Einfluss Varros wohl überschätzt.

231

Dahlmann 1973, 15–16; Dahlmann 1976, 165; FRHist I, 418. Die Schrift wird nur im Katalog des Hieronymus erwähnt. In seinem Beitrag in RE Suppl. 6 (1935), 1250 war Dahlmann noch der von Ritschl 1877, 436–439 und Cichorius 1922, 196–197 vertretenen Ansicht eines autobiographischen Berichts gefolgt.

232

HRR 2, lxi; Klebs, RE 2.2 (1886), 2555–2556; Schanz/Hosius 1, 349; Bardon 1, 281; FRHist I, 632–633. Ob es sich, wie Bardon vermutet, um den bei Cic. Att. 13.44.3 erwähnten Cotta handelt, dessen Schrift „kürzlich“ (das heißt 45 v. Chr.) erschienen war, ist unwahrscheinlich.

233

Aug. civ. 6.3: Quadraginta et unum libros scripsit antiquitatum; hos in res humanas divinasque divisit, rebus humanis viginti quinque, divinis sedecim tribuit, istam secutus in ea partitione rationem, ut rerum humanarum libros senos quattuor partibus daret. Intendit enim qui agant, ubi agant, quando agant, quid agant. In sex itaque primis de hominibus scripsit, in secundis sex de locis, sex tertios de temporibus, sex quartos eosdemque postremos de rebus absoluit. Quater autem seni viginti et quattuor fiunt, sed unum singularem, qui communiter prius de omnibus loqueretur, in capite posuit. In divinis identidem rebus eadem ab illo divisionis forma servata est, quantum adtinet ad ea, quae dis exhibenda sunt. Exhibentur enim ab hominibus in locis et temporibus sacra. Haec quattuor, quae dixi, libris conplexus est ternis: nam tres priores de hominibus scripsit, sequentes de locis, tertios de temporibus, quartos de sacris, etiam hic, qui exhibeant, ubi exhibeant, quando exhibeant, quid exhibeant, subtilissima distinctione commendans. Vgl. ferner Varros Rekapitulation zu Beginn des 20. Buches, das Nonius p. 131,15 Lindsay überliefert: quadrifariam: Varro rerum humanarum lib. XX: et ea, quae ad mortalis pertinent, quadrifariam dispertierim: in homines, in loca, in tempora, in res. Dass Varro derartige Rekapitulationen regelmäßig zu Beginn eines neuen Buches machte, zeigt sich u. a. in ling. 5.1; 6.1; 7.1; 8.1.

234

Fragmente: Mirsch 1882, 96–100 und 131–142. Dessen Vermutungen über den Inhalt der einzelnen Bücher konnte man bisher weder überzeugend widerlegen noch bekräftigen. Zu den allgemeinen Schwierigkeiten der Kontextualisierung der einzelnen Fragmente siehe den wichtigen Beitrag von Salvadore 2012. Zu Buch 20 liegt mit Ranucci 1972 eine Untersuchung anhand der 14 bei Nonius überlieferten Fragmente vor.

235

Aus demselben Buch mit derselben Thematik (ius vocationis) stammt ein Auszug im darauffolgenden Kapitel bei Gellius (13.13.1–5 = Ant. rer. hum. XXI frg. 3 Mirsch): Cum […] in lucem fori prodissem, quaesitum esse memini in plerisque Romae stationibus ius publice docentium aut respondentium, an quaestor populi Romani a praetore in ius vocari posset. […] Sed ego, qui tum adsiduus in libris M. Varronis fui, cum hoc quaeri dubitarique animadvertissem, protuli unum et vicesimum rerum humanarum, in quo scriptum fuit: „Qui potestatem neque vocationis populi viritim habent neque prensionis, eos magistratus a privato in ius quoque vocari est potestas. M. Laevinus aedilis curulis a privato ad praetorem in ius est eductus; nunc stipati servis publicis non modo prendi non possunt, sed etiam ultro submovent populum.“ Hoc Varro in ea libri parte de aedilibus, supra autem in eodem libro quaestores neque vocationem habere neque prensionem dicit.

236

Zur Diskussion über die Autorenfrage siehe FRHist III, 663–665.

237

Zu diesen Zuweisungen siehe Thomsen 1980.

238

P. Oxy. 2088, 5–7, ed. A.S. Hunt, The Oxyrhynchus Papyri, XVII, 1927, 114–115: hae et ceterae cent[uriae] /] nunc sunt omnes Servi Tulli [/ pri]mus omnino centurias fecit; mit den versuchsweisen Ergänzungen von Piganiol 1937: Hae et ceterae cent[uriae equitum peditumque quae] nunc sunt omnes Servi Tulli [sunt legibus creatae qui pri]mus omnino centurias fecit. Siehe dazu den Vorschlag von Ammannati 2011, 94: Hae et ceterae cen[turiae satis a nobis tractatae sunt. / Nunc sunt omnes Servi Tulli [res breviter dicendae; nam is pri / mus omnino centurias fecit. Alternativ berichten Cic. rep. 2.36 und Liv. 1.13.8, dass sowohl Romulus als auch Tarquinius Priscus je drei Reiterzenturien eingerichtet hatten.

239

Einen solchen unternimmt Ammannati 2011.

240

Zur modernen Diskussion über das Konzept „Religion“ mit Blick auf Varro und die Späte Republik siehe u. a. North 2014 mit weiteren bibliographischen Verweisen. Zur wichtigen Einsicht, dass Denken und Schreiben über Religion für die Römer ein natürlicher Bestandteil der Religion selbst war, siehe Beard 1991; Feeney 1998.

241

Auf einen detaillierten Nachweis der nur noch schwer überblickbaren Literatur wird an dieser Stelle verzichtet. Für eine jüngere Synthese siehe Rüpke 2012a.

242

Siehe dazu Rüpke 2012b und Rüpke 2014 mit weiteren Nachweisen.

243

Zur Frage des „Glaubens“ siehe bes. Linder/Scheid 1993; zu Roms Umgang mit den Göttern und dem Heiligen Ando 2008; MacRae 2016; MacRae 2017b; Volk 2021, 239–312. Gegen ein allzu starkes orthopraktisches Verständnis der römischen Religion wurde allerdings verschiedentlich Einspruch erhoben. Siehe dazu etwa Bendlin 2000; Mackey 2017.

244

Nirgends wird dies deutlicher als im Referat über das „aufklärerische“ Wirkungsinteresse der Antiquitates, das Augustinus dem Einleitungsbuch der Res divinae entnommen zu haben scheint (Aug. civ. 4.22 = Ant. rer. div. I frg. 3 Cardauns): Es nütze nichts, eine Gottheit zu verehren, wenn man nicht wisse, warum man dies tue – ex eo enim poterimus … scire, quem cuiusque causa deum invocare atque advocare debeamus, ne faciamus, ut mimi solent, et optemus a Libero aquam, a Lymphis vinum. Stellenweise scheinen seine Ausführungen, gerade mit Blick auf die kultische Praxis, auch präskriptiven Charakter gehabt zu haben, vgl. Serv. Verg. georg. 1.270 (= Ant. rer. div. I frg. 79 Cardauns): sane sciendum secundum Varronem contra religionem esse si vel rigentur agri vel laventur animalia festis diebus; nymphae enim sine piaculo non possunt moveri. Siehe dazu die Diskussion unten S. 382–394.

245

Varro Ant. rer. div. I frgg. 6–10 Cardauns (Definition); frgg. 11–22 Cardauns (Verhältnis der drei genera theologiae zueinander). Aus der umfangreichen Literatur zum Thema ist hier nur eine Auswahl genannt: Pépin 1956; Lieberg 1973, Lieberg 1982; Rüpke 2005b; Rüpke 2009a; Leonardis 2019, 169–209. Das theologische Interesse des Augustinus, dem wir hier den Großteil der Fragmente verdanken, führte zu einer Verzerrung der thematischen Gewichtung des Werks. Die philosophisch ausgerichteten Passagen der Antiquitates waren, soweit erkennbar, in erster Linie in den Proömien zu finden. Vgl. Cic. ac. 1.8: in his ipsis antiquitatum prooemiis philosophiae ⟨more⟩ scribere voluimus.

246

Siehe dazu aus der jüngeren Literatur Van Nuffelen 2010; Rüpke 2009a; Rüpke 2014; MacRae 2016; Binder 2018; Rolle 2017; Volk 2021, 211–218; zur älteren Forschung Cardauns 1974.

247

Es kam indes auch zu theoretischen Erörterungen und gelegentlichen Disputen, vgl. Cic. leg. 2.32: sed est in collegio vestro inter Marcellum et Appium optimos augures magna dissensio (nam eorum ego in libros incidi), cum alteri placeat auspicia ista ad utilitatem esse rei publicae composita, alteri disciplina vestra quasi divinari videatur posse. Zu der hier von Cicero aufgeworfenen Streitfrage siehe Volk 2021, 249–253.

248

Ed. und Komm. Cardauns 1960.

249

Für eine Diskussion möglicher Identifizierungen siehe Dubuisson/Schamp 2006 I.1: clxvii–clxviii. Siehe unten S. 427.

250

Zur fraglichen Identifizierung mit dem gleichnamigen, von Suet. gramm. et rhet. 29 erwähnten witzreichen Rhetor, der M. Antonius unterrichtete, siehe Brzoska, RE 4.1, 66–67; Schanz/Hosius 1, 583; Kaster 1995, 307–309.

251

Arnob. nat. 5.18.3: Fentam igitur Fatuam, Bona quae dicitur Dea, transeamus, quam murteis caesam virgis, quod marito nesciente seriam meri ebiberit plenam, Sextus Clodius indicat sexto De diis Graeco, signumque monstrari quod, cum ei divinam rem mulieres faciunt, vini amphora constituatur obtecta nec myrteas fas sit inferre verbenas, sicut suis scribit in causalibus Butas; Lact. inst. 1.22.11: Idcirco illi mulieres in operto sacrificant et Bonam Deam nominant. Et Sextus Clodius in eo libro, quem Graece scripsit, refert: Fauni hanc [Bonam Deam] uxorem fuisse; quae quia contra morem decusque regium clam vini ollam ebiberat et ebria facta erat, virgis myrteis a viro ad mortem usque caesam; postea vero cum eum facti sui paeniteret ac desiderium eius ferre non posset, divinum illi honorem detulisse; idcirco in sacris eius obvolutam vini amphoram poni.

252

Vgl. ferner Lyd. mens. IV.2 Wünsch: ὁ δὲ Γάβιος Βάσσος ἐν τῷ περὶ θεῶν δαίμονα αὐτὸν εἶναι νομίζει τεταγμένον ἐπὶ τοῦ ἀέρος, καὶ διαὐτοῦ τὰς τῶν ἀνθρώπων εὐχὰς ἀναφέρεσθαι τοῖς κρείττοσι.

253

Vgl. Apul. apol. 42; Hier. chron., p. 156 Helm. Siehe dazu Musial 2001, 350–358; Engels 2007, 126–127 und Volk 2021, 261–279 mit weiterer Literatur.

254

Die Fragmente der Werke des Nigidius versammeln GRF pp. 158–179; Swoboda 1889; Liuzzi 1983.

255

Gemäß Hieronymus (chron. p. 156,25–26 Helm) starb Nigidius im Jahr 45 v. Chr. im Exil. Im selben Jahr lagen Varros Res divinae Cicero bei der Abfassung der Academica vor. Die Schrift scheint nicht viel früher veröffentlicht worden zu sein. Siehe dazu Cardauns 2001, 52.

256

Stein, RE 17.2 (1936), 1830; Bardon 1, 307. Zur Identifikation mit M. Octavius siehe mit der relevanten Literatur FRHist I, 623. Einziger Datierungsansatz ist der Umstand, das Macrobius Octavius in der zitierten Stelle zwischen Varro und Antonius Gnipho aufführt, vgl. Bremer 1, 110. Fraglich (wenn auch inhaltlich passend) ist die Identifikation mit dem in Macr. Sat. 3.6.10 f. (als Zitat aus den Memorialia des Masurius Sabinus) genannten Flötenspieler Octavius Herrenus, der in einer aitiologischen Erzählung als Stifter des Tempels des Hercules Victor aufgeführt wird. Vgl. Böhm, RE 8 (1913), 556–558.

257

Erwähnt in der Vita Suetonii Donatiana 43–46. Zu den obtrectatores siehe Görler 1987; Farrell 2010. Stellen bietet Georgii 1891; zur Aktualität der Diskussion in der Spätantike siehe Schwitter 2016, bes. 201–203.

258

Macr. Sat. 3.12.7: est praeterea Octavii Hersenni liber qui inscribitur de sacris Saliaribus Tiburtium, in quo Salios Herculi institutos operari diebus certis et auspicato docet.

259

Wissowa 1912, 48 und 272–273. Vgl. Prop. 2.32.5: Herculeum Tibur.

260

Bunte 1848 mit den Fragmenten.

261

Siehe dazu mit den Stellen Wissowa 1904, 95–121; Kleywegt 1972; Dubourdieu 1989, bes. 123–153 (‚Les traditions antiques sur les Pénates‘); zu den „Großen Göttern“ aus Samothrake, mit denen in Rom die Penaten identifiziert wurden, siehe Cruccas 2019, 14–54 mit weiterer Literatur.

262

Arnob. nat. 3.40.1–3: Nigidius Penates deos Neptunum esse atque Apollinem prodidit […] Caesius, et ipse eas [sc. disciplinas Etruscas] sequens, Fortunam arbitratur et Cererem, Genium Iovialem ac Palem, sed non illam feminam quam vulgaritas accipit, sed masculini nescio quem generis ministrum Iovis ac vilicum. Varro […]. Zu seiner Identifizierung siehe Bremer 1, 267; Jörns, RE 3 (1897), 1312; Schanz/Hosius 1, 603; Lehne-Gstreinthaler 2019, 195.

263

Fragmente: Bremer 1, 376–424; GRF pp. 437–438 und Ergänzungen in GRF Mazzarino pp. 394–396 – Literatur in Auswahl: Schanz/Hosius 1, 596–597; Talamanca 1985; Wieacker 1988, 612–613; Harries 2006, 116–133; Lehne-Gstreinthaler 2019, 264–289.

264

Einziges Zeugnis ist Gell. 7.12.1: Servius Sulpicius iureconsultus, vir aetatis suae doctissimus, in libro de sacris detestandis secundo qua ratione adductus „testamentum“ verbum esse duplex scripserit non reperio. Zur Sache siehe Mommsen 1952, III.1: 39 Anm. 1; Bremer 1, 224–225; Kübler, RE 1 A (1914), 1682–1684.

265

Ein Cloatius wird sechsmal von Festus (meist zusammen mit Aelius Stilo) als Gewährsmann für die Erklärung sakraler Begriffe zitiert: Fest. p. 124, 7 Lindsay; p. 204, 25 Lindsay; p. 208, 26 Lindsay; p. 234, 3 Lindsay; p. 402, 26 Lindsay; 422, 6 Lindsay (= frgg. 11–16 GRF pp. 472–473). Zur Identifikation mit Cloatius Verus siehe Goetz, RE 4 (1900), 61–62; Schanz/Hosius 2, 381; Bardon 2, 114. Zu dessen sprachaitiologischen Schriften siehe unten S. 311–313.

266

GRF p. 537, wo die Passage unter die Dubia des Iulius Hyginus gesetzt ist. Dass es sich um ein mythologisches Handbuch handelt, wie Stein, RE 9 (1914), 126 meint, ist unwahrscheinlich.

267

Cos. suff. 33 v. Chr. So Weinstock 1950; akzeptiert u. a. von Briquel 1991, 532 Anm. 126; Guittard 2003, 461 Anm. 56; Turfa 2012, 288–289. Die ältere Forschung identifizierte Capito verschiedentlich mit Sinnius Capito oder mit C. Ateius Capito und deutete Fonteius als kaiserzeitlichen Autor. Siehe dazu den Forschungsüberblick bei Dubuisson/Schamp 2006, I.1: clxv–clxvi.

268

Namentlich Porphyrios und Iamblichos. Kappelmacher, RE 6 (1909), 2842 schlug für das Romulus zuteil gewordene Orakel ein Werk De oraculis vor.

269

Die einschlägigen antiken Bezeugungen zum ius pontificium bzw. ius pontificum oder ius pontificale (insg. 48) sind gesammelt von Johnson 2007, 264–308.

270

Zu den pontifikalen Rechtsbescheiden der Republik siehe Cohee 1994, bes. 66–148; Johnson 2007, 132–204; eine Zusammenfassung der jüngeren Forschung bietet Lehne-Gstreinthaler 2019, 47–61; zu den „esoterischen“ Aufzeichnungen siehe Linderski 1985; Scheid 1994 sowie die Beiträge in Moatti 1998, 7–122.

271

Cic. leg. 2.29: iam illud ex institutis pontificum et haruspicum non mutandum est, quibus hostiis immolandum quoique deo, cui maioribus, cui lactentibus, cui maribus, cui feminis; Macr. Sat. 3.3.11: inter decreta pontificum hoc maxime quaeritur, quid sacrum, quid profanum, quid sanctum, quid religiosum; Serv. auct. Verg. Aen. 4.577: […] vel „quisquis es“ secundum pontificum morem qui sic precantur „Iuppiter omnipotens, vel quo alio te nomine appellari volueris“; Serv. auct. Verg. Aen. 1.179: […] sane his versibus „tum Cererem corruptam undis“ et „torrere parant flammis et frangere saxo“ ius pontificum latenter attingit. Flamines autem farinam fermentatam contingere non licebat.

272

Zur Forschungsdiskussion über die terminologische Differenzierung zwischen libri und commentarii siehe oben S. 147 Anm. 13.

273

So der Rekonstruktionsversuch von Pernice 1963, I: 42–43. Diesem Ansatz folgt Bremer 2.1, 75–80.

274

Letzteres ist die breit aufgestellte These von MacRae 2016.

275

Ob die libri ἐξηγητικῶν des Cornelius Balbus ausschließlich Pontifikalrechtliches enthielten, ist ungewiss. Die einzige sichere Bezeugung der mindestens achtzehn Rollen umfassenden Schrift ist Macr. Sat. 3.6.16 (an der Ara Maxima wurde kein lectisternium abgehalten). Ohne Werkangabe ist Serv. auct. Verg. Aen. 4.127 (die aitiologisch-etymologische Erklärung des römischen Hochzeitslieds). Siehe oben S. 140–141.

276

Gell. 13.10.1: Labeo Antistius iuris quidem civilis disciplinam principali studio exercuit et consulentibus de iure publice responsitavit.

277

Fast wörtlich übernommen von Macr. Sat. 6.9.5–7.

278

Ferner: Macr. Sat. 3.20.2 (= frg. 1 Bremer 2.1, 6): Sciendum quod ficus alba ex felicibus sit arboribus, contra nigra ex infelicibus. Docent nos utrumque pontifices. Ait enim Veranius de verbis pontificalibus: Felices arbores putantur esse quercus, aesculus, ilex, suberies, fagus, corylus, sorbus, ficus alba, pirus, malus, vitis, prunus, cornus, lotus.

279

Es ist hier nicht der Ort, um Methodik, Pragmatik und philosophische Prinzipien der varronischen Wortanalyse im Detail vorzuführen. Die Spezialforschung hat dies im Wesentlichen bereits geleistet. Aus der reichhaltigen Literatur siehe in Auswahl Dahlmann 1932; Collart 1954, 251–302; Schröter 1963; Taylor 1974; Pisani 1976; Pfaffel 1981; Cavazza 1981, bes. 72–87; Coleman 2001; Hinds 2006; Blank 2008; Taylor 2015; Chahoud 2016; Zetzel 2018, 38–46; Blank 2019; de Melo 2019, 1: 35–55; Spencer 2019; zum gegenwärtigen Forschungstrend Volk 2020. Zentral ist die Vorstellung der vier Stufen der Etymologie (verborum quattuor explanandi gradus), die Varro in ling. 5.7–10 erörtert.

280

Die Mehrzahl der bezeugten Schriften stammt von Varro: De sermone Latino; De similitudine verborum; De utilitate sermonis. Die Zeugnisse versammeln Goetz/Schoell pp. 202–226. Für einen typologischen Überblick siehe Ax 2006c; ferner Barwick 1922, 227 ff.

281

Zu Varro siehe oben S. 264–266 – Messalla: GRF pp. 505–506 – Sinnius Capito: GRF p. 459 (= Pomp. comm. GL 5, 109, 34–110, 2). Die Eigenständigkeit der Schrift wird von Bardon 2, 113 bestritten und Capitos Epistulae zugewiesen.

282

Ed. Garcea 2013 mit fundierter Diskussion der Entstehungshintergründe und Wirkungsabsichten. Beim Bild des schreibenden Feldherrn dürfte es sich einen Topos der caesarischen Selbstinszenierung handeln, vgl. Lucan. Phars. 10.185–187 (Caesar will von Acoreus der Belehrung über die Geheimnisse des Nils für wert befunden werden): media inter proelia semper / stellarum caelique plagis superisque vacavi, / nec meus Eudoxi vincetur fastibus annus.

283

So die plausible Vermutung von Dahlmann, RE Suppl. 6 (1935), 1219.

284

Vgl. ferner Varro ling. 5.26 und 102; rust. 3.12.6. Relativierend daher, weil Varro – wie die meisten antiken Grammatiker – im Wortschatz durchaus zwischen autochthonen (latinischen) und fremden (‚äolischen‘ neben sabinischen, etruskischen, oskischen usw.) Elementen geschieden hat, vgl. z. B. ling. 10.69 (zu den vocabula vernacula, adventicia, peregrina), sowie Lyd. mag. II.13.6 (Zitat unten S. 305 f.). Zu Varros Vorstellung einer Sprachmischung siehe Briquel 2001; zu Varros Einschätzung des griechischen Einflusses siehe (mit teilweise stark divergierenden Meinungen) Collart 1954, 211–228; Dubuisson 1984; Maltby 1993; Maltby 2001; Gitner 2015. Zu Varros Intuition einer Sprachverwandtschaft (mit dem Griechischen und den sabellischen Dialekten) siehe Ferriss-Hill 2014; zur antiken „Äolismus-These“ siehe unten S. 306–308.

285

So Ritschl 1877, 470; Wilmanns 1864, 128; Funaioli (GRF p. 311) und Semi (M. Ter. Varro fragm. II, 1965, 11). Zurückhaltend ist Dahlmann, RE Suppl. 6 (1935), 1220, ablehnend Della Corte 1970, 243, der die Notiz in mag. I.5 auf die griechische Epitome der Antiquitates rerum humanarum zurückführen will. Rochette 1998, 472 Anm. 8 denkt an den Εἰσαγωγικός ad Pompeium; so auch Cornell, FRHist III, 64, der darauf hinweist, dass der thematische Zusammenhang, aus dem Cato und Varro zitiert werden, eindeutig Euander war und nicht Romulus. In Dubuisson/Schamp 2006 1.1: clxi–clxii wird die Frage offen gelassen.

286

Als Fragment aus De origine linguae Latinae aufgenommen von Funaioli (GRF p. 312) und Semi (II, 11). In De lingua Latina fehlt jedoch ein Eintrag balteus; möglich ist, dass Lydos aus der im varronischen Schriftenkatalog erwähnten neunbändigen Epitome zitierte, auch könnte mit Περὶ Ῥωμαϊκῆς Διαλέκτου De sermone Latino gemeint sein. Siehe dazu die Diskussion bei Pascucci 1979.

287

Das Thema hat stets große Aufmerksamkeit gefunden. Siehe dazu aus der jüngeren Literatur (neben den oben in Anm. 284 zitierten Arbeiten) noch Garcea/Lomanto 2004, 44–47; Stevens 2007; Ascheri 2011; De Paolis 2015; Dmitriev 2018.

288

Zum Euander-Mythos und der Vorstellung der arkadischen Ursprünge Roms siehe mit weiterer Literatur Mavrogiannis 2003; zu Varros Vorstellungen der italischen Urgeschichte u. a. Della Corte 1976.

289

Siehe dazu Werner 1996, ferner De Paolis 2015, 613–615; zur antiken Diskussion über die pelasgische bzw. arkadische Herkunft der Römer siehe unten S. 324 f., 336 und 341.

290

So etwa der unten S. 307 genannte Titel des Traktates des Tyrannion sowie Philoxenos frg. 323 Theodoridis 1976, p. 240: ὅθεν οὐδὲ πᾶσα διάλεκτος κέχρηται τῷ δυϊκῷ ἀριθμῷ· οἱ γὰρ Αἰολεῖς παντελῶς δυϊκὰ οὐκ ἔχουσιν, ὥσπερ οἱ Ῥωμαῖοι ἄποικοι ὄντες τῶν Αἰολέων. Vgl. aber Dion. Hal. ant. 1.90.1: Ῥωμαῖοι δὲ φωνὴν μὲν οὔτἄκρως βάρβαρον οὔτἀπηρτισμένως Ἑλλάδα φθέγγονται, μικτὴν δέ τινα ἐξ ἀμφοῖν, ἧς ἐστιν ἡ πλείων Αἰολίς. Diese Vorstellung einer „Sprachmischung“ dürfte der allgemeinen Vorstellung entsprochen haben; von einer dogmatischen Theoriebildung ist ohnehin nicht auszugehen; die antiken Vorstellungen über den Äolismus waren eine Ansammlung recht unterschiedlicher Meinungen. Siehe dazu die ausgewogene Diskussion bei Gitner 2015. Über den möglichen Einfluss des Tyrannion auf die grammatischen Studien Varros spekuliert Lehmann 1988.

291

Der Titel von Hypsikrates’ Schrift ist nicht ersichtlich; nur paraphrasierend ist Gell. 16.12.6: Idque dixisse ait Hypsicraten quempiam grammaticum, cuius libri sane nobiles sunt super his, quae a Graecis accepta sunt; zu Person und Werk siehe Giomini 1956.

