Einleitung

In: Abenteuer
Authors:
Martin von Koppenfels
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Manuel Mühlbacher
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Paul Klees Graphik Das Abenteurer-Schiff, 1927 am Bauhaus entstanden, verwirrt die Ebenen der Betrachtung: Einerseits funktioniert das Bild gegenständlich, genrehaft, ja narrativ in der Darstellung des titelgebenden Wasserfahrzeugs samt Abenteurern, Steuerrad, Segeln, Schornstein, Fahnenschmuck und Wellenschlag. Andererseits folgt es ostentativ den konstruktivistischen Formprinzipien, die am Bauhaus gelehrt wurden – Quadrat, Rechteck, Kreis, Senkrechte, Waagrechte, Diagonale, ungemischte Grundfarben –, so dass es scheint, als hätten sich diese Elemente nur zufällig und vorübergehend zu einem Gegenstand zusammengetan.1 Zu diesem Eindruck trägt wesentlich bei, dass die Fahnen und Wimpel des Schiffes, im gegenständlichen Sinne bloß bewegtes Beiwerk, dank ihrer flachen Farbigkeit als autonome Elemente in den Vordergrund treten. Ganz zu schweigen von dem mysteriösen schwarzblauen Hintergrund, in dem das Schiff auf eine andere, flächigere Weise schwimmt, als Schiffe gemeinhin im Wasser schwimmen, nämlich so, als sei es eben aus ihm herausgewachsen.2

Wie Klees Bildraum ist auch der Begriff des Abenteuers, den er diesem Raum eingeschrieben hat, weniger simpel, als er auf den ersten Blick erscheint. Verbindet man mit diesem Begriff zunächst elementare, nämlich kindliche oder adoleszente Erzählmuster, so offenbart er auf den zweiten Blick zahlreiche Paradoxien, die es nicht leicht machen, ihn theoretisch zu fassen. Erscheint er auf der einen Seite allzu konkret mit bestimmten trivialen Gegenständen verbunden, eignet ihm auf der anderen die abstrakte, konstruktive Qualität eines erzählerischen Grundbausteins. Und wie Klees Schiff kommt der Begriff Abenteuer in einer Atmosphäre vager Faszination dahergeschwommen, die seine erstaunliche historische Haltbarkeit garantiert. Denn es ist wohl erstaunlich zu nennen, dass sich ein mittelalterliches Erzähl- und Erfahrungsschema unbeschadet aller gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüche bis in die Gegenwart als Faszinationsbegriff erhalten hat. Über die Jahrhunderte hat das Abenteuer immer neue Bereiche der Kultur durchdrungen und eine solche Zahl von Kontexten und Konnotationen an sich gebunden, dass es – als schillernder Allerweltsbegriff – zunächst nicht gerade zu narratologischer Präzisierung einlädt.

Wenn überhaupt, dann ist an eine Definition nur in Form einer historischen Semantik, einer Archäologie des Abenteuers zu denken. Zu einer solchen wiederum scheint die literaturwissenschaftliche Erzählforschung prädestiniert, denn der Begriff tritt – in der altfranzösischen Form aventure oder avanture – erstmals in narrativen Texten ins Licht der Geschichte, nämlich in den höfischen Verserzählungen von Chrétien de Troyes, Marie de France und ihren Zeitgenossen. Und bereits an seinen mittelalterlichen Anfängen erscheint das Wort als eine bewusst inszenierte Stelle der Unbestimmtheit, als das Ziel einer Suche, die sich notwendig ins Offene richtete. Was eine aventure ist, wissen schon bei Chrétien de Troyes nur die Eingeweihten – und die haben notorisch Schwierigkeiten, es den Uneingeweihten zu erklären. Von Chrétiens Ritter Calogrenant bis zu Cervantes’ Don Quijote verwickeln sie sich daher in regelrechte Definitionsabenteuer, die integraler Bestandteil ihrer Geschichte sind und nicht selten als Auslöser anderer Formen des Abenteuers fungieren, in denen es nicht mehr nur um Fragen der Semantik geht, sondern um Leben und Tod.

Im vorliegenden Band (dem ersten der Münchner Forschungsgruppe ‚Philologie des Abenteuers‘) geht es um einen kleinen Teilbereich einer möglichen Archäologie des Abenteuers, nämlich um die Frage, wie sich der Begriff zu den gängigen Ordnungsmustern verhält, die uns die Orientierung im Meer der erzählenden Texte erleichtern – zu Gattungen, Genres, Textmustern, aber auch zu übergreifenden Konstruktionsprinzipien wie Vers und Prosa. Der Begriff ‚Abenteuer‘ erscheint nämlich in seinen höfischen Ursprüngen zwar an einen bestimmten kulturellen Kontext, nicht aber an eine bestimmte literarische Gattung gebunden: Die aventure verweist zwar auf die ‚bretonische‘ bzw. ‚arthurische‘ Erzählwelt (matière de Bretagne), aber nicht auf eine bestimmte Textform. In diesem Sinne behandelt Chrétien de Troyes die avanture als eine Art Rohmaterial, aus der die konkrete textuelle Gestalt (conjointure) erst ‚herausgezogen‘ werden müsse:

Et tret d’un conte d’avanture

Une moult bele conjointure3

Seine Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Mikro- und Makrostrukturen, an verschiedene Formprinzipien und Genres hat sich das Abenteuer über die Jahrhunderte bewahrt: Es überschritt scheinbar unbeeindruckt die Grenze von der Vers- zur Prosaerzählung, bildete wechselnde Amalgame mit literarischen Gattungen wie etwa dem Epos oder der Novelle, es fand sich als Binnen- oder Episodenbegriff in den verschiedensten neuzeitlichen Genres wieder und machte auch vor Mediengrenzen nicht Halt, wie seine Verwendung im Bereich von Film und Computerspiel zeigt.4 Vor dem Hintergrund dieser bemerkenswerten Karriere erscheint die Verfestigung des Begriffs zur Genrebezeichnung eher als Anomalie. Dies geschah erst mit dem populären Abenteuerroman, der sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert etablierte5 – als eine synkretistische Form, die einerseits als ein Sammelbecken älterer, aus dem Kanon der Moderne herausgefallener Erzähltraditionen fungierte, andererseits aber auch in die Populärkultur des 20. Jahrhunderts ausstrahlte. Womöglich konnte ein solches Genre erst entstehen, als die Ambivalenzen und internen Spannungen des mittelalterlichen Abenteuerbegriffs gründlich abgeschliffen waren; also erst in einer ‚sentimentalischen‘ Perspektive, als Reflexion über etwas vermeintlich Verlorenes.

