Einleitung
Der Versuch, Märchen und Abenteuer miteinander zu vergleichen, ist verschiedenen Schwierigkeiten ausgesetzt. Es ergibt sich zunächst das Problem, dass nicht recht klar ist, was eigentlich miteinander verglichen werden kann und soll. So finden sich unter dem Rubrum des Märchens die unterschiedlichsten Kleinformen des Erzählens vereinigt. In den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm etwa (auf die unter anderem sich die Typenlehre von Aarne/Thompson1 stützt) gibt es Tierfabeln, Zaubermärchen, skurril-unheimliche Phantastereien wie „Die wunderliche Gasterei“, psychoanalytisch abgründige Erzählungen wie die von der „Klugen Else“ oder vom „Mädchen ohne Hände“, nachtschwarze Pädagogik wie „Von einem eigensinnigen Kinde“ oder „Wie Kinder Schlachtens spielten“, Soldaten- und einige wenige Heldenmärchen. Einen Kern und Schwerpunkt dieser weitgestreuten Typologie bildet freilich das Zauber- oder Wundermärchen, das in den meisten Definitionen eine entscheidende Rolle spielt. „Das Wunder ist des Märchens liebstes Kind“, heißt es bei Max Lüthi.2
Besieht man sich umgekehrt, was unter die Kategorie des Abenteuers und der Abenteuerliteratur fällt, so sieht es nicht anders aus. Zwar macht der Begriff des Abenteuers bestimmte Vorgaben über den Inhalt des Erzählten, dennoch ist die historische und systematische Spannweite dessen, wovon innerhalb der vier definitorischen Wegmarken des Abenteuers, die sich für unser Forschungsprojekt als brauchbar herausgestellt haben3, erzählt werden kann, sehr groß. Von den Liebes- und Abenteuerromanen der Antike über den höfischen Roman und die Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts bis zur Kriminalliteratur der russischen Avantgarde findet sich ein weites Spektrum des Erzählbaren und Erzählenswerten – wozu dann noch ab dem 19. Jahrhundert die Kinder- und Jugendbuchliteratur kommt. Es ist alles andere als leicht, den gemeinsamen Kern zu ermitteln, von dem aus der Vergleich zu führen wäre. Eine Entscheidung darüber, was in einem Vergleich zwischen Märchen und Abenteuer berücksichtigt werden sollte, ist also auch von dieser Seite aus heikel.
Als pragmatische Lösung dieses Problems habe ich mich dafür entschieden, den Vergleich zunächst in der Entstehungssituation der europäischen Abenteuerliteratur im engeren Sinne anzusiedeln, also vom höfischen Versroman auszugehen. Erich Auerbach ist bekanntlich der Ansicht, dass es sich bei der Erzählform des Abenteuers um eine „Neuschöpfung des höfischen Romans“ handele; ihm hat sich Michael Nerlich mit weiteren Argumenten angeschlossen.4
An dieser Wahl hängt freilich ein Überlieferungsproblem. Denn schriftlich fixierte Märchen aus dieser Zeit gibt es kaum, sondern allenfalls Motivspuren in der Schwank- und Predigtliteratur des Mittelalters; ab dem 14. Jahrhundert verbessert sich die Quellenlage etwas; im 16. Jahrhundert beginnen mit Giovan Francesco Straparolas Ergötzlichen Nächten (Venedig 1550/1553) die ersten Sammlungen. Das heißt, das historische Verhältnis von Märchen und Abenteuerroman ist auf ständige Extrapolationen angewiesen. Wolfram Völker schreibt:
Die Anzahl der uns überlieferten Märchen im 11. und 12. Jahrhundert ist spärlich, so daß fundierte Angaben über die Verwendung bestimmter Märchen in der Literatur jener Zeit nicht möglich sind […]. Vom höfischen Roman aus kann man jedenfalls auf keine ausgeprägten Märchenerzählungen zurückschließen.5
Wenn es mündliche Quellen gegeben hat, so wissen wir nicht, wie sie ausgesehen haben könnten; das schriftliche Überlieferte jedenfalls gibt keinen Ableitungszusammenhang her.
Das historische wird von einem systematischen Problem kontrapunktiert. Denn auch, wenn viel dafür spricht, dass die Erzählform des Märchens historisch sehr weit zurückreicht, also eine Schicht darstellt, auf die die höfischen Romane zurückgriffen, lässt sich schwer einschätzen, was im Wechsel von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit genau passiert ist. Die seltenen Fälle, in denen es sich überhaupt rekonstruieren lässt – wenn man etwa die Ölenburger Handschrift der Kinder- und Hausmärchen mit den verschiedenen Druckausgaben vergleicht –, lassen sich nicht verallgemeinern, weil wir ja im Fall der Grimms von ihren Interessen (bzw. denen ihrer Epoche) auszugehen haben. Bei früheren Märchensammlungen können wir ein anders gelagertes Interesse interpolieren; worauf es sich aber bezieht und wo genau die Literarisierung ansetzt, lässt sich nicht sagen. Im Fall der höfischen Versromane, die kein sammlerisches Interesse bekunden,6 dürften der Abstand noch größer, die Schwierigkeiten der nachträglichen Konstruktion eines Ursprungs noch sehr viel größer sein.
