„Katholische Dunkelräume“ – Denkanstöße für eine historiographische Aufarbeitung

Eine Einleitung

In: Katholische Dunkelräume
Author:
Birgit Aschmann
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Von der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux erschien im Frühjahr 2020 ein Essay auf dem deutschen Buchmarkt. Der schmale Band trägt den Titel „Die Scham“. Es geht in diesem Buch nicht um sexuellen Missbrauch. Worum es geht, steht gleich im ersten Satz: „An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen.“1 Mehr als vierzig Jahre brauchte die Autorin, um jene Szene vom 15. Juni 1952 in diesen Satz verwandeln zu können. Dazwischen lag die Zeit „der Scham“. Das Ereignis, dem die damals Zwölfjährige ohnmächtig zusehen musste, teilte ihr Leben in eine Zeit davor und eine Zeit danach. Letztere bedeutete ein Leben in Angst, weil sie immer wieder fürchtete, dass sich die Szene wiederholen könnte. Umso bemerkenswerter, dass es gerade „die Scham“ ist, die über allem steht. Es begann die Zeit, so schreibt sie, „in der ich mich ununterbrochen schämen würde“.2

Schämen, weil sie nicht mehr das Gefühl hatte, dazuzugehören. Weder zur kleinbürgerlichen Welt ihres Heimatortes noch zur tief religiös getränkten Welt des katholischen Mädchenpensionats, in dem sie sich gerade durch schulische Leistung eine gewisse Position erkämpft hatte. „Wir gehörten nicht länger zu den anständigen Leuten […] ich war nicht mehr wie die anderen Mädchen in meiner Klasse. Ich hatte gesehen, was ich nicht hätte sehen sollen. Ich wusste etwas, was ich in der sozialen Unschuld der Privatschule nicht hätte wissen dürfen […] Ich hatte mich der Privatschule, ihrer Erstklassigkeit und Vollkommenheit, als unwürdig erwiesen. Von jetzt an lebte ich in der Scham“.3

Die Analogien, aber auch die Unterschiede zu dem Thema dieser Tagung liegen auf der Hand. Die emotionalen Folgen der traumatisierenden Gewalterfahrung gleichen sich: das Gefühl, mit einer nicht erzählbaren Erfahrung eingeschlossen und damit zugleich aus der vertrauten Ordnung herausgefallen und aus der Gemeinschaft der anderen ausgeschlossen zu sein.

Über vierzig Jahre nach diesem Erlebnis begibt sich die Autorin auf die Suche nach Erklärungsmöglichkeiten – und weist uns damit eine Richtung für historiographische Studien, welche die Bedeutung von sexuellem Missbrauch für Betroffene rekonstruieren möchten. Ernaux versucht als „Ethnologin ihrer selbst“ das – wie Clifford Geertz sagen würde – Bedeutungsgewebe zu entschlüsseln, in das sie in den 1950er Jahren eingespannt war. Gerade weil ihre Denk-, Verhaltens- und Fühlmuster so durch und durch katholisch geprägt waren, lohnt sich die Beschäftigung mit ihrem Text für unser Vorhaben. Schließlich kann er einen Eindruck davon vermitteln, was es für die Betroffenen und deren Familien bedeutet haben mag, wenn innerhalb eines ebenso tief katholischen Umfelds der 1950er Jahre, in der der Priester die göttliche Allmacht repräsentierte, die traumatisierende Gewalterfahrung von genau diesem ausging.

Was die Erfahrung sexuellen Missbrauchs durch Geistliche der katholischen Kirche für die Betroffenen bedeutet haben mag und welche systemischen Muster sich in dem Handeln von Tätern und Institutionen erkennen lassen, bedarf auch Jahre nach der Präsentation der MHG-Studie weiterer Aufarbeitung. Dieser Band möchte dazu einen Beitrag leisten.

Die hier präsentierten Beiträge beruhen auf den Vorträgen, die auf einer Tagung der Kommission für Zeitgeschichte am 8. und 9. Oktober 2020 in den Räumlichkeiten des Universitätsclubs in Bonn gehalten wurden. Im Kern verfolgte diese Tagung vier Ziele, die auch dem Sammelband zugrunde liegen.

I. Gesellschaftspolitische Verankerung der Thematik

Am 14. Januar 2010 begaben sich drei ehemalige Schüler des von Jesuiten geführten Berliner Canisius-Kollegs in das Büro des damaligen Rektors Klaus Mertes, SJ. Nach Jahren der Verdrängung hatten sie sich – ermutigt durch die internationalen Debatten über Missbrauch in der katholischen Kirche und forciert durch eine kontingente Begegnung mit einem der Missbrauchstäter – entschlossen, ihr Schweigen zu beenden.4 Klaus Mertes entschied sich während dieser Begegnung zu einer Haltung, die in der deutschen katholischen Kirche einen Paradigmenwechsel bedingte: „Ich glaube Ihnen“. Diese wenigen Worte hatten performative Folgen, schließlich nötigte diese Überzeugung zu Handlungen. Wer diesen Erzählungen Plausibilität attestierte, konnte nicht länger untätig sein. Der Schulleiter schrieb am 19. Januar 2010 einen Brief an sämtliche ehemalige Schüler, in dem er nach ähnlichen Erfahrungen fragte. Keine zehn Tage später war die Sache national und international zum Gesprächsstoff geworden: Am 28. Januar 2010 berichtete die Berliner Morgenpost darüber, am Tag danach war der Brief im Berliner Tagesspiegel abgedruckt.5 Im Kontext der Aufmerksamkeit, die dem Thema plötzlich gewidmet wurde, meldeten sich zahlreiche Betroffene, die an diesem Gymnasium, aber auch an anderen Schulen missbraucht worden waren. Die Intensität, mit der die Öffentlichkeit auf die Berichte reagierte, wurde als „Medien-Hype“ bezeichnet.6 Seitdem ist die Debatte über Ursachen, Dimensionen und Folgen des Missbrauchs Minderjähriger durch Repräsentanten der katholischen Kirche nicht abgerissen. Die Zahl von 3 677 missbrauchten Kindern und von 1 670 Tätern, die im Rahmen der 2018 vorgestellten MHG-Studie ermittelt werden konnten, wird durch seitdem angestoßene Folgeprojekte immer wieder nach oben korrigiert.7 Hochrechnungen gehen von einem Dunkelfeld von bis zu 100 000 derartigen Übergriffen seit 1945 aus.8