Die Ablösbarkeit des Begriffs Abenteuer von seinem kulturellen Entstehungskontext lässt sich jedoch nicht nur im Hinblick auf spätere Adaptierungen beobachten. Sie funktioniert auch retrospektiv. So ist es etwa gängig, ihn auf Texte zurückzuprojizieren, die lange vor seinem ersten Auftreten entstanden, vor allem auf jene namenlosen antiken Erzählungen, die mangels eines anderen Gattungsbegriffs meist als ‚Liebes- und Abenteuerromane‘ bezeichnet werden; aber auch auf Teile der epischen Tradition der Antike, namentlich die Seefahrermärchen (Apologoi) der Odyssee, die in modernen Nacherzählungen wie selbstverständlich als ‚Abenteuer des Odysseus‘ firmieren. Ein Vertreter dieses historisch entgrenzten Abenteuerbegriffs ist etwa Volker Klotz:

Abenteuerliteratur ist so alt wie Literatur überhaupt. Auch wenn sie von Fall zu Fall im Namen des Mythos, des Epos oder des Märchens auftrat. Gilgamesch zieht aus und muss ein Abenteuer nach dem anderen bestehen. Desgleichen, zu andrer Zeit und in anderen Breiten, Homers Odysseus. Ebenso ergeht es, wiederum später, im Westen den Artusrittern und im Osten dem Seefahrer Sindbad.6

Diese Sichtweise ist literarisch bestimmt von der Perspektive des modernen Abenteuerromans; konzeptuell aber basiert sie auf der Interpretation des Abenteuerbegriffs als im Grunde textindifferenter Erlebniskategorie, wie sie z. B. Georg Simmel in seiner einflussreichen „Philosophie des Abenteuers“ entwickelt hat.7 Von hier aus ist es nur ein Schritt, um das Abenteuer zu einem anthropologischen Grundmythos, zum Kern allen menschlichen Erzählens zu erklären.8

Gegen die historische Entgrenzung erhob wiederum eine philologische Forschung Einspruch, die die mittelalterlichen Entstehungsbedingungen des Erzählmusters betonte. Sehr deutlich formulierte diesen Einspruch bereits Erich Auerbach:

das Abenteuer, aventure, eine überaus eigentümliche und seltsame Form des Geschehens, welche die höfische Kultur ausbildete. Wohl gibt es lange zuvor die phantasiereiche Ausmalung der Wunder und Gefahren, die denjenigen erwarten, der über die Grenzen der bekannten Welt in ferne, unerforschte Gegenden verschlagen wird – und nicht minder phantasiereiche Vorstellungen und Erzählungen von den geheimnisvollen Gefahren, die selbst innerhalb der geographisch bekannten Welt durch das Wirken von Göttern, Geistern, Dämonen und anderen zauberkundigen Gewalten den Menschen bedrohen; es gibt auch längst vor der höfischen Kultur den furchtlosen Helden, der durch Kraft, Tugend, List und göttliche Hilfe solche Gefahren überwindet und andere daraus erlöst. Aber daß ein ganzer Stand, der in voller zeitgenössischer Blüte steht, das Bestehen solcher Gefahren als einen eigentlichen und in der Idealvorstellung ausschließlichen Beruf ansieht – daß die verschiedensten Sagenüberlieferungen, vor allem die bretonische, aber auch andere, von ihm rezipiert werden, um eine eigens dafür präparierte ritterliche Wunderwelt zu schaffen, in der die phantastischen Begegnungen und Gefahren gleichsam am laufenden Bande dem Ritter entgegentreten – diese Geschehensanordnung ist eine Neuschöpfung des höfischen Romans.9

Implizit grenzt der Autor von Mimesis die höfische aventure hier vom Muster der Odyssee, vom antiken Roman, von Heroenmythen und vom Märchen ab. Entscheidend für diese Abgrenzung ist das von Auerbach hervorgehobene Moment der aktiven Suche nach dem unbestimmten Ausnahmeereignis10 – eine Suche, die als vornehmste Aufgabe einer sich im höfischen roman selbst idealisierenden Kaste gilt. Dieses Merkmal fungiert als Kriterium der Unterscheidung von antiker, aber auch mittelalterlicher Heldenepik (chanson de geste), die in der Regel mit einer klaren Mission einhergeht. Das gilt selbst für Odysseus, den abenteurerähnlichsten der antiken Heroen, dessen Mission im nostos, in der Heimkehr besteht. Es gilt für unzählige pikarische Helden, die nicht aus Abenteuerlust, sondern schlicht aus Lebensnot in die Welt hinaus ziehen. Und man könnte vor diesem Hintergrund sogar die Reinform der Abenteuersuche von jener höfischen Erzählform unterscheiden, die man als queste bezeichnet, insofern deren Helden nicht ins Offene hinausziehen, sondern ein bestimmtes Ziel vor Augen haben. Wolfram von Eschenbach hat diese Unterscheidung zur Strukturbedingung seines Parzival gemacht, indem er die Erzählung von der Gralssuche seines Titelhelden mit der Erzählung von dem perfekten Ritter (und perfekten Abenteuersucher) Gawan zu einem Doppelroman verflocht. Doch auch eine ursprünglich klar definierte queste kann wieder ins Abenteuer kippen – so etwa, wenn sie zum Vorwand für die Herbeiführung immer neuer Begegnungen herabsinkt, also nur als ein narrativer Motor fungiert, der die Figuren den Raum durchqueren lässt und dadurch eine essentielle Voraussetzung für das Abenteuer bereitstellt – so etwa in einem italienischen romanzo des späten 15. Jahrhunderts wie Matteo Boiardos Orlando innamorato.