Dennoch ist die Verlockung groß, das eine aus dem anderen abzuleiten. So gehen Gustav Ehrismann, Volker Roloff und andere davon aus, dass die höfischen Romane bereits vorliegende Märchen- und Sagenstoffe (nicht nur, aber vor allem die sich um König Artus drehenden Erzählungen der matière de Bretagne) absorbierten und ihren weiter reichenden narrativen Ansprüchen unterwarfen. Auch Auerbach scheint ganz selbstverständlich von einer solchen Entstehungsgeschichte auszugehen, wenn er anhand der Erzählung des Calogrenant in Chrétiens Yvain konstatiert: „Ganz offensichtlich befinden wir uns mitten im Zaubermärchen“ (dessen Existenz er wohl voraussetzt).7 Aber auch die, angesichts der Quellenlage durchaus naheliegende, Gegenposition wird vertreten: Dass nämlich „erst die höfischen Erzähler aus disparatem Material von Mythos, Sage und Legende einen Märchenstil geschaffen haben und das moderne Märchen eine Art Nebenprodukt der höfischen Dichtung darstellt“8, also volkstümliche Auskopplungen kleiner Erzählformate aus den Abenteuerromanen des Mittelalters. Beide Thesen lassen sich in einer dritten Annahme vereinigen, nach der die Kunstform zwar aus einfachen Formen hervorgegangen ist, jedoch auf sie zurückgewirkt hat, dass also „der mittelalterliche Ritterroman […], sich nicht aus der zeitlosen ‚Endform‘ des Märchens entwickelt hat, wie wir sie aus den Sammlungen späterer Jahrhunderte kennen, sondern aus einem früheren, der Sage näherstehenden Heldentypus, dessen Helden Krieger waren.“9 Die Form, in der die Märchen auf uns gekommen wären, wäre dann das Ergebnis eines historischen Wechselprozesses.
Ilse Nolting-Hauff, von der das vorstehende Zitat stammt, rekonstruiert diesen Zusammenhang mit den Mitteln des russischen Formalismus, also unter Zugrundelegung von Vladimir Propps Morphologie des Märchens von 1928. Der Idee nach optiert sie für einen strukturellen Vergleich, der sich aller genetischen Fragen zu enthalten versucht.10 Dabei aber gerät ein Propps Ansatz begleitendes Problem aus dem Blick. Die Morphologie beruht bekanntlich auf einer Zerlegung der Märchenhandlung in kleine, durch Buchstaben abgekürzte Motiv- und Handlungseinheiten – ‚Funktionen‘ in seiner Terminologie. Macht man diese zur Grundlage des Vergleichs, droht das narrative Gesamtgefüge aus dem Blick zu geraten. Es ist wie ein Baukastensystem: Wählt man die Elementarbausteine nur klein und unspezifisch genug, so kann man aus ihnen alles Mögliche zusammenfügen. Es setzt sich, mit anderen Worten, bei Propp und seinen Nachfolgern bzw. Nachfolgerinnen eine schwer kontrollierbare Tendenz durch, Ungleichartiges aufeinander zu beziehen, weil der vorab produzierte Rohstoff derselbe ist und derselbe sein muss, weil er sich einer Reduktion auf eine Art prima materia erzählten Handelns überhaupt verdankt.
Letztlich schlägt das auch auf die Frage der Entstehungsverhältnisse durch, denen gegenüber Urteilsenthaltung zu üben Nolting-Hauff denn doch nicht ganz gelingt.11 Dem verdankt sich zuletzt auch der titelgebende Begriff ihres Aufsatzes: „Märchenroman“. Obgleich ihr daran gelegen ist, „neue, romanspezifische Formen der Verknüpfung“ herauszuarbeiten, betrachtet sie in summa doch den höfischen Roman (übrigens auch spätere populäre Romanformen wie den Schauer- und Abenteuerroman des 19. Jahrhunderts) als „stilisierte Märchen“, ja sogar als „Märchenreihe“12, im Grunde als Addition einzelner Märchenmotive.
Entwicklung in Abenteuerroman und Märchen
Was durch die Zerlegung in Funktionen aus dem Blick gerät, ist die integrale Erzählform von Märchen und Abenteuer. Diese sind nämlich durchaus verschieden, und ich möchte im Folgenden versuchen, einige wenige Aspekte zu beleuchten, hinsichtlich derer sie sich unterscheiden.
Dabei musste die Textbasis, auf die sich das Folgende stützt, aus pragmatischen Gründen begrenzt sein. Was die Märchen anlangt, so habe ich mich auf die Sammlung der Brüder Grimm sowie auf Afanasjews 1855 erschienene Zusammenstellung der Russischen Volksmärchen beschränkt, auf die Propp seine Morphologie stützte. Beide Sammlungen sind relativ wenig bearbeitet, ‚im Volkston gehalten‘, vor allem, wenn man bei den Kinder- und Hausmärchen die Erstfassung von 1812/15 zugrunde legt. Afanasjews Sammlung folgt methodisch, wie der Herausgeber bemerkt, dem Vorbild des Grimmschen Unternehmens.