292

Zu seiner Person siehe Christes 1979, 27–38.

293

Literarische Werke schreibt die Suda nur seinem Schüler zu, vgl. aber Haas 1977, 97–98.

294

Περὶ τῆς τῶν Ῥωμαίων διαλέκτου, = frg. 327 Theodoridis 1976, p. 241.

295

Dubuisson/Schamp 2006 1.1: cccxxi: „ces étymologies fantaisistes“; weitere Beispiele bei Dmitriev 2018, 56–57, der wie Rochette 1998, 471–474 für die politischen Implikationen der Äolismus-These argumentiert.

296

Περὶ τῆς Ῥωμαϊκῆς διαλέκτου (Athen. 15.680d).

297

Ob man aufgrund einer singulären Notiz bei Serv. auct. Verg. Aen. 12.657 (Clodius Tuscus mussare est ex Graeco; conprimere oculos Graeci μῦσαι dicunt) eine entsprechende Schrift auch für Clodius Tuscus ansetzen kann, ist fraglich. Die Tendenz, lateinische Vokabeln aus dem Griechischen abzuleiten, zeigen auch die Fragmente von Santras De antiquitate verborum (siehe unten S. 309 f.). Zur Zeit Quintilians war die Herkunft eines großen Teils des lateinischen Wortschatzes aus dem Äolischen allgemein akzeptiert, vgl. Quint. inst. 1.6.31: Continet autem [sc. etymologia] in se multam eruditionem, sive ex Graecis orta tractemus, quae sunt plurima praecipueque Aeolica ratione, cui est sermo noster simillimus, declinata […].

298

Zu den vier explanandi gradus vgl. ling. 5.7–9. Für eine Zusammenfassung der divergierenden Forschungsmeinungen über die schwer fassbare vierte Stufe siehe Lazzerini 2017; zur Vorstellung der Könige als Wortschöpfer in De lingua Latina u. a. Schröter 1963, 94–97; zu den Prinzipien von impositio und derivatio/declinatio Taylor 1974. Bei der Vorstellung der verba primigenia stützte sich Varro zumindest teilweise auf die sonst verlorenen Ausführungen des Q. Cosconius (GRF pp. 109–110). Siehe dazu oben S. 260 f.

299

Siehe dazu Barwick 1922, 29–33.

300

Vgl. Varro ling. 5.13. Siehe dazu Zetzel 2018, 41.

301

Beispiele: Sabinisch: ling. 5.97; Etruskisch: ling. 6.28; dazu gehörten auch „barbarische“ Einflüsse, etwa Keltisch: ling. 5.167. Siehe dazu u. a. Collart 1954, 229–250.

302

Varro und Verrius Flaccus zogen für ihre Sprachforschungen die scriptores glossematorum heran, vgl. ling. 7.107; Fest. p. 166, 16 Lindsay.

303

Siehe dazu Schanz/Hosius 1, 584; Bardon 1, 297–298 und Mazzacane 1982, die sich für eine Dialogform ausspricht (205).

304

GRF pp. 384–388 mit dem Kommentar von Mazzacane 1982, 192–198.

305

Ferner frgg. 7; 10; 11; 12 Mazzacane 1982. Mazzacane 1982, 199 schließt daraus auf die generelle Ausrichtung des Werks.

306

Zu diesen gehörten Favorinus, Sulpicius Apollinaris, Nigidius Figulus, Verrius Flaccus, Varro und Valerius Probus. Siehe dazu Cavazza 2004, 67. Weitere Referenzen auf Bassus finden sich in Gell. 3.9.1; 3.18.3; 3.19.1; 11.17.4.

307

Unsicher ist die von Funaioli, RE 7 (1912), 867 und der älteren Forschung postulierte Identität der bei Gellius (3.9.1 und 3.18.3) genannten commentarii mit den Libri de origine verborum et vocabulorum. Wahrscheinlicher ist dagegen eine Identifizierung mit der bei Macrobius (Sat. 3.18.2) genannten Schrift, doch umfasste diese offenbar nur ein Buch: Gavius vero Bassus in libro de significatione verborum hoc refert. Möglich ist, dass im Text eine Nummernziffer ausgefallen ist. Beide Zuweisungen bezweifelt indes Bardon 1, 29. Zu Gellius’ eigenwilliger Verwendung des Begriffs commentarii siehe Vardi 2004, 162–164.

308

So Reitzenstein 1901, 35 auf der Grundlage von Quint. inst. 1.6.36 (= frg. 3 GRF p. 487): ingenioseque visus est Gavius ‚caelibes‘ dicere veluti ‚caelites‘, quod onere gravissimo vacent, idque Graeco argumento iuvit: ἠϊθέους enim eadem de causa dici affirmat. Bardon 1, 300 postuliert das Fragment vielleicht zu Recht für dessen Schrift De dis. Siehe dazu oben S. 287.

309

Funaioli, RE 7 (1912), 867 geht aufgrund der Präsentation bei Gellius von einer alphabetischen Ordnung aus. Zur alphabetischen Anordnungsweise von Verrius Flaccus’ De verborum significatu siehe unten S. 376 f.

310

Fragmente: GRF pp. 136–141 – Literatur: Goetz, RE 2 (1896), 1910–1911; Schanz/Hosius 1, 580–581; Christes 1979, 43–48; Rawson 1985, 73–74; Kaster 1995, 138–148.

311

Fragmente: GRF pp. 467–473 – Literatur: Goetz, RE 4 (1900), 61–62; Schanz/Hosius 2, 381; Bardon 2, 113–114. Es handelt sich wahrscheinlich um den von Festus mehrfach zitierten Cloatius. Siehe oben Kap. 6.2.1. § 1.2.

312

Gell. 16.12.1–7: Cloatius Verus in libris quos inscripsit verborum a Graecis tractorum non pauca hercle dicit curiose et sagaciter conquisita, neque non tamen quaedam futtilia et frivola. „Errare“, inquit, „dictum est ἀπὸ τοῦ ἔρρειν“, versumque infert Homeri [es folgen zwei weitere Beispiele]. Commode haec sane omnia et conducenter. Sed in libro quarto „faenerator,“ inquit, „appellatus est quasi φαινεράτωρ ἀπὸ τοῦ φαίνεσθαι ἐπὶ τὸ χρηστότερον, quoniam id genus homines speciem ostentent humanitatis et commodi esse videantur inopibus nummos desiderantibus.“ Idque dixisse ait Hypsicraten quempiam grammaticum, cuius libri sane nobiles sunt super his, quae a Graecis accepta sunt. Sive hoc autem ipse Cloatius sive nescioquis alius nebulo effutivit, nihil potest dici insulsius. „Faenerator enim,“ sicut M. Varro in libro tertio de sermone Latino scripsit, „a faenore est nominatus.“ Zum etymologischen Interesse des Gellius, seinen Urteilen und eigenen Forschungen siehe Cavazza 2004.

313

Bei Serv. Verg. ecl. 8.29 heißt es: […] idem Varro spargendarum nucum hanc dicit esse rationem, ut Iovis omine matrimonium celebretur […]. Nam nuces in tutela sunt Iovis, unde et iuglandes vocantur, quasi Iovis glandes. Das letzte Zitat stammt möglicherweise aus Varros Aetia, siehe dazu unten S. 367–369.

314

Zum ungewöhnlichen Titel siehe Schoenemann 1886, 54. Kaster 2011 II, 45, 135, 139 übersetzt „Things Greek Arranged in Alphabetical Order“.

315

Ersichtlich aus den katalogartigen Aufzählungen, die möglicherweise zu Beginn detaillierterer Ausführungen standen, vgl. Macr. Sat. 3.19.2 [Arten von Obst]: Amerinum, cotonium, citreum, coccymelum, conditivum […], musteum, Mattianum, obiculatum […], praecox, pannuceum, Punicum […], rubrum, Scaudianum, silvestre […], Verianum; Sat. 3.19.6; Sat. 3.20.1.

316

Vgl. Wissowa, RE 4, 1630–1631; Schanz/Hosius 1, 310; Bardon 1, 300–301; das Cognomen führt nur Serv. auct. Verg. Aen. 3.332 auf, jedoch ohne Angabe des Werktitels (apud Cornificium Longum). Da er aus Ciceros De natura deorum zitiert (Macr. Sat. 1.9.11), ist der Terminus post quem des Werks 44 v. Chr. Seine Identität mit dem Dichter und Redner Q. Cornificius, der 42 v. Chr. vor Utica fiel, wird allgemein bestritten. Siehe dazu Rawson 1978.

317

Von den insgesamt 16 in GRF pp. 475–479 aufgeführten Fragmenten behandeln drei andere Themen: Fest. p. 166, 32–33 Lindsay (= frg. 11 GRF p. 478): nare a nave ductum Cornificius ait, quod aqua feratur natans, ut navis; Fest. p. 174, 22–23 Lindsay (= frg. 12 GRF p. 478): [nuptias] Cornificius, quod nova petantur coniugia; Fest. p. 212 Lindsay (= frg. 14 GRF p. 478) zu oscillare. Macrobius (Sat. 1.9.11 zu Ianus; 1.17.62 zu Pythius) gibt den Titel als libri etymorum wieder, was Bardon 1, 301 für den ursprünglichen Titel hält und daher die behandelte Thematik breiter fasst.

318

So bot Cornificius nach dem Zeugnis des Serv. auct. Verg. Aen. 3.332 die aitiologisch-etymologische Erklärung des Ursprungs von Delphi und Krisa (= frg. 4 GRF p. 475): invenitur tamen apud Cornificium Longum Iapydem et Icadium profectos a Creta in diversas regiones venisse, Iapydem in Italiam, Icadium vero duce delphino ad montem Parnasum, et a duce Delphos cognominasse et in memoriam gentis, ex qua profectus erat, subiacentes campos Crisaeos vel Cretaeos appellasse et aras constituisse. Riten: Prisc. inst. 6.73 GL 2, 257, 6–7 (= frg. 1 GRF p. 475): Cornificus in I de etymis deorum: ipsis vero ad Cereris memoriae novandae gratiam lectus sternuntur.

319

Münzer, RE 2 A (1921), 256–257; Bardon 1, 207–209; FRHist I, 646–647.

320

Siehe dazu u. a. Schmitzer 2017 mit weiterer Literatur; zur Bedeutung der Topographie in der im Folgenden ausgeklammerten römischen Historiographie siehe etwa Jaeger 1997.

321

Literatur: Münzer 1897, 167–172; von Rohden, RE 1 (1894), 2265; Schanz/Hosius 2, 649; Bardon 2, 108 Anm. 2; FRHist I, 629–630.

322

Für weitere antike Belegstellen siehe RE 4,1 (1900), 110–111. Rawson 1991, 262 hält die Identifikation der Statue mit Cloelia nicht für eine alte Tradition, sondern für eine gelehrte Leistung des zweiten Jahrhunderts v. Chr. Laut Sehlmeyer 1999, 98–101 handelte es sich um die Statue einer Göttin.

323

Münzer 1897, 168–169; anders Schanz/Hosius 2, 649; FRHist I, 630.

324

Fragmente: FGrHist 273 – Literatur: Schwartz, RE 1 (1894), 1449–1452; FGrHist III a Kommentar, 248–313; Kaster 1995, 209–210.

325

So aber Schanz/Hosius 2, 371: „vermutlich schöpfte er viel aus dem verwandten Werk ‚Italisches‘ seines Lehrers Alexander Polyhistor“. Zur lokalaitiologischen Abhandlung Hygins siehe weiter unten S. 322–325.

326

So Norden 1895, viii; ablehnend Mommsen 1895, xiii und Schanz/Hosius 1, 585. Zum antiquarisch interessierten Grammatiker Q. Cosconius siehe oben S. 260 f.

327

Zur Rekonstruktion des Inhalts dieser Bücher siehe Mirsch 1882, 34–36 und Cardauns 1976, 170–176.

328

Die Buchtitel der Res divinae liefert Augustinus (civ. 6.3): secundos tres ad loca pertinentes, ita ut in uno eorum de sacellis, altero de sacris aedibus diceret, tertio de locis.

329

Septimontio, ut ait Antistius Labeo, hisce montibus feriae: Palatio, cui sacrificium quod fit, Palatuar dicitur; Veliae, cui item sacrificium; Fagu⟨t⟩ali, Suburae, Cermalo, Oppio, Caelio monti, Cispio monti. Oppius autem appellatus est, ut ait Varro rerum humanarum lib. VIII, ab Opitre Oppio Tusculano, qui cum praesidio Tusculanorum missus ad Romam tuendam, dum Tullus Hostilius Veios oppugnaret, consederat in Carinis, et ibi castra habuerat. Hierzu liegt eine Spezialuntersuchung von Gelsomino 1975 vor.

330

Varro humanarum rerum: Numerius Equitius Cupes et Romanius Macellus singulari latrocinio multa loca habuerunt infesta. His in exilium actis publicata sunt bona, et aedes ubi habitabant dirutae; eque ea pecunia scalae deum penatum aedificatae sunt. Ubi habitabant, locus, ubi venirent ea quae vescendi causa in urbem erant allata. Itaque ab altero Macellum, ab altero forum Cupedinis appellatum est.

331

Reitzenstein 1885, 545–546 lässt die Schilderung Italiens erst im 11. Buch beginnen.

332

Die von Mirsch aufgeführten Fragmente sind alle ohne Angabe des Werkstitels.

333

Timaeus in historiis, quas oratione Graeca de rebus populi Romani composuit, et M. Varro in antiquitatibus rerum humanarum terram Italiam de Graeco vocabulo appellatam scripserunt, quoniam boves Graeca vetere lingua ἰταλοὶ vocitati sint, quorum in Italia magna copia fuerit bucetaque in ea terra gigni pascique solita sint complurima.

334

Huius autem fluminis, apud quod purgatus est Orestes, Varro meminit Humanarum XI sic: Iuxta Rhegium fluvii sunt continui septem: Latapadon, Micotes, Eugiton, Stracteos, Polie, Molee, Argeades. In his matris nece purgatus dicitur Orestes ibique ahenum eius diu fuisse ensem et ab eo aedificatum Apollinis templum, e cuius luco Rheginos, cum Delphos proficiscerentur, re divina facta lauream decerpere solitos, quam ferrent secum.

335

Mögliches Fragment: Serv. Verg. Aen. 7.563 (= Ant. rer. hum. XI frg. 6 Mirsch): sciendum sane Varronem enumerare quot loca in Italia sint huiusmodi: unde etiam Donatus dicit Lucaniae esse qui describitur locus, circa fluvium qui Calor vocatur.

336

Macr. Sat. 3.16.12 (= Ant. rer. hum. XI frg. 1 Mirsch): qui [Varro] enumerans, quae in quibus Italiae partibus optima ad victum gignantur, pisci Tiberino palmam tribuit his verbis in libro rerum humanarum undecimo: Ad victum optima fert ager Campanus frumentum, Falernus vinum, Cassinas oleum, Tusculanus ficum, mel Tarentinus, piscem Tiberis. Mirsch rechnet hierher u. a. auch Char. gramm. 1, p. 130, 13–14 Barwick (= Ant. rer. hum. XI frg. 10 Mirsch): hillum Varro rerum humanarum intestinum dicit tenuissimum, quod alii hillam appellaverunt, ut intellegeretur intestinum propter similitudinem generis; unde antiqui creberrime dempta littera hilum quoque dixerunt. Doch ist die Buchzuweisung ungewiss.

337

Mögliches Fragment: Gell. 10.7.2: Varro autem, cum de parte orbis, quae Europa dicitur, dissereret, in tribus primis eius terrae fluminibus Rhodanum esse ponit, per quod videtur eum facere Histro aemulum; Histrus enim quoque in Europa fluit. Mirsch rechnet das Fragment zu Buch 8 (= Ant. rer. hum. XIII frg. 6 Mirsch).

338

Ab hoc mare, non ab hoc mari dici oportet. Romanus ita refert: mare. Varro de gente p. R. III […] ut refert Plinius. Idem, inquit, antiquitatum humanarum XII: ab Erythro mare orti.

339

Mögliches Fragmente: Hier. ad Galat. 2 praef. (= Ant. rer. hum. XIII frg. 17 Mirsch): Marcus Varro, cunctarum antiquitatum diligentissimus perscrutator et ceteri, qui eum imitati sunt, multa super hac gente [Galatarum] et digna memoria tradiderunt.

340

Tanaidis Varro antiquitatum humanarum XIII, non huius Tanais ut Tiberis, inquit Plinius.

341

Et sacellum, ut Varro ait, sacra cella est.

342

Sane Varro rerum div. refert inter sacratas aras focos quoque sacraria solere […]; focum autem dictum a fotu, ut colinam ab eo quod ibi ignis colatur.

343

Varro locum quattuor angulis conclusum aedem docet appellari debere. Idem rerum divinarum libro sexto intulit, ideo loca sacra civitates habere voluisse, ne per continua aedificia incendia prolaberentur et ut esset, quo confugerent plerique cum familia sua in periculis

344

Tullum Hostilium […] invenio fanum Saturno ex voto consecravisse […] quamvis Varro libro sexto, qui est de sacris aedibus, scribat aedem Saturni ad forum faciendam locasse L. Tarquinium regem, Titum vero Larcium dictatorem Saturnalibus eam dedicasse

345

Potest etiam id quoque ab eodem Varrone in septimo divinarum similiter dictum: Inter duas filias regum quid mutet, inter Antigonem et Tulliam, est animadvertere.

346

Siehe dazu Zehnacker 2008a.

347

Zum Beispiel Macr. Sat. 3.16.11–12 (= Ant. rer. hum. XI frg. 1 Mirsch): Quid stupemus captivam illius saeculi gulam servisse mari, cum in magno vel dicam maximo apud prodigos honore fuerit Tiberinus lupus et omnino omnes ex hoc amni pisces? Quod equidem cur ita illis visum sit ignoro; fuisse autem etiam M. Varro ostendit, qui enumerans quae in quibus Italiae partibus optima ad victum gignantur, pisci Tiberino palmam tribuit his verbis in libro rerum humanarum undecimo: ad victum optima fert ager Campanus frumentum, Falernus vinum, Casinas oleum, Tusculanus ficus, mel Tarentinus, piscem Tiberis.

348

Zur iberischen Halbinsel siehe Deschamps 2002.

349

Vgl. Varro ling. 5.159; Liv. 1.48.6; Ov. fast. 6.587 ff.

350

Vgl. hierzu Cic. leg. agr. 2.36: sunt enim loca publica urbis, sunt sacella, quae post restitutam tribuniciam potestatem nemo attigit, quae maiores in urbepartim periculi perfugia esse voluerunt. In dieselbe Richtung weist Plut. Quaest. Rom. 27 (= Ant. rer. div. VII Appendix d Cardauns): Διὰ τί πᾶν τεῖχος ἀβέβηλον καὶ ἱερὸν νομίζουσι, τὰς δὲ πύλας οὐ νομίζουσιν; ἦ καθάπερ ἔγραψε Βάρρων, τὸ μὲν τεῖχος ἱερὸν δεῖ νομίζειν, ὅπως ὑπὲρ αὐτοῦ μάχωνται προθύμως καὶ ἀποθνήσκωσιν.

351

Zu den Spekulationen der älteren Forschung über die Bedeutung dieser Schrift für die Tribus-relevanten Stellen in Verrius Flaccus siehe Dahlmann, RE Suppl. 6 (1935), 1247.

352

Ritschl 1877, 449–450; Dahlmann, RE Suppl. 6 (1935), 1247–1248; Drummond, FRHist I, 418.

353

Fragmente: FRHist 63 – Literatur: Diehl, RE 10 (1917), 628–651; Schanz/Hosius 2, 368–372; Kaster 1995, 205–208; FRHist I, 474–481. Im Folgenden wird die Schrift unter dem Titel De urbibus Italicis zitiert.

354

Die Passage könnte (wie auch FRHist 63 F10–13) ebenso gut aus Hygins Vergilkommentar (vgl. Gell. 1.21.2: in commentariis quae in Vergilium fecit) stammen.

355

Man hat daraus – in Analogie zu Tacitus’ De origine et situ Germanorum – auf den ursprünglichen Titel De origine et situ urbium Italicarum schließen wollen. Vgl. z. B. Diehl, RE 10 (1917), 634; Schanz/Hosius 2, 371.

356

Da es keine Hinweise für eine Datierung gibt, ist unklar, in welchem Verhältnis die beiden Werke zueinanderstanden. Konkret geht es um die Frage, ob Vergil Hygins De urbibus Italicis oder umgekehrt Hygin Vergils Aeneis benutzt hatte. Dass Vergil Hygins De familiis Troianis zu Rate zog, behauptet Serv. Verg. Aen. 5.389: sane sciendum hunc [Entellum] secundum Hyginum, qui de familiis Troianis scripsit, unum Troianorum fuisse, de quo Vergilius mutat historiam. Zweifel daran hegen Horsfall 2000, 418 und Lebick/Cornell, FRHist I, 480, die Hygins Schrift später ansetzen. Zur angeblichen Abhängigkeit der Georgica Vergils von Hygins De agri cultura siehe Kaster 1995, 206–207.

357

Vgl. FRHist 63 F13 (= Serv. auct. Verg. Aen. 8.600): veteres sacrasse Pelasgos […] Hyginus dicit Pelasgos esse qui Tyrrheni sunt; hoc etiam Varro commemorat. F5 zeigt aber, dass Macrobius (bzw. seine Quelle) sich auf Hygin stützt. Zu dieser Legende siehe die umfassende Studie von Briquel 1984, bes. 525–540; zur Auseinandersetzung der Griechen mit diesem mythischen Urvolk siehe McInerney 2014.

358

Macr. Sat. 5.18.16 zu Aen. 7.684–689 (Abstammung der Hernici vom Pelasger Hernicus); kritisch Horsfall 2000, 451. Eine alternative Namensdeutung haben Paul. Fest. p. 89, 24 Lindsay und Schol. Veron. Verg. Aen. 7.684 (beide vom marsischen Wort für „Stein“: herna); ähnlich Serv. Verg. Aen. 7.684 (vom sabinischen Wort für „Stein“: herna). Siehe dazu FRHist III, 553–554.

359

Levick/Cornell, FRHist I, 479 denken auch an Pompeius Trogus’ Universalgeschichte Historiae Philippicae, deren Titel in den Handschriften mit dem Zusatz et totius mundi origines et terrae situs erscheint.

360

Vgl. z. B. zu FRHist 63 F9 etwa FRHist 5 F51 (Cato) und FRHist 14 F20 (Cn. Gellius).

361

Protarchos von Tralleis wird einzig noch von Stephanos Byzantios s. v. Ὑπερβόρεοι erwähnt.

362

Varro gilt allgemein als Vorlage Hygins, zumal man sich letzteren, u. a. basierend auf Colum. rust. 9.2.1 (Hyginus veterum auctorum placita secretis dispersa monumentis industrie colligit) als Kompilatoren vorstellt. Siehe dazu Diehl, RE 10 (1917), 629–630; Schanz/Hosius 2, 372. An einer Stelle seiner De viris illustribus nannte Hygin Varro explizit als Quelle: Ascon. Pis. 12–13 C (= FRHist 63 F1): Varronem autem tradere M. Valerio, quia Sabinos vicerat, aedes in Palatio tributas Iulius Hyginus dicit in libro priore de viris claris. In der Überlieferung wird Hygin zudem häufig zusammen mit Varro genannt, doch beweist dies nicht zwingend eine Abhängigkeit: Serv. auct. Verg. Aen. 8.600 (= FRHist 63 F13): Hyginus dicit Pelasgos esse qui Tyrrheni sunt: hoc etiam Varro commemorat; ferner FRHist 63 F1, F2, F4, F10, F11.

363

Daher wird in der modernen wissenschaftlichen Behandlung meistens die politische Funktion betont, so z. B. De Cicco 2018; zur gentilizisch-genealogischen Memorialpraxis in Rom siehe Walter 2004, 84–130.

364

Eine Reihe von Belegstellen versammelt Speyer, RAC 9 (1976), 1152.

365

Bereits Plautus parodierte die maiores-Fixierung der Nobilität, vgl. z. B. Plaut. Pers. 53–61 (ein Parasit rühmt sich seiner Herkunft aus einer Familie von Parasiten in der siebten Generation). Siehe dazu Hoffmann 1992 und Lentano 2007, 177–181 (mit weiteren Beispielen). Eine knappe Übersicht der genealogischen Erinnerungspraktiken der römischen Nobilität bietet Speyer, RAC 9 (1976), 1187–1196; zum hochkomplexen Instrumentarium, mit dem die römische Aristokratie genealogisches Kapital inszenierte, siehe Walter 2004, 87–88; zu den römischen gentes im Allgemeinen Smith 2006.

366

Bäumerich 1964, 25 lässt die römische genealogische Forschung und Schriftstellerei als Ausdruck „einer romantisch verklärten Betrachtung der Vergangenheit“ in der ausgehenden Republik beginnen. Sage 1930, 98 setzt eine entsprechende Tätigkeit schon Mitte des 3. Jhds. v. Chr. voraus.

367

Zur byzantinischen patria-Literatur siehe Focanti 2018a; Focanti 2018b; zur Origo gentis Romanae HLL 5 § 532.1. sowie Smith 2005; zur origo gentis-Literatur im europäischen Frühmittelalter Plassmann 2006.

368

Flaig 2000, 229: „Die Genealogie römischer Adelsgeschlechter ist eine Sukzession von politisch selektierten Vorfahren; sie umfasst […] lediglich Amtsträger; die griechische Genealogie ist enorm flexibel und bietet die Möglichkeit, mythische Figuren aus der Heroenzeit oder sogar Götter an den Ursprung der Abstammungskette zu setzen.“

369

Bäumerich 1964, 21–29; Wiseman 1974, 153–164; Wiseman 1987, 207–214; Wikander 1993; Hölkeskamp 1999; Smith 2006, 32–44.

