Im November 2023 ist es 500 Jahre her, dass erstmals eine Frau mit der Publikation einer Flugschrift an die Seite Luthers und Melanchthons trat und damit öffentlich, Aufsehen erregend Partei ergriff für die Reformation: die bayerische Adlige Argula von Grumbach. Ein halbes Jahr später folgte ihr die Straßburger Pfarrfrau Katharina Zell. Ihre Pionierwerke und weitere Reformationsschriften von Frauen sind Teil dieses Sammelbands.
Die Autorinnen der Reformation – endlich kommen sie einmal selbst zu Wort! Über sie gesprochen wurde schon lange. Ihre Texte wurden analysiert, aber sie wurden bislang nicht, anders als die aller großen männlichen Reformatoren, einer breiten Öffentlichkeit präsentiert in einer heute lesbaren Form. Dies bietet nun dieser Band erstmals allen an Reformations- und Frauenthemen Interessierten.
Was motivierte Zell, von Grumbach und andere Frauen, zur Feder zu greifen, sich in die Öffentlichkeit zu wagen und ihre Positionen kundzutun? Luther hatte 1520 in seiner Adelsschrift die Lehre vom allgemeinen Priestertum ausgerufen, die allen Christen die Kompetenz einräumte, in Glaubensfragen mitzureden, nicht nur den – männlichen – Gelehrten. Ferner ermöglichte er es mit seinem Schriftprinzip, dem Grundsatz, dass sich theologische Argumentation auf die Bibel zu gründen habe, allen, sich am theologischen Diskurs zu beteiligen. Und mit seiner Bibelübersetzung gab er den Menschen, sofern sie lesen konnten, die Grundlage dafür. Mit seinem Auftritt in Worms schließlich im April 1521 lieferte er ein Vorbild: Mit der Bibel in der Hand und unter Berufung auf sein Gewissen und die Vernunft trat er, ganz allein, dem Kaiser und den Reichsfürsten gegenüber und zugleich und eigentlich dem Papst, den Kirchenfürsten und der herrschenden Universitätstheologie.
Das konnten Frauen auch – und sie taten es. Sie ergriffen das Wort und brachten ihre Gedanken zu aktuellen Fragen der Reformation, aber auch Gebete und Meditationen, Bibelauslegungen und katechetische Texte, zu Papier. Sie verteidigten ihre Entscheidung, einen Priester geheiratet zu haben, rechtfertigten ihre Klosterflucht, ergriffen Partei für wegen ihres evangelischen Glaubens Bedrängte und Verfolgte: Argula von Grumbach, Katharina Zell, Ursula Weyda, Florentina von Oberweimar, Ursula von Münsterberg, Elisabeth von Braunschweig, Margareta von Treskow und weitere, deren Namen wir teilweise nicht kennen, weil sie anonym publizierten. Die gedruckten Texte dieser Frauen werden wie auch Luthers populären Werke als Flugschriften bezeichnet, weil sie relativ kurz waren, aktuelle Auseinandersetzungen thematisierten und ohne Buchbindung einem breiten Publikum auf Märkten angeboten wurden.
Dieser Band präsentiert die Texte der Frauen bearbeitet, in einer heute verständlichen Sprachform. Es erfolgte aber eine Auswahl, denn alle Texte von allen Reformationsfrauen in einem Band zu publizieren, hätte den erlaubten Rahmen gesprengt. So viele waren es! Von Grumbach, Zell und von Braunschweig publizierten wesentlich mehr, als wir hier einbeziehen können. Ganz fehlen Elisabeth Cruciger mit ihren Liedern und Ursula Jost mit ihrem Visionsbericht, ferner die Genfer Pfarrfrau und Schriftstellerin Marie Dentière und die Schweinfurter Humanistin und Dichterin Olympia Fulvia Morata. Und dann wäre auch noch an katholische Autorinnen zu denken: Caritas Pirckheimer und Katharina Rem.