Ziel der vorliegenden Publikation ist es daher, das Thema erneut ins Zentrum zu rücken und durch einen Perspektivwechsel weiter Licht in diese „Katholischen Dunkelräume“ zu bringen. Dem Duden zufolge ist ein Dunkelraum ein „(zu unterschiedlichen Zwecken) völlig abgedunkelter, meist fensterloser Raum“.9 Die „Zwecke“ sind in diesem Fall: Übergriffe bzw. Misshandlungen von Kindern und Jugendlichen zur Befriedigung sexueller Begierden und/oder des Wunsches, Macht auszuüben. Dabei ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass es verschiedene „katholische Dunkelräume“ gibt, die mit unterschiedlichen Fragen adressiert werden müssen. Da ist erstens der eigentliche Tatort, an dem sich die Taten abgespielt haben, deren Details es jetzt aufzuklären gilt. Darüber hinaus gibt es zweitens die Institution Kirche, die insofern ein eigener „katholischer Dunkelraum“ ist, als ihre Repräsentanten bemüht waren, möglichst wenig von den Vorfällen an das Licht der Öffentlichkeit kommen zu lassen. Drittens muss nach dem Schicksal der Opfer gefragt werden, die nach ihren traumatisierenden Erfahrungen oftmals aus ihren eigenen, individuellen dunklen Räumen nicht herauskamen, die von düsteren Erinnerungen bedrängt waren, die sie zu verdrängen suchten und die ihr Leben gerade dann erschweren konnten, wenn sie kognitiv den Zusammenhang mit dem Missbrauch gar nicht herstellten. Als vierter Dunkelraum muss „die Gesellschaft“ in den Blick genommen werden, die für das Leid der Kinder so lange keinen Blick hatte. Missbrauch lag lange im toten Winkel von Öffentlichkeit, Politik, Medien und Wissenschaft.10

Daraus erklärt sich nicht zuletzt der so dürftige Forschungsstand in der Historiographie. Hier gilt es einiges nachzuholen. Die Publikation möchte dazu beitragen, das Thema weiter in die Mitte der Gesellschaft zu rücken, um deutlich zu machen: Es ist nicht vorbei, und es geht uns alle an.

II. Ausloten neuer interdisziplinärer Blickwinkel

Das Neuartige der hier vorgestellten Blickrichtung ist vor allem das interdisziplinäre Setting. Vertreter von Psychologie, Psychiatrie und Pädagogik arbeiteten schon seit geraumer Zeit – in wechselnden Konstellationen – mit Betroffenen und Vertretern der Kirche zusammen, um den Dimensionen und Ursachen des Missbrauchs nachzugehen und Präventionsmöglichkeiten auszuloten.

Neu aber ist die Kombination dieser Wissenschaften mit der Historiographie. Die Mitglieder der Kommission für Zeitgeschichte waren durch die naheliegende Frage herausgefordert, was die Historiographie bzw. Kirchengeschichte zur Aufarbeitung dieses Kapitels einer deutschen Gesellschaftsgeschichte beitragen kann. Dass Historiker:innen dabei das Gespräch mit Vertreter:innen aus Psychologie, Psychiatrie, Pädagogik und der Rechtswissenschaft suchen, hat zwei Gründe. Zum einen haben diese Disziplinen einen forschungsgeschichtlichen Vorsprung. Setzen sie sich doch seit einigen Dekaden mit der Thematik des sexuellen Missbrauchs auseinander und waren direkt oder indirekt an der bisherigen Ausleuchtung der katholischen Dunkelräume beteiligt, nicht zuletzt an der Erstellung der MHG-Studie.

Ein zweiter Grund, warum Historiker:innen die Nähe zu den anderen Disziplinen suchen, liegt in der Herkunft ihrer Quellen. Wer sich mit dem sexuellen Missbrauch in der Vergangenheit auseinandersetzen will, ist auf Quellen aus dem medizinischen, juristischen und pädagogischen Bereich angewiesen. Schließlich weiß man vom sexuellen Missbrauch früherer Zeiten nur deshalb, weil Missbrauch (u.a. durch Geistliche) vor Gericht verhandelt und von Medizinern und Pädagogen als Fachgutachtern dokumentiert worden ist oder weil sich Repräsentanten dieser Fächer in wissenschaftlichen Texten zu der Problematik äußerten.

III. Aufspüren des katholischen Spezifikums

Über den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche ist in den zurückliegenden Jahren besonders intensiv diskutiert worden. Gleichwohl besteht kein Zweifel daran, dass andere Institutionen oder Sportvereine nicht minder davon geprägt sind und dass sich die meisten sexuellen Übergriffe auf Kinder im direkten familiären Umfeld ereignen.11 Dabei geht es bei der Analyse des Missbrauchs in den „katholischen Dunkelräumen“ nicht um ein quantitatives „mehr oder weniger schlimm“. Vielmehr steht die Frage im Raum, ob sich signifikante Unterschiede in den verschiedenen „Teilsystemen“ nachweisen lassen. Was ist dann aber das Spezifikum der „katholischen Dunkelräume“ bzw. was ist der – wie Klaus Mertes es genannt hat – „katholische Geschmack“?12 Es wäre anmaßend, anzunehmen, dass die Unterschiede innerhalb einer Tagung oder eines Sammelbandes hinreichend analysiert werden könnten. Dennoch liegt der Tagung und der Publikation die Absicht zugrunde, genau diesen Differenzen nachzugehen. So gilt es – nach den einführenden Beiträgen zur historiographischen Kontextualisierung – immer erst Phänomene des Missbrauchs aus der Perspektive von Recht, Pädagogik und Psychiatrie in den Blick zu nehmen, bevor der Fokus auf die spezifisch katholischen Kontexte gerichtet wird. Dabei sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede, aber auch Verflechtungen zwischen den Bereichen zu erwarten.