370

Cic. Brut. 62: his laudationibus historia rerum nostrarum est facta mendosior. Multa enim scripta sunt in eis quae facta non sunt: falsi triumphi, plures consulatus, genera etiam falsa […]; Liv. 8.40.4: Vitiatam memoriam funebribus laudibus reor falsisque imaginum titulis, dum familiae ad se quaeque famam rerum gestarum honorumque fallente mendacio trahunt; inde certe et singulorum gesta et publica monumenta rerum confusa; Hor. carm. 3.17; iamb. 9.7 ff. Vgl. Plut. Numa 1, wo ein gewisser Clodius erwähnt wird, der in seiner chronographischen Schrift behauptet hatte, dass sämtliche genealogische Aufzeichnungen, die über den Galliereinfall hinausreichten, erfunden seien, weil damals alle alten Aufzeichnungen verloren gegangen seien.

371

Hölkeskamp 1999, 13. Siehe dazu auch Walter 2004, 105–108.

372

Walter 2003b.

373

Vgl. noch Cic. orat. 120. Literatur: Münzer 1905, 93–100; Bäumerich 1964, 63–72; Marshall A. 1993; Drummond, FRHist I, 350–363 – Fragmente sind keine erhalten.

374

Münzer 1905, 99–100 geht von einer schrittweisen Entstehung einzelner Genealogien aus, die vor und nach der Publikation des Liber annalis erfolgte. Eine exakte Datierung hängt u. a. an der Frage, mit wem man die bei Nepos (18.4: pari modo [rogatu] Marcelli Claudi de Marcellorum, Scipionis Corneli et Fabi Maximi Fabiorum et Aemiliorum) genannten Personen identifiziert; falls z. B. der genannte Scipio mit dem 46 v. Chr. durch Selbstmord aus dem Leben gegangenen Metellus Scipio zu identifizieren ist, fungiert dessen Tod bzw. der Beginn der Bürgerkriege als Terminus ante quem. Eine Zusammenfassung der diesbezüglichen Forschungsmeinungen bietet Drummond, FRHist I, 350–351.

375

Münzer 1905, 98–99 geht daher von einer rekursiven Darstellung aus, die sich gleichsam von den äußersten Zweigen des Stammbaumes, d. h. den lebenden Vertretern der Geschlechter, zu den Wurzeln hinbewegte, wobei abgestorbene Äste beiseite gelassen werden konnten.

376

54 v. Chr. Siehe dazu Crawford 1974, 88 und 455–456.

377

Zum Beispiel: Cic. Sulla 27: longe abest a me regni suspicio; si quaeris qui sint Romae regnum occupare conati […] ex domesticis imaginibus invenies (gerichtet an den Ankläger Manlius Torquatus mit Anspielung auf M. Manlius Vulso Capitolinus, cos. 392, vgl. Liv. 6.20.4). Zur Bedeutung der Ahnen in Gerichtssituationen siehe Flower 1996, 150–157; zum „Handlungsimpuls“ der imagines Walter 2004, 108–112.

378

Auf einem Denar des P. Plautius Hypsaeus um 60 v. Chr. ist auf der Vorderseite Leuconoe, die Tochter Neptuns und Enkelin des Hypsaeus abgebildet, von dem sich die Plautii Hypsaei herleiteten. Auf dem Revers wird auf den Eroberer von Privernum, C. Plautius (cos. 329 v. Chr.), angespielt. Doch dieser war auf keinen Fall ein Plautius Hypsaeus, sondern allenfalls ein Plautius Decianus, vgl. Hölkeskamp 1999, 16–17. Für Beispiele aus spätrepublikanischer Zeit siehe Crawford 1974, Nr. 322. 410. 415. Zur Usurpation von Cognomina vgl. Cic. fam. 15.20.1 (nisi forte candidatorum licentia hic quoque usus hoc subito cognomen arripuit) sowie Clu. 72 und Sest. 69, wo er sich über C. Staienus Paetus und Aelius Ligus mokiert, die sich durch ihre Cognomina als Nachkommen der ausgestorbenen Aelii ausgeben wollten. Weniger Skrupel hatte Cicero indes gegenüber seinem Freund Papirius Paetus, dem er empfahl, auch die imagines anderer agnatischer Seitenlinien seiner gens in seinen Stammbaum aufzunehmen (Cic. fam. 9.21.2).

379

Zum Beispiel: Paullus Aemilius Lepidus, cos. 34; Paullus Fabius Maximus (Ov. Pont. 1.2.1 ff.).

380

Siehe dazu Salomies 1987, 313–338; Wikander 1993, 80–84.

381

Nachweisbar ab dem 1. Jhd. n. Chr., vgl. Etcheto 2008, 123–124. Der letzte männliche Scipione war Metellus Scipio (cos. 52), der durch Erbverfügung aber Mitglied der gens der Caecilii Metelli war. Er war der Ururenkel des Scipio Nasica Corculum (cos. 162), des Schwiegersohns des älteren Africanus; zu seiner Person siehe Linderski 1996; zu den letzten Scipionen Etcheto 2012, 137–151 und Schwitter 2021.

382

Plin. nat. 35.8: Exstat Messalae oratoris indignatio, quae prohibuit inseri genti suae Laevinorum alienam imaginem. Similis causa Messalae seni expressit volumina illa quae de familiis condidit, cum Scipionis Pomponiani transisset atrium vidissetque adoptione testamentaria Salvittones – hoc enim fuerat cognomen – Africanorum dedecori inrepentes [inrepente codd.] Scipionum nomini. Zur Identifikation mit Messalla Rufus (und nicht Messalla Corvinus) siehe HRR 2, lxxviii; FRHist I, 386; zu Messallas De familiis siehe Münzer 1897, 112–113 und 350–353; Bardon 1, 309–310; FRHist I, 386–389.

383

Vgl. Plin. nat. 7.176–177 (= Ant. rer. hum. I frg. 10 Mirsch): Varro quoque auctor est XXviro se agros dividente Capuae quendam, qui efferretur foro, domum remeasse pedibus; hoc idem Aquini accidisse; Romae quoque Corfidium, materterae suae maritum, funere locato revixisse et locatorem funeris ab eo elatum. Weiteres dieser Art, jedoch ohne Angabe der Quelle, bietet Plinius in nat. 7.51; 7.133 sowie 33,21 (in Quinctiorum vero familia aurum ne feminas quidem habere mos fuerit). Unklar ist die Herkunft von Plin. nat. 19.8: M. Varro tradit in Serranorum familia gentilicium esse feminas lintea veste non uti. Siehe dazu Münzer 1897, 352–553.

384

A. Marshall 1993, 314–315.

385

Nach Sueton habe Caesar in Afrika einen Scipio an die Spitze seines Heeres gestellt, um seinen Gegner, Metellus Scipio, bloßzustellen, der auf ein altes Orakel vertraute, das verkündet hatte, dass ein Scipio in Afrika immer siegreich sein werde (Suet. Div. Iul. 59: felix et invictum in ea provincia fataliter Scipionum nomen ferebatur; ferner Plut. Caes. 52; Cass. Dio. 42.58.1 mit Weinstock 1971, 97–98). Die ältere Forschung ging davon aus, dass es sich um denselben Mann handelte, dessen Cognomen Salvitto angeblich von einem Schauspieler stammte (so Plin. nat. 7.54; ähnlich Suet. Div. Iul. 59), vgl. aber Etcheto 2012, 190–191 (Nr. 43–44) sowie die Diskussion bei Drummond, FRHist I, 386–387. Scipio Salvitto war vielleicht der Stammvater der Scipiones Salvidieni Orfiti, aus deren Reihen in der Kaiserzeit mehrere Konsuln hervorgingen. Siehe dazu PIR2 C 1444; Syme 1986, 253 Anm. 77; skeptisch ist Etcheto 2012, 191 (Nr. 44). Textkritische Probleme bietet die Lesart inrepente der Handschriften.

386

Münzer 1897, 309–310. Analog führt Strzelecki 1932, 24–29 die bei Festus erhaltenen Gentilabstammungen auf Messalla zurück; zustimmend Bäumerich 1964, 56–58. Drummond, FRHist I, 388 lässt die Frage offen.

387

Zu dieser autobiographischen Schrift siehe Dahlmann 1948.

388

Ausgeklammert seien hier mutmaßliche genealogische Informationen in den Dichterbiographien von Varros De poetis.

389

Serv. Verg. Aen. 5.412: Germanus est secundum Varronem in libris de gradibus de eadem genitrice manans, non, ut multi dicunt, de eodem germine, quos ille tantum fratres vocat. Siehe dazu Ritschl 1877, 473; Dahlmann, RE Suppl. 6 (1935), 1255 sowie Cenderelli 1973, 14–15, der wie Schanz/Hosius 1, 569 nicht an eine rechtliche Schrift glaubt, sondern vermutet, dass noch andere gradus-Typen (z. B. die quinque gradus aetatis usw.) behandelt waren. Terminologisches zu Verwandschaftsgraden behandelte Trebatius Testa nach dem Zeugnis von Paulus’ Liber singularis de gradibus et adfinibus et nominibus eorum (Dig. 38.10.10.(15) und (18)).

390

De gente populi Romani: Für 43 v. Chr. plädieren mit der älteren Forschung Dahlmann, RE Suppl. 6 (1935), 1241–1242; Taylor 1934; Bäumerich 1964, 42–44; Horsfall 1972 – De familiis Troianis: siehe unten S. 345 Anm. 42 – Tubero de origine humana: nach der Argumentation von Morgan 1974 sind sämtliche Logistorici nach 45 v. Chr. entstanden. Ausführlicher zur Frage der relativen Datierung von Varros antiquarischen Schriften siehe unten S. 372 f.

391

Vgl. die Zusammenstellung von Mirsch 1882 am Ende der jeweiligen Bücher.

392

Gesichert sind nur zwei Fragmente: Gell. 13.17.3–4 (= Ant. rer. hum. I frg. 1 Mirsch) (zum Begriff humanitas): Itaque verba posui Varronis e libro rerum humanarum primo, cuius principium hoc est: Praxiteles, qui propter artificium egregium nemini est paulum modo humaniori ignotus. Humaniori inquit non ita, ut vulgo dicitur, facili et tractabili et benivolo, tametsi rudis litterarum sit – hoc enim cum sententia nequaquam convenit – sed eruditiori doctiorique, qui Praxitelem quid fuerit et ex libris et ex historia cognoverit; Prisc. inst. 10.32 GL 2, 524, 2–8 (= Ant. rer. hum. I frg. 2–3 Mirsch): Varro in I humanarum: ut habent Parii, qui vocantur ὀφιογενεῖς, et in Africa Psylli, quorum ophiogenis cum arbitrantur subpositum esse in stirpe aliquem, ei admovent, ut pungat, columbram: cum pupugerit, si de genere sit, vivere, si non sit, mori. In eodem: admota aspis cum pupugerit, si non occidat, sciat, ex Psyllorum esse stirpe.

393

Zum Beispiel Prob. Verg. ecl. 6.31 ed. Hagen, pp. 336–337 (= Ant. rer. hum. III frg. 6 Mirsch): De qua re [sc. Castrum Minervae] haec tradit Varro […]. In tertio rerum humanarum refert: Gentis Salentinae nomen tribus e locis fertur coaluisse, e Creta, Illyrico, Italia. Idomeneus e Creta oppido Blanda pulsus per seditionem bello Magnensium cum grandi manu ad regem Divitium ad Illyricum venit. Ab eo item accepta manu cum Locrensibus plerisque profugis in mari coniunctus per similem causam amicitiaque sociatis Locros appulit. Vacuata eo metu urbe ibidem possedit aliquot oppida condidit, in queis Uria et Castrum Minervae nobilissimum. In tres partes divisa copia in populos duodecim. Salentini dicti, quod in salo amicitiam fecerint.

394

Siehe dazu mit Blick auf die frühe Prinzipatszeit Steffensen 2018, bes. 162–272.

395

Einschlägig sind folgende Testimonien: Schol. Bob. in Cic. pro Sestio 48 ed. Hildebrandt 1971, 91, 13–23 (= Ant. rer. hum. II frg. 1 Mirsch): Fuit rex antiquissimus Atheniensium Erectheus, non longe a principalibus, qui in eadem civitate regnaverant. Nam primus omnium fuit Cecrops, dein Cranaus, tertio Anficthyon, post hunc Ericthonius; qui feruntur ex terra editi; item Pandion et hic, de quo Cicero mentionem facit, Erectheus. Cuius filiae virgines, cum gravi bello Athenae oppugnarentur nec ulla spes salutis ostenderetur, sumptis infulis ad aram steterunt; nam ita responsum erat, ut salus patriae iam desperata hoc genere piaculi compararetur. Auctor est exempli Varro libro humanarum secundo; Serv. auct. Verg. Aen. 3.167 (= Ant. rer. hum. II frg. 7 Mirsch) nach langem Referat über die Herkunft und die Abstammung der Brüder Dardanus und Iasius: Graeci et Varro humanarum rerum Dardanum non ex Italia, sed de Arcadia, urbe Pheneo, oriundum dicunt; dazu gehört Macr. Sat. 3.4.7 (= Ant. rer. hum. II frg. 8 Mirsch): Varro humanarum secundo Dardanum refert deos Penates ex Samothrace in Phrygiam, et Aeneam ex Phrygia in Italiam detulisse. Qui sint autem dii Penates, in libro quidem memorato Varro non exprimit. Mirsch führt eine Reihe weiterer Fragmente aus der Vergilkommentierung auf, bei denen die Herkunft aus den Antiquitates möglich, aber nicht gesichert ist.

396

Siehe dazu Wissowa 1912, 101, 274, 315, 404 und 481.

397

Fragmente: Fraccaro 1907, 247–286 – Literatur: Peter 1902; Taylor 1934; Dahlmann, RE Suppl. 6 (1935), 1237–1241; Della Corte 1976, 126–133; Müller 1972–1980, II: 29–30; Baier 1999; Cardauns 2001, 61–62.

398

Fragmente: Riposati 1939, 280–316; Salvadore 2004; Pittà 2015 – Kommentar: Pittà 2015 – Literatur: Fraccaro 1907; Dahlmann, RE Suppl. 6 (1935), 1243–1246; Lehmann 1992; Müller 2003, 373–381; Ax 2006a.

399

Ax 2006b, 184. Siehe zur Einheit der beiden Werke auch Della Corte 1976, 130; zu Dikaiarchos als Vorlage Ax 2006a; Purcell 2003, 343–348. Ax 2006a, 168–169 (ebenso Purcell 2003, 345 Anm. 43) bringt als weitere Parallele und mögliche Vorlage den Stoiker Iason von Nysa (1. Jhd. v. Chr.) ins Spiel, der vier Bücher Βίος τῆς Ἑλλάδος verfasst hat. Zu Dikaiarchos’ Einfluss auf Varros De re rustica siehe Nelsestuen 2017.

400

Eine ausführliche Diskussion der Passagen bietet Fraccaro 1907, 23–68. Daneben finden sich je fünf explizite Bezeugungen bei Charisius und Servius sowie je eine Bezeugung bei Arnobius und in den Statius-Scholien. Siehe dazu Fraccaro 1907, 12–23.

401

Frgg. 2; 3; 5; 6; 8; 12; 15; 16; 19; 21; 30 Fraccaro. Dies verleitete Taylor 1934, 224 ff. dazu, auf politische Implikationen im Zusammenhang mit der Deifizierung Caesars zu schließen; vgl. relativierend Baier 1999.

402

Varro zitiert Kastor bei Aug. civ. 21.8 (= frg. 5 Fraccaro = FGrHist 250 F9). Siehe dazu Dahlmann, RE Suppl. 6 (1935), 1240–1241; Cole 2004, 363–366.

403

Vgl. Aug. civ. 18.2 (= frg. 8 Fraccaro): Ab his enim Sicyoniorum regibus ad Athenienses pervenit, a quibus ad Latinos, inde Romanos. Ob Varro, wie Kastor, auch der orientalischen Geschichte einen Abschnitt widmete, ist aus den Fragmenten nicht ersichtlich.

404

Dazu Fraccaro 1907, 160–162. Vgl. Plut. Rom. 21.4: Τὰ δὲ Λουπερκάλια τῷ μὲν χρόνῳ δόξειεν ἂν εἶναι καθάρσια (…) τοὔνομα δὲ τῆς ἑορτῆς ἑλληνιστὶ σημαίνει Λύκαια, καὶ δοκεῖ διὰ τοῦτο παμπάλαιος ἀπἈρκάδων εἶναι τῶν περὶ Εὔανδρον. ἀλλὰ τοῦτο μὲν κοινόν ἐστι· δύναται γὰρ ἀπὸ τῆς λυκαίνης γεγονέναι τοὔνομα. Zu den arkadischen Werwolfsgeschichten vgl. Pausanias 8.2.6.

405

Nach der Übersetzung von Thimme 1997 II, 441.

406

Auf den Punkt bringt dieses varronische Grundprinzip mit Blick auf De vita populi Romani Dahlmann, RE Suppl. 6 (1935), 1243: „was er betreibt, ist nicht eigentliche kulturgeschichtliche Forschung, sondern seine Kulturgeschichte ist der Aufbau der Anschauungen, die sich seine Zeit vom Leben ihrer Ahnen machte.“ Das Prinzip der zeitlich rückläufigen Rekonstruktion entspricht der Verfahrensweise der antiken Genealogie, vgl. Plut. Numa 1: Ἔστι δὲ καὶ περὶ τῶν Νομᾶ τοῦ βασιλέως χρόνων, καθοὓς γέγονε, νεανικὴ διαφορά, καίπερ ἐξ ἀρχῆς εἰς τοῦτον κατάγεσθαι τῶν στεμμάτων ἀκριβῶς δοκούντων. ἀλλὰ Κλώδιός τις ἐν ἐλέγχῳ χρόνων (οὕτω γάρ πως ἐπιγέγραπται τὸ βιβλίον) ἰσχυρίζεται τὰς μὲν ἀρχαίας ἐκείνας ἀναγραφὰς ἐν τοῖς Κελτικοῖς πάθεσι τῆς πόλεως ἠφανίσθαι, τὰς δὲ νῦν φαινομένας οὐκ ἀληθῶς συγκεῖσθαι […]. Siehe dazu Crawford 1998.

407

Zum analogen Verfahren in der Sprachaitiologie siehe oben S. 303–308.

408

Aus der Fülle der Fachliteratur siehe Ascheri 2011, 65–71 mit weiteren bibliographischen Angaben; zur damit verbundenen Äolismus-These siehe oben S. 306 f. mit weiterer Literatur.

409

Zum Beispiel: Dion. Hal. ant. 2.9.2 (griechischer Ursprung des Klientelwesens); 2.12–14 (griechischer Ursprung des Senats); 5.73.3–5.74.4 (griechischer Ursprung der Diktatur); 7.72.1–4 (griechischer Ursprung des Bedeckens des Intimbereichs durch die Athleten bei den ludi). Siehe dazu Gabba 1982, 810–811 und Ascheri 2011, 67–69. Dass die gelehrte griechische Grammatik sich aktiv an diesem Diskurs beteiligte, belegt Ascheri 2011, 71–84 anhand einer Analyse der Homerscholien.

410

Zur Binnenstruktur des Werks siehe die im Detail voneinander abweichenden Rekonstruktionen von Riposati 1939, 91–92, 164–165, 194–195, 231 und Pittà 2015, 30–66, 234–237, 350–352. Zur Systematik des ersten Buchs vgl. Non. p. 792, 9–12 Lindsay (= frg. 23 Pittà = 24 Riposati): Victuis, pro victus. Varro de vita populi Romani lib. I: primum de re familiari ac partibus; secundo de victuis consuetudine primigenia; tertio de disciplinis priscis necessariis vitae.

411

Siehe dazu die Diskussion in Pittà 2015, 234–237.

412

Für Varro ausgeführt von Leonardis 2018.

413

Die grundlegende Studie zur literarischen Form der Logistorici stammt von Dahlmann/Heisterhagen 1957, 5–20; zum Tubero siehe Dahlmann/Heisterhagen 1957, 20–37; vgl. ferner Zucchelli 1981, 52–53; Lehmann 1985; Magioncalda 1993 – Fragmente bieten Riese 1865, 247–258 und Bolisani 1937.

414

Siehe dazu mit der älteren Forschung Dahlmann/Heisterhagen 1957, 20–37.

415

Dies war das Vorgehen der älteren Quellenkunde, die Cens. 2–14 zur inhaltlichen Rekonstruktion des Tubero und des Atticus de numeris, Cens. 16–24 zur strukturellen Rekonstruktion von Varros Antiquitates rerum humanarum heranzog. Doch bereits Franceschi 1954 hat Censorinus aus einer epigonenhaften Abhängigkeit gelöst und dafür plädiert, die (gleichwohl) unbestrittene Benutzung Varros als vergleichende Kompilation aus unterschiedlichen Schriften anzusehen. Mit größerer Selbständigkeit rechnet – wohl zurecht – Sallmann 1983, 241–243. Zu Censorinus siehe unten S. 452–454.

416

Wichtiger Vergleichstext ist hier Varro, rust. 2.1.3 f. (= Dikaiarchos, frg. 48 Wehrli): Igitur, inquam, et homines et pecudes cum semper fuisse sit necesse natura – sive enim aliquod fuit principium generandi animalium, ut putavit Thales Milesius et Zeno Citieus, sive contra principium horum exstitit nullum, ut credidit Pythagoras Samius et Aristoteles Stagerites – necesse est humanae vitae ab summa memoria gradatim descendisse ad hanc aetatem, ut scribit Dicaearchus […].

417

Dahlmann/Heisterhagen 1957, 28–37.

418

Vgl. Lact. opif. 1.11: temptabo tamen, quoniam corporis et animi facta mentio est, utriusque rationem quantum pusillitas intelligentiae meae pervidet, explicare; 1.16 […] quia ex ipsis membrorum officiis et usibus partium singularum quanta vi providentiae quidque factum sit, intellegere nobis licet.

419

Zum Beispiel: Lact. opif. 5.6: In summo vero constructionis eius [i.e. das Rückgrat mit Rippen], quam similem navali carinae diximus, caput conlocavit, in quo esset regimen totius animantis, datumque illi hoc nomen est, ut quidem Varro ad Ciceronem [= ling. frg. 32 Kent] scribit, quod hinc capiant initium sensus ac nervi.

420

Literatur: Dahlmann, RE Suppl. 6 (1935), 1241–1242; Bäumerich, 1964, 41–62; Toohey 1984; FRHist I, 421–422 mit weiterer Literatur. Verlässliche Rückschlüsse auf die Datierung sind kaum möglich. Die Vorschläge reichen von um 68 v. Chr. (Della Corte) bis in die letzten Lebensjahre Varros (Baehrends); plausibel erscheint es, das Werk in die Nähe von De gente populi Romani, also nach 43 v. Chr. zu setzen, so Dahlmann, RE Suppl. 6 (1935), 1242 und Drummond, FRHist I, 421. Toohey 1984 argumentiert für eine Datierung 47–44 v. Chr., also noch zur Lebenszeit Caesars, den er als den intendierten Adressaten des Werks ansieht. Siehe dazu aber unten S. 346 mit Anm. 425.

421

Serv. Verg. Aen. 5.704: TUM SENIOR NAUTES […] quod autem dicit „Pallas quem docuit“, propter illud quod supra diximus, fingitur, quia ipse Romam Palladium detulit. Unde Nautiorum familia Minervae sacra retinebat. Quod etiam Varro docet in libris quos de familiis Troianis scripsit; Serv. auct. Verg. Aen. 2.166: PALLADIUM […] hoc cum postea Diomedes haberet, ut quidam dicunt, quod et Vergilius ex parte tangit et Varro plenissime dicit: credens sibi non esse aptum propter sua pericula, quibus numquam cariturum responsis cognoverat, nisi Troianis Palladium reddidisset, transeunti per Calabriam Aeneae offerre conatus est. Sed cum ille velato capite sacrificans convertisset, Nautes quidam accepit simulacrum: unde Minervae sacra non Iulia gens habuit, sed Nautiorum. Auf dieselbe Geschichte wird auch in Serv. Verg. Aen. 3.407 und 5.81 verwiesen. Zur davon abweichenden Tradition, dass Aeneas bzw. Nautes das Palladium von Troia nach Italien brachten, siehe mit der älteren Forschung Bäumerich 1964, 44–46.

422

Ritschl 1877, 446; Dahlmann, RE Suppl. 6 (1935), 1242; eine ausführliche Diskussion in Auseinandersetzung mit der älteren Forschung liefert Bäumerich 1964, bes. 49–62.

423

Eine nachweisbare Doppelung ergab sich in der Behandlung des Diomedes in De gente populi Romani, vgl. Aug. civ. 18.16 (= frg. 29 Fraccaro).

424

Obwohl – abgesehen von den Iuliern und den Memmii (Lucr. 1.1: Aeneadum genetrix) – nur von wenigen römischen Gentes der Anspruch auf trojanische Abstammung belegt ist, bleibt ungewiss, inwiefern derartige Verbindungen auf Varro zurückgingen. Dass Cicero in den Briefen an Atticus häufig mit der homerischen Wendung αἰδέομαι Τρῶας καὶ Τρῳάδας ἑλκεσιπέπλους (Il. 6.442) verschleiernd auf patrizische Nobiles anspielte (u. a. Att. 2.5.1; 7.1.4; 7.13.3), spricht jedenfalls für relativ breit vertretene Ansprüche. Siehe dazu Wiseman 1974, 157–158; Hölkeskamp 1999, 7–8 und 13–15; Drummond, FRHist I, 422.

