1 Politik des Zufalls oder: warum geschieht etwas?
Aus Zufall (ek tychês) kreuzten sich nun ihre Wege an einer etwas engen Straßenecke, und sie fielen sich gegenseitig beinahe in die Arme. Denn der Gott war es, der diese Begegnung in die Wege geleitet hatte (tou theou politeusamenou) damit einer den anderen zu sehen bekomme.1
Diese Passage aus der Kallirhoe des Chariton von Aphrodisias aus dem 1. Jahrhundert nach Christus macht mehr als deutlich, dass ‚Zufall‘ und göttliches Eingreifen sich in der Welt der kaiserzeitlichen griechischen Romane nicht ausschließen müssen. Der Gott, von dem hier in anonymer Form die Rede ist, ist der Liebesgott Eros; das geht aus den vorausgehenden Passagen unmissverständlich hervor, in denen mitgeteilt wird, dass Eros, obwohl die Familien der beiden syrakusischen Protagonisten, Chaireas und Kallirhoe, einander nicht wohlgesonnen waren, dieses Paar dennoch zusammenbringen wolle:
Doch streitsüchtig ist Eros und liebt Ereignisse, die niemand erwarten würde. Dazu suchte er sich nun folgende gute Gelegenheit (kairon),
so heißt es unmittelbar vor der oben zitierten Stelle.2 Bereits diese kurze, aber für die gesamte Handlung des Romans grundlegende Szene entfaltet ein differenziertes Vokabular der Unhintergehbarkeit, Unvorhersehbarkeit und Instabilität eines Ereignisses, das als ‚zufällig‘ (ek tychês),3 als ‚Fall‘ von Körpern (periepeson allêlois), als ‚paradox‘ (griechisch paradoxon, hier übersetzt mit „Ereignisse, die niemand erwarten würde“) und als dem Gesetz des Augenblicks, dem kairos folgend, beschrieben wird. Das aus menschlicher Perspektive kontingente Ereignis, das sich scheinbar ohne Planung und Intentionalität ereignet, hat aber bei Chariton gleichwohl einen Agenten: Es wird gesteuert und arrangiert vom Gott Eros, der keineswegs das Prinzip des Zufalls oder der Kontingenz verkörpert.4 Er hat vielmehr eine klare Agenda: Hinter der hier zitierten Übersetzung „streitsüchtig“ verbirgt sich das Wort philonikos‚ ‚den Sieg liebend‘, was man auch mit ‚ehrgeizig‘ wiedergeben könnte. Vor allem aber das Eingangszitat (1, 1, 6) verwendet ein Verb, das die scheinbare Kontingenz hier zugleich als ‚Providenz‘ ausweist: Eros verfolgt mit seinem Arrangement eine ‚Politik‘ – tou theou politeusamenou, von Martin Wehrhan etwas abgeschwächt wiedergegeben mit „der diese Begegnung in die Wege geleitet hatte“ –, und der Gott lässt sich in dieser gouvernementalen Rolle auch als ein Regisseur der Handlung betrachten.5
Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, inwieweit die antike griechische Literatur, insbesondere Epos und Roman, ein Paradigma des Abenteuerlichen ausbildet, das diese Bezeichnung bereits vor der Geburt des Terminus âventiure (oder frz. aventure) im mittelalterlichen Vers- und Prosaroman rechtfertigt. Das eingangs exemplarisch vorgeführte Vokabular des zufälligen Ereignisses, das aber doch einem größeren (göttlichen) Plan zu folgen scheint, soll den Hintergrund für diese Untersuchung abgeben, denn das Erzählschema des Abenteuers ist seit dem Mittelalter eng an die Kategorien der Kontingenz und der Providenz gebunden.6 Die Frage jedoch, ob die Protagonisten des antiken Liebesromans tatsächlich ‚Abenteuer‘ erleben, kann und soll nicht gestellt werden ohne einen Blick auf die Gattung, die das fragliche Erzählschema viel früher ausgebildet haben dürfte, nämlich das Epos und insbesondere die Odyssee. Die fünf erhaltenen auf Griechisch verfassten Liebesromane aus der römischen Kaiserzeit (entstanden vermutlich zwischen dem 1. und dem 4. Jahrhundert nach Christus)7 gelten nicht nur als Gattungshybride, in denen vielerlei Einflüsse, etwa seitens der Neuen Komödie oder der Historiographie, aber auch der Rhetorik, zusammenkommen, sondern sie werden vor allem immer wieder vor der Folie der Odyssee gelesen.8 Daher soll die Frage, ob die Antike das Abenteuer als Erlebnis- und/oder Erzählform kennt, bis zurück zum Anfang der griechischen literarischen Überlieferung verlängert werden, um mögliche Gattungskonventionen und Paradigmenwechsel in der Bearbeitung des Erzählschemas ausmachen zu können.
Der Umstand, dass die Erlebnisse des Odysseus, die ihm während seiner Irrfahrt von Troia nach Ithaka widerfahren und von denen er am Hof der Phaiaken erzählt, in der Forschung bedenkenlos als ‚Abenteuer‘ bezeichnet werden,9 steht in einer Spannung zu dem Befund, dass die griechische Antike kein Wort für ‚Abenteuer‘ kennt. Die Suche nach einem Konzept oder einer Erzählform ‚Abenteuer‘ in der antiken Erzählliteratur wird also dadurch erschwert, dass zunächst definiert werden muss, was gesucht werden soll, dass aber eine allgemeingültige und epochenübergreifende Definition des Abenteuers nicht existiert. Jede Epoche, so scheint es, bestimmt ‚Abenteuer‘ in Relation zu ihren eigenen gesellschaftlichen und kulturellen Normen, ihren etablierten Denk- und Handlungsmustern als dasjenige, das diese Normen und Muster überschreitet und das daher als außeralltägliche Erfahrung wahrgenommen wird.10
Konsens ist, dass zum Abenteuer Risiko und Gefahr gehören und dass von Abenteuern nur erzählt werden kann, wenn sie auch überstanden werden, ja dass sie, so das Verständnis der mittelalterlichen Literatur, geradezu zu Erzähleinheiten werden.11 Weniger einheitlich sind die Bestimmungen hinsichtlich der Aktivität respektive Passivität des Abenteurers: Ist das Abenteuer immer etwas, das aktiv und freiwillig gesucht wird, oder lässt sich auch das, was gemäß der Etymologie des Wortes ‚auf einen zukommt‘, also das Ungeplante und Unvorhersehbare, als Abenteuer greifen?12 Und ließen sich hier nicht unterschiedliche Verläufe und Mischungen vermuten, etwa eine anfänglich aktive Suche, die dann aber in ungeahnte Situationen führt und den Abenteurer zum passiven Opfer der ihn überwältigenden Kräfte und Gefahren macht?
Die Auffassungen dessen, was ein Abenteuer sei, unterscheiden sich des Weiteren in der Frage, in welchem Verhältnis das abenteuerliche Erleben zu einer von Göttern determinierten Ordnung steht. Kann es in einer Welt, in der alles von den Göttern oder dem einen christlichen Gott geplant und gelenkt wird, Abenteuer geben? Oder ist die Götterferne und die Negation einer ‚sinnstiftenden‘ Ordnung eine Voraussetzung für das Abenteuer als Weg ins Offene, das damit zu einer genuin modernen und säkularen Erlebniskategorie avancieren würde?13 Der Blick in die mittelalterliche, aber auch die antike Literatur zeigt, dass der göttliche (Heils-)Plan und das Abenteuer keineswegs als einander ausschließende Kategorien zu verstehen sind.14 Darüber hinaus ist zu bedenken, dass es in der frühen Antike keine Vorstellung vom göttlichen Heil und vom Anspruch auf dieses gibt, mithin keine Garantie des Überstehens – offenbar eine gute Voraussetzung für Abenteuer, trotz des Fehlens einer adäquaten Terminologie. Gleichwohl sei hier die Behauptung gewagt, dass sich eine kontinuierlich stärker werdende Verknüpfung abzeichnet zwischen der moralischen Auszeichnung der Helden von Abenteuerromanen und dem Bestehen ihrer Abenteuer. Für Odysseus dürfte diese Logik nur sehr implizit gelten, doch spätestens in den kaiserzeitlichen und spätantiken Liebes- und Abenteuerromanen, die von einer stoischen und prä- bzw. frühchristlichen Ethik geprägt sind, beginnt sich diese Form der poetischen Gerechtigkeit abzuzeichnen, die vermutlich den Erfolg des populären Abenteuerromans aller Epochen erklären kann.
2 Odysseus: Spielball der Mächte, Dulder, listiger Stratege
Angesichts der Heterogenität von epochal geprägten Bestimmungen des Abenteuers hat die Forschungsgruppe, die diesen Sammelband initiiert hat, sich auf eine sehr basale und abstrakte Minimaldefinition des Abenteuers geeinigt. Demnach müssen folgende vier Parameter vorliegen, um von einem Abenteuer sprechen zu können: „(1) ein identifizierbarer Held, (2) eine grenzüberschreitende Bewegung im Raum, (3) ein Moment (gefährlicher) Kontingenz und (4) eine Erzählinstanz, die den Zusammenhang herstellt, in dem jene Kontingenz sich als Probe oder Prüfung erweist“.15 Dass die Kriterien (1) und (2) von der Odyssee erfüllt werden, ist unstrittig, und sie sollen hier keine Rolle spielen. Bevor die Aspekte (3) und (4) für das homerische Epos überprüft werden sollen, ist jedoch noch ein weiteres Merkmal hinzuzufügen, das Odysseus von den späteren Abenteurern, insbesondere denen des Mittelalters, kategorial zu trennen scheint, nämlich das Merkmal der aktiven Suche nach dem Abenteuer.16
Aktive Suche oder passives Erleiden
Will man die aktive Disposition des Abenteurers als notwendiges Kriterium der Definition voraussetzen, dann muss man Odysseus, wie es oft geschehen ist, den Abenteuer-Status wohl absprechen. Denn wer wie Odysseus gezwungen reist, so ein häufig formuliertes Argument, ist kein Abenteurer, zum Abenteuer gehöre die mutige Entscheidung, es auf sich zu nehmen, sich ihm auszusetzen, den Nervenkitzel der Gefahr zu wollen und zu ertragen – eine Haltung, die die Antike möglicherweise gar nicht kennt. So schreibt Michael Nerlich in seiner einschlägigen Studie Kritik der Abenteuer-Ideologie, aus dem Jahr 1977:
Die Abenteuer des Odysseus, der nach Hause möchte, sind ihm durch Beschluss der Götter auferlegte Schicksalsschläge […]. Das gleiche gilt für Iason und seine Gefährten, die Argonauten, auch wenn spätere Zeit sie als Sinnbild von moderner Abenteuer-Existenz verstanden wissen wollten. Und wenn Herakles auszieht, die Hydra zu töten, so tut er das nicht, weil er im Wagnis, im Risiko, im Abenteuer den Sinn seines Daseins sieht, sondern weil er nach dem Ratschluss der Götter dem König von Mykenai Dienste zu leisten hat.17
In ähnlicher Weise spricht Vladimir Jankélévitch Odysseus’ Erlebnissen die dem Abenteuer eigene Kinetik ab, nennt ihn einen „faux voyageur“ und einen „aventurier par force“ und sieht in seinem Drang heimzukehren das genaue Gegenteil des Abenteuers:
Ulysse, le héros méditerranéen par excellence, représente-t-il véritablement le style aventureux? […] à y regarder de plus près, les tentations d’Ulysse sont des tentations de la halte et non point celles du mouvement: ces tentations sont plutôt statiques que cinétiques; ce qui est proposé au voyageur c’est d’interrompre son voyage et de s’arrêter en route et, de lambiner, et de boire à l’ombre. Les séductrices incarnent pour le vagabond les délices de la vie sédentaire et le domicile fixe. À ce compte, c’est plutôt le devoir qui dit à Ulysse: debout! En avant! Toujours plus loin! […]. Ulysse ne désire qu’une seule chose: rentrer à la maison, retrouver son épouse fidèle […]. Les aventures il ne les a pas cherchées. En somme ce faux voyageur est aventurier par force et casanier par vocation, et ses pérégrinations, à cet égard, sont des aventures un peu bourgeoises.18
Es ist ohne Zweifel richtig, dass das Abenteuer im homerischen Epos nicht in der Weise institutionalisiert ist, wie es für den arthurischen Hof der mittelalterlichen Epik zutrifft. Abenteuer zu bestehen gehört nicht zum heroischen Code der homerischen Epen, der, zumindest nach der Logik der Ilias, den Ruhm des Helden vor allem an den Einsatz in der vordersten Schlachtreihe, an Sieg oder ruhmvollen Tod im Krieg und an das Grabmal, das an ihn erinnert, knüpft.19 Der Krieg ist in der Ilias kein Abenteuer, sondern eine gesellschaftliche Verpflichtung, er verbürgt Ruhm und Ehre und damit auch Besitz in Form von Ehrgeschenken und perpetuiert somit den Status der ‚Könige‘, also der obersten Schicht der homerischen Gesellschaft. In einer sehr allgemeinen Weise lässt sich jedoch eine strukturelle Analogie behaupten: Denn so wie in der mittelalterlichen Artus-Epik der Ritter ausziehen muss, um Abenteuer zu bestehen und dadurch seinen Status zu bestätigen oder allererst zu erwerben, so muss der Protagonist des homerischen Epos im Krieg kämpfen, weil dies seiner qua Geburt definierten sozialen Rolle entspricht.