Nur wenige Texte (von Grumbach, Zell) liegen seit einigen Jahren in modernen wissenschaftlichen Editionen vor, zwei weitere (von Münsterberg, von Oberweimar) in Editionen des 19. Jahrhunderts. Die meisten sind weiterhin nur in Originaldrucken verfügbar, die teils vor Jahrzehnten verfilmt, teils in den letzten Jahren digitalisiert wurden. Einzelne stehen auch jetzt noch nur im Original in den jeweiligen besitzenden Bibliotheken zur Verfügung. Sofern wir moderne Editionen benutzen konnten, haben wir diese dennoch anhand der Originaltexte noch einmal überprüft und insbesondere alle Bibelstellenangaben einer Kontrolle unterzogen und oftmals berichtigt. Am Schluss jedes Textes wird die für die heutige wissenschaftliche Arbeit relevante Originalausgabe oder Edition angegeben.
Alle Texte bis auf einen (Zell: Der Psalm) werden ungekürzt dargeboten. Bei der Bearbeitung der Texte haben wir Lesbarkeit und Verständlichkeit angestrebt, altmodische, aber heute noch verständliche Sprachstile jedoch beibehalten; dies gilt auch für die damals üblichen weiblichen Endungen der Nachnamen von Frauen. Kurze Einleitungen sollen das Verstehen erleichtern und die Einordnung in den Entstehungskontext ermöglichen. Wer über die Frauen mehr wissen möchte, wird auf die im Anhang genannte Literatur verwiesen. Dass die Schriftstellerinnen keine höhere Bildung hatten, merkt man den Texten an. Das beweist auch, dass diese wirklich von Frauen geschrieben wurden und nicht etwa von Reformationstheologen, die sich als Frauen ausgegeben hätten, um so Aufmerksamkeit zu erregen. Nein, die Texte stammen wirklich von Frauen, von den Frauen, unter deren Namen sie erschienen. Dessen sind wir uns, gerade nach der sprachlichen Bearbeitung, sicher.
Etwas muss allerdings bedacht werden: Zwar wurden die Texte als Flugschriften verbreitet, aber während Luther seine Schriften schrieb, damit sie gedruckt und verbreitet würden, schrieben unsre Autorinnen nicht unbedingt für den Druck. Teilweise handelte es sich um private Briefe, die – möglicherweise sogar ohne Zutun der Autorinnen – von anderen, von Männern der Reformation, in den Druck gegeben wurden. Die Frauen hatten also nicht unbedingt die Intention, Flugschriftenautorin zu werden, aber sie wurden es.
Die Autorinnen argumentieren, wie von Luther gewollt, mit der Bibel, sie sprechen eine Bibelsprache. Oft, aber nicht immer belegen sie ihre Gedanken mit der Angabe der jeweiligen Bibelkapitel. Nur an diesen Stellen haben wir die zuvor überprüften und gegebenenfalls korrigierten Nachweise in der heute üblichen Form mit Nennung der (damals noch nicht gezählten) Verse in die Texte eingefügt. Zu beachten ist, dass die Frauen – teilweise vorreformatorische – Bibelübersetzungen des 16. Jahrhunderts benutzten oder im Kopf hatten, die in der Sprachgestalt, mitunter auch im Aussagesinn, von heutigen Übersetzungen abweichen.
Reformatorische Flugschriftenautorinnen in heutigem Deutsch zu präsentieren – der Gedanke ist alt. Seit 1999 sprach Martin H. Jung darüber mit drei Verlagen. Erst 2021, beim vierten Anlauf, fanden wir ein offenes Ohr, nachdem 2020 ein Pionierprojekt, ein Versuch von Dr. Anne D. Rüdel geb. Turck und Martin H. Jung mit einem Text von Grumbachs, erschienen war.
Aber sollten wir klagen? Als 1971 Roland H. Bainton (1894–1984) seine „Women of the Reformation in Germany and Italy“ publizierte, stieß er in Deutschland auf kein Interesse. Luther genügte (noch). Warum denn Frauen? Erst posthum, 1995, kam sein Buch in deutscher Sprache heraus und fand in Deutschland, Österreich und der Schweiz so große Resonanz, dass innerhalb von zwei Jahren drei Auflagen erschienen.
Nun wünschen wir auch unserem Buch guten Erfolg in der Theologie, in der Geschichts- und in der Literaturwissenschaft, an Universitäten, in Schulen und in Kirchengemeinden, unter Frauen und Männern. Dr. Jörg Persch und Dr. Martina Kayser sei gedankt, dass das alte Vorhaben nun endlich realisiert werden konnte.
Osnabrück, am Reformationstag 2021 Martin H. Jung, Friederike Mühlbauer