Zu den katholischen Spezifika gehört offenbar insbesondere die Lebensform der Priester. „Einsamkeit“, so begründete einst der Münchener Kardinal Faulhaber das Fehlverhalten seines Klerus in den Zeiten des Nationalsozialismus. Dieses Gefühl verweist zugleich auf sexuelle Verhaltensformen. Bezeichnenderweise spielen die spezifisch katholischen Merkmale nicht nur eine Rolle bei der Frage nach den Tätern. Die an der Tagung teilnehmenden Betroffenen reflektierten darüber, ob womöglich schon in ihrer „Katholizität“ eine Disposition für die Möglichkeit ihrer Ausbeutung gelegen habe. „Wurden wir Opfer, weil wir katholisch sind?“, fragte Matthias Katsch. Das verweist auf systemische Zusammenhänge, in die die Betroffenen ihrerseits eingebettet waren. Entsprechend war womöglich das Regime der Sprachlosigkeit, welches durch autoritäre Hierarchien, durch die „Gesetze“ einer Pastoralmacht begünstigt wurde, das entscheidende Element. Bedingt durch die Denk- und Sprachverbote, die aus der katholischen Sexualmoral hervorgingen, entwickelte sich ein kollektives intellektuelles Unvermögen, Phänomene des Sexuellen schon terminologisch in den Griff zu bekommen. Das führte zwangsläufig dazu, dass Kinder keine Sprache hatten, keine Begriffe, mit denen sie das, was passierte, hätten beschreiben können. Eltern waren ebenso hilflos und in dieser Ohnmacht eher bereit weg- als hinzusehen. Von Klerikern kam schon deshalb keine Hilfe, weil sie spätestens mit der Enzyklika „Humanae vitae“ die Differenzierungsfähigkeit verloren hatten. Sie waren nicht mehr in der Lage, zwischen „normalen“ und „abjekten“ Sexualpraktiken zu unterscheiden, weil alles verwerflich war, was nicht als ein ehelicher Akt in Zeugungsabsicht erschien. Eine Sexualmoral, welche bereits die Nutzung von Verhütungsmitteln verteufelte, bot keine Sprache mehr für den Missbrauch Minderjähriger.13

IV. Potentiale des historiographischen Zugangs

Die Diözesen Münster, Paderborn und Würzburg haben die Aufarbeitung des Missbrauchs in ihren Bistümern inzwischen in die Hand von Historiker:innen bzw. Kirchenhistoriker:innen gelegt, während andernorts Jurist:innen, Soziolog:innen oder Mediziner:innen die Unterlagen sichten. Umso berechtigter ist die Frage, was die Historiographie – gerade auch im Vergleich mit anderen im Kontext der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs involvierten Disziplinen – leisten kann. Diese Frage ist zumal für die Kommission für Zeitgeschichte von besonderer Bedeutung und war daher leitend für die Konzeption von Tagung und Publikation.

Letztlich sind es zwei Aspekte, die als das spezifische Potential der Historiographie hervorgehoben werden müssen. Zum einen haben Historiker:innen Erfahrung bei der Grundlagenforschung, also bei der Klärung dessen, was bzw. wie es „eigentlich gewesen ist“ (Leopold von Ranke). Für diese Rekonstruktion und Aufklärung wäre „Aufarbeitung“ der passende Begriff, wie er z.B. in der Historiographie zur DDR von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur verstanden wird. Historiker:innen haben dabei einen anderen Blickwinkel als Juristen, geht es ihnen doch weniger um die Klärung rechtlicher Fragen bzw. die Feststellung von individueller Schuld als justiziabler Kategorie. Historiker:innen suchen vorzugsweise nach systemischen Zusammenhängen. Im Umgang mit biographischen Schilderungen stehen weniger die Erfahrungen eines spezifischen Individuums im Vordergrund als vielmehr die Frage, ob die konkreten Erfahrungen als „typisch“ und damit repräsentativ für eine Gruppe gelten können. Jenseits des vom Aufklärungsgestus getragenen Wunsches, „Ross und Reiter“ zu benennen, fällt es Historiker:innen daher leichter, die in den Quellen hervortretenden Protagonisten zu anonymisieren.

Doch das eigentliche Potential der Historiographie geht über die Kompetenz, „Fakten und Fälle“ minutiös aufzuklären, weit hinaus. Schließlich möchte sie vor allem einen Beitrag zur Deutung der Ereignisse leisten. Dafür ist es nötig, erstens Phänomene innerhalb von Strukturen langer Dauer, also diachron zu verorten, zweitens derartige Ereignisse innerhalb eines zeitgenössischen Kontextes, also synchron, exakt zu situieren, und drittens ist es nötig, an die Projekte methodenbewusst heranzugehen.

Ad 1) Die Verortung in Strukturen langer Dauer

Dass für eine Tagung, deren Fokus auf der Analyse des Missbrauchs während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lag, auch Beiträge zum Nationalsozialismus von Relevanz sind, mag auf den ersten Blick irritieren. Letztlich aber müsste der historische Blick sogar noch weiter zurückgehen. Schließlich zeigt sich gerade bei Phänomenen der Gegenwart immer wieder, dass ein Vergleich mit analogen Strukturen aus dem 19. Jahrhundert neue Verstehenshorizonte eröffnet – so wie auch andersherum die Vergangenheit mit Kenntnissen der Gegenwart neu verstanden werden kann. Dies bestätigen aktuell reaktivierte Frömmigkeitsformen ebenso wie der gegenwärtige Umgang mit längst für vergangen gehaltenen Seuchen.14

So ist es nicht uninteressant zu wissen, dass schon 1832 anlässlich der Debatte um den „Findling“ Kaspar Hauser über die Einführung eines Straftatbestandes „Verbrechen am Seelenleben“15 diskutiert wurde. Die Misshandlung von Kaspar Hauser wurde unter der Kategorie „Raub eines Lebensabschnitts“ diskutiert. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass sich die 2019 als erste in Spanien gegründete Selbsthilfegruppe der von sexuellem Missbrauch Betroffenen den Namen Asociación Infancia Robada (Vereinigung geraubte Kindheit) gab.16 Allerdings trat dieses Denkmuster bald wieder aus der Debatte des 19. Jahrhunderts zurück, um erst im 20. Jahrhundert erneut Aufmerksamkeit zu finden.