Der Protagonist des zweiten homerischen Epos etabliert hingegen ein ganz neues Verhältnis von ‚heroischen‘ Taten und Ruhm. Im Zentrum dieses Epos steht nicht der im Krieg erworbene Ruhm, wenngleich dieser dem Odysseus, der entscheidend an der Einnahme Troias beteiligt war, unwiderruflich zusteht.20 Die ‚Taten‘ dieses Helden werden vielmehr in eine mythische und märchenhafte21 Gegenwelt verlegt und antizipieren somit in sehr loser Weise den Abenteuerwald der mittelalterlichen und rinascimentalen Epen und Romanzen. An die Stelle des Waldes tritt freilich in der Odyssee das Meer als der Raum der Gefahren und der unberechenbaren und unbeherrschbaren Naturmächte.22
Allerdings gibt es keinen arthurischen Code, nach dem Odysseus die zwölf Abenteuer zu bestehen hat,23 kein Preis wurde ihm dafür versprochen, und auch reist Odysseus – anders als die nach der mythischen Chronologie früheren Argonauten24 – nicht durch das Mittelmeer, um einen Schatz, ein magisches Vlies (oder einen Gral), zu suchen. Er segelt über das Meer mit einem einzigen Ziel: Er will heimkehren – und er formuliert diesen Wunsch niemals mit Blick auf seine Position als König und Herrscher, sondern immer hinsichtlich der ersehnten Insel, Ithaka, und der geliebten Frau, Penelope. Die ‚Abenteuer‘, die er auf dieser Reise erlebt, sind, wie Jankélévitch sehr richtig formuliert, daher zunächst einmal Unterbrechungen seiner Reise und Retardationen seines Ziels: „tentations de la halte“. Dass sie den Helden von seinem intendierten Weg abbringen, ändert allerdings nichts daran, dass er sich auf diesen Um- und Abwegen jeweils auch aktiv verhält: planend und kalkulierend, das Fremde suchend und die Gefahr herausfordernd, mutig und listig.25 Zugleich gibt es Situationen, in denen Passivität, das Abwarten und Ausharren, zur Rettung führt. Odysseus besteht ohne Zweifel die Gefahren, die seinen Weg markieren, vor allem als ein Leidender und Duldender. Ein Abenteuer-Konzept, dass diese Form des ‚Pathos‘ ausschließt, ließe sich auf die Odyssee nicht anwenden.
Kriterium (3): „ein Moment (gefährlicher) Kontingenz“
In dem oben präsentierten Zitat von Michael Nerlich wird Odysseus und Herakles der Abenteuerstatus abgesprochen, weil sie nicht „im Wagnis, im Risiko, im Abenteuer den Sinn [ihres] Daseins“ sehen, sondern weil es sich bei ihren vermeintlichen Abenteuern lediglich um „durch Beschluss der Götter auferlegte Schicksalsschläge“ handele.26 Schicksal oder Götterbeschluss auf der einen und Kontingenz auf der anderen Seite werden hier als einander ausschließende Konstellationen gefasst, und Nerlich legt, aus der Perspektive eines für die Moderne einschlägigen Abenteuer-Paradigmas, Wert darauf, dass der Abenteurer sein Abenteuer um seiner selbst willen und vollkommen initiativ erlebt. Ob dies auch auf das mittelalterliche Muster zutrifft, in dem das Abenteuer durchaus Teil eines ‚Berufs‘ oder einer ‚Berufung‘ zu sein scheint, auch wenn sich der Ritter für diese Aufgabe freiwillig entscheiden kann, wäre zu diskutieren.27
Im antiken Epos mit seinem polytheistischen Götterhimmel lässt sich das Schicksal oder der Götterbeschluss nicht auf einen klar zu identifizierenden Plan, und schon gar nicht auf einen Heilsplan, reduzieren, sondern das Wirken der Götter ist selbst kontingent. Zwar wird in der Ilias der ‚Plan des Zeus‘ (die berühmte boulê) noch ausführlich entfaltet und liest sich exakt als Exposé der dann folgenden Handlung, gleich einem Orakel, das den Lauf des Geschehens wahrheitsgemäß voraussagt.28 Doch ist dies niemals die Perspektive der Figuren, die in keiner Weise auf Rettung durch die Götter zählen können. Selbst wenn alles, was geschieht, immer auch durch das Einwirken eines Gottes geschieht, so ist doch dieses Gesetz so ubiquitär, dass es keinerlei Gewähr und Planbarkeit oder gar Sicherheit verspricht. Die Entscheidungen der Götter werden aus menschlicher Perspektive als vollkommen offen wahrgenommen, wie das berühmte Bild von den zwei Fässern des Zeus aus der Ilias dokumentieren kann, mit dem Achill Priamos’ Trauer um Hektor begegnet – die Negation jeder Vorstellung eines Heilplans:
Dass die Ilias die Vorstellung eines einhelligen und klar zu berechnenden Schicksals zu unterlaufen sucht, zeigt auch der Fall des Achill, der mit dem Bewusstsein zweier „Todeslose“ nach Troia gezogen ist und sich nun entscheiden muss, ob er ruhmlos heimkehren oder ruhmvoll, aber jung vor Troia sterben will.30 Der Götterapparat des antiken Epos führt jedoch keineswegs zur Handlungslethargie angesichts dieser vollkommenen Determination, wenngleich keiner der Protagonisten dem ihm ‚Zugeteilten‘ entkommen kann.
Auch dem Odysseus ist die Heimkehr nach Ithaka „von den Göttern zugesponnen“ – und der Rezipient des Epos erfährt dies gleich im ersten Gesang.31 Zudem werden ihm Teile seiner Reise von Kirke (im 10. Gesang, also im Rahmen des sechsten Abenteuers, und dann erneut nach der Rückkehr aus der Unterwelt im 12. Gesang) und von Teiresias (im 11. Gesang) vorausgesagt.32 Doch spielt diese Gewissheit in der Erzählung von Odysseus’ Irrfahrt kaum eine Rolle: Jedes Ereignis und jede Gefahr werden so erzählt, als stünden sein Leben und seine Heimkehr immer wieder neu auf dem Spiel. Zudem sind die Prophezeiungen auf Alternativen und Entscheidungen hin angelegt, wie die zwischen den Plankten auf der einen und Skylla und Charybdis auf der anderen Seite, die Kirke wie folgt einleitet:
Doch sind die Gefährten nun an diesen [scil. den Sirenen, S.G.] vorbeigerudert, dann werde ich dir nicht mehr weiter der Reihe nach ansagen, welcher von beiden Wegen der deine sein wird, sondern auch selber mußt du es in dem Gemüt bedenken. Doch will ich ihn dir in beiderlei Richtung sagen.33
Wenn im ersten Gesang der Odyssee die Götter auf Athenas Initiative beschließen, die Heimkehr des Odysseus nach Ithaka zu befördern, befindet Odysseus sich seit zehn Jahren auf seiner Irrfahrt und seit sieben Jahren auf der Insel der Kalypso. Dies ist die letzte Station seiner sogenannten ‚Abenteuer‘, und an keiner Stelle seines Berichtes wird erkennbar, dass er zu irgendeinem Zeitpunkt eine Ahnung vom Gesamtablauf seiner Reise hat oder davon, dass das Durchstehen der sich aneinanderreihenden Gefahren mit Sicherheit zu einem guten Ende führen wird.