Das Abenteuer weist, obgleich seinem Begriff nach mit keinem Genre identifiziert, doch Affinitäten zu einer ganzen Reihe narrativer Formen auf (vom Märchen über die Novelle und den Schelmenroman bis hin zur modernen Detektivgeschichte), wobei sein Verhältnis zu diesen Formen nie systematisch untersucht wurde. Ebenso ist das Abenteuer als bestimmender Faktor in die großen gattungspoetischen Debatten der Neuzeit eingegangen. Das gilt zum Beispiel für die Diskussion um die Begriffe epos und romanzo, die die italienische Renaissancepoetik beschäftigte. Durch Cervantes’ Auseinandersetzung mit den frühneuzeitlichen Ritterbüchern wurde die Kritik des abenteuerlichen Erzählens dann zu einer Schlüsselfrage der Poetik des Romans. In der englischen Debatte, die novel und romance gegeneinander in Stellung brachte, tauchte das abenteuerliche Erzählen als Unterscheidungskriterium ebenso auf wie in den entsprechenden deutschsprachigen Diskussionen des 18. Jahrhunderts. Und auch für die moderne Ausdifferenzierung des Romans war der Begriff von Belang, etwa wenn der realistische Roman sich dezidiert vom Paradigma des Abenteuers absetzte, dann aber doch die eine oder andere abenteuerliche Novelle als Binnenerzählung in sich aufnahm.

Die strukturale Erzählforschung des 20. Jahrhunderts zeigte zwar (etwa im russischen Formalismus) Interesse am abenteuerlichen Erzählen, nahm das Abenteuer aber nicht in die Reihe seiner Grundbegriffe auf. Das Abenteuer besitzt mehr narrativen Gehalt als Konzepte wie „Ereignis“11 oder „Funktion“12, die jeweils kleinste Bausteine eines narrativen Verlaufs bezeichnen. Andererseits ist es weniger abgeschlossen als die „Heldenreise“13 und weniger umfassend als das „Sujet“14. Strukturell bildet das einzelne Abenteuer eine episodische Einheit, die vom plötzlichen Erscheinen der Bewährungsprobe bis zu deren Bewältigung reicht, doch erfordert es bestimmte raumzeitliche Bedingungen – mit Bachtin: einen bestimmten Chronotopos15 –, um überhaupt eintreten zu können. Selbst wenn es den Teil und nicht das Ganze bezeichnet, sich also unterhalb der Gattungsschwelle bewegt, hat es deshalb Auswirkungen auf das Textganze.16 Zwischen Mikro- und Makroebene angesiedelt, erscheint es nicht als strukturelle, sondern als phänomenologische Einheit. Als solche vermag es Fragestellungen an sich zu ziehen, die mit der Erfahrung des Narrativen zu tun haben und sich im Vokabular der strukturalen Erzählanalyse kaum artikulieren lassen: psychologische, anthropologische und fiktionstheoretische Fragen, die an elementaren Erzählakten ansetzen. Zugleich bleibt aber die Frage auf der Tagesordnung, welche textuellen Formen überhaupt dazu in der Lage sind, dem Phantasma des Abenteuers Raum zu geben, und wie sich dieses zu literarischen Formen und Gattungen je historisch verhält. Die Geschichte des Abenteuerbegriffs und die Typologie narrativer Formen werden deshalb im vorliegenden Band gemeinsam verhandelt, um zur historischen Differenzierung beider Bereiche beizutragen – und zwar in einer Reihe von Studien, die einen weiten historischen Bogen vom antiken Epos bis zur Wissenschafts- und Populärkultur der Gegenwart abschreiten. Im Folgenden sollen die einzelnen Artikel vorgestellt und der Aufbau des Bandes erläutert werden.

Der erste Beitrag führt in Form eines Prologs zum Gegenstand hin: Julika Griem (Essen) untersucht die Inanspruchnahme des Abenteuerbegriffs in aktuellen wissenschaftspolitischen Debatten, sie tut dies aber anhand von literarischen Texten und schlägt dadurch einen Bogen zwischen dem Abenteuer als ideologisch besetzbarer Erlebniskategorie und als formgebundenem Erzählschema. Griem geht von der Beobachtung aus, dass die Inszenierung von Wissenschaft als Abenteuer sowohl in populärwissenschaftlichen Formaten als auch in den Selbstverständigungsprozessen der einzelnen Disziplinen Konjunktur hat. Dieser Reaktivierung des Abenteuers als Inbegriff hochintensiver Erfahrung begegnet sie mit der Lektüre zweier zeitgenössischer Romane, die Wissenschaft als Abenteuer erzählen: Felicitas Hoppes Johanna (2006) und Mathias Énards Kompass (2015). Die räumliche Grenzüberschreitung wird hier jeweils in die Zeit projiziert, die Bewährungsprobe wird zur universitären Prüfung und das Risiko geht von institutionell verankerter Gewalt aus. Die erzählerische Form der beiden Romane ist jedoch höchst unterschiedlich: Hoppe setzt auf Konzentration und Verdichtung, sie erzeugt auf sprachlicher Ebene eine Spannung, die sich nie auf Makroebene entlädt. Énard hingegen entfesselt einen ausladenden und assoziativen Erzählfluss, der trotz aller Digressionen in die quasi-mystische Vereinigung des Wissenschaftlerpaars mündet. Durch die unterschiedlichen Erzähltechniken wird auch das episodische Abenteuerschema jeweils anders geformt und in eine andere Gesamtstruktur eingelassen. Während Énard das in den Geisteswissenschaften bestehende Bedürfnis nach Charisma, Intensität und Heroismus bedient, plädiert Griem mit Hoppe für ein Pathos der Nüchternheit: Die Zukunft der Wissenschaften liegt nicht in der Sinnstiftung durch romantisches Heldentum, sondern in egalitären Gemeinschaften, die Wissenschaft als Spiel und Sport betreiben.

