Am 15. März 2018 nahm die Forschungsstelle „Entartete Kunst“ am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin nach langen Jahren intensiver Recherchen den letzten Schritt der Publikation aller im NS-Inventar verzeichneten Werke der Beschlagnahmeaktion moderner Kunst aus öffentlichen Institutionen 1937/38 im Internet vor.1 Seit 2010 sind die ermittelten Angaben sukzessive freigeschaltet worden. Die mittlerweile über 21.000 Datensätze, die weiterhin kontinuierlich ergänzt und in Einzelheiten berichtigt werden, stehen den interessierten Nutzerinnen und Nutzern sowohl in einer deutschen als auch in einer englischen Version der Datenbank im Internet gebührenfrei zur Verfügung.2
Wie wichtig die Datenbank für die alltägliche Museumsarbeit, für die Provenienzrecherche und allgemeine Forschung geworden ist, hat sich gerade in den letzten Jahren gezeigt, als mit dem sogenannten „Schwabinger Kunstfund“ das Thema der Beschlagnahmeaktion „Entartete Kunst“ eine ganz neue Öffentlichkeit gefunden hat. In einigen Institutionen wurde bereits, in anderen wird aktuell in Kooperation mit unserer Forschungsstelle zu den ehemaligen Sammlungen recherchiert, wodurch eine sehr förderliche Dynamik vor allem im Hinblick auf die Auswertung hauseigener Archive entstanden ist.3
Anläßlich der Freischaltung veranstaltete die Forschungsstelle ein internationales Symposium zu einem bisher wenig beachteten Thema. Unter dem Titel „‚Entartete Kunst‘ in Breslau, Stettin und Königsberg“ stand der Sonderstatus der Städte und ihrer Sammlungen im Hinblick auf die moderne Kunst, ihre Beschlagnahme und Verwertung sowie deren Folgen im Mittelpunkt der Vorträge und Diskussionen. Erfreulicherweise wurde in den letzten Jahren vermehrt zu diesem Themenbereich geforscht, sowohl von den Kolleginnen und Kollegen der Nachfolge-Institutionen in Polen und Russland und den dort ansässigen Expertinnen und Experten als auch von der Forschungsstelle „Entartete Kunst“ in Berlin und Hamburg. Die Ergebnisse unseres beiderseitig intensiv betriebenen fachlichen Austausches werden in dem vorliegenden Band publiziert.
Meike Hoffmann führt anhand der Provenienzgeschichte des Gemäldes Papua-Jünglinge von Emil Nolde in die Thematik und den Sonderstatus der in Rede stehenden Städte ein (S. 2–16). So wie sich das Aufgabengebiet der Forschungsstelle „Entartete Kunst“ nicht mit der Beschlagnahme-Datenbank erschöpft, so reichen auch die folgenden Beiträge über die ehemaligen Bestände der Museen, die hinsichtlich Stettins (Dariusz Kacprzak S. 106–116) und Königsbergs (Andreas Hüneke S. 128–142) im Fokus stehen, hinaus. Diana Codogni-Łańcucka nimmt Aspekte der NS-Kunstpolitik und ihre Auswirkungen unter den besonderen Bedingungen Schlesiens in den Blick (S. 30–49). Małgorzata Stolarska-Fronia gibt mit dem Schicksal des Künstlers Heinrich Tischler aus der heute sogenannten „Verschollenen Generation“ ein Beispiel für die Verfolgungsstrategien jüdischer moderner Künstler und ihrer Sammler in Breslau während des Nazi-Regimes (S. 95–105). Ihr Beitrag liegt nur in englischer Sprache vor. Und Nawojka Cieślińska- Lobkowicz berichtet über Lodz, das 1939 erobert und ein Jahr später in Litzmannstadt umbenannt wurde. Die modernen Bestände des dortigen Museums wurden zeitweise in einer Ausstellung als Negativbeispiele der „guten“ „Deutsche[n] Kunst im Ostraum“ gegenübergestellt (S. 159–174). Christoph Zuschlag, der als ausgewiesener Kenner der NS-Kunstpolitik die drei ersten Jahre zum Team der Forschungsstelle gehörte und 2018 einen Ruf auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Provenienzforschung / Geschichte des Sammelns an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn erhalten hat, hat für die Publikation einen Beitrag über den Verkauf eines Gemäldes von Max Liebermann durch das Schlesische Museum der Bildenden Künste in Breslau geliefert und diese Aktion in den Zusammenhang der Ausgliederung unliebsamer Kunst durch die Museen gestellt (S. 70–82). Schließlich rekonstruiert Petra Winter die Vorgänge der Übernahme von beschlagnahmten Werken aus Breslau, Stettin und Königsberg durch die Nationalgalerie in den ersten Nachkriegsjahren (S. 190–201).