Die Verantwortlichkeit der Götter für Odysseus’ Irrfahrt ist diffus: Während Zeus – zumal in der Rahmenhandlung – grundsätzlich für die gesamte Verkettung der Ereignisse und des Schicksals und, zusammen mit Athena, auch für die Heimkehr des Odysseus einsteht, lässt sich die Rache des durch die Blendung seines Sohns Polyphem verletzten Poseidon zwar als Motor der Handlung seit den Ereignissen auf der Kyklopen-Insel und bis zum Geleit der Phaiaken veranschlagen, aber außer in der Teiresias-Prophezeiung im 11. Gesang spielt diese Instanz in keinem der folgenden Abenteuer explizit eine Rolle.34 Ausgerechnet in den Apologoi wird der Einfluss der Götter auf die Handlung auffällig selten geltend gemacht: In den Gesängen 9–12 lassen sich gerade einmal fünf Erwähnungen göttlicher Präsenz zählen, von denen man allerdings nur ein oder zwei als direkte Einflussnahme auf den Verlauf der Ereignisse verstehen kann.35
Einmal befördert „ein Gott“ Odysseus und seinen Gefährten die erwünschte Jagd, zweimal wird die göttliche Präsenz durch die ähnlich anonyme Wendung „und es ging ein Gott vor uns her“ angedeutet.36 In den beiden weiteren Situationen ist das Eingreifen der Götter deutlich folgenreicher, wenn auch nicht verabsolutierbar: Der erste größere Sturm, der Odysseus und seine Schiffe aus der realen Welt hinaus- und in die ‚Abenteuer‘-Welt hineintreibt, wird dem Zeus angerechnet und sowohl als Strafe für das fehlerhafte Verhalten der Gefährten als auch als zugemessenes Schicksal erklärbar.37 Nach einem ersten Kampf gegen die Kikonen führt das lustvolle Verweilen der hier als ‚Toren‘ bezeichneten Gefährten, die sich bei Wein und Mahl vergnügen, während Odysseus zum Aufbruch drängt, zu einem erneuten Überfall der inzwischen verstärkten Truppen der Kikonen und zu weiteren Verlusten auf Seiten des Odysseus. Die Reaktion des Zeus zeigt, wie unvorsichtiges Handeln, göttliche Strafe und vorherbestimmtes Schicksal einen mehrfach motivierten Geschehenszusammenhang bilden:
Da trat ein böses Geschick (aisa) des Zeus an uns heran, die zu Schrecklichem bestimmten (ainomoroisin), damit wir viele Schmerzen erleiden sollten.38
Der homerische Text verwendet hier kein Wort für ‚Strafe‘, doch wird eine solche Logik durch die Erzählfolge nahegelegt, wobei Vergehen und Bestrafung zugleich einer gewissen schicksalhaften Disposition zu entsprechen scheinen. Noch in einer anderen Hinsicht wird hier ein moralisches Erzählmuster sichtbar: Mit der Gegenüberstellung von mangelnder Disziplin seitens der Gefährten und Beherrschung und Standhaftigkeit des Odysseus prägt die Odyssee den Typus eines Abenteuer-Helden vor, dessen Erfolge mit einer Moral der Entbehrung erkauft werden.39 Das „böse Geschick“ manifestiert sich in einem neun Tage anhaltenden Sturm, der Odysseus zu den Lotophagen treiben wird und von dort weiter in eine surreale Welt ohne klare geographische Koordinaten. Der Text der Odyssee suggeriert gleichwohl nicht, dass alle nun folgenden Ereignisse diesem Vergehen der Gefährten und der darauf reagierenden Strafe des Zeus sowie einem vorgängigen Schicksalsbeschluss anzulasten sind. Vielmehr erscheint die Folge der Abenteuer kontingent; es handelt sich um eine scheinbar unmotivierte Reihung, und jeder Neubeginn nach einem glücklichen Entkommen wird lakonisch mit einem „und wir fuhren von dort weiter“ eingeleitet, ohne dass der Kurs der Reise einem übergeordneten Plan folgt.40
Die letzte der fünf Passagen, in denen die Götter den Lauf der Dinge bestimmen, findet sich im 12. Gesang. Hier werden die Weichen für das Schicksal von Odysseus’ Gefährten gestellt, deren Einfalt das Epos bereits des Öfteren als fatalen Faktor im Kampf ums Überleben angedeutet hatte. Teiresias hatte dem Odysseus prophezeit, dass er und seine Gefährten nur dann heimkehren werden, wenn sie die Rinder des Sonnengottes Helios auf der Insel Thrinakia unversehrt lassen. Hier begegnet erneut das Motiv der Entbehrung und Enthaltung und, anders als bei allen anderen ‚Abenteuern‘, wird der Ausgang dieser Episode tentativ einer ‚Prüfung‘ durch Zeus zugeschrieben, die die Gefährten des Odysseus nicht bestehen.41 Zeus lässt Winde wehen, die die Mannschaft auf der Insel des Helios so lange festhalten, dass ihnen der Proviant ausgeht und sie vom Hunger gequält werden. Trotz der Mahnungen des zum Verzicht bereiten Odysseus, dem Eurylochos eine „übermäßige Kraft“ und eine „eiserne“ Konstitution bescheinigt,42 entschließen sich die Gefährten, die heiligen Rinder des Gottes zu schlachten. Dass Odysseus dies nicht verhindern kann, wird erneut auf göttliches Eingreifen zurückgeführt: Die Götter haben ihn in einen „süßen Schlaf“ versetzt,43 so dass die Gefährten unkontrolliert ihren Trieben nachgeben können. Während die gesamte Szene deutlich als göttliche Probe (der Gefährten, nicht des Odysseus) – man könnte auch sagen: als Verführung durch die Götter – inszeniert ist, rechtfertigen die Gefährten ihr Tun jedoch mit einem Kontingenz-Argument. Nach ihrer Auffassung kann selbst der Gehorsam gegenüber dem Gesetz des Helios den potentiellen Untergang auf dem Meer – „auch ohne den Willen der Götter“ (theôn aekêti anaktôn) – nicht verhindern, so der Einwand des Eurylochos gegenüber Odysseus:
Wie möchte einer dem jähen Untergang entgehen, wenn da mit eins ein Wirbelsturm kommt, entweder vom Südwind oder dem West, dem schlimmwehenden, die am meisten ein Schiff zertrümmern, auch ohne den Willen der Götter, der Gebieter?44
Die zuletzt besprochenen Passagen weisen diese beiden Ereignisse – den Kampf gegen die Kikonen (im 9. Gesang) und die Schlachtung der Helios- Rinder (im 12. Gesang) – als von den Göttern gesteuert und gewollt aus, nicht ohne dabei sowohl die Verantwortung und virtuelle Entscheidungsmöglichkeit der Menschen (in diesem Fall der Gefährten) als auch die potentielle Hinfälligkeit der getroffenen Entscheidungen zu unterstreichen. Dass die Gefährten, wenn sie sich anders verhalten hätten, einem unabhängig vom Götterwillen sich ereignenden Schiffbruch entgangen wären, ist zumindest nach Auffassung des Eurylochos nicht garantiert. Dem Dichter der Odyssee geht es hier offenbar nicht in erster Linie um die Behauptung eines göttlichen Plans, der den Verlauf determiniert, sondern gerade um das Ausstellen menschlicher Kalkulationen, Strategien und Entscheidungen sowie göttlicher Willkür.
Die Frage nach der Kontingenz in der Odyssee verlangt also eine doppelte Antwort. Neben den aus der Perspektive des Odysseus sich kontingent zutragenden und keiner Ordnung folgenden Begegnungen mit Riesen, Menschenfressern, Seeungeheuern und Zauberinnen gibt es in den Apologoi Instanzen, die den Lauf der Dinge antizipieren können, nämlich Kirke und Teiresias, und die Odysseus auch an diesem Wissen partizipieren lassen. Ihre Anweisungen überführen das scheinbar Kontingente in eine Art ‚providentielles‘ Geschehen (der Begriff hier freilich nicht im christlich-theologischen Sinne verstanden). Doch auch wenn Teiresias und Kirke wissen, welche Gefahren Odysseus noch bevorstehen, so enthalten ihre Vorausdeutungen keinerlei Garantie auf Erfolg. Noch weniger weist dieses prophetische Wissen die einzelnen Abenteuer als Teil einer höheren Ordnung aus. Sie erhalten innerhalb der Irrfahrt keinen tieferen Sinn, auch nicht, wie später noch diskutiert werden soll, den einer Probe oder Prüfung.45 Zu diesem Befund passt auch, dass die wichtige Helfergottheit Athena Odysseus erst auf der Insel Ithaka (im 13. Gesang) enthüllt, dass sie ihm „immer in allen Mühsalen zur Seite stehe und über [ihn] wache und [ihn] auch lieb gemacht habe allen Phaiaken“46 – was Odysseus während seiner Irrfahrt allerdings selten realisiert haben dürfte.
Kriterium (4): „eine Erzählinstanz, die den Zusammenhang herstellt, in dem jene Kontingenz sich als Probe oder Prüfung erweist“
Das vierte Kriterium bringt eine intrikate Paradoxie in das Abenteuer-Narrativ hinein. Bei der Kontingenz, so schreibt Armin Schulz, geht es „um einen offenen Raum der Möglichkeiten, der auch das Sinnlose umfassen kann, die Unordnung“.47 Dabei ergibt sich aber, so Schulz weiter, das Problem, dass die als Unordnung gefasste Kontingenz im narrativen Text niemals greifbar werden kann, da dieser die erlebte Unordnung immer schon in Ordnung überführt hat.48 So wird auch für Odysseus postuliert, dass die Ereignisse, die ihm auf seiner Irrfahrt widerfahren, zwar, wie gezeigt, kontingent sind – das heißt, sie hätten auch anders, in anderer Reihenfolge oder mit anderem Ausgang geschehen können und sie sind ohne jeden Sinn geschehen –, doch verleiht seine nachträgliche Erzählung am Hof der Phaiaken ihnen einen (narrativen) Zusammenhang, den sie zuvor nicht hatten.49
Dass dieser Zusammenhang hergestellt wird, kann als unstrittig gelten, und somit wäre der erste Teil des vierten Kriteriums (4.a) erfüllt. Als Odysseus in den Gesängen 9–12 am Hof der Phaiaken, der eine wichtige Schwelle auf dem Weg zur Heimkehr darstellt, seine gesamte Irrfahrt aus der Perspektive des Überlebenden rekapituliert, vergleicht der Phaiakenkönig Alkinoos Odysseus mit einem ‚Sänger‘; ein Vergleich, der später im Epos noch einmal wiederholt wird.50 Dass ‚Abenteuer‘ – gefährliche Situationen und Begegnungen mit übermächtigen Wesen, in denen der Held sein Leben aufs Spiel setzt – einer nachträglichen sprachlichen Formung und Reflexion bedürfen, dass ihre nahezu schematische und durch formelhafte Verse strukturierte Reihung zum Grundprinzip literarischen Erzählens gehört, das war dem Dichter der Odyssee offenbar bewusst.51
Homer lässt Odysseus seine Erlebnisse zweimal im Rückblick erzählen: Nachdem der ausführliche Bericht am Hof der Phaiaken Odysseus’ Wiedereintritt in die Welt der Realität von Ithaka vorbereitet und daher häufig als Rehabilitation und Rückgewinnung seiner Identität nach dem Entkommen aus der ‚Anderwelt‘ verstanden wurde, gehört der Bericht am Ende des Epos, diesmal in geraffter Form, zu den konstitutiven Bestandteilen der glücklichen Heimkehr und Wiedervereinigung mit Penelope – allerdings erst nach dem vollzogenen Beischlaf.52