Schlägt der erste Beitrag noch eine Brücke zwischen Ideologiekritik und Formanalyse, zwischen der weltanschaulichen Inanspruchnahme und den narrativen Funktionen des Abenteuers, so stößt Susanne Gödde (Berlin) zum Kern des Themas vor, indem sie die Abenteuerlichkeit antiker Gattungen, insbesondere die des Epos und des griechischen Romans, der Analyse unterzieht. Statt, wie in der Forschung vielfach geschehen, Odysseus den Status als Abenteurer pauschal zu- oder abzusprechen, macht Gödde in den Apologoi Elemente ausfindig, die auf das Erzählschema des Abenteuers vorausweisen, ohne dieses bereits völlig zu realisieren. Im Zentrum der Analyse stehen vor allem das Kriterium der gezielten Suche nach Abenteuern und das Moment der Kontingenz. Während Odysseus nur selten aus eigenem Antrieb Risiken eingeht und die ihm begegnenden Hindernisse meist als Duldender überwindet, lässt der Götterapparat der Odyssee ein Maß von Kontingenz zu, das durchaus eine Affinität zum Abenteuer aufweist. Insbesondere aus Perspektive des Protagonisten ist der Ausgang der einzelnen Episoden alles andere als vorhersehbar, und zudem wird der Einfluss der Götter gerade während der Apologoi besonders selten geltend gemacht. Die griechischen Romane der Kaiserzeit, zu denen Gödde in der zweiten Hälfte des Artikels übergeht, fassen die Zwistigkeiten der epischen Götter in der wesentlich unbestimmteren Figur der tychê zusammen, deren Semantik zwischen Schicksal und Zufall oszilliert. Ihre Pläne wirken irrational und sind undurchschaubar – für die Figuren, aber auch für den Leser, der in tychê das Prinzip des Plots überhaupt erkennen kann. Angesichts der von tychê inszenierten Wechselfälle des Glücks müssen sich die Protagonisten der Romane bewähren. Hierin liegt eine spezifische Differenz gegenüber der Odyssee, wo sich die Heimkehr des Helden kaum als eine Belohnung für bestandene Prüfungen auffassen lässt. Obwohl die Antike, anders als das Mittelalter, die gezielte Suche nach Abenteuern nicht kennt, finden sich sowohl im antiken Epos als auch in den griechischen Romanen Elemente, die einen fruchtbaren Nährboden für abenteuerliches Erzählen darstellen.

Der kultur- und literaturgeschichtliche Kernbereich, in dem das Abenteuer entscheidend geprägt, wenn nicht sogar erfunden wurde, ist dennoch der höfische Roman des Mittelalters. Mit dieser genuin nachantiken Gattung, die sich vom Epos absetzt und zugleich aus den figuralen Schemata der Heilsgeschichte heraustritt, beschäftigen sich innerhalb des Bandes drei Beiträge. Den Anfang macht Mireille Schnyder (Zürich), die der changierenden Semantik von âventiure in der mittelhochdeutschen Literatur nachgeht und dabei zeigt, wie ein Begriff, der zunächst eng an die ritterliche Bewährungsprobe im höfischen Roman gebunden war, zunehmend als ein Synonym für das Fiktionale und Imaginäre, ja sogar als ein Vorgängerbegriff von ‚Literatur‘ überhaupt fungiert. Der für das Abenteuer charakteristische Umschlag von Kontingenz in Providenz erfolgt stets durch das Erzählen der bestandenen Bewährungsproben am Artushof: Was in der Vorausschau zufällig scheint und in einen offenen Horizont eingelassen ist, verwandelt sich retrospektiv in ein vorherbestimmtes Heilsgeschehen. In diesem Prozess entsteht die Identität des Ritters aus den Geschichten, die ihm am Hof zugeschrieben werden. Sobald der Ritter – so etwa im Tristan Gottfrieds von Straßburg (um 1210) – diese Geschichten jedoch frei erfindet, steht der Begriff der âventiure für ein Möglichkeitsdenken, das gegebene Ordnungen auch in Frage stellen kann und das Eigene auf das Fremde, Andere und Ferne bezieht. Deshalb wird auch die inventio, die Suche des Erzählers nach neuen Geschichten als ein Abenteuer eigener Art dargestellt, etwa wenn der Dichter in Wolfram von Eschenbachs Parzival (ca. 1200–1210) unerwartet Besuch von „frou Aventiure“ erhält. Je stärker sich der Begriff der âventiure jedoch mit dem Wunderbaren und Phantastischen verbindet, desto deutlicher setzt er sich auch der authentischen und abgesicherten historia entgegen. Es ist deshalb nur konsequent, dass die reale Begegnung mit dem Fremdem im 16. Jahrhundert nicht mehr unter dem Schlagwort des Abenteuers, sondern dem der ‚Erfahrung‘ verhandelt wird. Man kann hier die Schwelle zu einer neuen Art der Literatur ansetzen, die kein seine Imaginationen reflektierendes Ich, sondern ein sich in die Welt einschreibendes Subjekt voraussetzt.

Âventiure bezeichnet somit schon in der deutschen Literatur des Mittelalters Phantasien, deren Wirklichkeitsbezug vom Erzähler selbstbewusst gekappt wurde. Ganz ähnlich sollte die Poetik der Aufklärungszeit im Abenteuer einen traumhaften Erzählstoff sehen, dem es jedoch an eigener Formung mangelt. Ein später Reflex dieser Zuschreibung findet sich noch in Freuds Essay „Der Dichter und das Phantasieren“. Freud beschreibt das literarische Erzählen hier nicht nur als eine Form der Wunscherfüllung, sondern wirft zugleich die Frage auf, durch welche poetischen Verfahren es dem Dichter gelingt, die eigenen Phantasien intersubjektiv mitteilbar, ja für den Leser sogar lustvoll genießbar zu machen. Martin von Koppenfels (München) nimmt das freudianische Rätsel zum Anlass, um den Zusammenhang zwischen Abenteuer und Vers- bzw. Prosaform in den romanischen Literaturen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zu untersuchen. Anhand von vier Stichproben vergleicht er, wie sich der Wechsel zwischen gebundener und ungebundener Rede auf die Darstellung einer vergleichbaren Abenteuer-Situation – die Passage des Ritters über eine gefährliche Brücke – auswirkt. Im Abenteuer an der Schwertbrücke aus Chrétiens Lancelot trägt der Reim dazu bei, die mit einem Inzestverbot belegte Vereinigung mit der Königin akzeptabel zu machen, er stellt aber auch ein stabiles Gerüst bereit, das die chaotischen Tendenzen des Abenteuers – seine strukturelle und temporale Offenheit – eingrenzt. Mit dem Wechsel zur ungebundenen Form im Prosa-Lancelot verändert sich auch die Darstellung derselben Abenteuer-Situation radikal: An die Stelle des Reims treten komplexe syntaktische Verschlingungen; gegenüber der Linearität der Verserzählung schafft die Prosa perspektivische Pluralität. Ariosto versucht im Orlando furioso gewissermaßen, die Errungenschaften der Prosa in die Oktavenform zu übernehmen: Der Vers hat hier seine begrenzende Funktion verloren, er wird vielmehr zum Vehikel der Handlungsvielfalt und des Perspektivismus. Im Don Quijote schließlich fallen der prosaische Welt- und Textzustand zusammen. Doch auch hier sind es noch Verse aus dem Romancero, die die Vermittlung zwischen den solipsistischen Phantasien des Helden und der realen Welt der anderen Figuren herstellen.