Was die höfischen Romane angeht, so habe ich sie auf den Erec, Iwein und den Parzival eingegrenzt; der Schwerpunkt liegt dabei auf den deutschen Fassungen. Speziell zum Parzival muss ich noch eine kurze Vorüberlegung einschalten. Denn er bezeichnet in gewisser Hinsicht schon eine Grenzbestimmung des höfischen Abenteuernarrativs. Es gibt einen Abenteurertypus, der sich im Verlauf seiner Reise nicht oder nur sehr wenig verändert; er zieht immer weiter und weiter, und wenn er das Ende seines Wegs erreicht, ist er im Grunde derselbe wie am Anfang: so wie James Bond und andere Superhelden von Folge zu Folge immer dieselben bleiben. Im höfischen Roman entsprechen spätere Werke wie der Wigalois und der Roman von der Crone eher diesem Typus.13 Parzival dagegen entwickelt sich; sein Weg führt – in der vollendeten Fassung Wolfram von Eschenbachs lässt es sich deutlich erkennen, ist aber auch bei Chrétien angelegt – aus kindlicher Bewusstlosigkeit und Naivität zur weltlichen und geistlichen Erfahrung. Es fehlt ihm nicht bloß an ritterlichen Tugenden und höfischem Benehmen; das erlernt er schnell. Sein Fehler, der große Irrtum, dessen Aufhebung die erzählerische Bahn dieses Romans beschreibt, ist fehlendes Weltwissen. Seine ‚Dummheit‘ beruht auf einer naiv theoretischen Einstellung zur Welt, die das Gelernte blindlings anwendet und jede natürliche Regung – wie Mitleid und Neugier in der ersten Begegnung mit dem Fischerkönig – unterdrückt.14 Der Weg, der ihn bis zur Übernahme des Gralkönigtums führt (der ja vom Artushof und dem auf ihn zentrierten Abenteuerschema wegführt), ist ein Bildungsweg; deswegen wurde die Verserzählung in der älteren Forschung als „erster ‚Bildungsroman‘ “ geführt.15
Von der Grenzbestimmung her bekommt man die Eigentümlichkeiten der Gattung besser in den Blick. Vom Parzival aus tritt das Entwicklungsmoment auch der älteren Abenteuerromane hervor. Auch Yvain und Erec entwickeln sich, ihre erotische und soziale Unbedarftheit wird durch die Abenteuer, die sie erleben, abgetragen. Das für alle höfischen Romane strukturbildende Prinzip des „doppelten Kursus“16 – eine Verfehlung des Abenteuerhelden, aufgrund deren die Abenteuer-Reihe noch einmal begonnen werden muss – ist ein Entwicklungsmodell, wenn auch ein primitives. In der Wiederholung bezieht ein Prozess sich auf sich selbst; das eben bezeichnet den Unterschied zwischen Sukzession und Entwicklung.
Was mich aber vor allem dazu bewogen hat, mich namentlich auf den Parzival-Komplex zu beziehen, ist, dass diese Romane zum Abenteuer ein reflektiertes Verhältnis unterhalten. Nicht bloß, dass das Wort aventure bzw. âventiure sich in ihnen häufig findet; das ist, soweit ich sehe, in allen Ritterromanen dieser Zeit der Fall – anders übrigens als in der Grimmschen Märchensammlung, in der der Begriff rar ist.17 Darüber hinaus wird bei Wolfram systematisch mit der begriffstragenden Spannung zwischen Ereignis und Erzählung, erlebtem und erzähltem Abenteuer gearbeitet – bis hin zu der abgründigen Form, die er ihr in dem Gespräch zwischen dem Erzähler und der vrou Âventiure im neunten Buch des Parzival gibt.18 Dieses Modell haben Chrétien und Wolfram mit der Geschichte seines Cousins Gawan parallel geführt – was unter anderem eben auch die Funktion hat, den Abenteurertypus, der sich nicht oder nur wenig entwickelt, abzusetzen von dem durch Parzival verkörperten Entwicklungsmodell.19 Beide erleben aventure/âventiure; der Begriff ist offenbar in der Lage, beides zu fassen.
Die Prozesse, von denen in den Volksmärchen erzählt wird, unterscheiden sich vom Abenteuerschema in beiderlei Sinne. Sie entsprechen weder der offenen und fast beliebig erweiterbaren Reihe aneinandergehängter Bewährungsproben noch einem Entwicklungsmodell, wie es der Parzival visiert. Wenn ich recht sehe, propagiert das Märchen zwei, jedoch miteinander zusammenhängende Lebensordnungen – das heißt: erzählte Lebensordnungen: Lebensordnungen als Erzählordnungen.