Es ist also festzuhalten, dass zumindest der erste Teil des vierten Kriteriums der oben zitierten Minimaldefinition des Abenteuers zutrifft: Die Odyssee kennt eine – und man müsste vielleicht ergänzen: intradiegetische – „Erzählinstanz, die den Zusammenhang [scil. der Abenteuer] herstellt“. Dass die zuvor analysierten mit relativer Kontingenz sich ereignenden Geschehnisse sich aber durch den narrativen Zusammenhang als Probe oder Prüfung erweisen (4.b), muss wohl bezweifelt werden. Die vermeintliche Abenteuerwelt der Odyssee ist kein von den Göttern gestalteter Parcours, auf dem der Held sich bewähren muss, um des erhofften Glücks teilhaftig zu werden; das Bestehen der Abenteuer ist nicht Teil einer sinnhaften Ordnung, die durch den Erfolg des Reisenden bestätigt würde. Die Heimkehr ist kein Lohn für Tapferkeit, Mut und körperliche Stärke. Sie war dem Odysseus „zugesponnen“, und das heißt immer ‚von Geburt an‘, und es gibt keine im Text implementierte Logik, schon gar keine theologische, nach der er sich, um dieses Ziel zu erreichen, allererst bewähren muss.53
Es ist vielmehr erstaunlich, wie wenig heldenhaft Odysseus seine Abenteuer besteht. Untersucht man die zwölf Episoden hinsichtlich ihres Ausgangs, so vollbringt er tatsächlich nur ein einziges Mal eine auf seiner Klugheit beruhende Leistung, nämlich mit der Überlistung des Kyklopen. Zweimal entgeht er der Gefahr durch die Unterstützung göttlicher Helfer: im Sirenenabenteuer durch die Anweisungen der Kirke und bei Kirke selbst durch das Gegenmittel des Hermes. Insgesamt weist er eine signifikante Tendenz auf, nicht verführbar zu sein, sondern die Kontrolle zu bewahren: Er isst nicht vom Lotos und er ist nicht beteiligt an der Öffnung des Aiolos-Schlauches; durch göttliches Eingreifen entgeht er sowohl der Verzauberung durch Kirke als auch dem verlockenden Gesang der Sirenen, und schließlich widersteht er aus Gehorsam dem Hunger auf Thrinakia und verzichtet – anders als die Gefährten – auf das Schlachten der Rinder. Den Bedrohungen durch Skylla und Charybdis entkommt er durch geduldiges Abwarten, und als er bei den Laistrygonen sein Schwert zieht, tut er dies nicht, um zu kämpfen, sondern um das Tau des Schiffes zu zertrennen und zu fliehen. Von einer „Verherrlichung“ des Abenteuers, wie Nerlich sie für das Konzept ansetzt, ist dieser Befund in der Tat weit entfernt.54
Was Odysseus hingegen auszeichnet und was sein Durchkommen bedingt, ist das Dulden, das Aushalten und das fortwährende Ertragen großer Strapazen und Entbehrungen. Wenn man so will, wird er dafür mit der Heimkehr ‚belohnt‘, doch ist es keine Leistungsethik, die den Motor seines Überlebens darstellt – wenngleich viele moderne Lektüren dies insinuieren und der Dulder natürlich den späteren, stoisch oder christlich geprägten, Tugendhelden, der den Verführungen der Sinnenwelt widersteht, antizipiert. Das homerische Epos verfügt, das wissen wir aus der Ilias, über eine solche Leistungsethik; vor Troia stehen Ehre und Ruhm, Ansehen und kriegerische Tugend, Größe und Schönheit ständig zur Disposition. Doch verzichten die Apologoi weitgehend auf diese heroische Ethik, was vermutlich mit ihrer Nähe zu einer Märchen-Tradition zu erklären ist. Erst bei den Phaiaken ist Odysseus in diese Welt zurückgekehrt, und er wird durch die in dieser Gesellschaft üblichen Gastgeschenke ausgezeichnet. Dabei ist es nicht ausgeschlossen, dass die Kunst seiner Erzählung, die Alkinoos ausdrücklich lobt, ihm dieses Ansehen verschafft.55
3 Die Liebesromane: Zufall und Happy End
Die antiken Liebesromane sind mit einer Ausnahme (der des Longos) ebenfalls Reiseerzählungen. Ihre Protagonisten werden mit Gefahren und Verschleppungen, Piraterie und Schiffbruch, Gefängnis und Versklavung konfrontiert, wobei auch hier, in den ersten Jahrhunderten nach Christus, das Konzept ‚Abenteuer‘ sprachlich noch nicht gefasst werden kann.56 Wie im Falle des Odysseus geraten die Protagonisten – immer ein Liebespaar, dessen finale Verbindung, die Hochzeit, durch die Abenteuer einen Aufschub erfährt57 – unfreiwillig in Gefahr und suchen sie nicht. Sie sind Vertriebene und Leidende, die, den Wechselfällen des Schicksals ausgesetzt, in immer neuen Situationen erfahren müssen, dass ihr Leben auf dem Spiel steht; die sich in bisweilen übersteigerter Zuspitzung permanent am Rande des Todes bewegen (häufig sogar scheintot sind) und die auf diesem schmalen Grat zwischen Gefahr und Rettung bald durch Besonnenheit, bald durch Duldsamkeit, häufig auch einfach, indem sie die Zeit für sich spielen lassen, am Ende zueinander und zu ihren Familien finden, um durch ihre eheliche Verbindung die verlorene Stabilität wiederherzustellen.
Gegenüber der Odyssee hat sich die narrative Logik nun, etwa 800 Jahre später, in signifikanter Weise geändert: Die Kontingenz, die sich in der Odyssee in der lakonischen Sukzession der Ereignisse und ihrem potentiell offenen Ausgang greifen ließ, wird nun divinisiert und damit auch stärker konzeptionalisiert. Gegenüber den individuellen Göttern Homers, die alle eigene Vorlieben und Interessen und eine eigene Agenda haben, hat sich nun ein abstrakteres göttliches Prinzip durchgesetzt, das bald daimon, bald Schicksal (moira oder heimarmenê) und besonders häufig tychê heißt. In der Figur der Tychê, die in Griechenland seit dem vierten Jahrhundert vor Christus auch kultisch verehrt wurde,58 verbinden sich in nahezu unauflösbarer Weise Glück, Unglück, Zufall und Schicksal. Das Frappierende ist, dass ausnahmslos alles, was geschieht, ihrem Walten zugeschrieben werden kann und dass in diesem Konzept eben auch der Zufall als Schicksal gefasst wird. Dass diese Konstellation kein Spezifikum der antiken Begrifflichkeit ist, sondern auch unseren heutigen Sprachgebrauch kennzeichnet, macht die folgende Formulierung zum Lemma ‚Schicksal‘ aus dem Historischen Wörterbuch der Philosophie deutlich:
Das, was man im heutigen umgangssprachlichen Gebrauch als Schicksal bezeichnet, nämlich die unverfügbaren Kontingenzen des Lebens, wird in der Philosophie kaum unter dem Terminus Schicksal („fatum“) thematisiert, sondern, wenn es überhaupt einem Begriff zuzuordnen ist, eher unter „fortuna“. Damit wird dann das glückliche und das unglückliche Geschehen gefaßt (deshalb durch das deutsche „Glück“ nicht angemessen wiederzugeben).59
Diese Amalgamierung mit dem Schicksal macht Tychê, die auch nicht als Protagonistin eigener Mythen erscheint, weniger greifbar als die Götter der archaischen und klassischen Literatur, macht sie ubiquitär und verortet sie konzeptionell an der Grenze zwischen unendlicher Macht und Depotenzierung. Gleichzeitig verliert freilich auch das Schicksal an Tiefenschärfe. Für die Literatur ist das von nicht zu überschätzender Konsequenz: Während in den homerischen Epen die Götter noch als personale Agenten ihres jeweiligen Plans auftraten, tritt die Tychê (oder das Schicksal) ganz hinter einer bestimmten Figuralität zurück und wird zum Prinzip von Handlung und Plot schlechthin: sie bezeichnet eben – abgeleitet von tynchanein – das, was geschieht, was eintrifft oder sich zufällig ereignet.
Die Figuration der Tychê, die Homer nicht kennt und die das Kontingenz erzeugende Gegeneinander des homerischen Götterapparates in einer einzigen Figur bündelt, betritt lange vor den Romanen die Bühne der griechischen Religion und Literatur. Eine Passage aus Pindars 12. Olympischer Ode (aus der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts vor Christus) verbindet die Unergründlichkeit göttlicher Zeichen mit Tychê. Und es ist ebenso aufschlussreich, dass ihre göttlich autorisierte Unzuverlässigkeit sich besonders auf dem Meer, im Krieg und in der politischen Versammlung manifestiert, wie dass sie trotz dieser Unsicherheit als Retterin apostrophiert wird:
Im Roman wird die Regie der Tychê begleitet, ergänzt oder konterkariert von den Aktionen der Liebesgötter, die das Drama der Protagonisten, wie es so häufig heißt, ‚auf die Bühne bringen‘ und ihre Handlungen choreographieren. Insbesondere Eros, der seit Platon auch als Sophist und Geschichtenerzähler figuriert, übernimmt, wie wir eingangs bereits gesehen haben, bisweilen die Funktion des Autors, Regisseurs oder ‚Politikers‘.61
Die enorme Unbeständigkeit des Glücks, die die Romane vorführen und die die Figuren immer wieder beklagen, lässt sich als Signatur einer abenteuerlichen Welt verstehen und zugleich als die Folie, vor der die Protagonisten ihre Beständigkeit bewahren und bewähren können. Zwei längere Textstellen mögen verdeutlichen, wie die Fülle des kontingent sich Ereignenden die Protagonisten an ihre Grenzen treibt. Zunächst eine Passage aus dem Roman des Achilleus Tatios (aus dem 2. Jahrhundert nach Christus):
Hat uns Tyche dazu aus den Händen der Räuber gerettet, damit du zum Spielzeug des Wahnsinns würdest? Ach, welch ein Unglück uns doch immer dann beschieden ist, wenn wir glücklich sind! Vor unseren Ängsten zu Hause sind wir geflohen, um das Unglück des Schiffbruchs zu erleben, dem Meer sind wir entronnen, aus den Händen der Räuber sind wir gerettet worden, und all die Zeit hat uns der Wahnsinn nicht aus den Augen gelassen! Falls du gesund wirst, Liebste, fürchte ich von neuem das Schicksal, es könnte dir etwas Böses antun. Wer ist also unglücklicher als wir, die wir selbst das Glück fürchten? Aber wenn du mir nur wieder gesund werden und dich erholen könntest! Soll doch hernach Tyche von neuem ihr Spiel treiben, soviel sie mag!62
Die Klage des Kleitophon weist zwei bemerkenswerte Aspekte auf: Zum einen rückt er Tychê in die Nähe des personifizierten Wahnsinns63 und macht damit deutlich, dass die Protagonisten ihr Schicksal als vollkommene Willkür und Irrationalität empfinden. Zum anderen fällt der Defätismus auf, der Kleitophon selbst das Glück fürchten lässt, weil es in der Welt dieser Romane nichts anderes als die andere Seite des Unglücks ist. Es deutet sich bereits hier an, dass Abenteuerlichkeit in den antiken Liebesromanen nicht als Verhaltensmuster oder heroische Tat konfiguriert wird, sondern als Setting, das die Protagonisten zu Objekten eines höheren, aber undurchsichtigen Plans macht und die Ereignisse in verwirrender Schnelligkeit und Unbeständigkeit aufeinander folgen lässt.