425

Toohey 1984 – anders Drummond, FRHist I, 421–422. Toohey steht in der Tradition der politischen Auslegung der Werke Varros, die auch die Datierungsfrage beherrscht, vgl. z. B. das Verdikt von Taylor 1934, 227: „The De gente populi Romani is then to be included in the literature of propaganda issued by the supporters of Octavian and Antony in the years of their struggle to power. In it Varro, by providing precedents for the deification of Caesar, aligned himself with Octavian.“ Anders Baier 1999. Zur caesarischen Münze von 47/46 v. Chr. mit Aeneas, der das Palladium aus Troja rettet (RPC 1, Nr. 652), siehe Assenmaker 2007, 394–405.

426

Der letzte bekannte Vertreter ist ein Militärtribun aus dem Jahr 258 v. Chr. (Flor. 1.18.17, vgl. Bäumerich 1964, 47), allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass die Gens bis in die Späte Republik fortbestand, ohne dass die uns verfügbaren Quellen davon berichten. Siehe dazu Drummond FRHist III, 515 mit der relevanten Literatur.

427

Sie waren die Namensgeber der westsizilischen Städte Eryx, Entella und Segesta/Egesta.

428

Toohey 1984, 8–9 datiert das Werk vor die Aeneis. Anders Horsfall 2000, 418.

429

Siehe dazu den Kommentar ad loc. von Levick/Cornell, FRHist III, 559.

430

Diehl, RE 10, 634; Wiseman 1974, 157; Toohey 1984, 8–9, der Augustus – wie zuvor im Falle Varros Caesar – als treibende Kraft hinter der Schrift ansieht.

431

Die Frage ist umstritten. Schanz/Hosius 2, 378 trennt wie die ältere Forschung den augusteischen Bibliothekar vom (kaiserzeitlichen) Mythographen, ebenso Marshall 1993, ix und Kaster 1995, 208; anders le Boeuffle 1983, iii und Schmidt, DNP 5 (1998), 778.

432

Exemplarisch neben den einschlägigen Publikationen von Jörg Rüpke (1995b; 2006b) sind hier Flasch 1993; Schwindt 2005; Feeney 2007; Wolkenhauer 2011; Walter 2020; siehe ferner die Beiträge in Ben-Dov/Doering 2017; speziell zur Chronographie Burgess/Kulikowski 2013; zu Ovid und der Fasti-Literatur bes. Badura 2022. Zur Entstehung und Geschichte des römischen Kalenders siehe überblickend Scholz 2011; zu antiken Kalendern im Allgemeinen Stern 2012.

433

Vgl. die Doxographie zur Interkalation bei Macr. Sat. 1.13.20–21: Quando autem primum intercalatum sit varie refertur. Et Macer quidem Licinius eius rei originem Romulo adsignat; Antias libro secundo Numam Pompilium sacrorum causa id invenisse contendit; Iunius Servium Tullium regem primum intercalasse commemorat, a quo et nundinas institutas Varroni placet. Tuditanus refert libro tertio magistratuum decem viros qui decem tabulis duas addiderunt de intercalando populum rogasse. Cassius eosdem scribit auctores, Fulvius autem id egisse M’. Accilium […]. Zum Thema der Zeitordnungen in der römischen Historiographie siehe Wolkenhauser 2011, 184–208; zu den Zeit- und Kalender-Angaben in Catos De agricultura Scholz 2011, 46–47; zu den späteren „Bauernkalendern“ Wenskus 1998.

434

Zu den Fasten des Fulvius Nobilior sowie zur strittigen Datierung der Schaffensperiode des L. Cincius siehe oben S. 250–253. Einen zweifelhaften Vorläufer hatte die monographische Darstellung antiquarischen Kalenderwissens in Accius’ Hexameterdichtung Annales. Das umfangreichste erhaltene Bruchstück behandelt die Vorgeschichte der Saturnalia (Macr. Sat. 1.7.36–37 = frg. 3 FPL Blänsdorf): apparet Saturnalia vetustiora esse urbe Roma, adeo ut ante Romam in Graecia hoc sollemne coepisse L. Accius in Annalibus suis referat his versibus: „Maxima pars Graium Saturno et maxime Athenae / conficiunt sacra, quae Croni esse iterantur ab illis / eumque diem celebrant: per agros urbesque fere omnes / excercent epulas laeti famulosque procurant / quisque suos. Nostrisque itidem est mos traditus illinc / iste, ut cum dominis famuli epulentur ibidem.“ Da die restlichen Fragmente keine historische Begebenheiten enthalten, sah Schanz/Hosius 1, 135–136 mit der älteren Forschung das Stück als „eine Geschichte der Jahresfeste“ an.

435

Zur Diskussion um Kalender und Kalenderreform in der römischen Literatur der Späten Republik siehe Wolkenhauer 2011, bes. 151–270; zu Ovids Fasti im antiquarischen Diskurs zum Kalender Badura 2022, 59–89, vgl. dazu aber oben S. 31 mit Anm. 81.

436

Cic. leg. 2.29: Feriarum festorumque dierum ratio in liberis requietem habet litium et iurgiorum, in servis operum et laborum. Quas compositor anni conferre debet ad perfectionem operum rusticorum; quod ⟨ad⟩ tempus ut sacrificiorum libamenta serventur fetusque pecorum (quae dicta in lege sunt), diligenter habenda ratio intercalandi ratio est; quod institutum perite a Numa, posteriorum pontificum neglegentia dissolutum est.

437

Zur Kalenderreform Caesars siehe unten S. 360 f.; zu Cicero als Zeitzeuge der Reform Wolkenhauer 2011, 175–183; zu den Kalendermanipulationen der Späten Republik Färber 2012.

438

Cic. Verr. 2.2.128–132 mit Wolkenhauer 2011, 175–179.

439

Ed. Aujac 1975; für neuere Literatur und eine weiterführende Diskussion siehe Evans/Berggren 2006; Wolkenhauer 2011, 162–165.

440

Kalendarisches: ling. 6.4–11; 6.27–32; 6.33–34; 7.51; 7.72; 7.76–79; rust. 1.27. Kalendarische Themen in De lingua Latina behandeln Beaujeu 1975; Chantraine 1976; Cipriano 1976; Spencer 2019, 214–247.

441

Gruppe 1876, ihm folgen Hahn 1905 und Dahlmann, RE Suppl. 6 (1935), 1233; zu einem anderen Ergebnis gelangte indes Mirsch 1882, 36 ff. und 119–131: Buch 14: De aetate humana, 15: De temporibus descriptionibus, 16: De diebus, 17: De mensibus, 18: De annis, 19: De aetate urbis Romae.

442

Siehe dazu Wolkenhauser 2011, 172–173.

443

Die anderen zwei der insgesamt fünf sicheren Fragmente sind: Cens. 17.15 (Zitat unten S. 253); Char. gramm. 1, p. 97, 19–21 Barwick = Ant. rer. hum. XVIII frg. 1 Mirsch (Zitat unten S. 253). Textkritisch unsicher ist Gell. 5.4.5 (= Ant. rer. hum. XVI frg. 1 Mirsch): ⟨Varro humanarum rerum libro XVIhic ita scripsit: „Mortuus est anno duovicesimo; rex fuit annos XXI.“

444

Wie oben in Anm. 441 erwähnt, unterscheiden sich hier die Buchzuteilungen von Gruppe 1876 und Mirsch 1882.

445

Siehe dazu Guittard 1976.

446

Zu Romulus und Numa als Erfinder und Lehrer römischer Zeitordnung siehe zusammenfassend Wolkenhauer 2011, 62–65; für die Details Scholz 1990, 255–264.

447

Erhellend ist Scholz 2011, 18–21 und 30–36.

448

Vgl. Varro ling. 6.28: Nonae appellatae aut quod ante diem nonum Idus semper [Erklärung bezogen auf den numanischen Kalender], aut quod, ut novus annus Kalendae Ianuariae ab novo sole appellatae, novus mensis ab nova luna Nonae [bezogen auf den alten Mondkalender]. Bestätigung dafür fand er wiederum im Kult: Eodem die in urbem ex agris ad regem conveniebat populus. Harum rerum vestigia apparent in sacris Nonalibus in arce, quod tunc ferias primas menstruas, quae futurae sint eo mense, rex edicit populo. Siehe dazu Scholz 2011, 20.

449

In Varro ling. 6.13 (= Ant. rer. div. VIII frg. 76 Cardauns) und 6.18 (= Ant. rer. div. VIII frg. 77 Cardauns) wird explizit auf die ausführlichere Behandlung des Gegenstands in den Antiquitates verwiesen: et Lupercalia februatio, ut in antiquitatum libris demonstravi (6.13); dies poplifugia […] aliquot huius diei vestigia fugae in sacris apparent, de quibus rebus antiquitatum libri plura referunt (6.18). Zur Rekonstruktion der Bücher aus De lingua Latina siehe Wolkenhauer 2011, 173–174 sowie ausführlicher Spencer 2019, 214–247.

450

Cardauns 1976, 175–176.

451

Zu den möglichen Zusammenhängen siehe Riposati 1939, 117–118 mit frgg. 18–22 sowie Pittà 2015, 112–117 mit frgg. 12–15. Vorstellbar sind kalendarische Ausführungen auch im Logistoricus Atticus de numeris, der wahrscheinlich der Zahlenlehre gewidmet war. Mutmaßungen über dessen Inhalt erstellt Dahlmann 1959, 21–25. Das einzige namentliche Fragment (Cens. 2.2–3 = Riese p. 247) enthält eine antiquarische Deutung des Opferrituals für den Genius; siehe unten S. 453 f.

452

Fragmente: GRF pp. 215–217 – Literatur: Cichorius 1888; Dahlmann, RE Suppl. 6 (1935), 1223–1224; Waszink 1948; Hupperth 1961, 62 ff.; Schmidt 1989, 82–88; Baier 1997, 82–88; Cardauns 2001, 67–68.

453

Cichorius 1888, 417–418; so auch Cardauns 1976, 179 und Baier 1997, 82.

454

Vgl. die Appendix ad libr. X bei Cardauns 1976, 59.

455

Ritschl 1877, 411 hat hieraus auf einen Logistoricus Scaurus de scaenicis originibus schließen wollen, was aber allgemein abgelehnt wird. Siehe dazu zusammenfassend Zucchelli 1981, 76–77. Die Konjektur von Riese 1865, 256 ist unnötig, vgl. Norden 1966, 94.

456

Siehe dazu Waszink 1948, 225.

457

Siehe dazu Dahlmann, RE Suppl. 6 (1935), 1220–1227; Dahlmann 1953; Dahlmann 1962; Dahlmann 1963.

458

Literatur: Hertz 1844 (mit den Fragmenten); Klotz, RE 3.1 A, 246–247; Schanz/Hosius 2, 380; Bardon 2, 112–113.

459

Schriften des Sinnius Capito waren im zweiten Jahrhundert n. Chr. in den Bibliotheken zugänglich, vgl. Gell. 5.21.9: Tum ille amicus noster […] Sinni inquit Capitonis, doctissimi viri, epistulae sunt uno in libro multae positae, opinor, in templo Pacis.

460

Vgl. Reitzenstein 1966, 88.

461

Vgl. ebenso Fest. p. 186, 5–7 Lindsay: Cerialibus Capito S⟨innius⟩[… ait, cum vellimus sig[…]libus in Circo mittit[…

462

Umfang und Qualität der zeitgenössischen Reaktionen sind allerdings nicht mehr eindeutig bestimmbar. Zur Kalenderreform Caesars siehe die Diskussion bei Malitz 1987; Rüpke 1995b, 369–391; Bayer 2002; Feeney 2007, 193–211; Wolkenhauer 2011, 208–216. Vom Aufschwung antiquarischer Literatur im Zuge der Reform spricht Rüpke 1995b, 396–397. Fantham 1998, 29 spekuliert, dass die Reform Verrius Flaccus zu einer kalendarischen Fachschrift angeregt habe; an einen Auftrag des Augustus denkt gar Lhommé 2009, 148. Ein direkter Zusammenhang zwischen Varros Res divinae und der caesarischen Reform, wie Tarver 1994, 39–57 behauptet, ist unwahrscheinlich; skeptisch ist auch Baier 1999. Zur mutmaßlichen Kalenderschrift des Verrius Flaccus siehe unten S. 362–364.

463

Zu seiner Person siehe Rehm, RE 3 A.1 (1927), 1153–1157.

464

Plin. nat. 18.211: Tres autem fuere sectae, Chaldaea, Aegyptia, Graeca. His addidit quartam apud nos Caesar dictator annos ad solis cursum redigens singulos Sosigene perito scientiae eius adhibito. Caesars De astris ist belegt bei Plin. nat. 1 ind. auct. zu Buch 18 und Macr. Sat. 1.16.39. Für einen knappen Forschungsüberblick siehe Spahlinger 2003, 121 Anm. 51. Zu Sosigenes’ commentationes vgl. Plin. nat. 18.212: Et Sosigenes ipse trinis commentationibus, quamquam diligentior ceteris, non cessavit tamen addubitare ipse semet corrigendo. Zum caesarischen Kalendercorpus und den Schriften im Umkreis der augusteischen Kalenderkorrektur siehe Wolkenhauser 2011, 216–221 und 241–245.

465

Belegt bereits für die Fasti Praenestini, siehe dazu unten S. 362–364. Zur herrscherlichen Bemächtigung des Kalenders seit augusteischer Zeit siehe neben Feeney 2007, 138–215 auch Gregori/Almagno 2019 mit weiteren Literaturangaben. Die Frage wird von der Forschung regelmäßig im Kontext der Interpretation der Fasti Ovids aufgeworfen, siehe dazu die oben S. 26 Anm. 61 zitierte Literatur.

466

Siehe neben der oben Kap. 1.2.1. zitierten Literatur Beard 1987; Wallace-Hadrill 1987; Pasco-Pranger 2002b; Pfaff-Reydellet 2008.

467

Fragmente: GRF p. 555 f.; Bremer 1, 131 f. Einziges gesichtertes Zeugnis ist Macr. Sat. 1.16.28: Quod autem nundinas ferias dixi potest argui, quia Titius [codd. Titus] de feriis scribens nundinarum dies non inter ferias retulit sed tantum sollemnes vocavit […]. Möglich ist eine Identität mit dem bei Fest. p. 222, 13 Lindsay und Fest. p. 368, 6 Lindsay erwähnten Titius, der über Priesterkleider schrieb, sowie dem bei Macr. Sat. 3.2.11 erwähnten Titius, der den sakralrechtlichen Begriff vitulari etymologisch deutete (siehe oben S. 253 Anm. 164).

468

Einschlägig ist allein Macr. Sat. 1.10.4: sed Mallius ait eos qui se, ut supra diximus, Saturni nomine et religione defenderant per triduum festos instituisse dies et Saturnalia vocavisse, unde et Augustus huius, inquit, rei opinionem secutus in legibus iudiciariis triduo servari ferias iussit. Eine Identifikation mit Manilius (= GRF pp. 84–85; Bremer 1, 107), wie Kaster 2011 I, 102 Anm. 160 erwägt, ist aus chronologischen Gründen unwahrscheinlich.

469

Ed. CIL I2.1, pp. 231–239; Degrassi 1963, 107–145. Die Größe ist eindrücklich; jeder Monat nahm eine Marmortafel im Umfang von 1,95 × 0,5/0.6 m ein. An der Identität der gefundenen Kalenderfragmente mit den bei Sueton erwähnten inschriftlichen Fasti gibt es kaum Zweifel, auch wenn Mängel in der technischen Ausführung eine direkte Überwachung durch Verrius unwahrscheinlich machen. Für eine Beschreibung siehe Degrassi 1963, 141–142; Rüpke, 1995b, 114–123. Zur Verantwortung des Verrius siehe u. a. Dihle, RE 8 A.2 (1958), 1636–1637; Coarelli 1987; Kaster 1995, 194–196; Glinister 2007, 26–27; Todisco 2007.

470

Der im Vergleich zu den erhaltenen römischen Kalendern exzeptionelle Charakter der praenestinischen Fasten tritt auch dadurch hervor, dass lokale Kultdaten in den (stadt)römischen Kalender integriert waren, siehe dazu Rüpke 1995b, 121–122.

471

Mommsen, CIL I2.1, p. 285, 313, 338; siehe dazu Dihle, RE 8 A.2 (1958), 1637–1638; Wallace-Hadrill 1987, 227; Kaster 1995, 196; Rüpke 1995b, 122–123; Lhommé 2009, 147–148.

472

Dies ist wiederum kein Argument gegen eine kalendarische Fachschrift: Macr. Sat. 1.10.7: quam Verrius Flaccus Angerona dici ait quod angores ac sollicitudines animorum propitiata depellat; vgl. Paul. Fest. p. 16, 12–14 Lindsay: Angeronae deae sacra a Romanis instituta sunt, cum angina omne genus animalium consumeretur, cuius festa Angeronalia dicebantur; Macr. Sat. 1.12.15: non tamen negat Verrius Flaccus hoc die postea constitutum ut matronae Veneris sacrum facerent, cuius rei causam, quia huic loco non convenit, praetereundum est. Zu den anzüglichen Veneralia, auf die hier angespielt wird, vgl. Ov. fast. 4.133–162; Lyd. mens. IV.65 Wünsch. Methodisch in mehrfacher Hinsicht unzulässig ist der inhaltliche Vergleich zwischen den Fasti Praenestini und De verborum significatu, den Lhommé 2009, 147–150 unternimmt.

473

Winther 1885; Franke 1909; Bömer 1957, 22–24; aufgenommen von Fantham 1998, 30.

474

So Schmidt, DNP 12.2 (2002), 82. Zu dieser Schrift siehe unten S. 379 f.

475

Schanz/Hosius 2, 730; Bardon 2, 150–151; Christes 1979, 94–96; Kaster 1995, 213–214.

476

Macr. Sat. 1.10.9: Iulius Modestus ideo sacrificari huic deae dicit quod populus Romanus morbo qui angina dicitur praemisso voto sit liberatus; Macr. Sat. 1.16.28: Iulius Modestus adfirmat Messala augure consulente pontifices, an nundinarum Romanarum Nonarumque dies feriis tenerentur, respondisse eos nundinas sibi ferias non videri. Zum hier genannten Problem, ob die nundinae im pontifikalrechtlichen Sinne feriae waren oder nicht, siehe die luziden Ausführungen von Scholz 2011, 30–31.

477

Suet. gramm. et rhet. 20.3: huius [Hygini] libertus fuit Iulius Modestus, in studiis atque doctrina vestigia patroni secutus. Bezeugt sind Quaestiones confusae in mindestens zwei Büchern (Gell. 3.9.1); aus dieser wohl grammatischen Schrift stammen möglicherweise die mit seinem Namen verbundenen Fragmente orthographischen, morphologischen und etymologischen Inhalts, vgl. GRF Mazzarino pp. 12–23.

478

Zu Kallimachos’ Einfluss auf die römische Dichtung siehe Barchiesi 2011 mit weiteren bibliographischen Referenzen; zu seinem Einfluss auf die Fasti-Dichtung Ovids siehe oben Kap. 1.2.

479

Crusius, RE 1 (1893), 763–764; FGrHist 321 Komm. III b, pp. 74–75. Dionysios erwähnt Agathyllos erneut in ant. 1.72.1.

480

Siehe dazu D’Anna 1978; zur Tradition unter Einbezug des Agathyllos äußert sich auch Barbantani 2000, 80–84.

481

Einen Butas erwähnt Plut. Cat. min. 70.3, siehe dazu Knaak, RE 3 (1899), 1080; Rawson 1985, 233; Loehr 1996, 68–70. Die Identifizierung bleibt spekulativ.

482

Plut. Rom. 21.8 (= SH 234): Βούτας δέ τις, αἰτίας μυθώδεις ἐν ἐλεγείοις περὶ τῶν Ῥωμαϊκῶν ἀναγράφων, φησὶ τοῦ Ἀμουλίου τοὺς περὶ τὸν Ῥωμύλον κρατήσαντας ἐλθεῖν δρόμῳ μετὰ χαρᾶς ἐπὶ τὸν τόπον, ἐν ᾧ νηπίοις οὖσιν αὐτοῖς ἡ λύκαινα θηλὴν ὑπέσχε, καὶ μίμημα τοῦ τότε δρόμου τὴν ἑορτὴν ἄγεσθαι, καὶ τρέχειν τοὺς ἀπὸ γένους τοὺςἘμποδίους τύπτοντας, ὅπως τότε φάσγανἔχοντες / ἐξ Ἄλβης ἔθεον Ῥωμύλος ἠδὲ Ῥέμος.› καὶ τὸ μὲν ξίφος ᾑμαγμένον προσφέρεσθαι τῷ μετώπῳ τοῦ τότε φόνου καὶ κινδύνου σύμβολον, τὴν δὲ διὰ τοῦ γάλακτος ἀποκάθαρσιν ὑπόμνημα τῆς τροφῆς αὐτῶν εἶναι; Arnob. nat. 5.18.3 (= SH 236): Fentam igitur Fatuam, Bona quae dicitur Dea, transeamus, quam murteis caesam virgis, quod marito nesciente seriam meri ebiberit plenam, Sextus Clodius indicat sexto De diis Graeco, signumque monstrari quod, cum ei divinam rem mulieres faciunt, vini amphora constituatur obtecta nec myrteas fas sit inferre verbenas, sicut suis scribit in causalibus Butas.

483

Plut. Rom. 17.6: Σιμύλος δὁ ποιητὴς καὶ παντάπασι ληρεῖ, μὴ Σαβίνοις οἰόμενος, ἀλλὰ Κελτοῖς τὴν Ταρπηίαν προδοῦναι τὸ Καπιτώλιον, ἐρασθεῖσαν αὐτῶν τοῦ βασιλέως. λέγει δὲ ταῦτα· Ἡ δἀγχοῦ Τάρπεια παραὶ Καπιτώλιον αἶπος / ναίουσα Ῥώμης ἔπλετο τειχολέτις, / Κελτῶν ἣ στέρξασα γαμήλια λέκτρα γενέσθαι / σκηπτούχῳ, πατέρων οὐκ ἐφύλαξε δόμους; zur etablierten Tradition, vertreten u. a. durch Liv. 1.11.5–9; Ov. fast. 1.261 f. und Val. Max. 9.6.1, siehe Welch 2015, 45–222.

484

Siehe dazu den Interpretationsansatz von Welch 2015, 225–238. Unklar ist das Verhältnis zu Properz, der den Tarpeia-Stoff in Elegie 4.4 ebenfalls als Liebesdrama umsetzte.

485

Eine Reihe möglicher Zuweisungen diskutiert Barbantani 2000.

486

Mercklin 1848 mit den maßgeblichen Fragmenten; siehe ferner Ritschl 1877, 451; Dahlmann, RE Suppl. 6 (1935), 1246; zu spekulativ und unkritisch ist Lehmann 2008. Zu Plutarchs Αἴτια Ῥωμαῖκά siehe unten S. 483–487.

487

Agonalbrauch: Serv. Verg. Aen. 8.128 (= frg. 1 Mercklin): […] Hinc est illud proverbium: Herbam do, id est cedo victoriam. Quod Varro in Aetiis ponit: Cum in agonibus herbam in modum palmae dat aliquis ei, cum quo contendere non conatur, et fatetur esse meliorem. Ob es sich hier um ein direktes Zitat handelt, ist unklar: der Gräzismus agon ist erst seit der Kaiserzeit belegt, vgl. ThLL 1, 1411–1413. Die Redewendung behandelt auch Paul. Fest. p. 88, 10–14 Lindsay: Herbam do cum ait Plautus, significat, victum me fateor; quod est antiquae et pastoralis vitae indicium. Nam qui in prato cursu aut viribus contendebant, cum superati erant, ex eo solo, in quo certamen erat, decerptam herbam tradebant. Siehe dazu Guillaume-Coirier 1991 – Hochzeitsbräuche: Serv. Verg. ecl. 8.29 (= frg. 4 Mercklin): […] Sane Varro in Aetiis dicitsponsas Serv. auct.⟩ ideo faces praeire, quod antea non nisi per noctem nubentes ducebantur a sponsis. Quas etiam ideo limen ait non tangere, ne a sacrilegio inchoarent, si depositurae virginitatem calcent rem Vestae, id est numini castissimo, consecratam. Das Zitat geht möglicherweise noch weiter, weshalb Mercklin das Folgende als weiteres Fragment (frg. 5) einbezieht.

488

Varro erwähnt Kallimachos explizit in ling. 5.113 (lana Graecum, ut Polybius et Callimachus scribunt) und 7.34 (verbum esse Graecum arbitror, quod apud Callimachum in poematibus eius inveni). Es ist fraglich, ob das Fragment aus Varros Aetia stammt. Zu optimistisch urteilt hier Baier 1997, 167.

489

Ritschl 1877, 451: Serv. Verg. Aen. 3.67; 6.216; 12.603.

490

U. a. Thilo 1853; Leo 1864; zusammenfassend Dahlheim, RE Suppl. 6 (1935), 1246–1247.

491

Das Schema der Darstellung behandelt Boulogne 1992; zur Zitierpraxis siehe u. a. Van der Stockt 1987. Siehe dazu die Diskussion unten S. 484 f.

492

Eher unwahrscheinlich ist, dass die gattungsmäßig schwer einzuordnenden Schriften rerum Romanorum hierher gehören: Die poetischen Libri rerum Romanorum des Cornelius Severus (FPL Blänsdorf pp. 289–296; Courtney pp. 320–328), eines Freundes von Ovid, waren ebenso wie die des Albinus (FPL Blänsdorf pp. 374–375; Courtney pp. 425–426) wahrscheinlich ein historisches Epos. Die Datierung des letztgenannten Dichters ist unsicher, in der Regel wird er in die Kaiserzeit datiert. Siehe dazu unten Kap. 6.3.1. § 6. Libri rerum Romanorum schrieb auch C. Clodius Licinius (cos. 4 n. Chr.), doch dürfte es sich in diesem Fall um ein Geschichtswerk gehandelt haben, vgl. FRHist I, 482–483.

493

Schanz/Hosius 2, 381.