Die erste dieser Ordnungen ist der Zyklus, der Kreisschluss. Wer in die Fremde aufbrach, kehrt am Ende wieder nach Hause zurück. Viele Märchen zielen auf eine Wiederherstellung des Ausgangszustandes. Das Glück liegt im ungebrochenen, unzerbrochenen Ursprung, die Bewährungsproben, denen die Heldinnen und Helden sich zu unterziehen haben, dienen letztlich seiner Restitution. ‚Entwicklung‘ ist nicht nötig, sie erscheint äußerstenfalls als Zwischenphase, die am Ende eigentümlich verschwimmt und verschwindet. Die Formel: es soll sein, als wär es nie (anders) gewesen, ist das Gesetz dieses Märchentyps. Wenn man hier überhaupt von ‚Abenteuer‘ reden will, dann ist es Mittel zum nichtabenteuerlichen Zweck, Episode und nicht Struktur.20
Die zweite Ordnung biografischen Werdens erfüllt sich in einer Figur, die man die initiatorische Löschung des Ursprungs nennen könnte. Besonders die Zaubermärchen – das ist die These, die Propp im seinem zweiten Buch über Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens vertritt – sind historisch komplex geschichtete Auserzählungen von Initiationsriten, deren historischer Kern in die Jäger- und Sammlerphase der menschlichen Entwicklung zurückreicht:
Das Märchen hat nicht nur Spuren von Vorstellungen über den Tod erhalten, sondern auch Spuren eines einstmals weit verbreiteten Ritus, der mit diesen Vorstellungen eng verknüpft ist, nämlich des Ritus der Initiation von Jugendlichen bei Eintritt der Geschlechtsreife (auch als rites de passage, Pubertätsweihe oder Reifezeremonien bezeichnet).21
Die Gewaltsamkeit dieser Riten22 hat sich in Spuren erhalten, wurde aber seit der neolithischen Revolution mehrfach überschrieben. Als Gemeinsamkeit bleibt, dass eine Entwicklung im Märchen anders als diskontinuierlich nicht gedacht werden kann. Wer auszog, kehrt nicht zurück; er oder sie heiratet die Prinzessin oder den Prinzen, gelangt zu märchenhaftem Reichtum. Es ist ein Schnitt, die Vergangenheit tritt zurück, als ob sie nie gewesen wäre.23
Also entweder Löschung oder Restitution des Ursprungs; dazwischen gibt es, so weit ich sehe, nicht viel. Wie es bei Panzer heißt: „Entwicklung und Verknüpfung der Handlung […] ist im allgemeinen nicht die Sache des Märchens […] Vielmehr erscheint die Handlung überall von außen gestoßen; der künstliche geschürzte Knoten wird nie gelöst, sondern durchhauen.“24
Der Auszug ins Abenteuer
Märchen und Abenteuererzählungen beginnen mit dem Auszug in die fremde Welt. Er ist aber verschieden motiviert. In den Märchen ist es vor allem anderen die Not, die die Heldinnen und Helden dazu zwingt. Dabei kann es sich um materielle Not handeln – ein Hof, der seine Leute nicht mehr ernährt wie in dem Märchen „Die drei Brüder“ –, um ein zerrüttetes Verhältnis zwischen Eltern und Kindern wie in „Sneewittchen“ oder „Das Mädchen ohne Hände“, in dem ein Vater seine Tochter an den Teufel verkauft, oder um beides wie in „Hänsel und Gretel“. Die Abenteurer dagegen ziehen freiwillig von zuhause fort, „querant avantures“, wie es am Anfang des Yvain heißt.25 Im Parzival ist das ähnlich; nur dass es in einer psychologisch plausibleren Form vorgeführt wird: Das Naturkind, das fernab von aller Gesellschaft von seiner Mutter aufgezogen wird, begegnet durch Zufall einigen Rittern, die es in ihrem Glanz zunächst für Götter hält, die ihm aber dann, als ihm klargemacht wird, dass sie Menschen sind wie es selbst, als höchstes erreichbares Ideal erscheinen, das die leer gebliebene Vaterstelle besetzt. In anderen Fällen wird der Auszug durch Konkurrenz innerhalb der Männergesellschaft der Tafelrunde motiviert. So wartet Yvain nicht ab, bis die gesamte Tafelrunde nach Artus’ Beschluss sich aufmacht, um der Erzählung Calogrenants zu folgen; er will sich hervortun, setzt sich ab und reitet voraus – den Abenteuern entgegen, von denen der Hauptteil des Romans vom Löwenritter berichtet. Oder wenn, in Wolfram Parzival, der Ritter Segramors, „der ie nâch strîte ranc“26, also der nach Streit gierte, Artus und Gynovêr frühmorgens aus dem Bett wirft, damit er zum Zweikampf mit Parzival zugelassen werde.
Die Motive für den Auszug des höfischen Ritters mögen sich im Einzelnen voneinander unterscheiden. Dennoch scheint es eine Art Gravitationszentrum zu geben, um das herum sie sich bewegen: eine libidinöse Triebkraft mit starken erotisch-aggressiven Komponenten. Sie steht am Ursprung des Abenteuers; an ihrem Vorhandensein hängt, ob man eine Erzählfolge als Abenteuer bezeichnen sollte.27 In den Märchen spielt sie keine Rolle, ebenso wenig aber auch in dem, was man die ‚Abenteuer des Odysseus‘ zu nennen pflegt – den Komplex von Erzählungen also, mit denen er am Hof der Phäaken seine Gastgeber bezaubert, und die mit einiger Wahrscheinlichkeit auf mediterrane Seefahrermärchen zurückgehen.28
Sicherlich gehen die Motive für den Auszug des Ritters im Einzelnen auseinander. Im Erec ist es sowohl im ersten wie im zweiten Kursus die gekränkte Ehre, die ihn dazu bestimmt. Das Gegenüber, vor dem er sie wiederherstellen muss, ist in beiden Fällen eine Frau: zunächst die Königin, dann Enite, die er aus diesem Grund auch auf die zweite Abenteuerfahrt mitnimmt. Iwein wird zunächst angetrieben von dem schieren Bedürfnis, sich vor den anderen Artusrittern auszuzeichnen. Hier bildet die männlich-männliche Konkurrenz die entscheidende Triebkraft. Im zweiten Teil sind es seine Reue und der Wunsch, die Geliebte wiederzubekommen, die ihn erneut ins Abenteuer aufbrechen lassen. Im Fall des Parzival ist es der übermenschliche Glanz, der von der ritterlichen Existenz ausgeht und mit der Suche nach dem unbekannten Vater verbunden ist. Das Ganze ist aber grundiert von einem fast animalischen Tatendrang. Auch wenn der zweite Teil des Romans, dem Schema des doppelten Kursus entsprechend, davon bestimmt ist, wieder zum Gral zu gelangen und Anfortas zu erlösen, bleibt Parzival bis zum Schluss unbedacht. Nie fragt er nach dem Namen dessen, der ihm begegnet. Sowohl in Form der Auseinandersetzung mit Gawan als auch beim letzten Kampf mit Feirefiz, ist ihm zunächst egal, wer ihm gegenüber steht. Die bloße Gelegenheit, seine Kraft zu beweisen, genügt.