Die zweite Passage, die ein ähnliches Muster vorführt, stammt aus den Aithiopika des Heliodor und verweist auf eine Strategie, die die Protagonisten in Erwägung ziehen, um dem Dämon, von dem sie sich verspottet glauben, das Handwerk zu legen. Hier wird ein Muster sichtbar, das zwischen Selbstaufgabe und Glücksspiel changiert und statt auf Gegenwehr und Eigeninitiative auf den Lauf der Dinge setzt. Im Vordergrund steht dabei nicht das Erleben oder Bestehen von konkreten Abenteuern, sondern die Wahrnehmung einer ‚abenteuerlichen‘ und kontingenten Welt jenseits aller Berechenbarkeit und Gestaltungsmöglichkeit. In der folgenden Klage des Theagenes allerdings überwiegt nicht die Hoffnung, auf diese Art und Weise – eben mit Glück – durchzukommen und den Wind des Schicksals zu nutzen, sondern die pessimistische Gewissheit, dass der Kontrollverlust in den Tod führen wird, der das Paar aber vor noch Schlimmerem bewahren kann:
Wie lange noch wollen wir vor dem Verhängnis fliehen, das uns überall verfolgt? Ergeben wir uns in unser Schicksal und lassen wir uns von seinem Strome tragen! Wir ersparen uns so ein ewiges Umherwandern, das doch vergeblich ist, ein Leben in der Irre und den unaufhörlichen Spott des Dämons über uns. Siehst du nicht, wie er an unsere Flucht die Gewalttat der Seeräuber reiht und seinen Ehrgeiz darein setzt, auf die Abenteuer zur See (ta ek thalattês atopa) noch schrecklichere zu Lande zu häufen? Eben erst Kämpfe, gleich darauf Räuber. Kurz vorher hielt er uns in Gefangenschaft, dann läßt er uns in der Öde der Einsamkeit. Er macht uns Hoffnung auf Rettung und Flucht in die Freiheit und liefert uns unseren Mördern aus. So treibt er sein gewaltsames Spiel mit uns, bringt unser Schicksal auf die Bühne des Lebens und gestaltet es zum Drama. Warum schneiden wir nicht dieser Tragödie den Faden durch und geben uns in die Hand derer, die uns töten wollen? Dann kann er wenigstens nicht die Katastrophe bis zum letzten auskosten und uns den Tod von eigner Hand aufdrängen.64
Sowohl die Metapher des Spiels als auch die der Bühne werden hier – wie sehr häufig bei Heliodor – zu Formeln für die Unsicherheit des Lebens. Zugleich werden zwei sehr unterschiedliche Bilder miteinander vermengt: die Vorstellung, vom Strom des Schicksals getragen zu werden, die hier eine trügerische Sicherheit vermittelt, und der durchgeschnittene Faden, der offenbart, dass der Strom in den Tod führt. Gemäß der Theatermetaphorik wird der von den Parzen gesponnene Lebensfaden hier zum Plot-Faden der Tragödie, in der Theagenes und Charikleia die Hauptrollen spielen.
Das Pindar-Zitat hatte bereits gezeigt, dass das Konzept der Tychê sich unter anderem in den Unwägbarkeiten des Meeres manifestiert. Der eben angedeutete Ausweg, mit dem Strom zu schwimmen und sich den Wellen zu überlassen, also keinen Widerstand zu leisten, findet sich in den Romanen auch als positive Strategie des Überlebens, insbesondere als Lebensform der Piraten, wie die folgende Passage aus Charitons Kallirhoe zeigen kann:
Als das Schiff auf die offene See kam, hatte es eine herrliche Fahrt. Denn sie hatten keine Schwierigkeiten mit Wellen und Wind, weil sie sich keinen festen Kurs vorgenommen hatten. Vielmehr erschien ihnen jeder Wind günstig und wurde von ihnen als Rückenwind ausgenutzt.65
Gegenüber dem Vorläufer der Odyssee radikalisieren die Romane das Konzept der Kontingenz in hohem Maße und schaffen damit einen fruchtbaren Nährboden zur Ausgestaltung und Weiterführung des Abenteuer-Romans, der sich als Handlungsmuster im Umgang mit dieser Kontingenz konstituiert.
Der kursorische Blick auf einzelne Romanszenen war auf dieses dritte Kriterium der Definition fokussiert. Auch im Fall der Romane bedürfen die Kriterien (1) und (2) keiner umfänglichen Diskussion. Und auch das vierte Kriterium der heuristischen Minimaldefinition, der nachträgliche Erweis der Kontingenz als Probe oder Prüfung (4.b) wird von den griechischen Liebesromanen bedient.66 Denn es ist unübersehbar, dass die Götter alle Unwägbarkeiten und Umwege der Reise inszenieren, damit die Protagonisten ihre einander geschworene Treue und Keuschheit, die immer wieder als Besonnenheit und Beständigkeit philosophisch aufgewertet wird, unter Beweis stellen können. Dass die Prüfung ein den Romanautoren vertrautes Konzept ist, zeigen auch die Jungfrauenproben, die sowohl am Ende von Achilleus Tatios’ Leukippe und Kleitophon als auch von Heliodors Aithiopika die Jungfräulichkeit der weiblichen Protagonistinnen erweisen.67
Beide hier untersuchten Gattungen, das homerische Epos und der kaiserzeitliche Roman, erfüllen also (fast) alle Aspekte der Minimaldefinition, wobei der zweite Teil des vierten Kriteriums für die Odyssee in Frage gestellt wurde. Beide Textkorpora kennen allerdings weder die (für das Mittelalter typische) gezielte Suche nach dem Abenteuer mit dem Ziel der Bewährung noch die (für die Moderne charakteristische) positive Emphase, die Verherrlichung des Abenteuers oder gar die ekstatische Selbsterhebung durch das außerordentliche Ereignis. Abenteuer werden im Epos wie im Roman zu Stationen einer Reise sowie zu Bausteinen einer Erzählung und haben insofern sehr viel mit der Ausdehnung von Raum und Zeit, aber auch mit einer Spannung vom Ende her zu tun. Dass das Überstehen der Abenteuer den oder die Protagonisten auszeichnet, dass es als Ausweis ihrer Tugend und als Konsolidierung ihrer Zukunft dient, trifft weit eher auf die Romane und ihre stoisch geprägte moralphilosophische Grundierung zu als auf die Odyssee.68 Auch sind es unterschiedliche Muster der Abenteuerlichkeit, die das homerische Epos und der Roman erproben: Im Roman gibt die reale Welt – des Handels, der Piraterie, der Kriege, der Politik und der menschlichen Leidenschaften – den Raum der Abenteuer ab, während diese in der Odyssee noch in der Märchenwelt mythischer Hybridwesen lokalisiert werden. Die Gattungsdifferenzen, die sich daraus ergeben, wären weiterhin zu bestimmen. Beide Gattungen haben jedoch, und das zu zeigen war das Hauptziel dieses Beitrags, ein großes Interesse an der Dramatisierung von Kontingenz, an der Aufweichung eines providentiellen Götterwillens sowie am Ineinandergreifen von Kontingenz und Providenz. Die Inszenierung von plötzlich hereinbrechender Gefahr und schnellen Handlungs-Umschwüngen dient der Steigerung von Pathos – bis hin zur Melodramatik der Romane. Insbesondere in der späteren Gattung werden die sich überschlagenden Ereignisse und die sich verwirrenden Handlungsstränge zur Chiffre für eine unkontrollierbare und ständigem Wechsel ausgesetzte Welt, die allein durch Beständigkeit und Tugend beherrschbar wird. Und beide Gattungen setzen voraus, dass die Gefahren von den Protagonisten bewältigt werden und in ein Happy End münden.69 Diese Kernelemente von Abenteuerliteratur berechtigen dazu, auch in der Antike und auch ohne das Vorhandensein eines entsprechenden Vokabulars, die Kategorie des Abenteuers vorauszusetzen.
Chariton von Aphrodisias, Kallirhoe 1, 1, 6, in: Im Reich des Eros. Sämtliche Liebes- und Abenteuerromane der Antike, hg. v. Bernhard Kytzler, übers. v. Heinz Martin Wehrhan, Düsseldorf: Patmos-Verlag 2001, Bd. I, S. 511–672, hier S. 515. Der griechische Text wird zitiert nach Bryan P. Reardon, Charitonis Aphrodisiensis de Callirhoe narrationes amatoriae, München u. Leipzig: K. G. Saur 2004, S. 1–147.
Chariton, Kallirhoe 1, 1, 4.
Dass tychê nicht mit ‚Zufall‘ übersetzt werden muss, sondern auch mit ‚Glück‘, ‚Unglück‘ oder ‚Schicksal‘ wiedergegeben werden kann, und dass das Wort in Majuskelschreibung auch die Göttin Tychê bezeichnen kann, wird weiter unten erneut thematisiert. Der Übersetzer scheint es hier auf das Paradox der gleichzeitigen Steuerung des Geschehens durch den Zufall und durch einen Gott ankommen lassen zu wollen.
Der Begriff ‚Kontingenz‘ wird in diesem Beitrag zunächst heuristisch (und anachronistisch) im Sinne von aus menschlicher Perspektive unhintergehbaren und unkontrollierbaren Ereignissen verwendet, die auch als ‚zufällig‘ wahrgenommen werden können. Diese Bedeutung von Kontingenz etabliert sich allerdings historisch erst spät, nämlich seit der Scholastik, und ist zu unterscheiden von Kontingenz als lateinischer Übersetzung für den aristotelischen Terminus endechomenon, der das Mögliche im Gegensatz zum Wirklichen bzw. Notwendigen bezeichnet. Es wird sich im Laufe dieses Beitrags zeigen, dass es im hier zu untersuchenden Textkorpus kein akkurates Äquivalent zum philosophischen Kontingenz-Konzept gibt, da in dem für die Romane zentralen Begriff tychê/Tychê Kontingenz und Providenz, Mögliches und Wirkliches zusammenfallen. Vgl. zu der entsprechenden Begrifflichkeit in der griechischen Antike Peter Vogt, Kontingenz und Zufall. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte, Berlin: de Gruyter 2011, insb. Kap. 2: „Tyche – Die griechischen Wurzeln des Zufallsbegriffs“, S. 67–183; Gertrud Herzog-Hauser, „Tyche und Fortuna“, in: Wiener Studien 63 (1948), S. 156–163; Giulia Sfameni Gasparro, „Daimôn and Tuchê in the Hellenistic Religious Experience“, in: Conventional Values of the Hellenistic Greeks, hg. v. Per Bilde u. a., Aarhus: Aarhus University Press 1997, S. 67–109; zur Geschichte der Konzepte ‚Kontingenz‘ und ‚Zufall‘ über die Antike hinaus vgl. des Weiteren die Beiträge in: Kontingenz, hg. v. Gerhart von Graevenitz, München: Wilhelm Fink 1998 sowie in: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur, hg. v. Cornelia Herberichs u. Susanne Reichlin, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010 sowie Walter Brugger u. Walter Hoering, „Kontingenz“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Basel u. Stuttgart: Schwabe & Co Verlag 1971–2007, Bd. 4, Sp. 1027–1038.