494

Erhalten u. a. in Plin. nat. 7.191–215; Hyg. fab. 225, 272, 274–275, 277; Clem. strom. 1.16.74–77. Siehe dazu die ausführliche Diskussion unten S. 455–466. Als eigene Literaturform ist die Heurematographie erst wieder in der Renaissance fassbar, vertreten durch die De inventoribus rebus des Polydorus Vergilius (1499). Siehe dazu Atkinson 2007.

495

So Cichorius 1888, 420.

496

Serv. auct. Verg. georg. 1.19: MONSTRATOR ARATRI alii Triptolemum, alii Osirim volunt […]. Varro de scaenicis originibus vel in Scauro Triptolemum dicit; Char. gramm. 1, p. 97 Barwick: sed Varro in Scauro baltea dixit et Tusculum vocabulum ait esse; Char. gramm. 1, p. 110 Barwick: sed et glutinum in Scauro „glutinum Daedalum invenisse“; Char. gramm. 1, p. 136 Barwick (= frgg. 1–4 Riese 1865, p. 256).

497

Serv. Verg. georg. 3.113: […] Varro in libro, qui Admirabilium inscribitur, Erichthonium ait primum quattuor iunxisse equos ludis, qui Panathenaea appellentur; Arnob. adv. nat. 6.3.8: Quorum [sc. templorum] si quaeris audire quis prior fuerit institutor, quis fabricator, aut Phoroneus, Aegyptius aut Merops tibi fuisse monstrabitur ⟨aut⟩, ut tradit in Admirandis Varro, Iovis progenies Aeacus (frgg. 1–2 Riese 1865, 253–254).

498

25 Bücher Res humanae und 16 Bücher Res divinae. Vom Werk sind nur Fragmente erhalten. Zur Diskussion der Inhalte siehe oben S. 285 f., 278–281, 318–321, 335–337, 351–356.

499

Varros diesbezügliche Verdienste werden von Cicero in ac. 1.9 gewürdigt: tu aetatem patriae tu descriptiones temporum, tu sacrorum iura, tu sacerdotum, tu domesticam, tu bellicam disciplinam, tu sedem regionum locorum, tu omnium divinarum humanarum rerum nomina genera officia causas aperuisti. Siehe dazu unten S. 390–392.

500

Volk 2021, 189–190 und 198–199; zum Phänomen enzyklopädischer Wissensordnungen in der Späten Republik und der frühen Kaiserzeit siehe König/Woolf 2013b.

501

Zu den Disciplinae siehe mit unterschiedlichem Fokus Simon 1966; Pizzani 1990; Hübner 2004; Shanzer 2005.

502

Für eine nähere Behandlung siehe Cenderelli 1973.

503

In diese Richtung argumenierte unlängst wieder Volk 2019, bes. 186–190.

504

Bezeugt nur im Katalog des Hieronymus (Klotz 1911, 4). Siehe dazu Dahlmann, RE Suppl. 6 (1935), 1214. Ritschl 1877, 466 vermutete, dass ein Buch der Epitome der De lingua Latina jeweils einer Triade des vollständigen Werks entsprach, wobei dem Ganzen ein Einleitungsbuch vorausging (also 8 (×3) + 1 = 25).

505

Eine eingängige Studie des Werks bietet Nelsestuen 2015.

506

Zum Beispiel: Val. Max. 1 praef.: Urbis Romae exterarumque gentium facta simul ac dicta memoratu digna, quae apud alios latius diffusa sunt quam ut breviter cognosci possint, ab inlustribus electa auctoribus digerere constitui, ut documenta sumere volentibus longae inquisitionis labor absit. Nec mihi cuncta conplectendi cupido incessit: quis enim omnis aevi gesta modico voluminum numero conprehenderit, aut quis compos mentis domesticae peregrinaeque historiae seriem felici superiorum stilo conditam vel attentiore cura vel praestantiore facundia traditurum se speraverit?

507

Ritschl 1877, 445. Cichorius 1888, 417–418 nahm, wie oben erwähnt (S. 356), für Ant. rer. div. X eine gedrängte Wiederholung des Inhalts der scaenicae origines an. Die Kehrtwenden der modernen Forschung treten am Beispiel der Logistorici exemplarisch hervor: Während die ältere Forschung die meisten Logistorici aus allgemeinen Erwägungen vor die Antiquitates datierte, in die deren Inhalte eingeflossen seien, tendiert die moderne communis opinio dazu, sie nach 45 v. Chr. anzusetzen und sie damit implizit oder explizit als Ergänzungsschriften zu qualifizieren.

508

Hatzimichali 2013 mit weiterer Literatur.

509

Unter dem Eindruck von Michel Foucaults Les mots et les choses von 1966 hat die jüngere Forschung mit Blick auf die Kaiserzeit die Zusammenhänge zwischen Wissensordnungen und den hintergründigen Machtdiskursen näher zu ergründen begonnen. Siehe dazu etwa die Beiträge in König/Whitmarsh 2007 sowie, mit Fokus auf Plinius, Doody 2010, 40–91.

510

Unverständlich ist es daher, wenn Drijvers/Focanti/Praet/Van Nuffelen 2018, 918 die Antiquitates der unsystematischen (!) Buntschriftstellerei („miscellanies“) zuschreiben und von „encyclopaedias“ absetzen. Dass selbst die antike Miszellanliteratur sich innerhalb des „enzyklopädischen“ Spektrums befand, verdeutlichen König/Woolf 2013b, 35–36. Zur formelhaften Definition der Weisheit als rerum divinarum et humanarum scientiam cognitionemque quae cuiusque rei causa sit (Cic. Tusc. 4.57) siehe oben S. 63.

511

Celsus, De medicina praef. 1; zu Plinius siehe Sinclair 2003.

512

Der Titel schwankt in der Überlieferung zwischen De significatu verborum (Gell. 5.18.2; Fest. p. 228, 12–13 Lindsay) und De verborum significatu (Gell. 5.17.1). In der modernen Fachliteratur sind beide Varianten geläufig.

513

Ed. Lindsay 1913. Eine kritische Neuedition ist ein Desiderat, siehe dazu Di Marco 2021. Das Werk des Festus hieß nach dem Zeugnis der einzigen Handschrift (des Codex Farnesianus = Neapel, Bibl. Naz. IV.A.3) De verborum significatione und wird – außer von Lindsay – in den Editionen auch so bezeichnet.

514

Wegweisende Studien bieten Reitzenstein 1966 und Strzelecki 1932. Neuere Forschungsdiskussionen bieten Grandazzi 1991; HLL 4 § 440; Pieroni 2004, 9–34; Lhommé 2011a; Lhommé 2011b; Zetzel 2018, 96–98; Di Marco 2021, 5–16 sowie die Beiträge in Glinister/Woods 2007. Zu den Stellen, an denen Festus Verrius explizit kritisiert, siehe Reitzenstein 1966, 8–14.

515

Müller 1839, xvi–xxxi; Reitzenstein 1966, bes. 68–80; einen detaillierten Forschungsbericht zur Frage bietet Pieroni 2004, 23–28.

516

Glinister 2007, 22–24.

517

Dahinter steht das Auswahlverfahren des Festus, allerdings hat er obsolete, nur sprachgeschichtlich interessante Lemmata (verba intermortua et sepulta) gestrichen und separat publiziert. Siehe dazu unten S. 431.

518

Seine Eigenständigkeit gegenüber Varro zeigt sich u. a. dort, wo dieser kritisiert (z. B. Fest. p. 476, 36–478, 2 Lindsay) oder seine Deutung anderen Autoritäten gegenübergestellt wird (z. B. Fest. p. 290, 27–34 Lindsay). Für weitere Beispiele siehe Lhommé 2007, 35–36 und 43–45. Inhaltliche Divergenzen zwischen De lingua Latina und Festus hat die ältere Forschung zur Meinung geführt, Verrius sei von Varro zumindest teilweise unabhängig; siehe dazu Müller 1839, xxix; Nettleship 1880, 262; Kriegshammer 1903, 74–83. Einen Versuch der Neubeurteilung der Frage unternimmt Glinister 2007, 13–19.

519

Zum Beispiel: Fest. p. 496, 8–13 Lindsay: Tatium occisum ait [sc. Verrius] Lavini ab amicis. Eorum legatorum, quos interfecerant Titini latrones; sed sepultum in Aventiniensi laureto. Quod ad significationem verborum non magis pertinet, quam plurima alia, et praeterita iam deinceps quae referentur.

520

Siehe dazu Pieron 2001.

521

Siehe dazu Lhommé 2009, bes. 150–155.

522

Zitiert werden u. a. Fachschriften von Aelius Stilo, L. Cincius, Varro, Valerius Messalla, Veranius, Antistius Labeo und Ateius Capito sowie die Wörterbücher von Aelius Gallus, L. Cincius und Santra.

523

Etwa der Liber glossematorum des L. Ateius Praetextatus (Philologus). Ersichtlich ist dieser exegetische Typ u. a. in Fest. p. 166, 11–14 Lindsay: Naucum ait Ateius Philologus poni pro nugis. Cincius, quod oleae nucisque intus sit. Aelius Stilo omnium rerum putamen. Glossematorum autem scriptores, fabae grani quod haereat in fabulo; ferner Fest. p. 210, 11–17 Lindsay: Obstipum, oblicum. Ennius lib. XVI: „Montibus obstipis, obstantibus, unde oritur nox“; et in lib. VIII: „Amplius exaugere obstipo lumine solis.“ Caecilius in Imbris: „Resupina obstipo capitulo sibi ventum facere tunica.“ Lucretius: „Omnia mendose fieri, atque obstipa necesse est.“ Gell. 17.6.2 bezeugt auch für Verrius ein glossographisches Werk: De obscuris Catonis.

524

Zu Sinnius Capitos De antiquitatibus siehe oben S. 369; zu Suetons Pratum S. 475–480.

525

Ansätze dazu finden sich bei Lhommé 2009; Lhommé 2011a und Glinister 2007, 22–32.

526

Münzer 1897, bes. 299–321 hat Verrius Flaccus zum zentralen Gewährsmann des Plinius erhoben. Radikaler ist die Ansicht von Rabenhorst 1907, der die Naturgeschichte im Wesentlichen für ein Exzerpt aus den Res memoria dignae hält; kritisch dazu bereits Schanz/Hosius 2, 367. Dihle, RE 8.1 A, 1638–1639 bezeichnet das Werk ohne nähere Begründung als „eine den varronischen Antiquitates vergleichbare antiquarisch-historische Sammlung mit stark paradoxographischem Einschlag.“

527

Zu optimistisch urteilen hier Schmidt (RE Suppl. 15 (1978), 1612–1615; HLL 4 § 404. p. 26; HLL 5 § 532.1. p. 185; DNP 12.2 (2002), 82) und Sehlmeyer 2004, 119–126; skeptischer ist Richard 1983.

528

Gell. 4.5.6: Ea historia de haruspicibus ac de versu isto senario scripta est in Annalibus Maximis, libro undecimo, et in Verri Flacci libro primo rerum memoria dignarum. Denkbar ist eine aitiologische Begründung des erwähnten Aphorismus Malum consilium consultori pessimum est.

529

Den Zusammenhang von Antiquarianismus, Politik und Identitätssuche verfolgen am Beispiel Varros Momigliano 1984b; Rawson 1985, 233–249; Fuhrmann 1987; Pasco-Pranger 2000; Wallace-Hadrill 2008, 213–258; Leonardis 2014; Leonardis 2019; Volk 2021, 182–200.

530

Zu Augustus und der augusteischen restauratio siehe aus der Fülle der Literatur Richardson 2012; zum Programm imperialer Neugründung und Augustus’ Selbstdarstellung als neuer Gründer Roms siehe Angelova 2015, bes. 9–44.

531

Im Weiteren zitiert nach der Edition von Cèbe 1998. – Literatur: Alfonsi 1973; Woytek 1986; Cardauns 2001, 40–49; Scholz 2003. Zur folgenden Skizze siehe Leonardis 2014; Leonardis 2019, 9–12; Lazzerini 2022, 287–289.

532

Den römischen Charakter in einer Gegenüberstellung zur kynischen Diatribe des Menipp betont Knoche 1957, 35–37. Zur populärphilosophischen Wirkungsabsicht vgl. die fiktive Selbstcharakterisierung in Cic. ac. 1.8: Et tamen in illis veteribus nostris, quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritate conspersimus, multa admixta et intima philosophia multa dicta dialectice, quae quo facilius minus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati.

533

Zum lehrhaften Aspekt der Satiren, in denen Varro bisweilen seiner Neigung für Systematisierungen nachgab, siehe Woytek 1986, 339–345.

534

Zum leitmotivischen Charakter der Antithese „Einst-Jetzt“ in den Menippeen siehe Woytek 1986, 329–335; ferner Leonardis 2014, 37–42. Die Antithese tritt auch in anderen Werken Varros hervor, z. B. im Catus de liberis educandis frg. 10 Bolisani: mihi puero modica una fuit tunica et toga, sine fasceis calciamenta, ecus sine ephippio, balneum non cotidianum, alveus rarus.

535

Moralische Kulturkritik in diesem Sinne äußert Varro auch in ling. 9.21–22.

536

Es handelt sich um das Märchenmotiv des Siebenschläfers, das u. a. in der Sage des Kreters Epimenides erscheint, vgl. Varro ling. 7.3: nec mirum, cum non modo Epimenides sopore post annos L experrectus a multis non cognoscatur, sed etiam Teucer Livii post XV annos ab suis qui sit ignoretur.

537

Varro vertrat die Ansicht, dass die Geltung des mos eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses bedürfe, vgl. Serv. Verg. Aen. 7.601: Varro vult morem esse communem consensum omnium simul habitantium, qui inveteratus consuetudinem facit. Zu Varros Konzeption des mos siehe Leonardis 2019, 25–59; zur Geltung des mos maiorum in Rom allgemein siehe Bleicken 1975, 354–396; Hölkeskamp 1996; Blösel 2000 (der zwischen mos antiquus und mos maiorum differenziert) sowie Pina Polo 2004.

538

Walter 2004, 17–19. Vgl. Cic. orat. 120: Quid enim est aetas hominis, nisi ea memoria rerum veterum cum superiorum aetate contexitur?

539

Explizit in der Satire Εὗρεν ἡ λοπὰς frg. 167 Cèbe: ego, unus scilicet antiquorum hominum subductis superciliis, dicam γαμήσει ὁ νοῦν ἔχων. Mit einem Augenzwinkern allerdings im Γεροντοδιδάσκαλος frg. 181 Cèbe: ergo tum sacrae, religiosae, castaeque fuerunt res omnes.

540

Pointiert Leonardis 2014, 46: „Dunque, paradossalmente, per poter fare un passo avanti sembraba necessario un ritorno all’indietro, in un tempo idealizato, reinterpretato e ricostruito dall’occhio disincantato del satirista […].“

541

So etwa Woytek 1986, 329; Cardauns 2001, 43; Leonardis 2014, 23–24; kritisch dazu Cèbe 1998, 1906–1908 mit weiteren Verweisen.

542

Leonardis 2019.

543

In diesem Sinne auch K. Volk, Rezension zu I. Leonardis 2019, in: BMCR 2020.03.25; Volk 2021, 192–198.

544

Zur Vorstellung eines scharfen Traditionsbruchs als Folge eines Zäsur-Erlebnisses, das die antiquarische Erforschung der Vergangenheit zwangsläufig mit sich gebracht habe, sowie zur impliziten Kritik an den Autoritäten, die dieses Wissen eigentlich bewahren müssten (insb. die aristokratischen Priesterschaften) siehe Wallace-Hadrill 2008, 235–237. Der identifizierte „Bruch“ wird allerdings, wie unten ausgeführt, erst unter Octavian/Augustus als Neuanfang sinnfällig. Für Varro wie für Cicero waren die alten Traditionen trotz gegenteiliger Rhetorik im Wesentlichen noch fassbar. Anders Binder 2018, die in den Vergangenheitskonzeptionen Ciceros und Varros radikale Unterschiede erkennt, dabei aber – wie Wallace-Hadrill – den Aspekt des politisch motivierten Traditionsbruchs bei Varro wohl zu stark pointiert.

545

So der kanonische Deutungsansatz der Varro-Forschung. Das Ganze ist, wie oben erwähnt, unlängst in umfassender und kompetenter Weise von Leonardis 2019 behandelt worden. Vgl. ferner Lazzerini 2022, sowie, mit Blick auf De lingua Latina, Spencer 2019, 129–159. Auf die einschlägige Fachdiskussion zu den einzelnen Werken wurde jeweils am Ort ihrer Behandlung unter Kap. 6.2.1. verwiesen.

546

Sall. Iug. 2.4; Cic. leg. 2.29 und 33; Cic. nat. deor. 2.9; Cic. div. 1.28; Cic. rep. 5.1.2. Hor. carm. 3.6.1–8. Siehe dazu bes. Moatti 2015, 28–35 und 41–44. Varro erwähnt vergessene Kulte und Gottheiten u. a. in Ant. rer. div. I frg. 40 und 42 Cardauns. Siehe dazu den Kommentar von Cardauns ad loc.

547

Diskutiert wird die kulturkritische Komponente von Varros Schriftstellerei auch anhand der Schrift De vita populi Romani. Siehe hierzu besonders Reischl 1976, 107–129; zustimmend Ax 2006a, 173. Einschlägig ist u. a. frg. 64 Riposati (zweites Buch): qua abstinentia viri mulieresque Romanae fuerint, quod a rege munera eorum noluerit nemo accipere. Vgl. den Rekonstruktionsversuch des vierten Buches bei Riposati 1939, 231 ff. Zu pointiert ist Dahlmann, RE Suppl. 6 (1935), 1244: „ein Zug der Gelehrtennatur Varros […]: die nationale Tendenz, die mit einem gewissen Recht romantisch genannt werden kann. Der Hauptzweck der kulturhistorischen Forschung Varros ist nicht die Mitteilung der Tatsachen, sondern der nationale Wert, der in diesen liegt: das alte Leben ist für ihn deswegen so bedeutend, weil er in ihm den Angehörigen seiner, wie er meint, äußerlich und innerlich herabgesunkenen Zeit das Bild der Vergangenheit vor Augen halten will mit dem Wunsch, zu bessern und der Hoffnung auf eine Regeneration im Sinne des alten Römertums.“

548

Zum (alt)römischer Fachtradition entstammenden utilitas-Motiv, welches noch emphatischer im oben (S. 387) zitierten frg. 2a Cardauns hervortritt, siehe u. a. Baier 1997, 42–46; Volk 2019, 190–193.

549

Zur Stelle siehe u. a. Peglau 2003, 156–158 mit weiteren Nachweisen; zur komplexen und spannungsreichen Beziehung zwischen Cicero und Varro allgemein Rösch-Binde 1998 sowie Wiseman 2009, 107–129. Vgl. ferner Baier 1997, 15–27 und Binder 2018. Das berühmte Diktum hallt in der Klage Petrarcas nach: nusquam minus Roma cognoscitur quam Rome (fam. 6.2.117). Siehe dazu Vine 2010, 4: „For Petrarch, antiquarianism was about resurrection: it was concerned primarily with restoring fragments of antiquity to bring the past and its virtues back to life.“

550

Die Metaphorik einer durch Unwissenheit bedingten peregrinatio in der eigenen Stadt fand bereits in De oratore Verwendung: de orat. 1.218 (nec peregrinum atque hospitem in agendo esse); 1.249 (ne in nostra patria peregrini atque advenae esse videamur); 2.131.

551

Cic. ac. 1.9: Tu aetatem patriae, tu descriptiones temporum, tu sacrorum iura, tu sacerdotum, tu domesticam, tu bellicam disciplinam, tu sedum regionum locorum, tu omnium divinarum humanarumque rerum nomina genera officia causas aperuisti.

552

Dass Cicero hier die bekannte Empfindlichkeit Varros im Auge hatte, vermutete schon Dahlmann 1976, 163–164; relativierend in diesem Sinne auch Peglau 2003, 157–158. In dieselbe Richtung weist auch die zuvor geäußerte Übertreibung, dass nach Aelius Stilo sich niemand mehr mit römischer Altertumsforschung auseinandergesetzt habe (ac. 1.8): A Graecis enim peti non poterant ac post L. Aeli nostri occasum ne a Latinis quidem. Auch in Brut. 205 stellte er Varro emphatisch in die Tradition seines Lehrers: Quam scientiam Varro noster acceptam ab illo auctamque per sese, vir ingenio praestans omnique doctrina, pluribus et inlustrioribus litteris explicavit. Siehe dazu oben S. 259 f.

553

Ciceros Vergangenheitsbezug wird oft als Nostalgie gewertet, sei es aufgrund seiner Tendenz zur Idealisierung und Glorifizierung der römischen Vergangenheit, sei es wegen seiner teils expressiven Emotionalität im Hinblick auf das Vergangene. Siehe dazu u. a. Rawson 1991, 60–61. In der Forschungsliteratur wird – seit Momigliano – Nostalgie häufig mit Antiquarianismus verbunden: zu Verrius Flaccus und der augusteischen Epoche siehe etwa Glinister 2007, 27–29. Nostalgie ist als Erlebnisform der Vergangenheit indes ein ubiquitäres Phänomen, das sich in Rom häufig an die Betrachtung des mos maiorum anknüpfte, vgl. z. B. Plaut. Trin. 1031: vetera quaerit, vetera amare hunc more maiorum scias.

554

Zu Ciceros Applikation der antiquarischen Methode und dem Einfluss der antiquarischen Fachliteratur auf De re publica und De legibus siehe Rawson 1991, 58–79. Ein anschauliches Beispiel seiner diesbezüglichen Forschungen bietet leg. 2.55–57.

555

Zum Beispiel: Fest. p. 222, 3–6 Lindsay (= Cic. de gloria frg. 8 Müller, M.T. Ciceronis Scripta quae manserunt omnia, IV.3, Leipzig 1898, p. 331; frg. 2 GRF Mazzarino p. 391): oppidorum originem optime refert Cicero lib. I de gloria eamque appellationem usurpatione appellatam esse existimat, quod opem darent, adiciens „ut ⟨…⟩ imitetur ineptias Stoicorum“. Vgl. ferner Cic. rep. 2.40; Tusc. 3.8–11 und 3.16–18; nat. deor. 3.62. Die einschlägigen Stellen hat Dietrich 1911 zusammengestellt. Vgl. auch Rawson 1991, 65–66.

556

Siehe neben Fuhrmann 1987 u. a. Baier 1999, 351–367; Peglau 2003, 160–164; Sehlmeyer 2009, 69–70; Volk 2021, 256–567. Die ältere Forschung hat – mit Ausnahme von Jocelyn 1982 – den Zusammenhang zwischen der varronischen Schriftstellerei und Caesar bzw. Octavian stark gemacht. Siehe dazu die bei der Behandlung der einzelnen varronischen Fachschriften in Kap. 6.2.1. aufgeführte Literatur; zu Gracchanus und Tuditanus siehe oben S. 231 f.; zur Politisierung der Religion und religiöser Obstruktion siehe oben S. 238.

557

Herklotz 1999, 195.

558

Vgl. Suet. Aug. 7.2. Zur Selbstinszenierung des Augustus als neuer Gründer Roms siehe Angelova 2015, 9–43 mit weiterer Literatur.

559

Galinsky 1996, 58–60, komprimiert 64: „The essence, then, of Augustus’ restoration of the res publica was not ‚the Augustan constitution‘ but a summons to the old spirits and values of the res publica that made it a commonwealth. The republic needed to be rescued not only because Antony’s legions threatened it, but because its soul had been lost.“ Zum Traditionalismus in der Politik des Oktavian/Augustus siehe u. a. Girardet 1993; Eder 2005.

560

Zum Schlagwort und seiner Kontextualisierung siehe u. a. Bringmann 2002; ferner die Beiträge in Hurlet/Mineo 2009.

561

Aufschlussreich ist hier das Zeugnis Suetons in Aug. 89: In evolvendis utriusque linguae auctoribus nihil aeque sectabatur, quam praecepta et exempla publice vel privatim salubria, eaque ad verbum excerpta aut ad domesticos aut ad exercituum provinciarumque rectores aut ad urbis magistratus plerumque mittebat, prout quique monitione indigerent. Etiam libros totos et senatui recitavit et populo notos per edictum saepe fecit, ut orationes Q. Metelli „de prole augenda“ et Rutili „de modo aedificiorum“, quo magis persuaderet utramque rem non a se primo animadversam, sed antiquis iam tunc curae fuisse.

562

Da die folgende These allein auf der Analyse der augusteischen Dichtung beruht, hat sie nur relativen Geltungsanspruch für die antiquarischen Fachtraktate dieser Zeit.

563

Allein in der Poesie lässt die Überlieferungslage tragfähige Hypothesen zu. Dass Altertumsspezialisten (periti antiquitatis) an der augusteischen Restauration partizipierten, ist seit langem unbestritten. Art und Umfang ihres Beitrages sind im Einzelnen allerdings schwer zu beziffern. Singuläres Schlaglicht fällt auf die zentrale Funktion, die der Jurist Ateius Capito bei der Rekonstruktion des Rituals der Säkularspiele vom Jahr 17 v. Chr. für das Kollegium der quindecemviri sacris faciundis ausgeübt hatte. Vgl. Zosim. 2.4.2: ταύτης ἐπὶ χρόνον τῆς θυσίας ἀμεληθείσης, αὖθίς τινων συμπεσόντων ἀποθυμίων ἀνενεώσατο τὴν ἑορτὴν Ὀκταβιανὸς ὁ σεβαστός, ⟨ὕστατον τελεσθεῖσανὑπάτων ὄντων Λουκίου Κηνσωρίνου καὶ Μάρκου Μανιλίου [Πουηλίου], τὸν θεσμὸν Ἀτηίου Καπίτωνος ἐξηγησαμένου, τοὺςδὲχρόνους, καθοὓς ἔδει τὴν θυσίαν γενέσθαι καὶ τὴν θεωρίαν ἀχθῆναι, τῶν πεντεκαίδεκα ἀνδρῶν, οἳ τὰ Σιβύλλης θέσφατα φυλάττειν ἐτάχθησαν, ἀνερευνησάντων. Zu den Details siehe Scheid 2008, 294–295 mit weiteren Verweisen; zur Zeitstimmung in der Umbruchszeit u. a. Mäckel 2002.