Die Aufmerksamkeitskurven für sexuellen Missbrauch lassen erkennen, dass es immer wieder Konjunkturen des Redens über dieses Thema gab. Bei näherer Betrachtung wird schnell deutlich, dass nicht nur um 2010 ein „Skandal“ vorlag. Der Begriff beschreibt ein Medienereignis, bei welchem ein vorangegangener Normbruch von einzelnen Personen problematisiert wird, woraufhin sich öffentliche Empörung entwickelt.17 Damit fallen der Zeitpunkt des Tabubruchs und der Zeitpunkt der Skandalisierung oftmals weit auseinander. So hat es beispielsweise schon in den 1990ern in der Frankfurter Rundschau Hinweise auf sexuellen Missbrauch in der Odenwald-Schule gegeben. Eine Erregungsdynamik, wie sie für einen „Skandal“ nötig ist, lösten erst die Informationen im Anschluss an die Offenlegung der Ereignisse am Canisius-Kolleg aus. Dabei scheint es eine bezeichnende Korrelation von öffentlicher Erregungsbereitschaft und wissenschaftlicher Metareflexion zu geben. Jedenfalls erschienen just um 2010 verschiedene historische Bücher zur Skandalforschung.18 Diese unterscheidet zwischen politischen Skandalen, Finanzskandalen (Korruption) und Sex-Skandalen. Letzteren wohnt offenbar besondere Erregungskraft inne – zumal, wenn es sich um Priester, Mönche und Nonnen als Täter oder Opfer handelt. Schließlich finden sich hier gleich mehrere Normen eklatant verletzt: die Verhaltensregeln des Klerus und die Moralvorstellungen des Bürgertums. Dies zeigte sich bereits am Ausgang des 18. Jahrhunderts, als sich die Öffentlichkeit über die Gattung des Klosterromans erregte. Angestoßen von Denis Diderots Roman „La Religieuse“ wurden in derartigen Schriften vielfältige sexuelle und moralische Aberrationen hinter Klostermauern genüsslich vorgeführt.19 Rund einhundert Jahre später erlebte eine solche Skandalisierung eine neue Konjunktur. Am Ende des 19. Jahrhunderts mutierte der Topos vom pädophilen Priester zur bevorzugten Munition antiklerikal gesonnener Akteure in den europäischen Culture wars in Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland.20 Schnell wird deutlich, dass es damals nicht vornehmlich um eine Aufklärung zeitgenössischer Dunkelräume bzw. den Schutz von Kindern ging, sondern vielmehr um die Tauglichkeit des Topos für die eigene Kampagne. In der Literatur ist die Rede vom „Kampagnenpotential“21 sexuellen Missbrauchs. Letztlich erwies sich diese Instrumentalisierung für die Opfer als kontraproduktiv: Auf die Dämonisierung von Seiten der Antiklerikalen folgte reaktiv die Bagatellisierung der Missbrauchstaten auf Seiten der Katholiken. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts provozierte die Kampagne eine Gegenbewegung, welche die Glaubwürdigkeit der Opfer in Frage stellte. Der Zweifel an Opfererzählungen war umso langlebiger, als er von zeitgenössischen pädagogischen Auffassungen über die Vulnerabilität des Kindes gestützt wurde. Es verfestigte sich die Ansicht, dass die Aussagen von Kindern und Jugendlichen prinzipiell unglaubwürdig seien.22

Die Dialektik von Dämonisierung und Banalisierung hatte im Übrigen langfristige Folgen: nicht nur für die NS-Zeit, sondern auch noch für die hauseigene Historiographie der Kommission für Zeitgeschichte. Dies zeigt Hans Günter Hockerts in seinem Beitrag, in dem er auf seine Dissertation aus dem Jahr 1969 zurückkommt. Darin hatte er sich mit den Priesterprozessen im Nationalsozialismus auseinandergesetzt und sie im Denkhorizont der damaligen Zeit hauptsächlich als gezielte, antikirchliche Propaganda des Nationalsozialismus beschrieben. Die Relevanz des tatsächlichen Phänomens und die Frage nach den Opfern fehlten hingegen. Sein von neuem auf das frühere Werk gerichteter Blick ist ein Paradebeispiel wissenschaftsgeschichtlicher Metakritik, die deutlich macht, wie bedeutende Sachverhalte für lange Zeit in toten Winkeln auch der Wissenschaft unbeachtet bleiben.

Welche Themen von der Historiographie untersucht werden, hat auch mit methodischen Präferenzen des Faches zu tun. Im Verlauf des historiographischen Methodenwechsels gab es immerhin ein kurzes window of opportunity für die Thematik: So liegt von Tanja Hommen eine Dissertation aus dem Bereich der Körpergeschichte vor, die sich Ende der 1990er Jahre den „Sittlichkeitsverbrechen“ im Kaiserreich widmete und – wenn auch nur auf zehn Seiten – dem sexuellen Missbrauch durch Lehrer und Priester nachging.23 Eine konstruktivistische Kulturgeschichtsschreibung wiederum, die – wie Manuel Borutta – ausschließlich nach Diskursen fragte, räumte der Frage, ob und wenn ja, wie viele Minderjährige damals tatsächlich sexuellen Missbrauch durch Priester erlebten, keinen großen Raum ein. Die kulturgeschichtliche, konstruktivistische Diskursgeschichte tendierte offenbar besonders dazu, die Opfer realer Gewalthandlungen verschwinden zu lassen. Gleichwohl wird auch bei einer derartigen Skandalgeschichte deutlich, dass sich die früheren „Skandale“ signifikant von jenen um 2010 unterschieden. Es wäre lohnenswert, die verschiedenen Skandalisierungsphasen systematisch miteinander zu vergleichen, um der Frage nachzugehen, worin die Differenz begründet liegt.

Ein weiterer Grund, die Dimension langer Dauer für eine Historiographie des Missbrauchs hinzuzuziehen, besteht in der Kontinuität bestimmter Deutungs-, Wahrnehmungs- und Fühlmuster. Hier spielt das 19. Jahrhundert eine – nur ansatzweise aufgearbeitete24 – Schlüsselrolle, weil erstens sexuelle Gewalt gegen Kinder international in den Fokus wissenschaftlicher Betrachtungen geriet – u.a. durch den französischen Gerichtsmediziner Auguste Ambroise Tardieu, der sich erstmals intensiv mit betroffenen Kindern beschäftigte und über Symptome publizierte; den deutschen Gerichtsmediziner Johann Ludwig Casper, der 1852 schon über „sehr zahlreiche […] Fälle“25 berichtete, oder den Psychiater und Rechtsmediziner Richard von Krafft-Ebing, der den Begriff paedophilia erotica prägte.26 Zweitens wurden jetzt juristische Pflöcke eingeschlagen und drittens mentale Deutungen bezüglich des sexuellen Missbrauchs grundgelegt. Das lässt sich schon beim Strafrecht erkennen, dessen Abschnitt 13 (Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit) des Reichsstrafgesetzbuches von 1871 weitgehend mit den Passagen des heutigen Strafrechts (§ 174 und 176) übereinstimmt. Allerdings wäre zu fragen, was die explizite Erwähnung von Geistlichen im Reichsstrafgesetzbuch bedeutete und warum die explizite Nennung dieser Personengruppe später wegfiel.