Vgl. auch Chariton, Kallirhoe 1, 1, 12, wo Eros als ‚Demagoge‘ bezeichnet wird. In 2, 2, 8 wird das Verb politeuesthai von Aphrodite gebraucht, die hier vorübergehend eine Ehe zwischen Kallirhoe und Dionysios arrangiert. Zu den Göttern als potentiellen Agenten der Handlung in Charitons Roman vgl. Thomas Baier, „Die Funktion der Götter bei Chariton“, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft, N.F. 23 (1999), S. 101–113, insb. S. 108, der Eros gerade nicht als „personale Gottheit“ auffasst, die „das Geschehen [determiniere]“, sondern als „menschliche Leidenschaft“, als „externalisierte Liebe“ (eros mit Minuskel). Meines Erachtens sind jedoch alle die Götter personifizierenden Zuschreibungen zunächst einmal ernst zu nehmen im Sinne einer Auffassung der Götter als eigenständiger Akteure. Vgl. des Weiteren Michael Weißenberger, „Der ‚Götterapparat‘ im Roman des Chariton“, in: Der antike Roman und seine mittelalterliche Rezeption, hg. v. Michelangelo Picone u. Bernhard Zimmermann, Basel, Boston u. Berlin: Birkhäuser 1997, S. 49–73.
Vgl. die Literatur in Anm. 4. Zur âventiure als Zentralbegriff einer „Poetik des Geschicks“ vgl. Mireille Schnyder, „Âventiure? Waz ist daz? Zum Begriff des Abenteuers in der deutschen Literatur des Mittelalters“, in: Euphorion 96 (2002), S. 257–272, hier S. 263; des Weiteren Mireille Schnyder, „Sieben Thesen zum Begriff der âventiure“, in: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, hg. v. Gerd Dicke, Manfred Eikelmann u. Burkhard Hasebrink, Berlin u. New York: de Gruyter 2006, S. 369–375; Ingrid Kasten und Volker Mertens, „Aventure (âventiure)“, in: Lexikon des Mittelalters, hg. v. Robert Auty, Robert-Henri Bautier u. a., München u. Zürich: Artemis & Winkler 1980, Bd. 1, Sp. 1289–1290. Zum Verhältnis von Erzählen und Handeln vgl. Peter Strohschneider, „âventiure-Erzählen und âventiure-Handeln“, in: Im Wortfeld des Textes, S. 377–384.
Es handelt sich in chronologischer Reihenfolge um Chariton, Kallirhoe (1. Jhd. n. Chr.); Xenophon von Ephesos, Ephesiaka (bzw. Habrokomos und Anthia; Ende 1. Jhd. n. Chr.); Longos, Daphnis und Chloe (2. Jhd. n. Chr.), Achilleus Tatios, Leukippe und Kleitophon (2. Jhd. n. Chr.) sowie den deutlich späteren Roman des Heliodor, Aithiopika (bzw. Theagenes und Charikleia; vermutlich 4. Jhd. n. Chr.). Alle Datierungen sind approximativ.
Vgl. etwa die zahlreichen Hinweise auf die Kontinuität vieler Erzählmuster zwischen Odyssee und Roman in: Jonas Grethlein, Die Odyssee. Homer und die Kunst des Erzählens, München: C. H. Beck 2017, etwa S. 20, 22, 44, 47, 81, 267; eine Nähe zwischen Odyssee und Romanen postulieren ebenfalls Massimo Fusillo, „Roman“, in: Der Neue Pauly, hg. v. Hubert Cancik, Helmuth Schneider u. Manfred Landfester, (http://dx.doi.org/10.1163/1574-9347_dnp_e1024310, abgerufen am 3. Juli 2019) sowie Suzanne Saïd, Homer and the Odyssey, Oxford: Oxford University Press 2011, S. 116. Auch Thomas Mann hat den antiken Reiseroman als „späte[n] Ableger der Odyssee“ verstanden (Thomas Mann, „Die Kunst des Romans“, in: ders., Reden und Aufsätze 2, Frankfurt/Main: S. Fischer 1960 [= Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, hg. v. Peter de Mendelssohn, Bd. 10), S. 348–362, hier S. 350). Vgl. dazu auch Baier, „Die Funktion der Götter bei Chariton“, S. 101. Weniger deutlich ist dieser Zusammenhang in der antiken Gattungstheorie: Vgl. dazu Carl Werner Müller, „Chariton von Aphrodisias und die Theorie des Romans in der Antike“, in: Antike und Abendland 22 (1976), S. 115–136, hier S. 122 (zur antiken Poetik) sowie S. 131 (zu den Homer-Bezügen in Charitons Kallirhoe).
Besonders prominent, allerdings ohne die Implikationen oder die Wortgeschichte des Abenteuer-Begriffs zu reflektieren, von Karl Reinhardt, „Die Abenteuer der Odyssee“ (1948), in: ders., Tradition und Geist. Gesammelte Essays zur Dichtung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1960, S. 47–124. Vgl. auch, mit erzähl- und gattungstheoretischer Fragestellung, Almut Renger, Zwischen Märchen und Mythos: Die Abenteuer des Odysseus und andere Geschichten von Homer bis Walter Benjamin. Eine gattungstheoretische Studie, Stuttgart: Metzler 2006. Renger betont insbesondere die Nähe der ‚Abenteuer‘ zum Märchen und, für diesen Beitrag relevant, die „Indifferenz der ‚Apologoi‘ gegen Deutungen“ (S. 207 f.).
Wenn in den Fußnoten dieser Einleitung immer wieder auf die mediävistische Literatur zum Abenteuer verwiesen wird, so deshalb, weil die Geschichte des Begriffs, zumal seiner literarischen Ausformung und Reflexion, hier beginnt. Die Untersuchung des antiken Abenteuers begibt sich dabei notgedrungen in einen methodischen Zirkel, da sie die Definition dessen, was sie bestimmen will, einer anderen Epoche entlehnen muss, um die Bestimmung dann aufgrund der Befunde der früheren Epoche zu korrigieren.
Vgl. Kasten u. Mertens, „Aventure (âventiure)“, Sp. 1289; Schnyder, „Sieben Thesen zum Begriff der âventiure“, S. 369 f. sowie Strohschneider, „âventiure-Erzählen und âventiure-Handeln“. Zu Odysseus als Erzähler vgl. unten Anm. 50.
Zu dieser Etymologie und zur Genese der Abenteuer-Ideologie im Mittelalter vgl. Michael Nerlich, Kritik der Abenteuer-Ideologie. Beitrag zur Erforschung der bürgerlichen Bewußtseinsbildung 1100–1750, 2 Bde., Berlin: Akademie Verlag 1977, Bd. 1, insb. S. 21–25. Nerlich versteht die Suche, die „queste de l’aventure“ als konstitutives Merkmal des Abenteuers.
Nerlich, Kritik der Abenteuer-Ideologie, Bd. 1, S. 27, hält die „Gegenüberstellung von aventure und ordo“ für problematisch und impliziert damit, dass das Abenteuer durchaus Teil einer Ordnung ist. Zum fraglichen Übergang von der vormodernen âventiure in das moderne Abenteuer vgl. die Überlegungen in der Einleitung der Herausgeber zum Sammelband Aventiure und Eskapade: Narrative des Abenteuerlichen vom Mittelalter zur Moderne, hg. v. Jutta Eming u. Ralf Schlechtweg-Jahn, Göttingen: V & R unipress 2017, S. 7–34, hier S. 12. Eine lineare Entwicklung wird hier infrage gestellt und die Herauslösung der Abenteuer aus einem Sinnzusammenhang und ihr Autonom-Werden bereits für die frühen Alexandererzählungen angesetzt. Ein solcher Sinnzusammenhang bleibt in dieser Debatte gleichwohl die Folie, von der das Abenteuer sich abhebt.
Dass die âventiure im mittelhochdeutschen Artusroman „von Gott gegeben“ sei und im Rahmen eines göttlichen Plans einzulösen sei, betont etwa Schnyder, „Sieben Thesen zum Begriff der âventiure“, S. 370 f. Auch der Eintrag „âventiure“ im Lexikon des Mittelalters spricht von der Einbindung des Abenteuers in einen „höheren Sinnzusammenhang“ (der allerdings nicht notwendig ein theologischer sein muss) und von „göttlicher Vorsehung“, vgl. Kasten/Mertens, „Aventure (âventiure)“, Sp. 1289. Dies schließt jedoch nicht aus, dass der Artusritter das Abenteuer „aus eigenem Antrieb“ sucht. Von einer „schicksalsbestimmten, stufenweisen Bewährung eines Auserwähltseins“ spricht auch Erich Auerbach, „Der Auszug des höfischen Ritters“, in: ders., Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur [1946], Bern: Francke 1994, S. 120–138, hier S. 133. Zum Ineinandergreifen von Providenz und Kontingenz in mittelalterlichen âventiuren vgl. Armin Schulz, „Kontingenz im mittelhochdeutschen Liebes- und Abenteuerroman“, in: Herberichs u. Reichlin (Hgg.), Kein Zufall, S. 206–225. Den vielfältigen Schattierungen des mittelalterlichen Konzepts, insbesondere zwischen einem heilsgeschichtlich gebundenen und einem weltlich verstandenen Abenteuerschema, kann in diesem Beitrag leider nicht nachgegangen werden.
Vgl. DFG-Forschungsgruppe „Philologie des Abenteuers“, LMU München („Wissenschaftliches Programm“, https://www.abenteuer.fak13.uni-muenchen.de/forschungsgruppe/wissenschaftliches-programm/wissenschaftliches-programm.pdf [abgerufen am 30. Juni 2019], S. 4). Der letzte Punkt beruft sich auf Auerbachs Ausführungen zum Iwein Chrétien de Troyes’: Auerbach, „Der Auszug des höfischen Ritters“, S. 131.
Zu diesem Kriterium vgl. auch den Artikel von Wolfram Ette in diesem Band, insb. S. 107–109.
Nerlich, Kritik der Abenteuer-Ideologie, Bd. 1, S. 21 f. Nerlich setzt für die von ihm rekonstruierte Abenteuer-Ideologie nicht nur die Freiwilligkeit des Aufbruchs und die Suche nach dem Abenteuer, sondern auch dessen Verherrlichung voraus. Das Kriterium der aktiven Suche nach Abenteuern wurde schon von Erich Auerbach hervorgehoben. Vgl. dazu Auerbach, „Der Auszug des höfischen Ritters“, S. 131 sowie die Einleitung zu diesem Sammelband, S. 4 f.
Vladimir Jankélévitch, L’aventure, l’ennui et le sérieux, Paris: Aubier 1963, S. 23. Vgl. auch François Hartog, Mémoire d’Ulysse. Récits sur la frontière en Grèce ancienne, Paris: Gallimard 1996, S. 16, der Odysseus als „voyageur malgré lui“ bezeichnet. Vgl. dazu auch Renate Schlesier, „Transgressionen des Odysseus“, in: Reisen über Grenzen. Kontakt und Konfrontation, Maskerade und Mimikry, hg. v. ders. u. Ulrike Zellmann, Münster u. a.: Waxmann 2003, S. 133–141, hier S. 133, die herausarbeitet, dass das Reisen in der Odyssee als Ausweis eines neuen Heroenstatus zu verstehen ist.
Vgl. dazu etwa Homer, Ilias 12, 310–328, wo Sarpedon gegenüber Glaukos das intrikate Ineinandergreifen von Sterblichkeit, Kriegseinsatz und Ehre im Selbstverständnis des homerischen Kriegers erläutert.
Vgl. Homer, Odyssee 9, 19 f.