564

Zu Properz siehe unten S. 406–414; zu Tibull 2.5 und seinem Verhältnis zur römischen Frühgeschichte in Vergils Aeneis Buchheit 1965; Ball 1975 und Maltby 2002; zu Ovid u. a. Döpp 1968, 77–87.

565

Zur Aeneis als Aition und zur Aitiologie in der Aeneis siehe die Literatur unten S. 401 Anm. 578.

566

Vgl. Fest. p. 93, 1–2 Lindsay: ianiculum dictum, quod per eum Romanus populus primitus transierit in agrum Etruscum.

567

Latium: Aen. 8.319–327; Tiber: Aen. 8.332; Porta Carmentalis: Aen. 8.337–341; Lupercal: Aen. 8.342–344; Argiletum: Aen. 8.345–346. Siehe dazu O’Hara 1996, 207–211; zur vielschichtigen Bedeutung der Memoria in der Aeneis Seider 2013.

568

Zur kontrastiven Gegenüberstellung des primitiven Ur-Rom mit dem augusteischen Rom in den Fasti siehe Hardie 1991, 51: „one of the central structuring features of the poem“.

569

Hier sei erneut angemerkt, dass die Rolle der antiquarischen Fachliteratur in der skizzierten Entwicklung nur vermittels indirekter Indizien erschlossen werden kann. Der postulierte paradigmatische Wechsel ist in den Fragmenten selbst nicht greifbar, die nachweisliche Partizipation antiquarischer Fachschriftsteller an prestigeträchtigen Reformprojekten des Princeps sowie die engen Verbindungslinien zur zeitgenössischen Dichtung machen ein bewusstes diskursives Mitwirken ihrerseits aber wahrscheinlich. Die Forschung hat den augusteischen „Antiquaren“ eine entscheidende Rolle bei der Kontrolle und Distribution des Vergangenheitswissens zugewiesen – eine Aufgabe, die zuvor die senatorische Nobilität innehatte. Die revolutionäre Zentralisierung des Wissens in der Hand von meist sozial niedergestellten (und daher kontrollierbaren) Spezialisten (Juristen, Historiker, Antiquare, Dichter) wird generell als ein wichtiges Element der politischen Konsolidierung des Augustus angesehenen. Siehe dazu Wallace-Hadrill 1997; Wallace-Hadrill 2008, bes. 213–312.

570

Natürlich war die römische Frühzeit, insbesondere die Königszeit, ein zwar dominierender, aber nicht der alleinige Bezugspunkt der augusteischen Reformbemühungen; die an exempla reiche Frühe und Mittlere Republik war ebenso von Bedeutung. Symbolisch kommuniziert wird dies bekanntlich auf dem Augustus-Forum in der Statuen-Galerie des Mars-Ultor-Tempels. Zur Bedeutung der Königszeit in der augusteischen Literatur siehe u. a. Fox 1996; Sigmund 2014, 257–311; zur Prominenz des Romulus-Mythos Castiello 2021.

571

Scheid 1993, 121: „Pour les Romains, le moment essentiel de l’univers n’était ni la création de l’Olympe ni celle du monde, mais la fondation de la cité par les hommes et les dieux. L’ordre des choses, le système du monde correspondaient à Rome aux institutions et aux composantes de la res publica.“

572

Zur Arbeit am „augusteischen Mythos“ mit (vielleicht allzu) starker Betonung des „Erfindungscharakters“ (invention of tradition) siehe Fabre-Serris 1995; Fabre-Serris 1998; ferner Graf 2002 sowie die einschlägigen Beiträge in Graf 1993 (Hölscher, Scheid, Horsfall, Bremmer) und Labate/Rosati 2013. Zu pointiert ist die Vorstellung von einem „mythological ‚workshop‘ employed by Augustus and/or his supporters“ (Bremmer 1993, 164).

573

Siehe dazu besonders Rea 2007; jüngere Spezialarbeiten versammelt der Sammelband von McIntyre/McCallum 2019; wegweisend zur Partizipation der Literatur am religiösen Diskurs ist Feeney 1998.

574

Der Beitrag der zeitgenössischen Historiographie an der Arbeit am Mythos wird hier bewusst ausgeklammert. Zu den engen Verbindungslinien zwischen augusteischer Dichtung und der Historiographie siehe u. a. die Beiträge in Levene/Nelis 2002.

575

Zum Konzept des self-fashioning siehe Greenblatt 1980; auf die Antike übertragen wurde es u. a. durch Dugan 2005.

576

Zur Zitierpraxis der antiken Kommentarliteratur siehe oben S. 138. Die Exegeten waren bei der Quellenfrage auf sich allein gestellt, vgl. z. B. Porphyrio, Hor. epist. 2.1.26: Pontificum libros: utrum annales an ius pontificale significat?

577

In der römischen Literatur finden sich keine weiteren Spuren, vgl. Robinson 2011, 298.

578

Aus der umfangreichen Forschungsliteratur kann hier nur eine Auswahl geboten werden: zum Traditionsbezug in der Aeneis siehe Zetzel 2019 mit weiterer Literatur; zum explikativen Modus Horsfall 1991; zur Etymologie O’Hara 1996 und Paschalis 1997; zur Aitiologie Binder 1988; Nelis 2001 und Walter 2020, 156–174; zur Genealogie Bäumerich 1964, 81 ff.; Suerbaum 1967; Vetta 1985; zur Gründungsthematik Cancik 2004.

579

Direkte aitiologische Hinweise (z. B. Aen. 6.234–235: monte sub aerio, qui nunc Misenus ab illo / dicitur; weitere Beispiele bei O’Hara 1996, 90–91) sind dem epischen Erzählduktus dahingehend fremd, als sie den Dichter-Erzähler zwingen, aus der erzählten Zeit und der epischen Handlung herauszutreten; hellenistisches Vorbild dafür ist Apollonios Rhodios (u. a. 2.843–852).

580

Für die Details siehe Horsfall 2000, 146–159.

581

Das heißt Anachronismen, die nicht in Form einer Prophetie, sondern offensichtlich intendiert gegen zeitgenössisches Vergangenheitswissen verstoßen, meist bei Technik und Militaria, z. B. die in Aen. 1.182; 5.120 et al. genannten Bi- und Triremen, die nach antiker heurematographischer Tradition nicht schon im 12. Jhd. v. Chr. – als nach antiker Vorstellung Troja untergingt – , sondern erstmals im 8. Jhd. v. Chr. von den Korinthern gebaut wurden (vgl. Thukydides 1.13.2; 1.14.1); daher Serv. auct. Verg. Aen. 1.182: BIREMIS naves habentes remorum ordinem geminum […]. Quidam tamen biremes ad suum tempus volunt dixisse Vergilium, negantes Troicis temporibus biremes fuisse. Varro enim ait post aliquot annos inventas biremes. Weitere Beispiele bietet Sandbach 1965/1966; ferner Walter 2019b; spez. zu den Militaria Malavolta 1996. Anachronismen als literarische Technik in der Aeneis untersucht Pausch 2023.

582

Für die Details siehe Horsfall 2000, 421–530; Binder 2019, 81–10.

583

U. a. Aen. 7.684: Hernica saxa; 7.707–708: Clausus / Claudia; 7.712: Rosea rura; 7.713: Tetricae horrentis; 7.753–759: vipereo generi / Angitia. Das Material ist gesammelt und besprochen bei O’Hara 1996, 193–200 und Paschalis 1997, 264–274.

584

Vgl. auch Serv. suct. Verg. Aen. 7.682: altum Praeneste Cato dicit quia is locus montibus praestet, Praeneste oppido nomen dedit (= FRHist 5 F68).

585

Ein Beispiel ist die ungeklärte Frage, weshalb Messapus als Neptunia proles erscheint, vgl. Serv. Verg. Aen. 7.691: hic Messapus per mare ad Italiam venit, unde Neptuni dictus est filius. Ob allerdings jedes Wort bedeutungstragend war, oder ob es auch semantisch „leere“ (aber z. B. auf der klangästhetischen Ebene wirkungsvolle) Referenzen gab, ist nicht zu entscheiden. Siehe dazu pointiert Horsfall 2000, 452: „Virgil really cared very little for such precise, cartographic aspects of his material.“ An eine Dublette des Cycnus nach alexandrinischem Vorbild denkt O’Hara 1989, was den Vorteil hat, dass die alphabetische Reihe ungestört bleibt. Idiosynkratisch ist Vergils Zuordnung bestimmter mythischer Helden zu Regionen, mit denen sie nach der gängigen Überlieferung in keiner Beziehung stehen, z. B. Messapus zu den Faliskern, siehe dazu Binder 2019, 90.

586

Zu den literarischen Modellen siehe neben den modernen Vergil-Kommentaren Nicolai 2017; zum ethnographischen Aspekt und seiner Bedeutung Barchiesi 2008 und Rohman 2017.

587

Entdeckt von Cook 1919. Zufall ist statistisch unwahrscheinlich. Siehe dazu Rehm 1932, 84–107 (allgem. Diskussion der Quellen); zur alphabetischen Reihung bes. Williams 1961; Saylor 1974; O’Hara 1989 mit umfassender Berücksichtigung der älteren Literatur; skeptisch ist Horsfall 2000, 415–416.

588

Daly 1963. Daly stellt die Passage neben drei weitere alphabetische Listen, die Namen und Orte des alten Latium enthalten (Plin. nat. 3.69; Dion. Hal. ant. 5.61; Liv. 1.30.2). Die gemeinsame Quelle führt er auf Varro zurück, der eine Vorliebe für alphabetische Reihen zeige. Die Hypothese ist schon daher zweifelhaft, weil die Helden in Vergils Katalog, wie schon Rehm 1932, 91 richtig erkannte, „ganz verschiedener Herkunft sind“, also über keine erkennbare innere Kohärenz verfügen. Dass die alphabetische Reihung ein rhetorisches Mittel war, um einen Eindruck der Vollständigkeit zu erzeugen, zeigt indes schon Ennius, ann. 229 Skutsch: Marsa manus, Paeligna cohors, Vestina virum vis.

589

Für die Benutzung Varros bes. Horsfall 1990, 468; Horsfall 1993, 133–134; Horsfall 2000, 418–421. Während in der jüngeren Forschung an Vergils Konsultation antiquarischer Fachschriften nicht gezweifelt wird, sind Ausmaß und Relevanz umstritten; vgl. Fantham 2014.

590

Material zum Italikerkatalog versammeln Ritter 1901 und Rehm 1932, bes. 104–107.

591

Für Beispiele vgl. Horsfall 1990.

592

Die Aitiologie der Ara Maxima war offensichtlich ein wichtiger Kristallisationspunkt des augusteischen Erneuerungsdiskurses, vgl. Prop. 4.9.1–20; Ov. fast. 1.543–578; Liv. 1.7.3–15; Dion Hal. ant. 1.39–42; Reflexe finden sich noch in Fulg. myt. 2.3. Siehe dazu mit unterschiedlichen Akzentuierungen Bellen 1963; Binder 1971; Schilling 1988; Fedeli 1994; Morgan 1998; Boyle 1999; Schmitzer 2007.

593

Dies zeigt sich zumal in den Etymologien (siehe unten S. 410–412). Auch bei Properz wird von der Forschung der etymologische Aspekt in der Regel stillschweigend als Bestandteil der Aitiologie betrachtet. Zur Kritik an dieser begrifflichen Unschärfe siehe oben S. 72–75.

594

Die exakte Datierung des Buches gestaltet sich schwierig; aufgrund von 4.11 wird 16 v. Chr. als Terminus post quem bestimmt, doch ist diese Datierung keineswegs sicher. Siehe dazu Schwitter 2021 mit der Forschungsdiskussion.

595

Zur vieldiskutierten Neuausrichtung des vierten Elegienbuchs siehe aus der neueren Literatur DeBrohun 2003; Coutelle 2005, 539–581; Cairns 2006, 358–361; Rüpke 2009; Miller 2013, 240–245; Gazeau 2017.

596

Zum topographischen Fokus siehe Rothwell 1996; Fantham 1997 und Welch 2005; zur Gewichtung der Königszeit Fox 1996, ch. 5; zur Nachfolge des Kallimachos u. a. Miller 1982.

597

Als Auftragsarbeit und politische Konzession an Augustus wird teilweise bis heute die Elegie 4.11 betrachtet, vgl. Hubbard 1974, 117 („commissioned“); Sullivan 1976, 147 („court poem“); Stahl 1985, 262; Cairns 2006, 347. Zu Properz’ Rolle als augusteischer Dichter und seinem Verhältnis zum Princeps siehe u. a. von Albrecht 1982; Kierdorf 1995; Günther 2012.

598

Vgl. Prop. 4.1.55–57: optima nutricum nostris lupa Martia rebus, / qualia creverunt moenia lacte tuo! / moenia namque pio coner disponere versu. Zum Symbolgehalt siehe Fantham 1997, 124–126 und 129–130.

599

Zum Tod als Thema in den Elegien des Properz siehe Papanghelis 1987; Müller 1995; mit bes. Fokus auf 4.11 Curran 1968, 134–139.

600

Vgl. aber Prop. 4.10.1: Nunc Iovis incipiam causas aperire Feretri.

601

Ganz ähnlich Tibull, carm. 2.5.23–38; vgl. auch Ovid, fast. 1.243–254; fast. 2.280–282; fast. 5.635–640.

602

Neuere Diskussionen des Gedichts bieten neben den einschlägigen Kommentaren u. a. DeBrohun 2003, 169–175; Coutelle, 2005, 571–573; Gazeau 2011; Karacsony 2018.

603

Der Hinweis auf das Ruderschlagen ist eine offenkundige Anspielung auf die gelehrte Diskussion über die frühgeschichtliche Schiffbarkeit des zwischen dem Vicus Tuscus und dem Forum Boarium liegenden Velabrum, vgl. Varro ling. 5.44: Velabrum a vehendo. Velaturam facere etiam nunc dicuntur qui id mercede faciunt. Merces (dicitur a merendo et aere) huic vecturae qui ratibus transibant quadrans. Vgl. ferner Ov. fast. 6.405–410.

604

Anders Flach 2011, 226: „Die Volksetymologie […] verwarf der Gott, der ihn trug, indessen als Ammenmärchen, das seine Gabe, sich in alle erdenklichen Gestalten verwandeln zu können, zu seinem Nachteil verschwieg.“

605

Siehe dazu Schwitter 2021 mit der einschlägigen Literatur.

606

Siehe u. a. Janan 2001, 177 Anm. 58; Wyke 2002, 108–110.

607

Siehe dazu neben den einschlägigen Kommentaren Petersmann 1993; Buongiorno 2013.

608

Soria 1965.

609

Dufallo 2007, 88: „Where Roman identity is concerned, the restorative quality of Propertian elegy (…) is nowhere more evident than in 4,7 and 4,11. The performance of these poems has the function of integrating past and present.“; Lowrie 2008, 177: „[Propertius] locates her at the fulcrum of past and future“.

610

Syme 1986, 247: „There was no link of direct descent“; Hutchinson 2006, 230: „C. apparently claims to descend from the Younger Scipio and so from Aemilius Paullus. Both claims are impossible […], like Paullus’ claim to descend form Aemilius Paullus.“ Die Kinderlosigkeit des jüngeren Scipio war bekannt (Appian. bell. civ. 1.20). Zu den Details siehe Schwitter 2021.

611

Dies zeigen u. a. auch die Fragmente der Antiquitates, so stehen listenartige Aufzählungen mit Erläuterungen (z. B. die Namen der di certi: Ant. rer. div. XIV frgg. 90–203 Cardauns) neben solchen ohne Erläuterungen (staatsrechtliche Gepflogenheiten: Gell. 13.12.5–6 = Ant. rer. hum. XX frg. 2 Mirsch).

612

Zum philosophischen Diskurs der Ant. rer. div. siehe u. a. Cardauns 1974, 83–86; Lehmann 1997; Tarver 1997; Rüpke 2005b; Van Nuffelen 2010, 162–188; Blank 2012, 268–279; zum varronischen Dialog philosophischer Prägung Nelsestuen 2015, bes. 9–30; zur Vorstellung Varros als „Bürgertheologe“ u. a. Rüpke 2009a, bes. 78–80; zur römischen civic theology MacRae 2016 und Volk 2021, 214–218. Weiter ging Leonardis 2019, 169–209, die Varros Vorgehen als epistemologische Suche nach einer kosmischen Wahrheit beschreibt.

613

Überblicke fehlen. Hilfestellung bieten die üblichen Literaturgeschichten, etwa Peter 1897, 108–158 („Die antiquarischen Studien und die Curiositas“); Schanz/Hosius 2, 175–183; HLL 4 §§ 407.–409. Einschlägiger ist Stevenson 1993, 87–95 und Stevenson 2004, 151–155, der allerdings – wie die ältere Forschung insgesamt – mit einem klischierten Antiquarianismus-Begriff arbeitet.

614

Zu Ptolemaios Chennos’ witzreichem Spiel mit Etymologien in seiner Καινὴ Ἱστορία siehe Decloquement 2021; zu Lukians satirischen Aitien Kuin 2022; zur parodistischen Deutung der De fluviis des Ps.Plutarch siehe unten Kap. 6.3.1. § 6.

615

Man hat den Befund als Symptom einer „rezeptiven“ Epoche gedeutet, deren nachlassender kreativer Elan sich in der Tendenz zu epitomierender Verdichtung und in der Selektion und Reorganisation des zuvor Erreichten äußerte. Vgl. z. B. Momigliano 1990, 69: „In Rome, perhaps even more quickly than in the Hellenistic kingdoms, erudition became compilation, and compilation led to summaries, excerpts, scholia – the end of vigorous creative research.“; Cornell 1995a, 21: „In the imperial period the antiquarian tradition continued, but it tended increasingly to degenerate into compilation, and the summarising and excerpting of earlier work, rather than new creative research.“; Bravo 2007, 524: „In the imperial era antiquarian or philologico-antiquarian production, both Greek and Latin, gained more importance than ever before. In many cases, however, it consisted in the reelaboration of earlier work rather than in original research.“.

616

Zur Bedeutung von Bibliotheken für antike Wissensordnungen siehe die Beiträge in König/Oikonomopoulou/Woolf 2013; für den vorliegenden Kontext siehe bes. Johnson 2013.

617

Siehe dazu die Beiträge in Horster/Reitz 2010 und Dusil/Schwedler/Schwitter 2017.

618

Dazu überblickend Skydsgaard 1968, 101–116.

619

Die Literarizität antiker Fachtexte ist unlängst in den Fokus der Forschung gerückt, vgl. z. B. Horster/Reitz 2003; zum Autorenbewusstsein siehe Fögen 2009; Taub/Doody 2009. Wegweisend war Fuhrmann 1960.

620

Die Forschung hat diese Ordnungsleistung der Kaiserzeit unlängst hervorgehoben, siehe etwa König/Whitmarsh 2007.

621

Eine Aufstellung bietet Schulz 1961, 309–324; einschlägig ist Dell’Oro 1960; siehe ferner zu den jeweiligen Verfassern die Einträge in HLL 4 sowie in Wieacker 2006.

622

Gell. 14.2.1: Quo primum tempore a praetoribus lectus in iudices sum, ut iudicia quae appellantur privata susciperem, libros utriusque linguae de officio iudicis scriptos conquisivi, ut homo adulescens a poetarum fabulis et a rhetorum epilogis ad iudicandas lites vocatus rem iudicariam, quoniam vocis ut dicitur vivae paenuria erat, ex multi, quod aiunt magistris cognoscerem. Atque in dierum quidem diffissionibus comperendinationibusque et aliis quibusdam legitimis ritibus ex ipsa lege Iulia et ex Sabini Masurii et quorundam aliorum iurisperitorum commentariis commoniti et adminiculati sumus. In his autem quae existere solent negotiorum ambagibus et in ancipiti rationum diversarum circumstantia nihil quicquam nos huiusmodi libri iuverunt. Ob es sich bei der genannten Schrift des Masurius Sabinus um einen eigenständigen Traktat oder um den Rollentitel eines größeren Werks handelte, ist nicht erkennbar. Vgl. Schanz/Hosius 2, 764. Zu seinen Commentarii de indigenis siehe unten S. 426 f.

623

Schulz 1961, 311–312; Wieacker 2006, 136.

624

Dig. 1.13.1: Ulpianus libro singulari de officio quaestoris. Origo quaestoribus creandis antiquissima est et paene ante omnes magistratus. Gracchanus denique Iunius libro septimo de potestatibus etiam ipsum Romulum et Numam Pompilium binos quaestores habuisse, quos ipsi non sua voce, sed populi suffragio crearent, refert. Sed sicuti dubium est, an Romulo et Numa regnantibus quaestor fuerit, ita Tullo Hostilio rege quaestores fuisse certum est; et sane crebrior apud veteres opinio est Tullum Hostilium primum in rem publicam induxisse quaestores.

625

Vgl. die Begründung für seine rechtsgeschichtlichen Erörterungen, die Gaius zu Beginn seines Kommentars zum Zwölftafel-Gesetz anführt (Gaius, ad XII tabularum 1 = Dig. 1.2.1): Facturus legum vetustarum interpretationem necessario prius ab urbis initiis repetendum existimavi, non quia velim verbosos commentarios facere, sed quod in omnibus rebus animadverto id perfectum esse, quod ex omnibus suis partibus constaret. Et certe cuiusque rei potissima pars principium est. Deinde si in foro causas dicentibus nefas ut ita dixerim videtur esse nulla praefatione facta iudici rem exponere, quanto magis interpretationem promittentibus inconveniens erit omissis initiis atque origine non repetita atque illotis ut ita dixerim manibus protinus materiam interpretationis tractare?

626

Zu dieser Schrift und der damit verbundenen Forschungsdiskussion siehe Bur/Lanfranchi 2022.

627

Urso 2005; Urso 2011; zu Tacitus siehe neben den Kommentaren Dreyer/Smarczyk 2009.

628

Zu Varros Εἰσαγωγικός de officio senatus habendi siehe oben S. 272–275.

629

Zu dieser Literatur siehe die Diskussion bei Giuffrè 1974, 61–104.

630

Zur Identifikation des Werks siehe die Diskussion bei Dubuisson/Schamp 2006 I.1, clxxxv–clxxxvii. Diesen Stoffbereich hatte Varro im 22. Buch der Antiquitates rerum humanarum abgehandelt (vgl. Mirsch 1882, 135–141). Eine Reihe einschlägiger Etymologien finden sich noch in Varro ling. 5.86–91.

631

Auf ein Werk de re militari schließt man aufgrund von Front. strat. praef. 1 (cum ad instruendam rei militaris scientiam unus ex numero studiorum eius accesserim) und Veget. 1.8 (haec necessitas compulit evolutis auctoribus ea me in hoc opusculo fidelissime dicere, quae Cato ille Censorinus de disciplina militari scripsit, quae Cornelius Celsus, quae Frontinus perstringenda duxerunt). Vgl. Kappelmacher, RE 10 (1917), 607.

632

Für ein eigenständiges Werk argumentierte neben Reifferscheid 1860, 465–466 auch Brugnoli 1968, 168–171.  Für einen Bestandteil des Pratum erachten es Della Corte 1967, 237–238; Schmidt 1991, 3809; Schmidt, HLL 4 § 404., p. 21.

633

Reifferscheid 1860, 148–149; jüngere Hypothesen folgen Reifferscheid zwar vereinzelt beim Überbegriff De Roma, sehen aber De institutione officiorum als Titel des vierten Buches an. So Schmidt 1991, 3803–3806; HLL 4 § 404., p. 21. Kritisch ist demgegenüber Brugnoli 1968, 164–166.

634

Zustimmend Dubuisson/Schamp 2006 I.2, dcii; kritisch Brugnoli 1968.

635

Vgl. Schulz 1961, 163. Bei Wieacker 2006 fehlt jeder Hinweis auf Sakralrechtliches.

636

Bremer 2.1, 364–366.

637

Siehe dazu unten S. 429.

638

Fragmente: Bremer 2.1, 367–374. – Literatur: Schanz/Hosius 2, 764; Schulz 1961, 163 u. 287; Liebs 1980, 138–139.

639

Literatur: Wissowa, RE 2 (1896), 2731; Schanz/Hosius 2, 327–328; Bardon 2, 99; FRHist I, 633.

640

GRF p. 537 (unter den Dubia des C. Iulius Hyginus). Macr. Sat. 3.2.13: Hyllus libro quem de dis composuit ait Vitulam vocari deam, quae laetitiae praeest. Siehe oben S. 294.

641

Stein, RE 9 (1914), 126.

642

Lyd. mag. I.17 (über Tracht und Insignien der Patrizier): τουτονὶ τὸν κάμπαγον Θούσκων γενέσθαι τὸ πρὶν ὁ Λέπιδος ἐν τῷ Περὶ Ἱερέων φησίν. Zu unterschiedlichen Identifizierungsversuchen siehe Dubuisson/Schamp 2006 I.1, clcvii–clxviii.

643

Zu seiner Person siehe HLL 4 § 491.4. mit weiterer Literatur.

644

Zu Albinus’ hexametrischen Res Romanae siehe unten S. 455.

645

Fragmente: Mastandrea 1979, 230–240 – Literatur: Wissowa, RE 4.1 (1900), 1351–1355; Mastandrea 1979; HLL 4 § 409.1.

646

Siehe zu diesem Werk Mastandrea 1979, 74–102. Das Thema fand in der Kaiserzeit offenbar weiterhin rege Beachtung. Neben Cornelius Labeo sind für A. Caecina, Umbilicus Melior und C. Musonis Rufus einschlägige Werke bezeugt.