Von langfristiger Wirkung dürfte auch bei den Einstellungen gegenüber betroffenen Kindern auszugehen sein. Dass seit der Weimarer Republik an der Zuverlässigkeit der kindlichen Aussage besonderer Zweifel angemeldet wurde, dürfte Eltern und Kinder von Anzeigen abgehalten haben. Ebenso abschreckend wirkte der Umstand, dass missbrauchte Kinder fortan als „beschmutzt“, „entehrt“, „geschändet“ galten – und ihre Familie gleich mit.27 Zudem wurden die „moralisch Verdorbenen“ als Gefahr betrachtet, welche schließlich auch ihre Umgebung infizieren könnte.28

Schon die Gewaltpraxis in der regulären Erziehung, die damals gang und gäbe war, wurde zumindest von einzelnen problematisiert; für die Vielzahl von Selbstmorden von Kindern und Jugendlichen zu Beginn des Jahrhunderts fehlen noch Erklärungen. Fakt aber ist, dass in dieser Zeit zahlreiche Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder zur Anzeige gebracht wurden und dass insgesamt Sexualvergehen gegen Kinder bei einer hohen Dunkelziffer als „sehr häufig“ eingeschätzt wurden.29 Erkennbar ist, dass sexueller Missbrauch auch damals schon junge Menschen aus der Bahn warf, sie depressiv werden und Selbstmordgedanken hegen ließ.30 Auch die Problematik charismatischer Pädagogen spielte seit der Weimarer Republik eine Rolle: Die Erlösung von einer brutalen Prügelpädagogik in reformpädagogischen Einrichtungen stellte sich als Falle heraus, wenn der pädagogische Eros in Pädophilie umschlug, nicht nur in der Odenwaldschule in den 1970er und 1980er Jahren, sondern schon in Reformeinrichtungen während der Weimarer Republik.31 Hinter der „Kameradschaftlichkeit“ von Reformpädagogen verbarg sich offenbar nur eine subtilere Hierarchie, wurden doch hier wie dort die Zöglinge zu einer „unbedingten“ Hingabe, zu „unbedingtem“ Vertrauen genötigt.32

Ad 2) Einordnung in einen breiten Kontext

Dabei muss eine Historiographie auf dem neuesten Stand nicht nur die großen Kontinuitätslinien, sondern ebenso die Veränderungen (in Institutionen, Handlungen und Wahrnehmungen) herausarbeiten. In welchen Kontexten war der sexuelle Missbrauch erleichtert oder erschwert? Welche Kontexte ermöglichten oder erschwerten die Geheimhaltung in der Institution? Welche Kontexte erleichtern oder erschweren es Betroffenen, ihre Geschichte zu erzählen?

Annie Ernaux hat in ihrer Erzählung den Kosmos der 1950er Jahre rekonstruiert. Ähnlich müssen Historiker:innen versuchen, Schichten der Deutungs-, Handlungs- und Fühlmuster herauszupräparieren. Dazu zählen zeitgenössischer Wertewandel, Einstellungen in Theologie, Justiz und Medizin ebenso wie politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Die Gesellschaft der 1950er und 1960er Jahre unterschied sich schon mit Blick auf die Einstellung zur Sexualität signifikant von der der 1970er und 1980er Jahre – das hat Einfluss auf Praktiken und Deutungen von Missbrauch.

Ebenso ist es ein Unterschied, ob sich Missbrauch in Diktaturen oder Demokratien ereignete. So bleibt beispielsweise auffällig, wie wenig Missbrauchsfälle aus Spanien gemeldet wurden, obgleich davon auszugehen ist, dass die Fallzahlen denen in anderen Ländern nicht nachstehen. Erklärt wurde die Zurückhaltung mit der Diktatur, die in der Nachkriegszeit derart eng mit der Kirche verbunden war, dass es ausgeschlossen schien, gegen Priester vorzugehen.33 Aber selbst nach Francos Tod hielten sich Betroffene zurück. Der allgemeine Wunsch nach Versöhnung im Übergang zur Demokratie führte dazu, dass Klagen über Missbrauchsfälle für nicht willkommen erachtet wurden. Mit Blick auf die deutsche Gesellschaft ist daher zu fragen: Welche Folgen hatte eigentlich das politische System in der DDR für die Art und Weise, mit Missbrauch umzugehen? Gab es hier eine andere „Grammatik“ als im demokratischen Westen? Worin unterschied sie sich? Spannend ist das für diejenigen Diözesen, deren Gemeinden sowohl auf bundesrepublikanischem als auch ostdeutschem Territorium lagen.

Ad 3) Methodische Reflexion

Studien zum sexuellen Missbrauch sind schon deshalb komplex anzulegen, weil sie einen multiperspektivischen Fokus verlangen. Mindestens vier unterschiedliche Akteure bzw. Akteursgruppen müssen im Blick behalten und aufeinander bezogen werden: Täter, Opfer (Betroffene), „die Gesellschaft“ und die „Institution Kirche“.

Darüber hinaus sind nicht nur die Objekte vielfältig, sondern auch die methodischen Zugänge. Zahlreiche Perspektiven müssen klug integriert werden, geht es doch gerade hier um eine Verbindung von Politik und Privatem. So gilt es nicht nur, Denkmuster aus Psychologie, Medizin und Theologie zu vergegenwärtigen, sondern auch Ansätze der Gendergeschichte, der Sexualitäts- und Gewaltgeschichte aufzunehmen. Dabei wäre wiederum die historiographische Sexualitäts- und Gewaltgeschichte gut beraten, ihrerseits die Thematik Kindesmissbrauch zu beachten. Zumindest scheint es eine verpasste Chance, wenn das Hamburger Institut für Sozialforschung 2018 ein Heft zu Sexualität und Gewalt herausbringt, ohne dem sexuellen Missbrauch an Kindern ein Kapitel zu widmen.34

Welche religiösen Deutungsmuster dienten der Legitimierung des Missbrauchs? Welche Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder spielen als Ermöglichungsfaktoren eine Rolle? Welche Erfahrungen und Erwartungen – hetero- und homosexuelle – an Sexualität? Welche Rolle spielt dabei der Zölibat, entweder weil er zu Ersatzhandlungen animiert oder weil er dazu führt, dass sich Männer mit entsprechenden Persönlichkeitsprofilen (Stichwort „unreife Sexualität“) entscheiden, Priester zu werden? Welche Rolle spielt die kirchliche Doppelmoral, die einerseits Homosexualität stigmatisiert und andererseits um die Vielzahl von Homosexuellen in den eigenen Reihen weiß? Welche Diskurse und welche Kulturen des Beschweigens fördern sexuelle Handlungen? Welche strukturellen und situativen Momente ermöglichten Gewalt? Welche Art Macht wurde ausgelebt? Welche Sexualmacht dadurch, dass „Manipulationen“ (so der Ausdruck u.a. in der Limburger Studie) an den Kindern vorgenommen wurden und sie auf diese Weise in Interaktionsspiele hineingezwungen wurden? Welche Gefühle spielten dabei eine Rolle?