Zu den Relationen zwischen Epos und Märchen vgl. insbesondere Reinhardt, „Die Abenteuer der Odyssee“; Renger, Zwischen Märchen und Mythos sowie Uvo Hölscher, Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman [1988], München: C. H. Beck 2000. Zu den als ‚heroisch‘ einzustufenden Taten des Odysseus gehört natürlich auch die Rache an den Freiern im Palast von Ithaka. Diese bleibt im vorliegenden Beitrag jedoch unberücksichtigt, da der Fokus auf den immer wieder als ‚Abenteuer‘ titulierten Erlebnissen der Apologoi liegt. Eine differenzierte Analyse des veränderten heroischen Paradigmas der Odyssee findet sich in Fabian Horn, Held und Heldentum bei Homer. Das homerische Heldenkonzept und seine poetische Verwendung, Tübingen: Narr Verlag 2014, Kapitel III: „Die Odyssee und der Held im Wandel“; zu den Apologoi vgl. insb. S. 255–282.
Dass es sich um Naturmächte handelt, ist allerdings eine moderne Annahme, die auf einer unantiken Gleichsetzung von Natur und Mythos beruht. Diese Redeweise findet sich etwa in der prominenten Odyssee-Lektüre von Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1944], Frankfurt: S. Fischer 1988, hier S. 50–87: „Exkurs I: Odysseus oder Mythos und Aufklärung“. Exakter handelt es sich bei den Mächten, mit denen Odysseus konfrontiert ist, um Riesen, Menschenfresser, Zauberinnen und Meeresungeheuer.
Die Analogisierung mit Herakles, die Nerlich (vgl. oben Anm. 17) vornimmt, ist irreführend. Anders als die ‚Abenteuer‘ des Odysseus sind die Taten (oder ‚Abenteuer‘) des Herakles in der Tat Auftragsarbeiten.
Vgl. Homer, Odyssee 12, 69 f.
Odysseus ist vor allem der ‚viel Umhergetriebene‘ (polytropos) und der viel Duldende (polytlas), doch gibt es unter den zwölf Episoden seiner Irrfahrt tatsächlich mindestens vier, in denen er sich freiwillig und aktiv in eine unbekannte und unberechenbare Gefahrensituation begibt, und zwar mit der Intention, „etwas zu erfahren“ oder zu „erkunden“: Odyssee 9, 87–90 (Lotophagen); 9, 172–176 (Kyklopen); 10, 100–103 (Laistrygonen) und 10, 151–155 (Kirke).
Vgl. oben Anm. 17.
Nerlich, Kritik der Abenteuer-Ideologie, Bd. 1, S. 26, verweist für diesen Zusammenhang auf eine Arbeit von Erich Köhler (Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik. Studien zur Form der frühen Artus- und Gralsdichtung, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1970, S. 71), nach der „das Abenteuer als ein Sicherproben ohne Auftrag, ohne Amt, ohne konkreten geschichtlich-politischen Zusammenhang“ zu verstehen ist. Gleichwohl definiert Nerlich es „als allgemeine ethische Pflicht“. Auch Auerbach, „Der Auszug des höfischen Ritters“, S. 130 f. negiert die „politisch-geschichtliche Aufgabe“, verwendet aber für die Pflicht, Abenteuer zu bestehen, das Wort „Beruf“.
Homer, Ilias 15, 49–77.
Homer, Ilias 24, 527–529; Übersetzung nach: Homer, Ilias, übers. v. Wolfgang Schadewaldt, Frankfurt/Main: Insel Verlag 1975. Eine vergleichbare Ansicht findet sich auch in der Odyssee, wo Eumaios formuliert: „Der Gott aber wird das eine geben und das andere versagen, wie er es in seinem Sinne will, denn er kann alles“ (14, 444–445; Übersetzung hier und im Folgenden nach: Homer, Die Odyssee, übers. v. Wolfgang Schadewaldt, Reinbek/Hamburg: Rowohlt 2008). Damit ist menschliches Leben zwar durch Götter determiniert, aber nicht im Sinne eines Plans oder einer Ordnung vorhersehbar – eine Konstellation, die durchaus als kontingent bezeichnet werden kann. Vgl. zur Odyssee-Stelle und dem Konzept der göttlichen Willkür Grethlein, Die Odyssee, S. 229 f.
Homer, Ilias 9, 410–416. Die zunehmende Gewissheit, dass Achill dem Tod vor Troia eben doch nicht entkommen kann, hebt allerdings im Laufe des Epos die scheinbare Wahl wieder auf.
Homer, Odyssee 1, 16–18: „ἀλλ’ ὅτε δὴ ἔτος ἦλθε περιπλοµένων ἐνιαυτῶν, / τῷ οἱ ἐπεκλώσαντο θεοὶ οἶκόνδε νέεσθαι / εἰς Ἰθάκην, […].“ Der griechische Text der Odyssee wird zitiert nach Homeri Opera, Tomus III: Odysseae Libros I–XII, hg. v. Thomas W. Allen, Oxford: Oxford University Press 1985. Vgl. auch Odyssee 5, 113–115 (Athena zu Hermes): „Denn nicht ist es ihm bestimmt (aisa), daß er hier, fern den Seinen, zugrunde gehe, sondern sein Teil (moira) ist, daß er noch die Seinen sehe und in sein hochbedachtes Haus und in sein väterliches Land gelange.“
Mit Nerlich, Kritik der Abenteuer-Ideologie (oben Anm. 17) könnte man demnach die Abenteuer als „Schicksalsschläge“ bezeichnen. Vgl. auch Reinhardt, „Die Abenteuer der Odyssee“, S. 87: „Voraussage verwandelt die Gefahren in ein auferlegtes Schicksal.“ Grethlein, Die Odyssee, S. 114 f., arbeitet jedoch heraus, wie diese Vorhersagen vage bleiben und eine „Spannung auf das wie “ erzeugen.
Homer, Odyssee 12, 56–58. Zur Verwendung von Konditionalsätzen in der Prophezeiung des Teiresias vgl. John Peradotto, „Prophecy Degree Zero: Tiresias and the End of the Odyssey “, in: Oralità: cultura, letteratura, discorso, hg. v. Bruno Gentili u. Giuseppe Paioni, Rom: Edizioni dell’ Ateneo 1985, S. 429–455, insb. S. 441 und dazu Susanne Gödde, „Heimkehr ohne Ende? Der Tod des Odysseus und die Poetik der Odyssee“, in: Nostos und Gewalt. Heimkehr in der Prosa des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. v. Eva Eßlinger, DVjs 92.2 (2018), S. 163–180, hier S. 179.
Odysseus weiß spätestens seit der Prophezeiung des Teiresias, dass Poseidon ihm zürnt. Der Leser/Hörer der Odyssee weiß darüber hinaus seit Beginn des Epos, dass der Zorn des Poseidon den Beschluss der übrigen Götter nicht aushebeln kann (vgl. Grethlein, Die Odyssee, S. 231). Diese Argumentation findet sich auch bei Reinhardt, „Die Abenteuer der Odyssee“, S. 52 u. 72 f., der offenbar, ohne dies ausdrücklich zu thematisieren, den Titel seiner Studie durch die Betonung der aus Odysseus’ Perspektive eher schwachen Determination des Geschehens durch Poseidon zu untermauern sucht.
Das Eingreifen der helfenden Nymphen Kirke und Kalypso ist hier ausgenommen; ebenso Situationen in denen ein Gott lediglich qua Gebet oder Opfer adressiert wird, aber nicht initiativ die Handlung beeinflusst. Die Präsenz der Götter, insbesondere der Athena, ist deutlich größer in der Telemachie und in den Heimkehr-Gesängen.
Homer, Odyssee 9, 157 („αἶψα δὲ δῶκε θεὸς µενοεικέα θήρην“); 9, 142 f.; 10, 141 (jeweils: „καί τις θεὸς ἡγεµόνευε“).
Insofern ist es nicht richtig, dass, wie Grethlein, Die Odyssee, S. 234 schreibt, die Rache des Poseidon, „die Irrfahrten der Apologe auslöst“, denn sie setzt ja erst nach dem dritten ‚Abenteuer‘ ein und wird danach innerhalb des Berichts nur noch von Teiresias erwähnt.
Homer, Odyssee 9, 52 f.
Ein Moment der Odysseus-Figur, das zentral für die Lektüre von Horkheimer und Adorno ist: z. B. Dialektik der Aufklärung, S. 55: „Odysseus, wie die Helden aller eigentlichen Romane nach ihm, wirft sich weg gleichsam, um sich zu gewinnen“. Diese Beobachtung greift zugleich vor auf die Diskussion des vierten Kriteriums der Minimaldefinition, nämlich auf das Muster der Bewährung im Rahmen der Prüfung oder Probe.
Auerbach, „Der Auszug des höfischen Ritters“, S. 127, betont das „Geheimnisvolle, aus dem Boden Gewachsene […] keiner rationalen Erklärung Zugängliche“ der Abenteuer in der mittelalterlichen Epik und stellt die offene Frage nach ihrem Sinn. Ähnliches konstatiert Renger, Zwischen Märchen und Mythos, S. 207 f. für die Odyssee: vgl. oben Anm. 9.
Diese Terminologie benutzt auch Reinhardt, „Die Abenteuer der Odyssee“, S. 88, für diese Szene, also lediglich bezogen auf die Gefährten. Grethlein, Die Odyssee, S. 105, wendet das Wort ‚Prüfung‘ für den gesamten ersten Teil der Apologe an. Ein Wort für ‚Prüfung‘ wird im griechischen Text der Apologoi jedoch nicht verwendet.
Homer, Odyssee 12, 279 f.
Homer, Odyssee 12, 338.
Homer, Odyssee 12, 287–290.
Anders verhält es sich mit der Erzählung der Abenteuer: zu möglichen Funktionen des Berichts am Phaiakenhof vgl. unten Anm. 51.
Homer, Odyssee 13, 300–303.
Schulz, „Kontingenz im mittelhochdeutschen Liebes- und Abenteuerroman“, S. 208.
Vgl. Schulz, „Kontingenz im mittelhochdeutschen Liebes- und Abenteuerroman“, S. 209 f.: „Zumal in älterer Literatur, die weitgehend dem Prinzip des ‚Wiedererzählens‘ (Worstbrock) auf ein bekanntes Ende hin verpflichtet ist, dämmt der bloße Umstand, dass das Erzählen immer ein Ende hat, zuletzt alle Kontingenz wieder ein, auch wenn sie im Detail durchaus deutlich exponiert worden sein kann.“
Die These von der Kontingenzbewältigung in Odysseus’ Abenteuer-Erzählung zieht sich auch durch die Lektüre von Grethlein, Die Odyssee, etwa S. 116: „An die Stelle der Kontingenz, die der erlebende Odysseus aushalten muß, tritt die Form, in welcher der erzählende Odysseus die Ereignisse im Rückblick zusammenfügt.“ Für diese Diskussion ist die Frage wichtig, ob die Erzählung der Abenteuer diesen ‚nur‘ eine Form oder auch eine Funktion oder einen Sinn zuweist. Sie wird u. a. behandelt von Renger, Zwischen Märchen und Mythos, S. 211–223.