Die Erscheinungsformen des Bedürfnisses nach Bewährung durch Abenteuer sind also verschieden. Dennoch gibt es einen libidinösen Kern, der ihnen gemeinsam ist. Die aggressive und die sexuelle Komponente liegen hier relativ ungeschieden nebeneinander. Gustav Ehrismann spricht in diesem Zusammenhang von „blossem tatendrang“, ja von Sport.29 Dabei mag es sich teilweise um eine Rückprojektion handeln. Aber auch Wolfgang Mohr benennt diesen Punkt, wenn er als Ausgangspunkt des ritterlichen Handelns eine „seltsame Mischung von atavistischen allgemeinmenschlichen Regungen, von magischen Resten aus heroischer Zeit und von ausgesprochen hohen ethischen Forderungen der ritterlichen Kultur“ namhaft macht30 Fast noch mehr als an der Rahmenkonstruktion wird dies im Detail erkennbar, also an den vielen Zweikämpfen, die die Wege der Ritter durchs Abenteuer skandieren. Die Ritter nutzen fast durchweg jede sich bietende Gelegenheit, um sich abzureagieren, den männlichen Konkurrenten zu besiegen, nach Möglichkeit vor den Augen einer anwesenden Frau. Daher die Bedeutung der Turniere, in denen diese Öffentlichkeit gesichert ist. Ein männlich-libidinöses Begehren, in dem erotische und aggressive Komponenten sich nur schwer voneinander unterscheiden lassen, wird zum Erzählprinzip gemacht. In dieser Kombination ist das weder in den chansons de geste noch in den antiken Abenteuererzählungen der Fall, die sich auf eine der beiden Komponenten beschränken.31 Überspitzt formuliert und im episodischen Detail betrachtet, erscheinen diese Romane wie eine fortgesetzte Serie von Rangeleien Halbwüchsiger. Calogrenant antwortet bei Hartmann auf die Frage des „vilain“, des „ungevüegen manne“, nach dem Abenteuer: „daz ich suochende rîte / einen man der mit mir strîte“ – „einen Mann / zu suchen, der mit mir kämpft.“32 Man „tjostiert“, das heißt, im Kern geht es noch nicht einmal darum, den Gegner zu töten. Man prüft vielmehr, wessen Lanze härter ist. Ihr Zersplittern beendet den Kampf zwar nicht, entscheidet ihn aber in den meisten Fällen. Es geht um Potenz und männliche sexuelle Konkurrenz mit homoerotischem Untergrund. „Si minneten sunder bette“, heißt es bei Hartmann anlässlich des finalen Zweikampfs zwischen Erec und dem Roten Ritter: „Das erhob sich herzliche Lieb („herzenminne“) / nach großem Gewinn. / Sie brauchten kein Bett für ihre Liebe.“33
Der Ausdruck des erotischen Bedürfnisses beschränkt sich nicht auf die Begegnungen konkurrierender Adoleszenter. Auch wirkliche erotische Begegnungen zwischen Männern und – ebenfalls begehrenden – Frauen finden sich in Menge, von einer bis dahin unbekannten Strahlkraft und ganz unabhängig davon, ob sich der Ritter schon gebunden hat: etwa in der zweiten Begegnung Parzivals mit Jeschute, die er unwissend erniedrigt hatte, so dass sie von ihrem Ritter verstoßen wurde:
Die freien Verse, für die sich Dieter Kühn in dieser Übersetzung entschieden hat, müssen auf die rhythmisierende Verstärkung des erotischen Effekts durch den Reim verzichten. Es sind eben die „stricke“, die die „blicke“ der schwanenweißen Haut auf den Betrachter – dessen Blicke dadurch magisch angezogen werden –, auslösen; die „sunnen nôt“, also die von der Sonne verbrannte Haut geleitet klanglich zum erotischen Fetisch der roten Lippen – „ir munt was rôt“ –, zu denen Wolfram generell ein obsessives Verhältnis zur Schau stellt.