Der dritte Beitrag, der sich schwerpunktmäßig der mittelalterlichen Literatur widmet, stammt von Wolfram Ette (München) und kehrt zu einer genuin gattungstheoretischen Fragestellung zurück, nämlich zum Verhältnis von Abenteuer und Märchen. Als Materialbasis dienen dabei der höfische Roman sowie die Märchensammlung der Gebrüder Grimm und Alexander Afanasjews Zusammenstellung Russischer Volksmärchen. Einigen Interpreten gilt das Märchen bekanntlich als stoffliche Grundlage des höfischen Romans; gleichzeitig wird das Märchen häufig eher unverbindlich mit dem Begriff des Abenteuers in Verbindung gebracht. Demgegenüber betont Ette die zentrale Differenz zwischen beiden Gattungen, und diese bestimmt er entwicklungspsychologisch: Das Märchen spiegelt eine kindliche Weltwahrnehmung wider und führt über einen Moment der Initiation ins Erwachsenenleben. Der Übergang zwischen beiden Stadien erfolgt durch einen radikalen Sprung und wird durch äußere Umstände veranlasst: Nicht aus eigenem Antrieb, sondern aus Not bricht der Märchenheld in die Welt auf. Die Abenteuersuche des Ritters hingegen entspricht einer adoleszenten Entwicklungsstufe: Hier wird der Held von einer libidinösen und erotisch gefärbten Triebkraft dazu veranlasst, die Bewährungsprobe selbst zu suchen. In den kämpferischen Auseinandersetzungen treffen stets männliche Konkurrenten aufeinander, die ihre Kraft messen wollen und dabei um (ebenfalls begehrende) Frauen streiten. Dank seines erotischen Begehrens ist der abenteuersuchende Ritter in der Lage, die Ordnung seines Lebens selbst zu formen, auch wenn das Entwicklungsmoment im höfischen Roman völlig unterschiedlich ausgeprägt ist und häufig rudimentär bleibt. Das Abenteuer steht auf halbem Weg zwischen dem diskontinuierlichen Initiationsmodell des Märchens und der autonomen Selbstgenese des modernen Bildungsromans.

Nach seiner Hochphase in den „verwilderten“ Prosaromanen des Mittelalters17 sowie in den italienischen romanzi des 15. Jahrhunderts – einen vielleicht unübertroffenen Höhepunkt der Abenteuerlichkeit markiert Matteo Boiardos Orlando innamorato von 1494 – beginnt für das Abenteuer eine Zeit der Krise. In Italien wird diese nicht zuletzt durch die Wiederentdeckung der aristotelischen Poetik und die Konfrontation des abenteuerlichen romanzo mit dem Modell des antiken Epos ausgelöst. Manuel Mühlbacher (München) sucht nach Spuren des Abenteuers in der hitzigen Debatte um Ariostos Orlando furioso und Tassos Gerusalemme liberata, die sich durch die zweite Hälfte des Cinquecento zieht. Die aristotelische Brille, mit der die italienischen Dichtungstheoretiker die frühneuzeitliche Ritterepik betrachten, führt zwar dazu, dass die Kategorie des Abenteuers aus dem poetologischen Vokabular verschwindet, aber die Vorrangstellung, die Aristoteles dem mythos zuspricht, zwingt gleichzeitig zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den abenteuerlastigen Plot-Strukturen des romanzo. Die gattungstheoretischen Traktate dieser Zeit können deshalb fruchtbar gemacht werden, um Elemente für eine historische Narratologie des Abenteuers zu sammeln. Im Mittelpunkt des Artikels stehen insbesondere das sinnliche Lustprinzip, das der Gattung des romanzo zugeschrieben wird, und seine konstitutive Endlosigkeit, die aus der seriellen Struktur des Abenteuers resultiert. Der episodischen Reihung der Bewährungsproben entspricht ein zyklisches Wechselspiel von Spannungsaufbau und Spannungsabfuhr, das das narrative Begehren des Lesers nie vollkommen stillt und daher vielen Kommentatoren moralisch fragwürdig scheint. Die Suche nach impliziten Reflexionen über das Abenteuer in den Poetiken des Cinquecento fördert all die Konnotationen und Wertungen zu Tage, die sich einer rein strukturalen Erzähltheorie entziehen.

Zu der Zeit, als sich das Italien des 16. Jahrhunderts zum antiken Epos zurückwendet, bringt die spanische Literatur eine neue Romangattung hervor, die sich in radikaler Opposition zur idealisierten Welt des Ritterromans definiert und die mit ihm dennoch die episodisch-kontingente Struktur teilt: den pikarischen Roman. Von Grimmelshausens Abentheuerlichem Simplicissimus Teutsch bis in die moderne Forschung18 ist es üblich, die Erlebnisse des pícaro bzw. des Schelms als ‚Abenteuer‘ zu bezeichnen, ohne dass diese Zuschreibung immer reflektiert und kritisch geprüft würde. Michael Waltenberger (München) untersucht die ‚Abenteuerlichkeit‘ des deutschen Schelmenromans des 17. Jahrhunderts und definiert dafür zunächst die strukturellen Bedingungen, die abenteuerlichen Erzählmustern zugrunde liegen: Während bei sujethaften Texten die ursprüngliche Ordnung durch den transgressiven Akt des Helden für einen Moment erschüttert wird, um dann sogleich wieder in eine neue Ordnung überzugehen, eröffnet das Abenteuer einen Raum der wilden Kontingenz (Ricœur) in der Kluft zwischen zwei Ordnungszuständen. Das Moment der Transgression wird dadurch von dem der Ereignishaftigkeit abgelöst, da die Ereignisse jetzt in einem von der Grenzüberschreitung überhaupt erst eröffneten abenteuerlichen Dazwischen stattfinden. Während der Raum der Ordnung und der Raum des Risikos bei der ritterlichen aventure, aber auch im modernen Abenteuerroman meist getrennt sind, wird im Schelmenroman die Welt des Bekannten und Alltäglichen selbst zu einer kontingenzgesättigten Abenteuersphäre. Diese ‚Verabenteuerung‘ der Gesellschaft analysiert Waltenberger anhand von Hieronymus Dürers Lauf der Welt und Spiel des Glücks (1668) und Grimmelshausens Springinsfeld (1670), wo der Dreißigjährige Krieg als abenteueraffiner Chronotopos in Betracht gezogen wird. Bei Dürer ist die Kontingenz noch durch ihre Darstellung im Rad der Fortuna rationalisiert: Während die Hauptfigur es verpasst, sich gegen die immer wieder eintretenden Glückswechsel vorzusehen, kann der Leser im Wirken Fortunas eine zyklische Regelmäßigkeit erkennen. Diese Figuration des Glücks fordert weniger zu einem Rückzug aus der eitlen Welt auf, wie ihn das erzählende Ich mit seiner gattungstypischen conversio bereits vollzogen hat, sondern vielmehr zu klugem ökonomischem Handeln, das aus der Berechenbarkeit der Fortuna Kapital schlägt. Diese Möglichkeit, das Spiel des Glücks vorauszusehen und potentiell zu bewältigen, verschwindet bei Grimmelshausen. Hier verdanken sich Gewinn und Verlust nicht mehr dem klugen bzw. unvernünftigen Handeln der Figuren, sondern unvorhersehbaren Zufällen. Das christliche Ordnungsvertrauen ist zwar nicht verloren gegangen, es dient jetzt aber vor allem als Kontrastfolie, von der sich die unkalkulierbaren Kontingenzen des Kriegsgeschehens abheben.