Eine Geschichte des Missbrauchs ohne Berücksichtigung von emotionsgeschichtlichen Aspekten bleibt vermutlich unzureichend. Schließlich sind Emotionen essenzieller Bestandteil des Machtgefälles. Gerade anhand ihrer Emotionen lassen sich Täter und Opfer, die Institution und Repräsentanten der „Gesellschaft“ gut differenzieren. Die Lust des Täters ist eine kategorial andere als die erzwungene Erregung beim Opfer; dessen Angst vor Wiederholung ist nicht vergleichbar mit der Angst des Täters vor Aufdeckung der Tat oder der Angst von Bischöfen, dass die Institution Schaden nehmen könne. Angst selbst ist vielfältig35: Angst prägt die emotionale Erfahrung, wird geschürt als Herrschaftsinstrument, um Betroffene zum Schweigen zu bringen und versiegelt die Dunkelräume als Angst um die Institution. In diesem Ensemble höchst wirksamer Emotionen müsste auch anderen Gefühlen nachgegangen werden. Von besonderer Bedeutung ist die Scham. Scham, so die Emotionshistorikerin Ute Frevert, „ist ein Gefühl ungeheurer Wucht und Wirkmächtigkeit. Sie kann tödlich sein und prägt sich auch dem Weiterlebenden unauslöschlich ein.“36 Schon ohne Angriff auf die sexuelle Integrität hat Annie Ernaux diese Macht der Scham gespürt. Noch stärker dürfte solche Scham nach sexuellen Übergriffen sein, in denen die Opfer gezwungen werden, selbst zu Akteuren zu werden, nicht nur passiv zu dulden, sondern sich aktiv zu beteiligen, und damit durch so ziemlich alle Deutungsraster zu fallen, die ihre katholische, bürgerliche, kindliche Welt bislang zusammengehalten haben. „Mein Schamgefühl wurde verletzt“, so eine junge Frau, die Ende des 19. Jahrhunderts als Zwölfjährige über sexuelle Berührungen durch einen Priester berichtete.37 Matthias Katsch berichtete über einen Jesuitenpater am Canisius-Kolleg der 1980er Jahre, der „die grenzenlose Scham der vor ihm liegenden Jungen genossen“ habe.38 Gerade die Kombination von physischer, sozialer und spiritueller Überlegenheit machte die Priester – in der Terminologie des Gewaltforschers Heinrich Popitz – so verletzungsmächtig und die katholischen Mädchen und Jungen so verletzungsoffen.39 In dieser ohnehin liminalen Phase der Pubertät voller Verunsicherungen bezüglich Zugehörigkeit und (nicht nur sexueller) Identität waren Heranwachsende gerade den dominanten Autoritätspersonen strukturell schnell ausgeliefert – zumal es für Widerstand keine Worte und keine bekannten Handlungsmuster im Horizont dieser Kinder gab. Das Gewaltereignis konnte nicht zuletzt deshalb so massiv verunsichern, weil es eben nicht durch „Deutung“ in „Erfahrung“ transformiert werden konnte.40 Diese Form von Demütigung zur sexuellen Befriedigung braucht – anders als die Formen, die Ute Frevert in ihrem Buch zur „Demütigung“ beschreibt – keine Öffentlichkeit.41 Insgesamt zeugt es erneut vom blinden Fleck der Historiographie, wenn ein Buch, das sich der „Macht der Scham“42 widmet, weitgehend ohne Hinweis auf sexuellen Missbrauch Minderjähriger auskommt. Die Grammatik der Scham in Dunkelräumen folgt offenbar anderen Regeln als die der Herabsetzung an „Schauplätzen“. Aber gerade weil noch heute so viele Kinder von dieser heimlichen Scham betroffen sind, ist es unerlässlich, diesen Wirkmechanismen nachzugehen.43

Das ist eine komplexe Aufgabe, die natürlich nur gelingen kann, wenn Akten und Egodokumente hinreichende Informationen bieten.44 Daher ist es so wichtig, dass Archivare helfen, und vor allem aber, dass Betroffene ihre Geschichten erzählen. Mit Blick auf die MeToo-Debatte sagte Ute Frevert: „In dem Moment, in dem sich die Frauen nicht mehr zum Schweigen bringen lassen, hört die Macht der Männer auf.“45 Ganz so einfach ist das wohl nicht, und sexueller Missbrauch von Kindern wird auch nicht schon deshalb aufhören, weil wir darüber reden. Aber unsere Erkenntnisse könnten zumindest Licht in vergangene und gegenwärtige Parallelwelten bringen und damit dazu beitragen, dass sich Strukturen ändern, die diese Gewalt begünstigen.

Dass die Tagung Anfang Oktober 2020 in Präsenz in Bonn überhaupt stattfinden konnte, lag zunächst an den glücklichen Umständen der gerade in dieser Woche noch relativ niedrigen Inzidenzwerte. Schon wenige Tage danach wäre ein physisches Zusammenkommen durch den erneuten Anstieg der COVID-19-Infektionen nicht mehr möglich gewesen. Aber auch so stellten die Hygienevorschriften besondere Anforderungen an die Logistik. Insofern gilt der besondere Dank dem Team der Forschungsstelle der Kommission für Zeitgeschichte in Bonn, allen voran Frank Kleinehagenbrock und Erik Gieseking, dank deren unermüdlichem Einsatz die Durchführung der Hybrid-Veranstaltung möglich war. Den Mitarbeiter:innen an meinem Lehrstuhl in Berlin wiederum ist dafür zu danken, dass sie die eingegangenen Aufsätze in druckfähige Manuskripte verwandelt haben. Gerade bei einem interdisziplinären Projekt ist das ein zuweilen mühsamer Prozess. Daher sei Teresa Schenk, Jan-Martin Zollitsch und Kerstin Brudnachowski besonders herzlich gedankt.