Ein libidinöser, stark erotisch fundierter Schub löst das Abenteuer aus und treibt es voran. Er kann und muss sogar sublimiert und spiritualisiert werden. In den Märchen spielt die Liebe „keine bedeutende Rolle für die Gesamthandlung.“35 Das Neue und die davon ausgehende Provokation bestehen darin, dass der Eros, seines widerchristlichen Gehalts entkleidet, zu einer säkularen Kulturmacht wird, die auf einem immer differenzierteren, immer reicheren Verhältnis von Körpern basiert. In dieser Form bildet er – ausgehend vom höfischen Roman über den dolce stil novo bis hin zu Boccaccios Liebes- und Naturlehre – wahrscheinlich ein Initial säkularen Erzählens in Europa. Er hält die ausufernden Versromane zusammen, integriert die eventuell vorausliegenden Märchenmotive und schlägt den Bogen, der verhindert, dass sie in Einzelerzählungen zerfallen.36
Im Märchen findet sich von alledem keine Spur37 – mit der einzigen Ausnahme der Heldenmärchen, die deswegen in den Untersuchungen, die ich vorhin nannte, eine irritierend bevorzugte Rolle spielen. In der Grimmschen Sammlung kommen sie nicht vor; die formalistisch ansetzende Forschung bezieht sich deswegen vor allem auf die Zusammenstellung Afanasjews, die sie berücksichtigt. Hier wird aus lauter, nicht zu bremsender ‚Reckenkraft‘ ausgezogen; das Heim ist den Helden zu eng geworden, sie sehnen sich danach, auf Widerstände zu treffen, an denen sie sich erproben können.38 Der erotische Drang spielt aber auch in ihnen eine ganz untergeordnete Rolle. An die Schwäche und erotische Zartheit, die auch zum Erscheinungsbild der höfischen Abenteuerhelden zählt, ist bei ihnen gar nicht zu denken; es sind sympathische, aber brutale Kraftprotze. Die schönen Frauen werden hochschematisch dargestellt, das Epitheton „schön“, bzw. „wunderschön“ reicht aus; der Grenzwert des Beschreibungswillens ist der Hinweis, die Jungfrau sei „so schön, daß man es weder im Märchen erzählen noch mit der Feder beschreiben könnte“.39 Im Zentrum steht auf Seiten des Recken die schiere physische Kraft, die sich beweisen will.40
Die Protagonisten in Märchen- und Abenteuererzählungen
Das führt auf einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen Märchen und Abenteuer. In aller Regel nämlich ist die Statur ihrer Protagonisten eine ganz andere.
Märchenhelden sind schwache Helden. Es sind die Dummen, die Zurückgesetzten und Zurückgebliebenen (die Dummlinge oder Däumlinge), die Faulen, Stiefkinder oder jüngsten Geschwister, die ihr Glück machen – und es sind nicht zuletzt die Mädchen und jungen Frauen. Dieses Glück verdienen sie sich nicht durch Stärke oder Tapferkeit, sondern durch Bescheidenheit, List und ein Naturvertrauen, das sie zu Bündnissen mit den unteren Mächten befähigt – Bündnisse, die ihr Unternehmen gelingen lassen.
Auch in den russischen Märchen gibt es diesen Typus. Er heißt dort Iwan Durak, Iwan der Dumme. Swetlana Geier, die die aktuelle Übersetzung der Afanasjew’schen Sammlung besorgt hat, schreibt über ihn:
In seiner Person konzentrieren sich viele menschliche Schwächen (Trunksucht, Faulheit, Trägheit) und abstoßende Gewohnheiten: Er ist schmutzig und ungepflegt, seine Nase läuft, er nimmt es nicht so genau mit der Wahrheit. Seine hervorragendste Eigenschaft jedoch ist seine ‚Dummheit‘, d.h. er handelt hartnäckig wider den gesunden Menschenverstand, und er lernt nicht, d.h. er ist nicht gewillt, aus der Erfahrung allgemeine Schlüsse zu ziehen. Er wird nicht ‚klüger‘ – und gerade das führt die Wendung zum Guten herbei und macht den Dummen zum Eidam des Zaren.41
Prägnanter lässt sich das Ensemble der Eigenschaften, die der Abenteurer hinter sich lassen muss, um Abenteurer werden zu können, nicht zusammenfassen.
Vertieft man sich in diese Opposition, so stößt man darauf, dass die Märchenhelden im Kern weich sind, nachgiebig, listig und fügsam. An körperlichen Auseinandersetzungen – also an Abenteuern (wenn wir uns an die Definition von Chrétien und Hartmann halten) – haben die Märchenhelden kein Interesse42; wenn sie denn um etwas kämpfen müssen, bevorzugen sie die List und/oder die zauberische Überlegenheit, die ihnen die Unterstützung durch chthonische Mächte gewährt – Zwerge, Feen, aber auch den entchristlichten Teufel selbst, der eher als gutmütiger Grobian denn als dämonische Macht erscheint.43
Das Märchen „Die Bienenkönigin“ beginnt so:
Zwei Königssöhne gingen einmal auf Abentheuer, und geriethen in ein wildes, wüstes Leben, so daß sie gar nicht wieder nach Haus kamen. Der jüngste, welcher der Dummling hieß, ging aus und suchte seine Brüder; aber wie er sie fand, verspotteten sie ihn, daß er mit seiner Einfalt sich durch die Welt schlagen wolle, da sie zwei nicht durchkämen und wären doch viel klüger. Da zogen sie miteinander fort und kamen an einen Ameisenhaufen; die zwei ältesten wollten ihn aufwühlen, und sehen, wie die kleinen Ameisen in der Angst herumkröchen und ihre Eier forttrügen; aber der Dummling sagte: ‚laßt die Thiere in Fried’, ich leids nicht, daß ihr sie stört.‘44
Hier sind viele Elemente des Gegensatzes von Märchenheld und Abenteurer enthalten: zunächst die grundsätzliche Warnung vor dem Abenteuer, durch das man nur auf Abwege kommen kann; die Opposition der Bevorzugten und des Benachteiligten, Zurückgesetzten, der durch Naivität und Einfalt den Spott der anderen auf sich zieht; Aggression und sinnloser Vernichtungsdrang auf der einen, Schutz der kleinen Schwarmwesen auf der anderen Seite – zu denen dann im weiteren Verlauf des Märchens noch Enten und Bienen dazukommen, die dem Dummling helfen, die den drei Brüdern gestellten Aufgaben zu lösen, die verzauberte Prinzessin zu befreien und mit seinen Brüdern am Ende in Eintracht zu leben. In dem sich anschließenden Märchen „Die drei Federn“ wird das Schema des Abenteuers noch in der Weise invertiert, dass das Glück nicht in der Ferne zu suchen ist, sondern nahebei liegt:
Es war einmal ein König, der schickte seine drei Söhne in die Welt, und welcher von ihnen das feinste Linnengarn mitbrächte, der sollte nach seinem Tod das Reich haben. Und damit sie wüßten, wo hinaus sie zögen, stellte er sich vor sein Schloss und blies drei Federn in die Luft, nach deren Flug sollten sie sich richten. Die eine flog nach Westen, der folgte der älteste, die andere nach Osten, der folgte der zweite, die dritte aber fiel auf einen Stein, nicht weit von dem Pallast, da mußte der dritte Prinz, der Dummling, zurück bleiben, und die anderen lachten ihn aus45.