Während das Abenteuer in der Frühen Neuzeit an narrative Großformen gebunden bleibt – Ritterroman, Schelmenroman, barocker Liebesroman –, soll es in der Aufklärungszeit gerade aus dem Roman ausgetrieben werden: mit der Folge, dass es unter anderem in kleinere Gattungen wie die Novelle abwandert. Dieser Gattungswechsel, den Inka Mülder-Bach (München) anhand der Novellistik Goethes nachzeichnet, ist kulturgeschichtlich nicht von einem sozialen und literarischen Rationalisierungsprozess zu trennen. Das von der aufklärerischen Poetik Ausgeschlossene – das Romanhafte, Wunderbare, Abenteuerliche – stellt ein Verdrängtes dar, das jederzeit in Form des Unheimlichen wiederkehren kann. Genau deshalb taucht der Begriff des Abenteuers im Rahmen phantastischer Kurzerzählungen wieder auf: In einigen Erzählungen aus den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) markiert es einen Moment des akustischen Schocks, ein „unerhörtes Hörereignis“, wie Mülder-Bach schreibt, das die Ordnung zerstört und das narrativ nicht bewältigt werden kann – ganz im Gegensatz zur ordnungsstiftenden Funktion der mittelalterlichen aventure. Goethes Novelle (1828) hingegen stellt den Versuch dar, das Abenteuer als novellistisches Ereignis aufzufassen und es dadurch wieder in ein Erzählprojekt zu integrieren. In Goethes Bearbeitung wird das Abenteuer deshalb zu einer episch-romantischen Variante des novellistischen Ereignisses. Allerdings wird die ereignishafte Neuheit, die der Titel des Textes ankündigt, systematisch von den Blicken und Projektionen der Figuren konterkariert: Diese überformen das Neue und Gegenwärtige fortwährend mit Altbekanntem. So ist es in erster Linie das Phantasma eines Abenteuers, das in der Novelle zur Erscheinung kommt und sich ‚eräugnet‘. Wie Mülder-Bach zeigt, stellt Goethe hier eine sozialgeschichtliche Diagnose: Die Aufklärung hat eine Kultur hervorgebracht, die auf das Abenteuer verzichten musste und genau deshalb in der ständigen Gier nach Sensation lebt. Im Moment des Ereignisses, das als Abenteuer imaginiert wird, lockert sich diese kollektive Verdrängungsleistung vorübergehend, bevor das Realitätsprinzip wieder die Kontrolle übernimmt.

Durch den weitgehenden Ausschluss aus bestimmten Romangattungen – sei es dem Bildungsroman oder später dem realistisch-psychologischen Roman – wandert das Abenteuer einerseits in kleine narrative Formen wie die Novelle ab. Andererseits entsteht im Lauf des 19. Jahrhunderts erstmals eine Gattung, die das Abenteuer im Namen trägt, nämlich der populäre Abenteuerroman. Mit der viktorianischen Spielart dieses Genres beschäftigt sich der Beitrag von Kathrin Härtl (München). Obwohl der spannungsorientiert erzählte Abenteuerroman nicht gerade für seine Autoreflexivität und metaliterarische Verspieltheit bekannt ist, kann Härtl nachweisen, dass die Paratexte viktorianischer Abenteuererzählungen den Prozess der Lektüre als ein Abenteuer eigener Art inszenieren. In den Vorworten von Frederic Marryats Masterman Ready (1841) und R. M. Ballantynes The Coral Island (1858) wird der Eintritt in den Text als eine abenteuerliche Grenzüberschreitung dargestellt, so dass sich der Leser in Analogie zum Protagonisten als Abenteurer imaginieren kann. Die liminale Position des Paratextes reflektiert somit auf einer strukturellen Ebene ein zentrales Element des Abenteuerschemas: das Überschreiten der Schwelle, die die Welt des Alltags vom Raum des Abenteuers trennt. Der Text wiederum präsentiert sich als ein Bereich, in dem jederzeit mit gefährlichen Zufällen und riskanten Bewährungsproben zu rechnen ist. Die Vorworte viktorianischer Abenteuerromane sind deshalb nicht nur ein Ort der Indoktrinierung und Subjektivierung, wo ein paternalistischer Autor seinen jugendlichen Lesern die Ideologie des Empire näherbringt. Vielmehr verhandeln und reflektieren sie zentrale Fragen, die mit dem Abenteuer als Erzählschema verbunden sind, etwa das Verhältnis von Fakt und Fiktion, von Kontingenz und Providenz oder von Wunscherfüllung und Integration in die bürgerliche Ordnung. Durch die Markierung einer Grenze steckt der Paratext den Raum ab, in dem Abenteuer imaginativ miterlebt werden können, er verweist aber auch auf die Notwendigkeit, aus diesem wieder in die Gesellschaft zurückzukehren.