1

Annie Ernaux, Die Scham. Berlin 2020, 9.

2

Ebd., 19.

3

Ebd., 90–91.

4

Siehe Matthias Katsch, Damit es aufhört. Vom befreienden Kampf der Opfer sexueller Gewalt in der Kirche. Berlin 2020, 45f.

5

Jens Anker/Michael Behrendt, „Das Schweigen muss gebrochen werden“, in: Berliner Morgenpost, 28.1.2010, einzusehen unter https://www.morgenpost.de/berlin-aktuell/article104884741/Das-Schweigen-muss-gebrochen-werden.html, zuletzt aufgerufen am 12.10.2020; „Der Brief des Canisius-Rektors“, in: Der Tagesspiegel, 29.1.2010, einzusehen unter https://www.tagesspiegel.de/berlin/dokumentiert-der-brief-des-canisius-rektors/1672092.html, zuletzt aufgerufen am 12.10.2020.

6

Vgl. Monika Fromme, Sexueller Missbrauch in Institutionen – Mediale Wirkung und politische Folgen eines Medien-Hypes, in: Neue Kriminalpolitik 23(2), 2011, 45–49, hier 45.

7

Vgl. den Zwischenbericht zu den Untersuchungen im Bistum Mainz, FAZ vom 8.10.2020. Siehe ansonsten die „MHG-Studie“: Harald Dreßing u.a., Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz, Mannheim/Heidelberg/Gießen, 24.9.2018, einzusehen unter https://www.zi-mannheim.de/fileadmin/user_upload/downloads/forschung/forschungsverbuende/MHG-Studie-gesamt.pdf., zuletzt aufgerufen am 16.6.2021.

8

Jörg Michael Fegert, Empathie statt Klerikalismus. Chancen und Grenzen externer Unterstützung bei der Auseinandersetzung mit sexuellem Missbrauch, in: Stimmen der Zeit 3, 2019, 189–204, hier 202.

9

Vgl. Definition nach dem Duden, einzusehen unter https://www.duden.de/rechtschreibung/Dunkelraum, zuletzt aufgerufen am 7.10.2020.

10

Das galt auch für die Psychiatrie, vgl. Fegert, Empathie, 189.

11

Vgl. Harald Dreßing u.a., Sexual abuse at the hands of Catholic clergy – a retrospective cohort study of its extent and health consequences for affected minors (The MHG Study), in: Deutsches Ärzteblatt International 116, 2010, 389–396, einzusehen unter https://www.aerzteblatt.de/archiv/207897/Sexueller-Missbrauch-durch-katholische-Kleriker, zuletzt aufgerufen am 12.10.2020.

12

Zum „katholischen Geschmack“ des Missbrauchs in der katholischen Kirche vgl. das Statement von Pater Dr. Klaus Mertes SJ zum Umgang mit sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche auf der Vollversammlung des ZdK (Zentralkomitee der deutscher Katholiken) am 16.4.2010 in Erfurt, einzusehen unter https://www.zdk.de/veroeffentlichungen/reden-und-beitraege/detail/Statement-von-Pater-Dr-Klaus-Mertes-SJ-zum-Umgang-mit-sexuellem-Missbrauch-in-der-Katholischen-Kirche-206w/, zuletzt aufgerufen am 12.10.2020.

13

Vgl. Birgit Aschmann/Wilhelm Damberg, Entstehung, Wahrnehmung und Wirkung einer umstrittenen Enzyklika. Eine Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Liebe und tu, was du willst? Die „Pillenenzyklika“ Humanae vitae von 1968 und ihre Folgen. Paderborn 2021, 3–30.

14

Vgl. Birgit Aschmann, Als die Cholera nach Europa kam, in: FAZ (Ressort: Ereignisse und Gestalten) vom 14.9.2020, 6; dies., Revival des 19. Jahrhunderts. Debatte über die Herz-Jesu-Verehrung in Berlin, in: Herder Korrespondenz 74(10), 2020, 21–24.

15

Paul Johann Anselm Feuerbach, Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen. Ansbach 1832; siehe auch Sace E. Elder, Ein gerechtes Maß an Schmerz. Körperliche Züchtigung, die Subjektivität von Kindern und die Grenzen vertretbarer Gewalt im Kaiserreich und der Weimarer Republik, in: Stefan Grüner/Markus Raasch (Hrsg.): Zucht und Ordnung. Gewalt gegen Kinder in historischer Perspektive. Berlin 2019, 299–319, hier 307.

16

Jesús Bastante, Nace la primera asociación de víctimas de abusos en la Iglesia den España, in: El Diario, 23.1.2019, einzusehen unter https://www.eldiario.es/sociedad/nace-espana-asociacion-victimas-iglesia_1_1732670.html, zuletzt aufgerufen am 16.6.2021.

17

Zur Begriffsbestimmung vgl. u.a. Frank Bösch, Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914. München 2009, 9. Hier räumt Bösch die Schwierigkeit ein, zu bestimmen, wann ein Empörungsgrad erreicht ist, der berechtigt, von einem Skandal zu sprechen.

18

Vgl. Bösch, Geheimnisse; Norman Domeier, Der Eulenburg-Skandal. Eine politische Kulturgeschichte des Kaiserreichs. Frankfurt a. M. 2010; gegenüber diesen bedeutenden Werken wurden kritischer beurteilt: Wolfgang Wippermann, Skandal im Jagdschloss Grunewald. Männlichkeit und Ehre im deutschen Kaiserreich. Darmstadt 2010 sowie Peter Winzen, Das Ende der Kaiserherrlichkeit: Die Skandalprozesse um die homosexuellen Berater Wilhelms II. 1907–1909. Köln 2010.

19

Vgl. Denis Diderot, La Religieuse [1760]. Paris 2009; die erste deutsche Übersetzung erschien 1797 unter dem Titel „Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert“ in Zürich.

20

Francisco Vázquez García, Pater infamis. Genealogía del cura pederasta en España (1880–1912). Madrid 2020; Manuel Borutta, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe. Göttingen 2010; Lisa Dittrich, Antiklerikalismus in Europa. Öffentlichkeit und Säkularisierung in Frankreich, Spanien und Deutschland (1848–1914). Göttingen 2014.

