Kapitel 7 Synthese

In: Antiquarianismus in Rom
Author:
Raphael Schwitter
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Antike Gesellschaften zeichnen sich durch eine Wertschätzung der Vergangenheit aus, die in allen kulturellen Bereichen zum Ausdruck kommt.1 So vielfältig wie die privaten und öffentlichen Räume, in denen man der Vergangenheit in ihren konkreten oder abstrakten Formen begegnete, so vielfältig waren auch die Medien, in denen und vermittels derer man sich mit der antiquitas auseinandersetzte. Gleiches gilt für die Vielzahl der Beweggründe und Motivationen, die zu einer vertieften Auseinandersetzung mit der Vergangenheit anregen und so zu ihrer narrativen Gestaltung, Bewertung und Sinnbildung führen konnten. Eines der grundlegenden Denkmuster, mit denen man sich in der griechisch-römischen Antike mit der Vergangenheit auseinandersetzte, indem man sie durch einen historisierenden Kausalrückschluss in der unmittelbaren Gegenwart verankerte, wurde in der vorliegenden Studie mit dem Begriff des Antiquarianismus benannt und anhand von Beispielen konkretisiert. Als Handlungspraxis manifestierte sich das beschriebene Phänomen, nämlich die kausale Rückbindung kontingenter lebensweltlicher Wirklichkeiten an die sie bedingenden historischen Ursprünge, in einem potentiell breiten Spektrum textueller Darstellungsformen, insofern variable Akteure innerhalb variabler Diskursfelder die in dieser Studie definierten antiquarischen Praktiken literarisch umsetzten. Als maßgebliche antiquarische Verfahrensweise wurde die Zeichenarchäologie bestimmt, wobei in regressiven Analyseverfahren mittels der Denkfiguren der Etymologie, Aitiologie und Genealogie die Gegenwart historisiert wurde. Die primordiale Gründungszeit wirkte auf die Gegenwart also nicht nur „in der reinen Form des Exemplum“,2 durch welche die eigene Frühzeit in die Lebenswelt eingeholt wurde, sondern auch über rationalisierbare Kausalprozesse, die das Fortwirken des Vergangenen im Gegenwärtigen nachvollziehbar machten.

Die Realisierung dieser Form der Wissensgenese war in der Antike ubiquitär; die Verschriftlichung der antiquarischen Fragestellung ist so alt wie die Literatur selbst. Allerdings nimmt Rom hier im Vergleich zu Griechenland nicht nur deshalb eine Sonderstellung ein, weil die Überlieferungslage eine ungleich schärfere Fokussierung erlaubt, sondern auch weil der tiefverwurzelte römische Traditionalismus eine konstante Vergegenwärtigung des Vergangenen in der einen oder anderen Weise zwangsläufig voraussetzte. Gleichwohl hatte es für die Mehrzahl der aufgezeigten Phänomene mutmaßlich griechische Vorläufer gegeben; ihr Einfluss auf den römischen Antiquarianismus bleibt aber letztlich spekulativ.

Eine Eingrenzung des Untersuchungsfeldes auf eine bestimmte Textgruppe, die antiquarische Monographie, anhand der sowohl die allgemeine Erkenntnisperspektive und -erwartung als auch das diskursive Funktionspotential antiker Herkunfts- und Ursprungsforschung erörtert und beschrieben werden konnten, schien sinnvoll und notwendig, um einer auf Kohärenz und Prägnanz bedachten wissenschaftlichen Betrachtung Genüge zu leisten. Zu diesem Zweck wurde zuerst die generische Beschaffenheit der „antiquarischen Fachschriftstellerei“ Roms bestimmt, als deren maßgebliche Signatur die Konvergenz historiographischer und fachwissenschaftlicher Traditionen herausgestellt wurde. Trotz der beachtlichen Bandbreite der Textualisierungsstrategien und -formen, die im Laufe der Zeit innerhalb der griechischen und römischen Literatur zur Aufspeicherung, Vermittlung und Ästhetisierung antiquarischer Wissensbestände zu Anwendung kamen, dominierten in monographischer Form gleichwohl die etablierten Literaturformate der expositorischen Wissensvermittlung, die sich primär durch eine systematisch-funktionale Form der Wissenserschließung auszeichnete. Die zeitliche Dimension war dabei nicht selten durch einen chronologischen Rahmen erfasst, der den behandelten Stoff im Sinne etappenweise erfolgender Innovationsschübe strukturierte.