Die Kultur der Moderne wird vom Phantasma des letzten Abenteuers heimgesucht – und der Abenteuerroman sieht sich zeitgleich mit dem Problem konfrontiert, dass angesichts der zunehmend lückenlosen Kartierung des Planeten kaum noch weiße Flecken übrig sind, wo mit gefährlichen Zufällen zu rechnen ist. Die Gelegenheit zur heroischen Selbstbewährung muss in immer entlegeneren Gebieten aufgesucht werden: auf fremdem Kontinenten, in der Luft oder unter dem Meer, im Weltall oder in phantastischen Parallelwelten. Der Frage, wo in der Moderne überhaupt noch der Stoff für abenteuerliche Erzählungen herkommen kann, geht der Beitrag von Dariya Manova (Berlin) in deutschen Abenteuertexten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nach. Die Frage nach dem (narrativen) Stoff stellt sich hier auf zwei Ebenen: In den von Manova analysierten Texten geht es um industrielle Rohstoffe im wörtlichen Sinne, aber deren Abbau wird nach einem abenteuerlichen Plot-Muster, nämlich als gefahrvolle Schatzsuche erzählt. Während bei traditionellen Rohstoffen wie Erz und Kohle noch ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Risikobereitschaft und Fleiß besteht, erscheint vor allem das äußerst wertvolle und zugleich höchst entflammbare Petroleum als das ideale Material, welches das Begehren von vielerlei Abenteurern, Glücksrittern und Spekulanten auf sich zieht. Karl May setzt sich in seinen Beiträgen für die Montanzeitschrift Schacht und Hütte (1875) mit dem Risiko- und Abenteuerpotential der Rohstoffsuche auseinander und nutzt das Abenteuernarrativ dabei als ein Instrument zur Popularisierung technischen Wissens, aber auch zur Verschleierung der realen wirtschaftlichen Ausbeutung. Wie Manova zeigt, wandert das Rohstoff-Abenteuer fünfzig Jahre später in die gerade entstehende Gattung des Sachbuchs und überschreitet dabei die Grenze von der Fiktion zum faktualen Bericht, über die schon Karl May hinwegtäuschen wollte. Autoren wie Heinrich Eduard Jacob und Anton Zischka versprechen ihren Lesern, die rohen Fakten über den weltweiten Abbau von und Handel mit Rohstoffen zu liefern. Während der Stoff und die Mechanismen seiner Zirkulation zu den neuen Aktanten der Erzählung werden, inszenieren sich die Autoren selbst als investigative Abenteurer, die bei der Entschlüsselung der Produktionsketten den Globus umrunden und zahlreiche Gefahren bestehen. Das Stoff-Abenteuer verlagert sich damit auf den Prozess des Recherchierens und Schreibens: Auf der Suche nach dem Rohstoff ‚Tatsache‘ ist der Sachbuchautor zum neuen Abenteuerhelden geworden.

Während der populäre Abenteuerroman im Westen bei einer breiten Publikumsschicht Absatz findet, aber von den Autoren des literarischen Höhenkamms und deren gebildeten Lesern eher als Jugendlektüre belächelt wird, beklagt die russische Avantgarde der 1920er Jahre gerade das Fehlen einer handlungsstarken narrativen Prosa. Wie Aage A. Hansen-LöVE (München/Wien) zeigt, führen die russischen Formalisten den Abenteuerroman deshalb gegen die ornamentale Prosa des Realismus und des Symbolismus ins Feld – mit dem Ziel, der russischen Literatur wieder die Fähigkeit zum Erzeugen intensiver Handlungsspannung einzupflanzen. Der Abenteuerbegriff wird dabei verfremdet, ‚entkernt‘ und gleichzeitig auf neue Weise nutzbar gemacht: Innerhalb der formalistischen Theoriebildung steht er für die Mechanisierung der Handlungsstruktur, für die Depsychologisierung der Figuren und das Ausspielen von identifikatorischen Spannungseffekten gegen autoreflexive Theoriesignale. Das Abenteuerschema, das sich aufgrund seiner Tendenz zur mechanischen Wiederholung immer schon am Rand der Selbstparodie bewegt, wird bei den Formalisten somit gezielt zur parodistischen Bloßlegung narrativer Verfahren eingesetzt. Der Abenteuerbegriff fungiert dabei als ein Schlagwort für das Formale im Erzählen: für Sujethaftigkeit, textuelle Syntagmatik und Plot-Konstruktion. Und aus der Abenteuer-Literatur wird das Abenteuer ‚Literatur‘: eine nicht nur theoretische, sondern auch literarisch-experimentelle Auseinandersetzung mit den Grundmechanismen des Erzählens. Tatsächlich beschränkten sich Formalisten wie Viktor Šklovskij nicht auf eine narratologische Reflexion über die Erzählsyntax von Gattungen wie der Kurzgeschichte oder dem Abenteuer- und Kriminalroman, sondern unternahmen selbst den Versuch, auf russischem Boden eine handlungsstarke Unterhaltungsprosa nach anglo-amerikanischem Vorbild zu installieren. Das Projekt eines experimentellen Schundromans scheiterte zwar auf dem literarischen Markt, stellt aber einen einzigartigen Versuch dar, den Abenteuerbegriff für eine avantgardistische Prosa in Anspruch zu nehmen.