Initiation – Abenteuer – Bildung: Verlaufsformen des Erwachsenwerdens
Die Märchenhelden – vorsichtiger gesagt: viele Märchenhelden; eine Mehrheit unter ihnen – verhalten sich wie Kinder, ihre Weltwahrnehmung, die alles nimmt, wie es ist, entspricht der von Kindern. Sie demonstrieren entweder, dass man nicht erwachsen werden muss, um in der der Welt das Glück zu finden. Oder ihr Lebenslauf – das ist das zweite, darauf aufsitzende Entwicklungsschema der Märchen – dokumentiert den initiatorischen Sprung, durch den das Kind zum Erwachsenen wird – mit einer Zwangsgewalt, von der sich in den Märchen etliche Spuren erhalten haben. Daher rührt die eigentümlich stumpfe, unorganische Form, die die in den Märchen dargestellten Lebensläufe haben, denen ein wie immer geartetes Konzept von kontinuierlicher ‚Entwicklung‘ fremd ist.46
Das Abenteuer dagegen ist entwicklungstypologisch in einer Phase angesiedelt, von der das Märchen noch nichts weiß, weil der von ihm umgebene Erfahrungskern ein anderer ist. Mit dem Abenteuer beginnt die Idee wirksam zu werden, dass Menschen aus libidinöser Kraft ein biografisches Kontinuum aufbauen können. Das initiatorische Moment verschwindet dabei nicht gänzlich. Sowohl das erlebte als auch das erzählte Abenteuer haben ja bis heute eine quasi initiatorische Funktion für Heranwachsende. Aber es wird umgepolt. Das Abenteuer, so könnte man versuchsweise formulieren, ist die in Eigenregie genommene, von sich aus unternommene Initiation. Es ist die Initiation, die zum Ziel eines Bedürfnisses geworden ist. Damit verschwindet etwas von der Gewaltsamkeit des Initiationsprozesses. Dieser wird dadurch nicht gänzlich unverbindlich, nimmt aber Aspekte des Spielerischen an. Die Interaktion von erzählten und erlebten Abenteuer hat daran ihren Anteil. Die Initiation kennt nur zwei Möglichkeiten, Leben oder Tod, pass oder fail. In der Abenteuererzählung gibt es schon Zwischenstufen, die durch das Erzählen vom Abenteuer hergestellt werden. So kann sich eine Niederlage im Nachhinein als notwendiges Mittel zum Ziel herausstellen. Das ist eine Kernidee des doppelten Kursus. Möglich ist dies freilich nur, wenn ein Entwicklungsgedanke dahinter steht, der die Serie von Einzelerlebnissen zu einem Bogen verknüpft.
Vieles an der Erzählform des Abenteuers bleibt schematisch und es gelingt ihr nicht, sich von äußeren Vorgaben zu lösen, auch wenn die providentielle Ordnung, die gerade in den Vor- und Frühformen des Abenteuers wie den antiken Romanen eine bedeutende Rolle spielt, bereits biegsamer und tiefer in die Einzelexistenz vermittelt ist als das Initiationsschema, das sich in der Starrheit vieler Märchenerzählungen niedergeschlagen hat. Gerade in der mittelalterlichen Ausformung des Abenteurernarrativs tritt das providentielle Moment jedoch zurück – auch wenn es nicht verschwindet.47 Das Faszinosum dieser Geschichten liegt darin, dass Individuen damit beginnen, eine Ordnung ihres Lebens zu erschaffen.
Im großen bürgerlichen Projekt der Bildung setzt sich das fort. Der Sinn des Lebens kann nur ein individueller sein. Alle rituell präformierenden Momente treten zurück; die Ordnung der Bildung entfaltet sich im kontinuierlichen Wechselspiel von Individuum und Umwelt. Erst durch die Bildung selbst wird das Subjekt zu der Instanz, die das Ziel erreichen kann. Ein vorgegebenes Telos, das es natürlich auch in der bürgerlichen Welt noch gibt, muss verinnerlicht, im Gang der eigenen Erfahrung angeeignet und (re-)produziert werden. Dabei kann es sich verändern. Bildung ist ein autotransformativer Prozess mit systemischen Zügen; die von außen gesetzte und die aus ihm selbst generierte Zukunft interagieren ständig miteinander.