647

Das einzige Fragment bietet Macr. Sat. 1.18.21: Huius oraculi vim, numinis nominisque interpretationem, qua Liber pater et Sol Ἰαώ significatur, exsecutus est Cornelius Labeo in libro cui titulus est De oraculo Apollinis Clarii. Siehe dazu Mastandrea 1979, 159–192.

648

Dass selbst die mittelalterliche Kommentarliteratur gelegentlich zwischen der heidnischen Antike und dem christlichem Hochmittelalter Kontinuitäten postulierte, wurde am Beispiel von Ovids Fasti aufgezeigt, siehe oben S. 35.

649

So hat etwa, wie bereits erwähnt, Iohannes Lydos Kontinuitätslinien zwischen heidnischer und christlicher Religion aufgedeckt. Siehe dazu Tóth 2017, 64–65. Zur humanistischen Kontinuitätsprämisse siehe oben S. 46 f.

650

Fest. p. 242, 30–244, 1 Lindsay: […] cum propositum habeam ex tanto librorum eius numero intermortua iam et sepulta verba atque ipso saepe confitente nullius usus aut auctoritatis praeterire, et reliqua quam brevissime redigere in libros admodum paucos. Ea autem, de quibus dissentio, et aperte et breviter, ut sciero, scripta in is libris meis invenientur, qui inscribitur priscorum verborum cum exemplis. Zu De verborum significatione siehe unten S. 376 f.

651

Caesellius Vindex: HLL 4 § 434., pp. 226–227 – Velius Longus: HLL 4 § 435., pp. 227–229.

652

Suet. De gram. et rhet. 24.4: reliquit autem non mediocrem silvam observationum sermonis antiqui. Siehe dazu Kaster 1995, 242–250; Zetzel 2018, 71–73 und 312–316 mit der einschlägigen Literatur.

653

Siehe dazu Zetzel 2018, 100 und 298–300 mit weiteren Literaturangaben.

654

Eine etymologisch ausgerichtete Gesamtsynthese der res Romanae in lexikographischer Gestalt hat Sex. Pompeius Festus vorgelegt (siehe oben S. 376).

655

Funaioli, RE III A 2, 2223–2224 (spätestens frühes 4. Jahrhundert n. Chr.); Schanz/Hosius 4.1, 180 (4. Jahrhundert n. Chr.) Kaster 1988, 436 (vor dem 4. Jahrhundert n. Chr.); HLL 4 § 437. (möglicherweise 2. Jahrhundert n. Chr.).

656

Siehe dazu O’Neill 2020.

657

So Leo 1896, 203–204; siehe dazu u. a. Momigliano 1961, 9 und 28; Huzar 1984, 625–626; Papke 1986; Hausmann 2009, 210–213. Syme 1958, 704–705 und andere denken an einschlägige Reden des Claudius als Quelle. Kritischer ist Malloch 2013, 217–218.

658

Zur subtilen Leserführung der Passage siehe Hausmann 2009, 210–213. Dass Claudius mit seinen Neuschöpfungen durchaus auf Probleme abzielte, die von den Grammatikern diskutiert wurden, betont Papke 1986, 190.

659

Siehe dazu die Diskussion bei Papke 1986, 184–186.

660

Vgl. Jeffrey 1967, 153–155; Papke 1986, 187–188. Herodot schließt, wie oben erwähnt (S. 183), seine Ausführung über die Ursprünge des griechischen Alphabets mit der quellenkundlichen Versicherung, mit eigenen Augen in einem Heiligtum Inschriften mit „kadmeischen Buchstaben“ gesehen zu haben (5.59–61).

661

Papke 1986, 186 votiert für eine eigene Leistung des Claudius. Auch Hekataios (FGrHist 1 F20), Platon (Phaed. 274D) und Theophrast führten die Ägypter als Erfinder der Schrift auf. Weitere Stellen versammelt Jeffrey 1967..

662

So Hausmann 2009, 211.

663

Eine eindrucksvolle, listenartige Aufzählung von Stadtgründern und Stammvätern auf der italischen Halbinsel bietet etwa Solin. coll. 2.5–18. Zu solchen Wissenslisten siehe unten S. 461–464.

664

Dies zeigen allein schon die kaiserzeitlichen Rezeptionszeugnisse der einschlägigen spätrepublikanischen Literatur. Siehe oben S. 326–348.

665

Überblickend Speyer, RAC 9 (1976), 1201–1254.

666

Suet. Vit. 1.2: Exstatqueelogiad Quintum Vitellium Divi Augusti quaestorem libellus quo continetur Vitellios Fauno Aboriginum rege et Vitellia, quae multis locis pro numine coleretur, ortos toto Latio imperasse, horum residuam stirpem ex Sabinis transisse Romam atque inter patricios adlectam. Die Lesung der Handschriften ist verderbt: extatq; elogi, was Hertz und Bentley als extatque elogi … libellus auffassten. Die Mehrzahl der Editoren und Kommentatoren votiert aber für einen Eigennamen. Zu Q. Vitellius, vermutlich ein Onkel des späteren Kaisers A. Vitellius, siehe PIR2 8.2 Nr. 746.

667

Vgl. Suet. Vit. 1.3: indicia stirpis mansisse diu viam Vitelliam ab Ianiculo ad mare usque, item coloniam eiusdem nominis, quam gentili copia adversus Aequiculos tutandam olim depoposcissent. Tempore deinde Samnitici belli praesidio in Apuliam misso quosdam ex Vitellis subsedisse Nuceriae eorumque progeniem longo post intervallo repetisse urbem atque ordinem senatorium.

668

Suet. Vit. 2.1: Contra plures auctorem generis libertinum prodiderunt, Cassius Severus nec minus alii eundem et sutorem veteramentarium, cuius filius sectionibus et cognituris uberius compendium nanctus ex muliere vulgari, Antiochi cuiusdam furnariam exercentis filia, equitem R. genuerit.

669

Seine Kaiserviten sind die Hauptquelle für die Rekonstruktion der genealogischen Ansprüche der einzelnen Kaiser. Siehe dazu Speyer, RAC 9 (1976), 1196–1199; Bäumerich 1964, 133–136.

670

Kritisch ist u. a. Brugnoli 1968, 154–156; zur Diskussion mit der einschlägigen Literatur und eigener dezidierter Meinung siehe Schmidt 1991, 3801 und 3812, sowie in HLL 4 § 404., p. 23.

671

Wissowa 1880; ebenso Schmekel 1914. Demgegenüber hatte sich etwa Litt 1904 für Verrius Flaccus und – nach Baehrens 1918 – mit Nachdruck wieder Mastandrea 1979 für Cornelius Labeo als einer wichtigen Zwischenstufe der späteren Tradition ausgesprochen. Zustimmend Schmidt in HLL 4 § 404., p. 23. Siehe dazu aber weiter unten S. 443–446. Für einen entsprechenden Forschungsüberblick mit Fokus auf Macrobius siehe Guittard 2009.

672

Reeh 1916; siehe dazu die Kritik von Wessner 1917b, 71–74.

673

Becker 1857, XIIXII.

674

Reifferscheid 1860, 426–457. Einen Schritt weiter ging Schmekel 1914, der die Etymologiae weitgehend auf Sueton zurückführte. Zur Kritik dazu siehe u. a. Schanz 1895; Wessner 1917a; ferner die jüngere Isidor-Forschung z. B. Trisoglio 2001, 11–15. Einen konzisen Forschungsüberblick bietet Schmidt 1991, 3795–3799 und 3812 sowie in HLL 4 § 404., p. 23.

675

Macr. Sat. 1.12.2 = Cens. 19.4–7; Macr. Sat. 1.12.3 = Cens. 20.3; Macr. Sat. 1.12.5–37; Cens. 22.9–16; Macr. Sat. 1.13.3 = Cens. 22.13; Macr. Sat. 1.13.8–20 = Cens. 20.6; Macr. Sat. 1.14.1–4 = Cens. 20.7. Vgl. Wissowa 1880, 18–19.

676

Denselben Katalog, jedoch ohne Sueton, führt Macrobius beim Problem der Interkalation auf (Sat. 1.13.20–21); zu Macrobius’ Zitiertechnik, bei der häufig jene Autorität ausgelassen wird, aus der er schöpft, siehe oben S. 130 f.

677

Zur mutmaßlich breiten Überlieferungsbasis antiquarischer Schriften in der Spätantike siehe oben Kap. 3.2.

678

FRHist I, 617–618.

679

Einblicke in diese Inhalte bietet Cens. 16–20.1.

680

Macr. Sat. 1.4.6: Masurius Fastorum secondo, „Vinaliorum dies,“ inquit, „Iovi sacer est, non, ut quidam putant, Veneri“; Sat. 1.4.15: Masurius etiam secondo Fastorum, „Liberalium dies,“ inquit, „a pontificibus agonium Martiale appellatur,“ et in eodem libro, „eam noctem deincepsque insequentem diem, qui est Lucarium,“ non dixit „Lucariorum“.

681

Fragmente: Mastandrea 1979, 230–233 – Literatur: Mastandrea 1979, 14–73 und HLL 4 § 490.1., pp. 78–79 mit der älteren, vorwiegend quellenkundlichen Literatur.

682

Zum Beispiel: Lyd. mens. IV.25 Wünsch (= frg. 3 Mastandrea 1979): ὁ δὲ Λαβεὼν ἀπὸ τοῦ πένθους λέγει κληθῆναι τὸν Φεβρουάριον· φέβερ γὰρ παρὰ Ῥωμαίοις τὸ πένθος προσαγορεύεται· καταὐτὸν δὲ τοὺς κατοιχομένους ἐτίμων.

683

Mastandrea 1979, 56–65.

684

Vgl. Lyd. mens. IV.80 Wünsch.

685

Siehe dazu die Diskussion bei Mastandrea 1979, 49–51 mit den einschlägigen Parallelstellen.

686

Vgl. Varro Ant. rer. div. XVI frg. 267 Cardauns: eandem [Tellurem] dicunt Matrem Magnam.

687

Darauf dürfte letztlich auch die lange Liste der Beinamen der Venus in Serv. auct. Verg. Aen. 1.720 zurückgehen. Siehe zu dieser bemerkenswerten Liste Lhommé 2012.

688

HLL 4 § 490.1., p. 79.

689

Suda IV, φ 527 p. 745 Adler = FGrHist 257 T1. Unter den in FGrHist aufgeführten Fragmenten fehlt allerdings der Verweis auf Lyd. mens. I.21 Wünsch. Zu seiner Person siehe oben S. 437.

690

Varro ling. 6.13 (= Ant. rer. div. VIII frg. 76 Cardauns): Lupercalia dicta, quod in Lupercali luperci sacra faciunt. Rex cum ferias menstruas Nonis Februariis edicit, hunc diem februatum appellat. Februm Sabini purgamentum, et id in sacris nostris verbum non ignotum. Nam pellem capri, cuius de loro caedentur puellae lupercalibus, veteres februm vocabant et Lupercalia februatio, ut in Antiquitatum libris demonstravi; Paul. Fest. p. 75, 23–24 Lindsay: Februarius mensis dictus, quod tum, id est extremo mense anni, populus frebruaretur, id est lustraretur ac purgaretur […]; Ov. fast. 2.31–32 und noch Cens. 22.13–14: ceterum Ianuarium et Februarium postea quidem additos, sed nominibus iam ex Latio sumptis: et Ianuarium ab Iano […], Februario a februo. Est februum quidquid piat purgatque, et februamenta purgamenta […].

691

Macr. Sat. 1.13.3: secundum dicavit [sc. Numa] Februo deo, qui lustrationum potens creditur; Serv. Verg. georg. 1.43: […] duo vero propter rationem signorum anni intercalabantur, qui postea a Iano et a Februo nominate sunt. Februus autem est Ditis pater, cui eo mense sacrificabatur; Isid. orig. 5.33.4: Februarius nuncupatur a Februo, id est Plutone, cui eo mense sacrificabatur. Die einschlägigen Stellen versammelt Maltby 1991, 227 s. v. februarius. Für eine moderne etymologische Diskussion siehe de Melo 2019, II: 820–821 und 842.

692

So Graf 2015, 169–170, der dessen Vermittlung an Lydos über Cornelius Labeo in Erwägung zieht. Der Eigenname ist vor dem 4. Jahrhundert allerdings nicht belegt.

693

Varro ling. 6.34: Dehinc quintus Quintilis et sic deinceps usque ad Decembrem a numero. Ad hos qui additi, prior a principe deo Ianuarius. Posterior, ut idem dicunt scriptores, ab diis inferis Februarius appellatus, quod tum his parentetur; ego magis arbitror Februarium a die februato, quod tum februatur populus, id est Lupercis nudis lustratur antiquum oppidum Palatinum gregibus humanis cinctum. Die Deutung der Lupercalia als eines Fruchtbarkeitsrituals ist allerdings schon aus Ov. fast. 2.425–452 ersichtlich. Zur Vereinbarkeit der beiden kultischen Funktionen, Reinigung und (weibliche) Fruchtbarkeit, siehe Valli 2007, 123–125.

694

Reifferscheid 1860, 322–364; zur Kritik mit eigenem Rekonstruktionsvorschlag siehe Schmidt 1991, 3809–3812; HLL 4 § 404., pp. 21–22.

695

Zu dieser Hypothese siehe unten S. 475–480. Zu Suetons griechischen Schriften, zu denen wohl die in der Suda erwähnte Περὶ τῶν παρἙλλήνων παιδιῶν gehörte, siehe Schmidt 1991, 3816–3818.

696

Schmidt 1991, 3810.

697

Weitere einschlägige Belege finden sich auch in der byzantinischen Epitome der Περὶ τῶν παρἙλλήνων παιδιῶν ed. Taillardat 1967. Siehe dazu insbesondere auch das unten S. 450 zitierte Testimonium in Tert. spect. 5.8.

698

Im Gegensatz zur älteren Forschung, die hinter Tertullians Referat in erster Linie Sueton vermutete (Reifferscheid 1860, 332–345), verfährt die jüngere Forschung hier zögerlicher, vgl. Schmidt 1991, 3810–3811.

699

Tert. spect. 4.4: Commemorabimus origines singulorum, quibus in cunabulis in saeculo adoleverint, exinde titulos, quibus nominibus nuncupentur, exinde apparatus, quibus superstitionibus instruantur, tum loca, quibus praesidibus dicentur, tum artes, quibus auctoribus deputentur. Tertullian reproduziert hier mit großer Wahrheinlichkeit – zwecks sachlicher Authentifizierung – die Systematik der von ihm konsultierten antiquarischen Fachliteratur. Siehe oben S. 149.

700

Zu Timaios’ griechischer Etymologie italisch-römischer Begriffe vgl. Gell. 11.1.1 (= FGrHist 566 F42): Timaeus in historiis quas oratione Graeca de rebus populi Romani composuit, et M. Varro in antiquitatibus rerum humanarum, terram Italiam de Graeco vocabulo appellatum scripserunt, quoniam boves Graeca vetere lingua italoe vocitati sint, quorum in Italia magna copia fuerit, bucetaque in ea terra gigni pascique solita sint complurima.

701

Siehe dazu Miller 1992b.

702

Sallmann 1983; Sallmann in HLL 4 § 441.; Freyburger 1988; Brodersen 2012, 11–32; Freyburger 2019, vii–lxv.

703

Zur Bedeutung von philologus im Sinne eines historisch interessierten Exegeten, vgl. Sen. epist. 108.30–33. Siehe oben S. 85 f.

704

Im lateinischen Bereich führen Texte dieses Typs häufig den Titel Quaestiones, siehe oben S. 153. Zu Plutarchs Quaestiones siehe unten S. 483–487. Demgegenüber hat Sallmann 1983, 244–245 (erneut in HLL 4 § 441., p. 248 und DNP 2 (1997), 1058) die These vertreten, das Werk sei als ein Vertreter der verlorenen varronischen Logistorici anzusehen. Diese waren allerdings, soweit ersichtlich, in dialogischer Form abgefasst, wobei der Hauptteil des Gesprächs dem jeweiligen Titelträger zufiel. Siehe dazu Dahlmann/Heisterhagen 1957, 5–20.

705

Im Detail ausgeführt von Sallmann 1983, 237–242.

706

So Sallmann, HLL 4 § 490., p. 614. Zur möglichen Identifizierung des Dichters mit dem Verfasser eines Lehrgedichts De metris siehe Graf, RE I 1 (1894), 1315; Schanz/Hosius 4.1, 142; Bardon 2, 230–231; Dahlmann 1984.

707

So Dahlmann 1984, 22–24 mit den Belegen.

708

Nämlich in Form sogenannter „Erfinderkataloge“: Plin. nat. 7.191–215; Hyg. fab. 225. 272. 274–275. 277; Clem. strom. 1.16.74–77; Tatian. orat. ad Graec. 1.1; Athan. c. gent. 18; Greg. Naz. orat. 4.107–109; Euseb. praep. evang. 10,4 f.; Theodoret von Kyrrhos, grace. aff. cur. 1.19–22; Serv. auct. Verg. Aen. 9.503. Demgegenüber behandelte der liber singularis de heurematicis des Modestinus heuremata des Rechts als Lösung problematischer Fälle. So zeigen die zehn Fragmente in Seckel/Kübler II, 169–170 spezifische Problemfälle (casus). Siehe dazu Schulz 1961, 308; Wieacker 2006, 147.

709

P.Oxy. 62,4306; P.Yale 2,108; P. Oxy. 10,1241, vgl. Van Rossum-Steenbeek 1998, 120–121 und 136–143. Singulär ist das Marmor Parium (FGrHist 239), das um 264 v. Chr. auf Paros errichtet wurde.

710

Beim Folgenden handelt es sich um verkürzte Auszüge aus Schwitter 2023b.

711

Bei Tatianos ist der Erfinderkatalog eine von zahlreichen Listen, die an unterschiedlichen Stellen der Oratio eingesetzt wird: or. ad Graec. 8 (Götter); 9–10 (Sterne); 24 (Dichter und Mythographen); 33 (Dichterinnen), 33–34 (Bildhauer) usw. Demgegenüber gestaltete Gregor von Nazianz (orat. 4.107–109) seinen Erfinderkatalog in elaborierterer Form als Reihe rhetorischer Fragen.

712

Ersichtlich ist dies bereits in Hyg. fab. praef. 1: Ex Caligine Chaos: Ex Chao et Caligine, Nox, Dies, Erebus, Aether. Ex Nocte et Erebo fatum, senectus, mors, letum, contentio, somnus usw. Oft handelt es sich dabei um reine Aufzählungen, z. B. die Kinder des Priamos: fab. 90: Hector, Deiphobus, Cebriones, Polydorus, Helenus, Alexander, Hipposidus, Antinous, Agathon, Dius, Mestor, Lysides, Polymedon, Ascanius, Chirodamas, Euagoras, Dryops, Astynomus, Polymelus, Laodice, Ethionome, Phegea, Henicea, Demnosia, Cassandra, Philomela, Polites, Troilus, Palaemon, Brissonius, Gorgythion usw. Die Bedeutung von derartigen Katalogen zeigt eine Auswahl aus dem Inhaltsverzeichnis: Hyg. fab. 48: Reges Athenienses. 97: Qui ad Troiam et quot navibus ierunt. 113: Quem quis occidt. 114: Graeci quot occiderunt. 115: Troiani quot occiderunt. 155: Iovis filii. 170: Filiae Danai quae quos occiderunt. 173: Qui ad aprum Calydonium ierunt. 221: Septem sapientes. 222: Septem lyrici. 223: Septem opera mirabilia. 264: Qui fulmine icti sunt. 265: Qui a Neptuno perierunt, vel a Mercurio, vel a Minerva. 266: Qui ab Apolline perierunt. 267: Quae bellicosissimae fuerunt. 268: Qui fortissimi heroes fuerunt. 269: Qui amplissimi fuerunt. 270: Qui formosissimi fuerunt. 271: Qui ephebi formosissimi fuerunt. 272: Iudicia parricidarum.

713

Vgl. z. B. Plin. nat. 7.153–159 (uralte Griechen und Römer); 34.84 und 35.15 (Maler und Bildhauer); Quint. inst. 12.10.3–10 (Maler und Künstler). Eine verselbständigte Sammlung von Wissenslisten stellt Ampelius’ Liber memorialis dar.

714

Siehe dazu weiter unten S. 461–464.

715

Explizit belegt für Simonides (FGrHist 8 T1: Εὑρήματα ἐν βιβλίοις τρισίν), Skamon (FGrHist 476 F3: Σκάμων δὲ ἐν τῇ δευτέρᾳ τῶν ἑυρημάτων), Ephoros (FGrHist 70 F2: Ἔφορος ἐν δευτέρωι Περὶ Εὑρημάτων), Straton (Dion. Laert. 5.60: ἑυρημάτων ἔλεγχοι δύο) und Theophrast (Dion. Laert. 5.47: Περὶ Εὑρημάτων αβ’).

716

Es handelt sich dabei um die bereits seit Hekataios etablierten Zuschreibungstechniken. Siehe dazu mit den Belegen Thraede, RAC 5 (1962), 1235–1238; Thraede 1962, 174–177.

717

Dieser Ansatz ist vor allem in christlichen Kontexten erkennbar: Tertullian (apol. 10.8) stellt im Zuge seiner euhemeristischen Deutung der antiken Götter Saturn als menschlichen Kulturbringer dar: ab ipso [Saturno] primum tabulae et imagine signatus nummus. Et inde aerario praesidet. Dahinter mag eine aitiologische Erklärung des Umstandes stehen, dass sich das römische Schatzhaus nach uraltem Brauch im Tempel des Saturn befand, vgl. Plut. Popl. 12; Quaest. Rom. 42.

718

Zu der bei Plinius erkennbaren Systematik siehe Kremmer 1890, 97–98 und Copenhaver 1978, 197. Die oben zitierte Passage aus Serv. auct. Verg. Aen. 9.503 könnte hier (über Zwischenstufen) auf ein Buch oder ein Kapitel über Militaria zurückgehen.

719

Varros antiquarische Fachschriften wurden, soweit ersichtlich, regelmäßig von einem „Theoriebuch“ eingeleitet: das erste Buch der Antiquitates rerum divinarum enthielt Varros bekannte Dreiteilung der Theologie (theologia tripartita), vgl. Ant. rer. div. I frgg. 6–29 Cardauns.

720

Thraede, RAC 5 (1962), 1216–1217. Das Thema ist noch ansatzweise in Plin. nat. 7.194 greifbar: Gellio Toxius Caeli filius lutei aedificii inventor placet, exemplo sumpto ab hirundinum nidis.

721

Thraede, RAC 5 (1962), 1204–1208 und 1211–1213 (interpretatio graeca); Zhmud 2006, 34–42.

722

Thraede, RAC 5 (1962), 1242–1256; Copenhaver 1978, 197–199.

723

Zur römischen Rezeption des Abhängigkeitstopos siehe Thraede, RAC 5 (1962), 1232–1233. Die eigene Posteriorität gegenüber den Griechen wurde akzeptiert, in der Regel aber abgemildert, vgl. Cic. Tusc. 1.1: sed meum semper iudicium fuit omnia nostros aut invenisse per se aut sapientius quam Graecos aut accepta ab illis fecisse meliora. Siehe dazu u. a. Worstbrock 1965 und die Beiträge in Vogt-Spira/Rommel 1999. Ein Kristallisationspunkt dieser Frage war die im 1. Jhd. v. Chr. intensiv diskutierte „Äolismus-These“, siehe dazu oben S. 306 f. Die Mimesis-Theorie war auch für Varros De gente populi Romani maßgebend, vgl. Serv. Verg. Aen. 7.176: […] ut Varro docet in libris de gente populi Romani, in quibus dicit quid a quaque traxerint gente per imitationem.

724

Einziger Beleg für diskursive Auseinandersetzungen innerhalb der Heurematographie ist die kurze Notiz in Plinius’ Index zum 7. Buch: Stratone qui contra Ephori εὑρήματα scripsit. Nach Wendling 1891, 69 bestand der Gegensatz darin, dass Ephoros als Urheber von Erfindungen Menschen oder Völker bezeichnet hatte, während die Peripatetiker als solche die Heroen angesehen hätten. Jacoby (FGrHist 70 F2–5 Komm. p. 41) glaubt, dass Ephoros barbarische, der Peripatos griechische Erfinder bevorzugt habe. Innerhalb philosophischer Diskurse bewegt sich Senecas Auseinandersetzung mit Poseidonius über die Art, wie Erfindungen zustande kämen (epist. 90.7–35).

725

Zu mythographischen Listen und ihren variablen Lesarten siehe Delattre 2021 mit weiterer Literatur.

726

Text und Kommentar bietet Van Rossum-Steembeek 1998, Nr. 70. Vgl. Delattre 2021, 101–103.

727

Eichholtz 1867, 6–9.

728

Für einen Überblick über die erhaltenen Kataloge auf Papyrus siehe Van Rossum-Steenbeek 1998, 119–163.

729

Ed. Delattre 2011 mit Einleitung und Kommentar. Aus der griechischen Kaiserzeit ist eine Fülle von paradoxographischen Schriften Über Flüsse (Περὶ ποταμῶν), Über Quellen (Περὶ κρηνῶν), Über Seen (Περὶ λιμνῶν), Über Berge (Περὶ ὀρῶν) und Über Steine (Περὶ λιθῶν) belegt, vgl. FGrHist cont. Part IV fasc. 2 (= FGrHist 1683–1693). Der im Titel zum Ausdruck gebrachte aitiologische Schwerpunkt hebt De fluviis aber von diesen Schriften ab.

730

Delattre 2011, 8–20.

731

Zur Aitiologie als textstrukturierendes Muster siehe Delattre 2011, 42–54; zur Mikrostruktur der Einträge Delattre 2017.