Medienrevolutionen konnten dem Abenteuer in den vergangenen Jahrhunderten wenig anhaben, häufig war es an ihnen sogar wesentlich beteiligt: Die venezianischen Druckerpressen um 1500 produzierten vor allem Ritterromane19 und das Feuilleton des 19. Jahrhunderts verhalf dem populären Abenteuerroman zu seiner Blüte.20 Ob und in welcher Form das Abenteuer in moderne Unterhaltungsmedien einwandert, etwa in die zeitgenössische, mit langen Handlungsbögen operierende Fernsehserie, ist eine Frage, der sich die Forschung noch annehmen muss. Manche Serien bringen durchaus Erzähltechniken zum Einsatz, die sich auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Abenteuertexte zurückführen lassen, wie die Vervielfältigung der Handlungsstränge (entrelacement) und den Cliffhanger – so etwa die HBO-Serie Game of Thrones sowie George R. R. Martins als Vorbild dienender Romanzyklus A Song of Ice and Fire, mit dem sich der Beitrag von Jan Söffner (Friedrichshafen) beschäftigt. Söffner geht vom Modell der Campbell’schen Heldenreise aus und zeigt, wie dieses in der Fantasy-Literatur gängige Erzählschema von Martin zugleich aufgegriffen und systematisch negiert wird: Insbesondere die äußerst populäre Figur Daenerys Targaryen scheint über lange Zeit eine klassische Heldenreise zu absolvieren, ausgehend von einer schicksalshaften Berufung (calling), entlang eines mit initiatorischen Prüfungen versehenen Weges und unter der Leitung unterschiedlicher Mentoren. Doch obwohl sie über weite Teile der Serie als eine Erlöserfigur erscheint, die ihrer Gemeinschaft die Freiheit bringt, macht sie ihre Heldenreise in der achten Staffel durch einen Akt der Brutalität zunichte. Diese Negation von Campbells Monomythos erhellt sich zusätzlich, wenn man diesen als Transformation des mittelalterlichen aventure-Schemas begreift. In beiden Fällen zieht ein Held aus, um sich unterschiedlichen Prüfungen zu stellen, doch während die Wechselfälle der Reise bei Campbell immer schon einem transzendenten Ziel – der mystische Vereinigung mit einer Gottheit – untergeordnet sind, ist der Abenteuerweg des Ritters grundsätzlich offen: Seine Bewährungsproben geben dem Zufall Raum; sie sind nicht nur obligatorische Stationen einer metaphysisch grundierten queste. In Game of Thrones wird gerade das Transzendenzversprechen der Heldenreise enttäuscht, und mit der unvorhersehbaren Liquidierung von Hauptfiguren, für die die Serie berühmt wurde, hält das Moment der Kontingenz wieder Einzug – allerdings nicht, um mit Hilfe des Abenteuerschemas bewältigt zu werden, sondern um unheilbare Traumata zu hinterlassen. So bleiben die verstümmelten Figuren zwar im Spiel, doch anders als der klassische Abenteuerheld werden sie nicht mehr auf wunderbare Weise geheilt.

Dieser Sammelband geht auf eine Tagung der DFG-Forschungsgruppe ‚Philologie des Abenteuers‘ an der LMU München im Juni 2018 zurück, die von den Herausgebern zusammen mit Wolfram Ette und Susanne Gödde organisiert wurde. Weder die Durchführung der Veranstaltung noch die Veröffentlichung der Ergebnisse wären ohne die Unterstützung engagierter Hilfskräfte möglich gewesen. Danken möchten wir insbesondere Elisa Purschke für die gestalterische Unterstützung sowie Melina Brüggemann und Maciej Bakinowski, die sowohl die Veranstaltung als auch die Publikation dieses Sammelbandes mit großem Einsatz begleitet haben.

1

Cathrin Klingsöhr-Leroy bezeichnet das Bild daher als „Persiflage“ des Konstruktivismus: Paul Klee in der Pinakothek der Moderne, hg. v. d. Pinakothek der Moderne / Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 1999, S. 132.

2

Klees Bild wurde – von uns spät bemerkt – auch für den Schutzumschlag von Michael Nerlichs Buch Abenteuer oder das verlorene Selbstverständnis der Moderne (München: Gerling Akademie Verlag 1997) verwendet.

3

Chrétien de Troyes, Érec et Énide, V. 13 f., in: ders., Œuvres complètes, hg. v. Daniel Poirion, Paris: Gallimard 1994, Bd. 1, S. 3–169, hier S. 3.

4

Zunächst rein textbasierte Adventures, eigentlich interaktive Erzählungen, bildeten eines der ersten etablierten Computerspiel-Genres. Vgl. Nick Montfort, Twisty Little Passages. An Approach to Interactive Fiction, Cambridge/MA: MIT Press 2003.

5

Dazu: Hans-Jörg Neuschäfer, Populärromane im 19. Jahrhundert. Von Dumas bis Zola, München: Wilhelm Fink 1976; Jean-Yves Tadié, Le roman d’aventures, Paris: Presses Universitaires de France 1982; Volker Klotz, Abenteuer-Romane, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1989; Mathieu Letourneux, Le roman d’aventures 1870–1930, Limoges: Presses Universitaires de Limoges et du Limousin 2010.

6

Klotz, Abenteuer-Romane, S. 10.

7

Georg Simmel, „Philosophie des Abenteuers“, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918, hg. v. Rüdiger Kramme u. Angela Rammstedt, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, Bd. 1 (= Simmel, Gesamtausgabe, hg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 12), S. 97–110.

8

So argumentiert etwa Paul Zweig, The Adventurer, Pleasantville/NY: Akadine Press 1999.

9

Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Basel u. Tübingen: Francke 2001, S. 131.

10

Mit dem Kriterium der aktiven Suche setzen sich auch die Artikel von Susanne Gödde und Wolfram Ette in diesem Sammelband auseinander. Vgl. dazu insb. unten, S. 41–44 u. 107–109.

11

Boris Tomaševskij, „Fabel und Sujet“, in: ders., Theorie der Literatur, Poetik, hg. v. Klaus- Dieter Seemann, Wiesbaden: Harrassowitz 1985, S. 214–227.

12

Vladimir Propp, Morphologie des Märchens, hg. v. Karl Eimermacher, München: Hanser 1972, S. 25–30.

13

Vgl. Joseph Campbell, The Hero with a Thousand Faces [1948], Princeton u. Oxford: Princeton University Press 2004.

14

Vgl. Jurij Lotman, Die Struktur literarischer Texte, übers. v. Rolf-Dietrich Keil, München: Wilhelm Fink 1972, S. 329–340.

15

Michail Bachtin, Chronotopos, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008, S. 9–36 u. S. 79–87.

16

Den Umstand, dass das Abenteuer als narrativer „Baustein“ in das Ganze des Textes einfließt, haben Jutta Eming und Ralf Schlechtweg-Jahn zuletzt mit dem Begriff des „Narrativs“ gefasst. Vgl. Eming u. Schlechtweg-Jahn, „Einleitung“, in: Aventiure und Eskapade. Narrative des Abenteuerlichen vom Mittelalter zur Moderne, hg. v. dens., Göttingen: V & R unipress 2017, S. 7–48, hier S. 20 f.

17

Vgl. Karlheinz Stierle, „Die Verwilderung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeit“, in: Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters, hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht, Heidelberg: Winter 1980, S. 253–313.

18

So etwa – um nur ein Beispiel zu nennen – bei Franz Stanzel, Typische Formen des Romans, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1981, S. 67 f.

19

Vgl. dazu Marco Villoresi, La letteratura cavalleresca. Dai cicli medievali all’Ariosto, Rom: Carocci 2000, S. 138.

20

Vgl. dazu etwa Tadié, Le roman d’aventures, S. 17.

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