21

Grüner/Raasch, Einleitung, in: dies., Zucht, 7–30, hier 20.

22

Rebecca Heinemann, Im Zweifel für das Kind? Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Grüner/Raasch, Zucht, 373–401, hier 389–391.

23

Tanja Hommen, Sittlichkeitsverbrechen. Sexuelle Gewalt im Kaiserreich. Frankfurt a. M. 1999, 185–195.

24

Heinemann beklagt 2019 grundsätzlich, dass das Thema sexuelle Gewalt gegen Kinder von der Geschichtswissenschaft noch nicht wirklich wahrgenommen worden sei, und fährt fort: „Hier wäre insbesondere eine systematische Bearbeitung für das 19. Jahrhundert lohnend“, vgl. Heinemann, Zweifel, 374.

25

Johann Ludwig Casper, Über Nothzucht und Pädasterie und deren Ermittlung Seitens des Gerichtsarztes. Nach eigenen Beobachtungen, in: Vierteljahrsschrift für gerichtliche und öffentliche Medicin 1, 1852, 21–78, hier 21.

26

Richard Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. Mit besonderer Berücksichtigung der konträren Sexualempfindung. Eine medizinisch-gerichtliche Studie für Ärzte und Juristen. Stuttgart 1907, 410.

27

Vgl. u.a. Tanja Hommen, Körperdefinition und Körpererfahrung. „Notzucht“ und „unzüchtige Handlungen an Kindern“ im Kaiserreich, in: Geschichte und Gesellschaft 26, 2000, 577–601, hier u.a. 589 sowie 595f.

28

Der Staatsanwalt Erich Wulffen postulierte: „Ein einziges Mädchen, welches ein solches sexuelles Ereignis erlebt und weitererzählt, kann eine ganze Klasse von Mitschülerinnen psychisch anstecken“. Erich Wulffen, Der Sexualverbrecher. Ein Handbuch für Juristen, Verwaltungsbeamte und Ärzte. Berlin 1910, 364; zur Empirie dieser Deutung vgl. Hommen, Körperdefinition, 595f.

29

Max Döring, Zur Vernehmung und Begutachtung Jugendlicher in Sexualprozessen, in: Pädagogische Warte. Zeitschrift für wissenschaftliche Pädagogik, Lehrerfortbildung, Konferenzwesen, Tagesfragen und pädagogische Kritik 32, 1925, 1028–1037, hier 1029. Max Döring war der Leiter des psychologischen Instituts des Leipziger Lehrervereins und wurde als Sachverständiger in Gerichtsprozessen herangezogen, vgl. Heinemann, Zweifel, 380.

30

Ebd., 382. Tatsächlich wurde von Suiziden nach sexuellem Missbrauch berichtet, vgl. Rudolf Klimmer, Gerichtsärztliche Beurteilung der Sittlichkeitsverbrechen an Kindern. Leipzig 1930, 60. Dabei differenziert der Autor zwischen „Kindern“, bei denen er Suizide nach Missbrauch für unwahrscheinlich hielt, und „Minderjährigen“, die diese Tendenz zeigten.

31

Vgl. Peter Dudek, „Körpermissbrauch und Seelenschändung“. Der Prozess gegen den Reformpädagogen Gustav Wyneken 1921. Bad Heilbrunn 2020. Zur Gewalt in katholischen Erziehungseinrichtungen vgl. Rudolf Oswald, „Der Stock ist doch wirklich nicht der Erziehung größte Weisheit“. Die Gewaltdebatte in der katholischen Anstaltspädagogik, 1900–1933, in: Grüner/Raasch, Zucht, 195–211.

32

Dudek, „Körpermissbrauch“, 205.

33

Vgl. Vázquez García, Pater infamis, 16–20.

34

Vgl. das Themenheft „Grauzonen. Über sexuelle Gewalt“, Mittelweg 36 27(4), 2018.

35

Zur Angst vgl. u.a. Lars Koch, Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2013; Joanna Bourke, Fear. A cultural history. London 2006.

36

Ute Frevert, Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht. Frankfurt a. M. 2017, 9.

37

So in einem Prozess von 1903, vgl. Hommen, Körperdefinition, 598.

38

Katsch, Damit es aufhört, 20.

39

Heinrich Popitz, Phänomene der Macht. Autorität, Herrschaft, Gewalt, Technik. Tübingen 1986. Vgl. auch Gaby Zipfel, „Liberté, Egalité, Sexualité“, in: Mittelweg 36 27(4), 2008, 87–108.

40

Subjekte, so gibt Hommen richtig an, konstituieren sich durch „Erfahrung“, diese aber wird „in Diskursen ausgetragen“, vgl. Hommen, Körperdefinition, 581f. Wenn es aber ein solches Reden über diese Erfahrungen nicht gibt, bleiben mit der Sprachlosigkeit auch Deutungen aus – mit der Folge massiver Verunsicherungen.

41

Ute Frevert, Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht. Frankfurt a. M. 2017.

42

Ebd., 3–5.

43

Nicht nur in Familien, sondern auch in der katholischen Kirche ist sexueller Missbrauch weiterhin ein Problem. Aus den amerikanischen Diözesen wurde bekannt, dass sich 2019 die berichteten Fälle im Vergleich zu den Vorjahren verdreifacht hatten, vgl. den 2020 veröffentlichten Annual Report of the United States Conference of Catholic Bishops (USCCB) and the independent lay National Review Board (NRB) aus dem Jahr 2019, einzusehen unter https://www.usccb.org/issues-and-action/child-and-youth-protection/upload/2019-Annual-Report-Final.pdf, zuletzt aufgerufen am 16.6.2021.

44

Für eine Analyse müssten idealerweise diejenigen „Testimonials“ hinzugezogen werden, die 5 000 Betroffene in der frühen Aufarbeitungsphase gegenüber den Beteiligten am „Runden Tisch“ hinterließen, vgl. Fegert, Empathie, 195.

45

Ute Frevert im Gespräch über „Wie die Macht der Scham funktioniert“, Beitrag in Deutschlandfunk Kultur vom 28.1.2018, einzusehen unter https://www.deutschlandfunkkultur.de/metoo-und-der-oeffentliche-pranger-wie-die-macht-der-scham.2162.de.html?dram:article_id=409392, zuletzt aufgerufen am 7.10.2020.

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Die Kirche und der sexuelle Missbrauch