Auf der Basis dieser methodischen und konzeptionellen Festlegungen erfolgte der literaturgeschichtliche Nachvollzug der als mehrstufiger Entwicklungsprozess herausgestellten Formierung einer monographisch gebundenen antiquarischen Fachliteratur. Die bewusste Begrenzung des Untersuchungsrahmens auf die Zeitspanne zwischen dem zweiten vorchristlichen und dem dritten nachchristlichen Jahrhundert orientiert sich zwar an der modernen literaturgeschichtlichen Periodisierung, ist aber insofern willkürlich, als das analoge Phänomen des jüdisch-christlichen Antiquarianismus bewusst ausgeklammert wurde.3 Die antiquarische Fachliteratur Roms entstand, indem im Laufe des zweiten und frühen ersten Jahrhunderts v. Chr. zunächst in den historisch arbeitenden Disziplinen der Rechtswissenschaft und der Grammatik antiquarische Wissensbestände zunehmend isoliert und in Form von Spezialschriften abgehandelt wurden. Im ersten Jahrhundert führte diese Entwicklung zum Prozess einer weitgehend disziplinsunabhängigen thematischen Ausdifferenzierung und literarischen Diversifizierung, was das Bedürfnis nach großen Synthesewerken weckte. Die Kaiserzeit führte den Diskurs auf hohem Niveau weiter, konzentrierte sich aber nach Ausweis der Fragmente und Testimonien überwiegend auf die Restrukturierung und Ästhetisierung sowie auf die enzyklopädische und poikilographische Einbindung und Neuordnung des gesammelten Wissens. Dass antiquarische Wissensbestände im letztgenannten Prozess gleichsam „entzeitlicht“ wurden, das heißt sich ihrer ursprünglichen präsentischen Orientierungsfunktion entledigt hatten, und somit als weitgehend dekontextualisiertes Bildungswissen neue Sinnpotenziale entfalteten, erwies sich als weiteres Kennzeichen dieser Epoche. Diese Entwicklung blieb folgewirksam: Die historisierende Gegenwartsdeutung war in den antiquarischen Fachtraktaten des Iohannes Lydos zwar in der funktionalen Ausrichtung noch erkennbar, doch wurden diese spezifischen Wissensbestände von Inhalten durchsetzt, die im Byzanz des sechsten nachchristlichen Jahrhunderts – vor der Folie der justinianischen Restaurationspolitik – das Bild einer längst verblichenen republikanischen Vergangenheit wiederaufleben lassen sollten.

Die einzelnen antiquarischen Fachschriften waren, soweit dies aufgrund der Überlieferungslage nachvollzogen werden konnte, mehrheitlich hybride Texte, in denen antiquarische Informationen in pragmatischer Weise semantisiert, das heißt als spezifisches kontextgebundenes Funktionswissen umgesetzt wurden. Die Autonomisierung antiquarischer Wissensbestände war also selten absolut, logisch begründete Ursprungsforschung verband sich häufig mit praktischer Wissensvermittlung. Einzig in Listen und Katalogen dürfte die Kodifizierung eines vordergründig anwendungsorientierten Wissens keiner unmittelbaren auktorialen Grundintention entsprochen haben. Gerade im öffentlich-rechtlichen Raum der Religion und der Staatsinstitutionen zeigte sich, dass die einzelnen Autoren konzeptionell häufig über die explikative antiquarische Ursprungsforschung hinausgingen und längere deskriptive Passagen einschalteten, in denen ein sachgebundenes (und zuvor vornehmlich mündlich tradiertes) Handlungswissen textlich verstetigt wurde. Auch im Bereich der lokalaitiologischen Forschung sind ähnliche Muster erkennbar, etwa wenn die Texte durch geographische und naturkundliche Details ergänzt oder anhand naturwissenschaftlicher Prinzipien strukturiert wurden. Nicht immer war daher leicht zwischen solchen Schriften zu scheiden, die als antiquarische Fachtexte vindiziert werden können, und solchen, in denen der Nachvollzug historisierender Kausalität hinter der Aufspeicherung herkömmlicher Traditionen zurücktrat. Zu letzterem Typ gehört nicht nur das astrologisch-parapegmatische Schrifttum der Antike, sondern auch die handbuchartigen Kompilationen bestimmter Sakraltechniken (etwa des Auguralwesens), welche die Dimension der Vergangenheit höchstens implizit enthielten.