Wir möchten an dieser Stelle all jenen danken, die zum Gelingen des Symposiums 2018 und der Publikation 2021 beigetragen haben. In erster Linie gilt den Autorinnen und Autoren unser herzlicher Dank für die Vorträge neuester Forschungsergebnisse und die darauf aufbauenden profunden Textbeiträge. In unseren tief empfundenen Dank einbezogen sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Forschungsstelle „Entartete Kunst“ an der Freien Universität Berlin, ohne deren engagierte Zusammenarbeit weder das Symposium noch die Publikation hätten realisiert werden können: Brighid Casey (Mithilfe Publikation), Marie Elisabeth Fischer (Organisation Symposium), Maren Fusswinkel (Mithilfe Symposium), Anna Roberta Hövelmann (Mithilfe Publikation), Jan Thomas Köhler (Mithilfe Publikation), Lily Sabelus (Organisation Publikation), Sonja Seidel (Verwaltung Symposium und Publikation), Justine Tutmann (Mithilfe Symposium), Nadine Vehling (Mithilfe Symposium), Barbara Zeisler (Mithilfe Symposium). Darüber hinaus sei ein Dank an Brian Currid (Zweisprachkunst Berlin) für die umsichtige englische Übersetzung der Texte gerichtet sowie auch an den Verlag Wilhelm Fink, und hier insbesondere an Andreas Knop als Ansprechpartner für alle Belange rund um den neuen Band unserer Schriftenreihe. Zu danken ist ebenso den folgenden Stiftungen und Behörden für die Förderung und Unterstützung der Forschungsstelle „Entartete Kunst“ seit ihrer Gründung im Jahr 2003: Ferdinand-Möller-Stiftung (Berlin), Gerda Henkel Stiftung (Düsseldorf), Hermann Reemtsma Stiftung (Hamburg), International Music and Art Foundation (Vaduz), Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Kulturstiftung der Länder.
Meike Hoffmann und Andreas Hüneke im Juli 2020
In der vorliegenden Publikation ist aus Gründen der besseren Lesbarkeit kein systematisches Gendern vorgenommen worden. Es sind grundsätzlich alle Geschlechteridentitäten mit der Wahl einer Form ausdrücklich mitgemeint, sofern es für die Aussage relevant ist. Wir distanzieren uns ausdrücklich von den Inhalten der in der vorliegenden Publikation aus wissenschaftlichen Gründen verwendeten NS-Begriffe.
Grundlage für die Ermittlung der Gesamtmenge der beschlagnahmten Werke ist die sogenannte Harry-Fischer-Liste aus dem Victoria & Albert Museum in London, eine Abschrift des originalen NS-Inventars, das in seinen unterschiedlichen Teilen und Versionen jeweils nur noch in Fragmenten erhalten ist.
Datenbank „Entartete Kunst“.
Als Beispiele seien die Ausstellungen „(Wieder-) Entdecken – Die Kunsthalle Mannheim 1933 bis 1945 und die Folgen“ 2018−2020 (Co-Kurator: Matthias Listl) und „Das Comeback“ im Kunstmuseum Moritzburg, Halle/Saale 2019−2020 (Co-Kuratorin: Susanna Köller) genannt.