732

Delattre 2011, 24–30. Von den 46 aufgeführten Autoren sind 29 nur hier bezeugt. Seit der Erstedition durch Hercher 1851 gilt die Mehrheit als Erfindung eines „Schwindelautoren“. Siehe dazu Jacoby 1940. Brodersen 2022, 16–17 versteht die Schrift daher als eine im Stile von Lukians Wahre Geschichten gehaltene Parodie auf die kaiserzeitliche Wissensliteratur. Zur Frage nach der Funktion und Aussageabsicht der Schrift siehe die ausgewogene Diskussion in Delattre 2011, 54–68, vgl. auch Delattre 2016.

733

Zur wissensspezifischen Kulturpraxis des Sammelns und Auflistens in der Antike siehe u. a. Riggsby 2019; Kirk 2021.

734

Die Originalität solcher gelehrten Sammelleistungen wird von der Forschung tendenziell als gering veranschlagt, zumal vermeintlich Eigenständiges als invention of tradition oder als Ergebnis einer fragwürdigen Heuristik erscheint, die sich in aitiologischen und etymologischen Spekulationen ergeht. Kritisch zu Methode und Wissenschaftlichkeit der Heurematographie äußern sich Kleingünther 1933, 147; Thraede 1962, 173–175 und 183–184; Copenhaver 1978, 197; Zhmud 2006, 26–27 und 43. Ein solcher Deutungsansatz läuft aber Gefahr, den inhärenten Wahrheitsanspruch der Katalogform leichtfertig zu unterschlagen; als wissensgenerierendes und wissensselektierendes Ordnungssystem erschafft die „Verteilung gleicher und ungleicher Dinge nach ihrem zugehörigen Platz“ (parium disparium rerum sua cuique loca tribuens dispositio: Aug. civ. 19.13) nämlich eine eigene diskursive Wirklichkeit und fordert von seiner Intention her intersubjektive Sachlichkeit und Authentizität ein.

735

Die Heuremata-Kataloge von Tatian und Klemens, die weniger informieren als argumentativ überzeugen sollen, weisen daher nur vereinzelte (opportune) Mehrfacherklärungen auf, z. B. Clem. strom. 1.16.75.1: Κάδμος δὲ Φοῖνιξ ἦν ὁ τῶν γραμμάτων Ἕλλησιν εὑρετής, ὥς φησιν Ἔφορος, […] οἳ δὲ Φοίνικας καὶ Σύρους γράμματα ἐπινοῆσαι πρώτους λέγουσιν – in beiden Fällen handelt es sich um eine „barbarische“ Erfindung. Die spärlichen Fragmente der selbständigen Heuremata-Schriften lassen keine Mehrfacherklärungen erkennen, was nicht heißen muss, dass es sie nicht gab. Zum Phänomen der Mehrfacherklärungen siehe oben S. 50–52 und 110 f.

736

Zur hinter den erhaltenen Erfinderkatalogen stehenden Kompilationspraxis siehe Thraede 1962, 178–180 und 184–186.

737

Zum rhetorischen Topos der origo artis in der Fachschriftstellerei siehe Thraede, RAC 5 (1962), 1201–1204.

738

Aus der umfangreichen Spezialliteratur wurde auch im Folgenden nur in Auswahl zitiert.

739

Ed. Criniti 1981 – Literatur: Peter 1897, 130–131; Schanz/Hosius 3, 78–81; Criniti 1993; Hose 1994, 454–462; HLL 4 § 463.

740

Gran. Lic. 36.30–31: Sallusti opus nobis occurrit, sed nos, ut instituimus, moras et non urgentia omittemus; 28.22: multa mirabilia omittenda in his historiis existimavi, nec opplendae sunt huiusmodi cognitionibus chartulae.

741

Gran. Lic. 26.11–16 (Entstehung der römischen Heeresordnung); 28.10–13 (sakrale Stiftungen des Antiochos); 28.16 (atque alia mirabilia nuntiantur).

742

Serv. Verg. Aen. 1.737: […] nam apud maiores nostros feminae non utebantur vino, nisi sacrorum causa certis diebus. Denique femina, quae sub Romulo vinum bibit, occisa est a marito, Mecennius absolutus; id enim nomen marito. Sic Granius Licinianus Cenae suae.

743

Fragmente: HRR 2, 158–159 – Literatur: Münzer 1897, 353–356; Schanz/Hosius 2, 395; Bardon 2, 107–108; FRHist I, 640.

744

Fragmente: HRR 2, 94–95 – Literatur: Schanz/Hosius 2, 646–647; Bardon 2, 148–149; FRHist I, 635.

745

Lact. inst. 1.21.13: Pescennius Festus in libris historiarum per saturam refert Carthaginienses Saturno humanas hostias solitos immolare et, cum victi essent ab Agathocle rege Siculorum, iratum sibi deum putavisse; itaque ut diligentius piaculum solverent, ducentos nobilium filios immolasse.

746

Kroll, RE 19 (1937), 1086; FRHist I, 644.

747

Zu Claudius’ verlorenen Geschichtswerken siehe FRHist I, 509–513 mit weiterer Literatur; zu seiner Gelehrsamkeit im Licht der Quellen Huzar 1984; zur tabula Lugdunensis Jakobsmeier 2019 und Malloch 2020; zur claudianischen Schriftreform siehe oben S. 433–436.

748

Eine Fragmentsammlung fehlt – Literatur: Funaioli, RE I A 2 (1920), 2129–2131; Schanz/Hosius 3, 190; Bardon 2, 262–263; Champlin 1981; HLL 4 § 484., Nr. 3; Mastandrea 2012. Inwiefern der Titel der Schrift auf die u. a. bei Cicero erwähnten libri reconditi der römischen Auguren verweisen soll, ist unklar. Zu diesen Texten siehe Linderski 1985.

749

Macr. Sat. 3.17.4: De hac lege Sammonicus Serenus ita refert: lex Fannia, sanctissimi Augusti, ingenti omnium ordinum consensus pervenit ad populum […]. Möglich wären Lehrbriefe in der Art von Varros Epistolicae quaestiones, siehe oben Kap. 4.1.

750

Einen Überblick über das weite Feld des ethnographischen Schrifttums der Antike bietet Müller 1972–1980, dessen auf die Kaiserzeit bezogenen negativen Werturteile zu ignorieren sind; zur Interrelation zwischen geographischen und historiographischen Fragestellungen siehe u. a. Clarke 1999.

751

Siehe zur Stelle die Interpretation von Tracy 2014, 212 ff.

752

Vgl. Tac. Germ. 27.3: quae in commune de omnium Germanorum origine ac moribus accepimus, nunc singularum gentium instituta ritusque quatenus differant, quaeque nationes e Germania in Gallias commigraverint, expediam. Der vollständige Titel des Geschichtswerks des Pompeius Trogus lautete Historiae Philippicae et totius mundi origines et terrae situs.

753

Mehl 2001, 120.

754

Strab. 2.3.8: τοσαῦτα καὶ πρὸς Ποσειδώνιον· πολλὰ γὰρ καὶ ἐν τοῖς καθἕκαστα τυγχάνει τῆς προσηκούσης διαίτης, ὅσα γεωγραφικά· ὅσα δὲ φυσικώτερα, ἐπισκεπτέον ἐν ἄλλοις ἢ οὐδὲ φροντιστέον· πολὺ γάρ ἐστι τὸ αἰτιολογικὸν παραὐτῷ καὶ τὸ Ἀριστοτελίζον, ὅπερ ἐκκλίνουσιν οἱ ἡμέτεροι διὰ τὴν ἐπίκρυψιν τῶν αἰτιῶν.

755

Siehe dazu etwa Thümmel 1984; vorsichtiger ist Clarke 1999, 150–151. Poseidonios’ Ursachenergründung umfasste auch heuremata (Strab. 16.2.24 = Poseidonios frg. 285 Edelstein-Kidd: εἰ δὲ δεῖ Ποσειδωνίῳ πιστεῦσαι, καὶ τὸ περὶ τῶν ἀτόμων δόγμα παλαιόν ἐστιν ἀνδρὸς Σιδωνίου Μώχου πρὸ τῶν Τρωικῶν χρόνων γεγονότος.) und Gründungssagen (Strab. 3.5.5 = Poseidonios frg. 246 Edelstein-Kidd). Auf welche Schrift des Poseidonios sich diese Stellen beziehen, ist unklar. Unter den Testimonien und Fragmenten finden sich auch Etymologien (frgg. 24; 233 Edelstein-Kidd).

756

Überzeugend dargelegt von Clarke 1999, 245–293.

757

Vgl. Strab. 6.1.2; 12.3.1. Siehe Clarke 1999, 245–246.

758

Clarke 1999, 264–276.

759

Strab. 5.3.1: Κύρις δὲ νῦν μὲν κωμίον ἐστίν, ἦν δὲ πόλις ἐπίσημος, ἐξ ἧς ὥρμηντο οἱ τῆς Ῥώμης βασιλεύσαντες Τίτος Τάτιος καὶ Νουμᾶς Πομπίλιος· ἐντεῦθεν δὲ καὶ Κυρίτας ὀνομάζουσιν οἱ δημηγοροῦντες τοὺς Ῥωμαίους. Ein umgekehrter Fall liegt in 5.1.6 vor. Weitere Beispiele versammelt Clarke 1999, 275–276.

760

Zu diesem Muster in Strabon siehe Clarke 1999, 277, 280–281, 304–306.

761

Bischoff, RE 19, 727–728. Aus der Sicht der Archäologiegeschichtsschreibung war Pausanias „der größte unter den Antiquaren“ (Schnapp 2009, 55).

762

Zur Vergangenheitsorientierung siehe u. a. Habicht 1985, 93–117; differenzierter Arafat 1996, 43–79; Schreier 2017. Vgl. Hawes 2014, 190: „the Periegesis is both a tour of Greece and a journey back into its past, and these two aspects of the text cannot be dissociated from one another.“

763

Religion und Kult im Werk behandelt Pirenne-Delforge 2008; zu den zahlreichen Inschriften siehe Habicht 1985, 64–92; Zizza 2006.

764

Aitiologie, Etymologie und Genealogie als heuristische Denkfiguren bestimmen viele seiner Digressionen. Exemplarische Analysen bietet Lacroix 1991 und Lacroix 1994. Zur deskriptiv-erklärenden Funktion von Mythen innerhalb von Pausanias’ Erzählung siehe Hawes 2014, 189–190 sowie 194–212 zu seiner rationalisierenden Tendenz, die unter anderem dazu diente, „die Lücke zwischen mythischer Vergangenheit und physischer Gegenwart zu schließen“ (206).

765

Zu Pausanias’ Behandlung der römischen Kaiser und anderer euergetai seiner eigenen Zeit siehe Arafat 1996, 159–201.

766

Zur Lesart der Periegese als ein „verrätseltes, ‚kaschiertes‘ Lob und Tadel von Städten“ siehe Frateantonio 2009.

767

Zur hintergründigen Thematisierung griechischer (kultureller) Identität siehe Elsner 1992; zur kreierten „Erinnerungslandschaft“ Alcock 1996; zum nostalgischen Zeitgeist Boardman 2002. Ob Segmente der lokal- und kulturaitiologischen Fachliteratur Roms grundsätzlich vergleichbare Zielsetzungen verfolgten, ist nicht mehr zu eruieren. Zu mutmaßlichen antiquarisch ausgerichteten „Periegesen“ Roms (L. Cincius’ libri Μυσταγωγικῶν, Procilius und Annius Fetialis) siehe oben S. 246–248 und 316 f.

768

Zum Epochenprofil siehe König/Whitmarsh 2007, 3–39; vgl. auch König/Woolf 2013, 39–58; zur Lesekultur Johnson 2010; Johnson 2013 und Howley 2018; zum aktiven Einbezug des Leser Oikonomopoulou 2013, bes. 147–153; zur Poetik des Sammelns am Beispiel von Plinius und Gellius Beer 2020, 253–280.

769

Dies gilt auch für andere Bereiche, z. B. die mirabilia (7.6–32), denen Plinius ambivalent gegenübersteht.

770

Roth hatte nur diejenigen Zeugnisse aufgenommen, in denen Sueton namentlich genannt war, während Reifferscheid unter der (auch in der modernen Varro-Philologie verbreiteten) wirkungsgeschichtlichen Prämisse arbeitete, dass die spätere Tradition zum Thema auch dann auf Sueton basiere, wenn dieser nicht explizit als Quelle genannt war.

771

Einen konzisen Forschungsüberblick (mit dezidierter persönlicher Stellungnahme) bietet Schmidt 1991; verkürzt in HLL 4 § 404. Lit. 4., pp. 18–19. Die Titelvarianz der Zeugnisse (Singular-Plural) wird in der Regel zugunsten des frühesten Belegs, Gell. praef. 8 (est praeterea qui Pratum … inscripserit) entschieden. Vgl. Schmidt 1991, 3801–3802.

772

Sallmann, DNP 2 (1997), 1058.

773

Schmidt, HLL 4 § 404., p. 17.

774

Die Grafik stammt aus Schmidt 1991, 3806; der Rekonstruktionsversuch liegt auch seinem Beitrag in HLL 4 § 404 zugrunde.

775

Es lohnt sich aber in diesem Zusammenhang noch einmal einen nüchternen Blick auf die namentlichen Bezeugungen des Pratum und ihre kontextuellen Zusammenhänge zu werfen. Die spärlichen Zufallsnachrichten, die uns die Überlieferung beschert, stehen in einem schiefen Verhältnis zur rezeptiven Bedeutung, die der Schrift von der Spezialforschung generell beigemessen wird: Prisc. inst. 8.20 GL 2, 387, 2–4 (= frg. 114 Reifferscheid): Suetonius in VIII pratorum [codd. praetorum]: fasti dies sunt, quibus ius fatur, id est dicitur, ut nefasti, quibus non dicitur; Priscian, inst. 8.21 GL 2, 387, 23–388, 1 (= frg. 111 Reifferscheid): […] stipulare. Ecce hic active, Suetonius autem passive protulit in IIII pratorum [codd. praetorum]: Plaetoria [codd. Laetoria] quae vetat minorem annis viginti quinque stipulari (abermals in inst. 18.149 GL 3, 275, 14–16: Suetonius in IIII pratorum: minor viginti quinque annorum stipulari non potest passive dixit); Isid. nat. 38.1 (= frg. 152 Reifferscheid): De signis tempestatis vel serenitatis. Tempestas turbo est divini iudicii, sicut propheta ait: Deus in tempestate et in turbine viae eius. Serenitas autem gaudium est lucis aeternae. Signa autem tempestatum navigantibus Tranquillus in Pratis sic dicit: mutatio tempestatis expectanda est in asperius, cum in nocturna navigatione scintillat ad remos et ad gubernacula aqua; Isid. nat. 44.1 (= frg. 157 Reifferscheid): De nominibus maris et fluminum. In Pratis Tranquillus sic adseruit dicens: externum mare oceanus est, internum quod ex oceano fluit, superum et inferum quibus Italia adluitur. Ex his superum et Adriaticum dicitur, et Thuscum inferum. Hierher gehört auch eine Nennung in Gellius’ Katalog literarischer Vorläufer, insofern bei den zitierten Titeln an konkrete Autoren gedacht ist: Gell. praef. 6–8: Namque alii Musarum inscripserunt, alii Silvarum, ille Πέπλον, alius Ἀμαλθείας Κέρας […]. Est qui Memoriales titulum fecerit, est qui Πραγματικά et Πάρεργα et Διδασκαλικά, est item qui Historiae naturalis, et Παντοδαπῆς ἱστορίας, est praeterea qui Pratum […] inscripserit.

776

Pamphilos’ lexikographisches Handbuch, dessen Struktur (nach Sachbereichen? alphabetisch?; siehe dazu Wendel, RE 18.2 (1949), 337–340) keineswegs klar ist, kann von Schmidt (1991, 3802; HLL 4 § 404., p. 18) nur deshalb als Vorlage für Suetons Pratum erachtet werden, weil er den ersten in der Suda für Pamphilos bezeugten Werktitel Λειμών („Wiese“) mit einem Teil der älteren Forschung als Haupttitel der nächstgenannten Schrift auffasst. Dies ist allerdings problematisch (siehe Wendel, RE 18.2 (1949), 340–341; ferner Tosi, DNP 9 (2001), 215), vgl. Suda IV, π 142 p. 16 Adler: Πάμφιλος, Ἀλεξανδρεύς, γραμματικός Ἀριστάρχειοε. ἔγραψε Λειμῶνα ἔστι· δε ποικίλων περιοχή, Περί γλωσσῶν ἤτοι λέξεων βιβλία ϙε· ἔστι δὲ ἀπὸ τοῦ ε στοιχείου ἕως τοῦ ω· τά γὰρ ἀπὸ τοῦ α μέχρι τοῦ δ Ζωπυρίων ἐπεποιήκει. Εἰς τα Νικάνδρου ἀνεξήγητα καὶ τὰ καλούμενα Ὀπικά, Τέχνην κριτικήν, καὶ ἄλλα πλεῖστα γραμματικά. Der zweite Beleg, Athen. 14.650d–e, zitiert die Schrift als Περὶ γλωσσῶν καὶ ὀνομάτων.

777

So mit einem Teil der älteren Literatur Schmidt 1991, 2802 und HLL 4 § 404., p. 18. Der Titel ist nur einmal bezeugt, der Zusammenhang ist grammatisch: Char. gramm. 2 p. 307, 17–23 Barwick: Gaius Iulius Romanus de praepositionibus libro ἀφορμῶν ita refert. Suetonius Tranquillus de rebus variis ‚praepositiones‘ inquit ‚omnes omnino sunt Graece duodeviginti‘, qui numerus inter omnes criticos profecto convenit, nostras vero esse has: ab ad praeter pro prae prope in ex sub subter.

778

Serv. Verg. Aen. 7.612 (= frg. 165 Reifferscheid): ipse quirinali trabea Suetonius in libro de genere vestium dicit tria genera esse trabearum: unum dis sacratum, quod est tantum de purpura; aliud regum, quod est purpureum, habet tamen album aliquid; tertium augurale de purpura et cocco. Weitere mögliche Fragmente versammelt Reifferscheid 1860, 266–271.

779

U. a. Varro, De vita populi Romani frg. 44–49 Riposati (= 50–55 Pittà); ling. 5.113–114; Plin. nat. 8.194–197; Non. pp. 860–870 Lindsay (De genere vestimentorum); Isid. orig. 19.21–25.

780

Schmidt 1991, 3824.

781

Schanz/Hosius 2, 175–180 führt Gellius neben Sammonicus Serenus und Cornelius Labeo unter der Rubrik „Antiquare“; auch in HLL 4 wurde Gellius nicht unter die Kunstprosa der Zweiten Sophistik (§§ 453.–465.) aufgenommen, sondern der Rubrik „Antiquarische Literatur“ (§§ 407.–409.) zugewiesen. Differenzierter ist Stevenson 1993 und Stevenson 2004, der Gellius zur Schlüsselfigur für die Rekonstruktion des römischen Antiquarianismus erklärt, allerdings in seiner Analyse des Antiquarianismus kaum mehr als die Klischees der älteren Forschung wiedergibt. Zu Gellius’ allgemeiner Bedeutung für die Rekonstruktion von Varros antiquarischem Oeuvre siehe Smith 2016.

782

Unlängst wurde – mit beachtlichen Resultaten – die Emphase der wissenschaftlichen Lektüre von den berichteten Inhalten auf den berichtenden Rahmen gelegt. Vgl. etwa Anderson 2004; Howley 2018 und Beer 2020.

783

Gell. praef. 12: […] ipse quidem volvendis transeundisque multis admodum voluminibus per omnia semper negotiorum intervalla, in quibus furari otium potui, exercitus defessusque sum, sed modica ex his eaque sola accepi, quae aut ingenia prompta expeditaque ad honestae eruditionis cupidinem utiliumque artium contemplationem celeri facilique compendio ducerent, aut homines aliis iam vitae negotiis occupatos a turpi certe agrestique rerum atque verborum imperitia vindicarent.

784

Stevenson 2004, 123: „In short the Noctes Atticae represents a compendium of the sorts of things with which a man of affairs in the second century would be expected to be familiar.“

785

Zu Gellius’ auktorialer Selbststilisierung im Sinne einer römischen Kulturautorität im Zeitalter der Antonine sowie zu dem hinter den Noctes Atticae stehenden römischen Kulturprogramm siehe Keulen 2009, der allerdings das satirische Moment wohl zu stark pointiert.

786

Dies gilt natürlich nur bedingt für die zahlreichen Etymologien. Siehe dazu Cavazza 2004; Heusch 2011, 83–97.

787

Gell. 18.2.6: Quaerebantur autem res huiuscemodi: aut sententia poetae veteris lepide obscura non anxie, aut historiae antiquioris requisitio, aut decreti cuiuspiam ex philosophia perperam invulgati purgatio […], aut inopinati rariorisque verbi indagatio, aut tempus item in verbo perspicuo obscurissimum.

788

Steinmetz 1982, 239–291 zu Gellius und Apuleius („Belehrende Unterhaltung – unterhaltende Belehrung“). Zum Wettstreit als Bestandteil aristokratischer Konvivialkultur siehe Schwitter 2020 mit der einschlägigen Literatur.

789

Sen. dial. 19.13.1–6: Non sunt otiosi quorum voluptates multum negotii habent. Nam de illis nemo dubitabit quin operose nihil agant, qui litterarum inutilium studiis detinentur, quae iam apud Romanos quoque magna manus est. […] Ecce Romanos quoque invasit inane studium supervacua discendi. His diebus audivi quendam referentem, quae primus quisque ex Romanis ducibus fecisset: primus navali proelio Duilius vicit, primus Curius Dentatus in triumpho duxit elephantos. Etiamnunc ista, etsi ad veram gloriam non tendunt, circa civilium tamen operum exempla versantur; non est profutura talis scientia, est tamen quae nos speciosa rerum vanitate detineat.

790

So bereits Peter 1897, 108–158 („Die antiquarischen Studien und die Curiositas“). Die gegenwärtige Auffassung (Wissen als Selbstzweck mit unterhaltender Nebenfunktion) repräsentiert Stevenson 2004, 151–155.

791

Damit soll nicht gesagt sein, dass für die antiquarische Schriftstellerei die genannten Aspekte nicht auch relevant gewesen sein können. Es bedeutet lediglich, dass curiositas und Unterhaltungsabsicht nicht als Funktionsbestimmung des Antiquarianismus taugen. Auf der anderen Seite darf der Verlust der Gegenwartsdeutung in den Enzyklopädien der Kaiserzeit und der Spätantike auch nicht überbetont werden; das meiste, was Plinius, Solin oder Isidor an Informationen boten, hatte für die Leser durchaus noch eine aktuelle Orientierungsfunktion.

792

Vgl. Heusch 2011,11: „Manifestation des kulturellen Gedächtnisses der Antoninenzeit“.

793

Payen 2014 hat Plutarch als „Antiquar“ herausstellen wollen. Allerdings beruht seine Argumentation auf einem unreflektierten und klischierten Antiquarianismus-Begriff.

794

Vgl. Rose 1925, 48: „a series of selections from reading-notes.“ Einen Rekonstruktionsversuch der verlorenen Quaestiones barbaricae unternimmt Schmidt 2008.

795

Ein implizites Präferieren scheint gleichwohl erkennbar, siehe dazu Boulogne 1992, 4694–4698.

796

Gattungsfragen beleuchten u. a. Harrison 2000 und Oikonomopoulou 2013; zur doppelten Bezugnahme siehe Boulogne 1992, 4683.

797

Genannt werden auch lateinische Autoren: neben Cato, Cicero und Livius auch Varro, Nigidius Figulus und Antistius Labeo. Die Quellenfrage hat die ältere Forschung stark umtrieben, vgl. Thilo 1853; Leo 1864; Rose 1925, 11–45; jünger ist Van der Stockt 1987. Ein Konsens konnte bisher nicht erzielt werden; zu den grundlegenden Schwierigkeiten gehört die Beurteilung von Plutarchs Lateinkenntnissen.

798

Siehe dazu Boulogne 1992, 4690–4694.

799

Eine Differenzierung zwischen αἴτια („Grund“, „Motiv“) und αἰτίαι („Anfänge“) ist nur bedingt hilfreich, zumal bei Werken wie den Αἰτίαι φυσικαί der ursprüngliche Titel unsicher ist (Αἴτια φυσικά?). Eine Liste der „aitiologischen“ Schriften Plutarchs bietet Harrison 2000; zur Bedeutung der Aitiologie in seinem Werk siehe auch Grandjean 2008; zur grundsätzlich philosophischen Ausrichtung Meeusen 2022; zur „étiologie anthropologique“ in den Quaestiones Romanae Boulogne 1992, 4703–4707.

800

Die zusätzliche Differenzierung historischer Aitiologie-Typen, wie Grandjean 2008, 157 u. a. mit Blick auf Frage 101 vorschlägt (l’étiologie historique, étymologique, mythologique), erscheint mir für die vorliegende Argumentation unnötig, zentral ist die Vergangenheitsorientierung des Deutungsansatzes. Plutarch hat wie die Reihenfolge der Deutungshypothesen in 101 verdeutlicht (3 historische Aitien – 1 moralische Erklärung – 1 etymologische Erklärung – 1 naturkundliche Erklärung), allerdings klar zwischen aitiologischer und etymologischer Deutungsweise unterschieden.

801

So Scheid 2012, 177.

802

Während Rose 1924, 50–51 hinter der scheinbaren Ordnungslosigkeit die Ästhetik der variatio erkennen wollte, sieht Bolougne 1994, 87–88 die Heirat als Leitthema der Quaestiones Romanae an.

803

Scheid 2012, 180–228.

804

Scheid 2012, 208–209.

805

Scheid 2012, 218–221.

Citation Info

  • Collapse
  • Expand

Antiquarianismus in Rom

2. Jhd. v. Chr. - 3. Jhd. n. Chr.

Series:  Mnemosyne, Supplements, Volume: 484