Bewusst zögerlich angegangen wurde der Versuch einer zeitlich-funktionalen Kontextualisierung des antiquarischen Schrifttums innerhalb der behandelten Epochen. Am Beispiel Varros wurde die zeitgebundene Valenz des im modernen Forschungsdiskurs etablierten interpretativen Paradigma der identitätsstiftenden Erinnerung in Zeiten gesellschaftlicher Krisen vorgeführt, ohne dabei der Versuchung zu erliegen, die eingelösten Ergebnisse zu verallgemeinern und für das Phänomen des römischen Antiquarianismus generell in Anspruch nehmen zu wollen. Die oft behauptete Assoziation antiquarischer Fachliteratur mit den politischen Autoritäten, insbesondere mit Caesar und Octavian/Augustus, ist aus den Texten selbst jedenfalls nicht zu erschließen und nur über einen fallweise teils mehr, teils weniger plausiblen Indizienrückschluss möglich. Dasselbe gilt für die präsumptive kulturideologische Dimension dieses Schrifttums. Diskursive Zielsetzungen dieser Art wird es bei der historisierend-konstruierenden Rückprojektion von Kulturinstitutionen in eine mythisch-historische Frühzeit zweifellos gegeben haben und tiefergehende Analysen werden bei einzelnen Autoren gewiss zu entsprechenden Mutmaßungen über situative gesellschaftliche Wertvorstellungen, über das politische Selbstbewusstsein der Zeit sowie über individuelle Selbstwahrnehmungsmuster führen, doch fehlen für verallgemeinernde Aussagen letztlich schlichtweg die belastbaren Belege. Auch die augusteische Poesie kann als Quelle nur bedingt fruchtbar gemacht werden, da sie den Diskurs zwar fortträgt, diesen aber zugleich nach eigenen Zielvorstellungen modelliert und modifiziert.

Im Allgemeinen riet die trümmerhafte Überlieferungslage sowie die in einem gesonderten Kapitel skizzierten hochkomplexen Mechanismen von Wissensgenese und -tradierung ein methodisch reflektiertes und behutsames rekonstruktives Vorgehen an, was natürlich zwangsläufig zu weniger eindeutigen Ergebnissen führte, als man bei einem etwas pointierteren Ansatz hätte erwarten können. Dennoch wurde die untersuchungsleitende Fragestellung allein schon dahingehend erfüllt, dass – entgegen der gängigen klischierten Auffassung – aufgezeigt werden konnte, wie tief und in welcher medialen Vielfalt das antiquarische Modell als spezifische Form der Gegenwartsdeutung im antiken Vergangenheitsdiskurs verankert war. Dabei ist unter anderem deutlich geworden, dass gerade in Rom Debatten über Ursprünge häufig Debatten über Begründungen und Rechtfertigungen bestimmter gegenwärtiger Daseinszustände darstellten.

Auch wenn also das antiquarische Schrifttum Roms im Großen und Ganzen letztlich im Stand einer littérature inconnue verharren wird, bleibt dennoch zu hoffen, dass die vorliegende Grundlegung schon deshalb einen erkenntnisanregenden und -befördernden Beitrag zur lateinischen Literaturgeschichte leistet, weil sie den literaturgeschichtlichen Horizont des Antiquarianismus vom Korsett etablierter Deutungsmuster entbindet und seine Vertreter aus dem Gravitationsfeld forschungsgeschichtlich privilegiert behandelter Akteure, Epochen und Deutungsparadigen hinausführt.

1

Ker/Pieper 2014.

2

Hölscher 2001, 200.

3

Genealogie (z. B. Gn 4.1–5.32) und Aitiologie (dazu Childs 1963) sind bekanntlich große Themen der biblischen Schriften und die Kirchenväter haben in ihrer typologischen Auslegung durchaus antiquarische Praktiken angewandt.

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Antiquarianismus in Rom

2. Jhd. v. Chr. - 3. Jhd. n. Chr.

Series:  Mnemosyne, Supplements, Volume: 484