Homer, Odyssee 11, 368; vgl. 17, 514–521 (Eumaios zu Penelope). Zu Odysseus als Erzähler vgl. Werner Suerbaum, „Die Ich-Erzählungen des Odysseus. Überlegungen zur epischen Technik der Odyssee“, in: Poetica 2 (1968), S. 150–177; Simon Goldhill, „The Poet Hero: Language and Representation in the Odyssey “, in: ders., The Poet’s Voice: Essays on Poetics and Greek Literature, Cambridge: Cambridge University Press 1991, S. 1–68; Charles Segal, Singers, Heroes, and Gods in the Odyssey, Ithaca u. London: Cornell University Press 1994; Schlesier, „Transgressionen des Odysseus“; Grethlein, Die Odyssee, insb. Kap. 3: „Vom Zuhörer zum Erzähler: Odysseus bei den Phaiaken“. Vgl. auch Gödde, „Heimkehr ohne Ende?“, S. 164–168.
Dazu Grethlein, Die Odyssee, S. 116 f. Die genaue Funktion der Apologoi soll hier nicht noch einmal diskutiert werden: In der Forschung werden im wesentlichen drei Modelle vertreten: ein rituelles, ein psychologisches und ein pragmatisches (zu allen drei Funktionen vgl. den Überblick bei Grethlein, Die Odyssee, S. 110–119); zum pragmatischen Modell besonders Glenn Most, „The Structure and Function of Odysseus’ Apologoi“, in: Transactions of the American Philological Association 119 (1989) S. 15–30. Ausführlich zum Verhältnis von (symmetrischer) Struktur und Funktion in den Apologoi Renger, Zwischen Märchen und Mythos, S. 211–223, Kapitel 3: „Erzählen als organisierte Angelegenheit: Zur Struktur und Funktion der Irrfahrten“.
Homer, Odyssee 23, 310–340. Zur Verschränkung von Erotik und Abenteuerbericht (Erzählen im Bett) im mittelalterlichen Epos vgl. Beatrice Trînca, Amor conspirator. Zur Ästhetik des Verborgenen in der höfischen Literatur, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2019, insb. das Kapitel „Sanktionierte Intimität: ‚Lanzelet‘ “, S. 217–224.
Dass der Begriff der Bewährung in der Forschung zur Odyssee dennoch ubiquitär ist, liegt gewiss daran, dass spätere Erzählmuster (insbesondere die poetische Gerechtigkeit) auf das archaische Epos zurückprojiziert werden. Bezeichnenderweise wählt jedoch Horn, Held und Heldentum bei Homer, die Überschrift „Die Bewährung des Helden“ für sein Kapitel III.3 zu den Heimkehr-Gesängen und nicht für die Diskussion der Apologoi.
Nerlich, Kritik der Abenteuer-Ideologie, Bd. 1, S. 21.
Vgl. Homer, Odyssee 11, 363–367 und 13,1–5 sowie Renger, Zwischen Märchen und Mythos, S. 222.
Es ist vor allem Michail Bachtin, der die griechischen Liebesromane prominent als Abenteuerromane untersucht und an ihnen das Modell der ‚Abenteuerzeit‘ entwickelt hat. Demnach kommt den Abenteuern in den Romanen weder eine psychologische noch eine biographische Relevanz zu, sondern sie erfüllen lediglich die Funktion, die Spanne zwischen Anfangs- und Endpunkt der Handlung zu füllen. Nach Bachtin ist das abenteuerliche Ereignis einzig und allein vom Zufall determiniert: Michail Bachtin, Chronotopos, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008, zum griechischen Roman S. 9–36. Die altphilologische Forschung zu den griechischen Romanen ist den Implikationen der (freilich modernen) Gattungsbezeichnung bisher kaum nachgegangen; vgl. jedoch R. Bracht Branham, „A Truer Story of the Novel?“, in: Bakhtin and The Classics, hg. v. dems., Evanston/IL: Northwestern University Press 2002, S. 161–186; Jennifer R. Ballengee, „Below the Belt: Looking onto the Matter of Adventure-Time“, in: The Bakhtin Circle and Ancient Narrative, hg. v. R. Bracht Branham, Groningen: Barkhuis 2005, S. 130–163 sowie Tim Whitmarsh, „Dialogues in Love: Bakhtin and his Critics on the Greek Novel“, in: Branham (Hg.), The Bakhtin Circle, S. 107–129.
In zwei Romanen (Chariton und Xenophon von Ephesos) heiratet das Paar bereits zu Beginn und die folgenden Ereignisse gefährden die bereits geschlossene Verbindung.
Vgl. Sfameni Gasparro, „Daimôn and Tuchê“, S. 85–87 sowie weitere Literatur oben in Anm. 4.
Margarita Kranz, „Schicksal“, in: Ritter u. Gründer (Hgg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Sp. 1275–1289, hier Sp. 1275.
Pindar, 12. Olympische Ode, V. 1–5, in: Pindar, Oden, Griechisch/Deutsch, übers. u. hg. v. Eugen Dönt, Stuttgart: Reclam 1986, S. 71. In V. 8 f. ist die Rede von der Abwesenheit verlässlicher Zeichen der Götter (symbolon … piston). Es wirkt fast ironisch, dass ausgerechnet Tychê hier Abhilfe schaffen soll. In ihrer Adressierung als Glücksbringerin schwingt das drohende Gegenteil stets mit – zur Stelle vgl. Sfameni Gasparro, „Daimôn and Tuchê“, S. 83, die auf die häufig belegte Verbindung von Zeus und einer als rettende Göttin verstandenen Tychê in Inschriften seit hellenistischer Zeit verweist. Als lebensrettende Tychê erscheint die Göttin bereits in Aischylos’ Agamemnon.
Vgl. oben Anm. 5; Platon, Symposion 203d (Eros als Sophist); Chariton, Kallirhoe 1, 1, 12 (Eros als Wortführer in der Volksversammlung); 4, 7, 6 f. (Eros liebt das Neue); Longos, Daphnis und Chloe 2, 26 (Eros als Dichter); 4, 18 (Eros macht die Menschen zu Sophisten). Grundsätzlich zu den Göttern im Roman vgl. Baier, „Die Funktion der Götter bei Chariton“; Weißenberger, „Der ‚Götterapparat‘ im Roman des Chariton“; Michael Alperowitz, Das Wirken und Walten der Götter im Roman, Heidelberg: Winter 1992; Kathryn Sue Chew, Novel techniques. Motivation and Causation in the Ancient Novels with Special Reference to Heliodoros’ Aithiopika, University of California: Los Angeles 1994.
Achilleus Tatios, Kleitophon und Leukippe, übers. v. Karl Plepelits, Stuttgart: Anton Hiersemann 1980, 4, 9, 5–7, S. 137.
Das erklärt sich unter anderem durch den Kontext der Stelle: Leukippe war kurz zuvor durch einen falschen Zaubertrank von einem Verführer und Intriganten statt in Liebe in Wahnsinn versetzt worden.
Heliodor, Die äthiopischen Abenteuer von Theagenes und Charikleia, übers. v. Horst Gasse, Stuttgart: Reclam 1972, 5, 6, 2–4; S. 125 f. Derartige Klagen werden in den Romanen häufiger von den männlichen Protagonisten vorgetragen als von den weiblichen. Wenn die Romanautoren ihre weiblichen Hauptfiguren mit einer erstaunlichen Standhaftigkeit ausstatten und mit der Fähigkeit, in der Krise Überlebensstrategien zu entwickeln, so scheint dies ein Reflex zeitgenössischer moralphilosophischer Diskurse zu sein, die die Gleichberechtigung der weiblichen Ehe- und Gesprächspartnerin propagierten.
Chariton, Kallirhoe 1, 11, 1, S. 516.
Eine genauere Analyse der unterschiedlichen Erzählinstanzen (Kriterium 4.a) muss hier leider außer Acht bleiben: Binnenerzählungen spielen eine große Rolle in den Romanen, zumal in Heliodors Aithiopika. Aber auch die extradiegetische Erzählinstanz macht immer wieder deutlich, dass die Bewahrung der Keuschheit und damit die Bewährung gegenüber den Gefahren der Fremde und des Meeres die conditio der finalen Wiedervereinigung und Ehe darstellt. Vgl. dazu etwa Chariton, Kallirhoe 8, 1, 2–3 (Aphrodite prüft Chaireas); Xenophon v. Ephesos, Ephesiaka 2, 1, 3–4; 2, 4, 4; 2, 5, 4 (Habrokomas bewahrt seine Keuschheit); 2, 13, 8; 3, 11, 4–5; 4, 3, 3 (Anthia bewahrt ihre Keuschheit); 3, 12, 2–6; 4, 2, 1–10 (göttliche Rettung des Habrokomas als Erweis seiner sexuellen Unschuld); 4, 5, 1–5 (Anthia tötet Anchialos, damit er sie nicht vergewaltigt); Heliodor, Aithiopika 8, 6, 4 (Theagenes ist bereit, Folter zu ertragen, um seine Liebe zu Charikleia unter Beweis zu stellen). Zur Bewahrung der Keuschheit und zu sôphrosynê als „Kristallisationspunkt eines Systems moralischer Werte und Normen“ vgl. etwa Martina Hirschberger, „Die Macht der Ohnmächtigen: Strategien sexueller Bewahrung im griechischen Liebesroman (Chariton, Xenophon von Ephesos, Heliodor)“, in: Gender Studies in den Altertumswissenschaften: Aspekte von Macht und Erotik in der Antike, hg. v. Barbara Feichtinger u. Gottfried Kreuz, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2010, S. 135–150, hier S. 147.
Achilleus Tatios, Leukippe und Kleitophon 8, 6, 11–15 und 8, 11–14; Heliodor, Aithiopika 10, 8, 1–2.
Es wäre weiter zu untersuchen, wie sich moralische Bewährung und rettende Götter genau zueinander verhalten. Denn der bisher vor allem betonten Kontingenz, für die die Götter einstehen können, lässt sich die Auffassung von idealisierten Göttern als Garanten einer gerechten Ordnung gegenüberstellen. Vgl. dazu Katharina Waldner, „Die poetische Gerechtigkeit der Götter: Recht und Religion im griechischen Roman“, in: Texte als Medium und Reflexion von Religion im römischen Reich, hg. v. Dorothee Elm von der Osten, Jörg Rüpke u. Katharina Waldner, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, S. 101–123, insb. S. 121.
Das Happy End der Abenteuererzählung in der Odyssee ist allerdings eher bei den Phaiaken als am Ende des Epos anzusetzen: Zwar lässt sich die Wiedervereinigung mit Penelope durchaus als ein solches glückliches Ende fassen, doch trüben weitere Ereignisse und Perspektiven am Ende der Odyssee diesen Eindruck ein, weshalb die Forschung auch gelegentlich von einer „Öffnung des Endes“ spricht: vgl. Grethlein, Die Odyssee, S. 253–259 und Gödde, „Heimkehr ohne Ende?“. Für den Nachweis einer weniger auf „closure“ zielenden Komposition und Lektüre der Romane als Ausweis einer experimentellen, Prosa-spezifischen Poetik („prosaics“) im Sinne Bachtins vgl. Steve Nimis, „The Sense of Open-Endedness in the Ancient Novel“, in: Arethusa 32 (1999), S. 215–238.