Davon könnte in den Abenteuererzählungen noch keineswegs die Rede sein; oder höchstens in einem so reflektierten und anspruchsvollen Gebilde wie Wolframs Parzival, in dem das Bildungspotenzial des Abenteuerschemas zu maximaler Reichweite entfaltet wird. In der Masse seiner Produktionen hat das Abenteuer seinen Ort auf halber Strecke zwischen den Lebenserzählungen von Märchen und Bildungsroman, zwischen der Heteronomie ritueller Formgebung und der Autonomie systemischer Selbstgenese. Vielleicht verdankt es dieser Kompromissstellung seine Popularität – gerade in einer Epoche, in der die bürgerliche Bildungsvorstellung zurücktritt und sich herausstellt, dass sie nicht mehr als eine historische Episode gewesen sein könnte.
Antti Aarne u. Stith Thompson, The Types of the Folktale. A Classification and Bibliography, Helsinki: Suomalainen tiedeakatemia 1961.
Max Lüthi, „Das Volksmärchen als Dichtung und als Aussage“, in: Wege der Märchenforschung, hg. v. Felix Karlinger, Darmstadt: wbg 1973, S. 295–310, hier S. 299. „Zauber, Wunder, Übernatürliches […] sind für das allgemeine Empfinden mit dem Begriff ‚Märchen‘ verbunden“ (Max Lüthi, Märchen, Stuttgart u. Weimar: Metzler 2004, S. 2 f.). „Unter einem Märchen verstehen wir seit Herder und den Brüdern Grimm eine mit dichterischer Phantasie entworfene Erzählung besonders aus der Zauberwelt, eine nicht an die Bedingungen des wirklichen Lebens geknüpfte wunderbare Geschichte, die hoch und niedrig mit Vergnügen anhören, auch wenn sie sie unglaublich finden“ (Johannes Bolte u. Georg Polívka, Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, Leipzig: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Theodor Weicher 1930, Bd. 4, S. 4). Panzer definiert: „eine kurze, ausschließlich der Unterhaltung dienende Erzählung von phantastisch-wunderbaren Begebenheiten“ (Friedrich Panzer, „Märchen“, in: Karlinger (Hg.), Wege der Märchenforschung, S. 84–128, hier S. 84).
„(1) ein identifizierbarer Held, (2) eine grenzüberscheitende Bewegung im Raum, (3) ein Moment gefährlicher Kontingenz und (4) eine Erzählinstanz, die den Zusammenhang herstellt, in dem jene Kontingenz sich als Probe oder Prüfung erweist“ („Wissenschaftliches Programm“, DFG-Forschungsgruppe „Philologie des Abenteuers“, LMU München, September 2018. https://www.abenteuer.fak13.uni-muenchen.de/forschungsgruppe/wissenschaftliches-programm/index.html [abgerufen am 11. April 2019], S. 4).
Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen u. Basel: Francke 2001, S. 126 u. S. 131. Michael Nerlich, Kritik der Abenteuer-Ideologie. Beitrag zur Erforschung der bürgerlichen Bewußtseinsbildung 1100–1750, Berlin: Akademie Verlag 1977, Bd. 1, S. 21–23.
Wolfram Völker, Märchenhafte Elemente bei Chrétien de Troyes, Bonn: Romanisches Seminar der Universität 1972, S. 13.
Ein wenig anders ist das bei Marie de France, die sich häufig auf ihre Quellen bezieht und durchblicken lässt, dass sie dabei vor allem mündliche Überlieferungen im Sinn hat. Prolog 33–40: „Ich dachte an die lais, die ich gehört hatte. / Ich zweifelte nicht daran, je wusste es wohl, / dass diejenigen, die sie zuerst begannen / und sie weiterverbreiteten, / sie zur Erinnerung an außergewöhnliche Begebenheiten (aventures) machten, / von denen sie gehört hatten. / Einige davon habe ich erzählen hören und will sie nicht beiseite lassen und vergessen.“ (Marie de France, Lais. Altfranzösisch/Deutsch, hg. v. Philipp Jeserich, Stuttgart: Reclam 2015, S. 11) Die lais, die sie gehört hat, dürften märchenähnlich gewesen sein; hier liegt sicherlich ein historisches Verbindungsglied.
Auerbach, Mimesis, S. 126.
Hans Dieter Mauritz, Der Ritter im magischen Reich. Märchenelemente im französischen Abenteuerroman des 12. und 13. Jahrhunderts, Bern: Lang 1974, S. 11. Ähnlich Roger Sherman Loomis, Arthurian Tradition and Chrétien de Troyes, New York: Columbia University Press 1961, S. 32 ff.
Ilse Nolting-Hauff, „Märchen und Märchenroman. Zur Beziehung zwischen einfacher Form und narrativer Großform in der Literatur“, in: Poetica 6 (1974), S. 129–178, hier S. 149.
Vgl. Wolfgang Mohr, „Parzival und die Ritter. Von einfacher Form zum Ritterepos“, in: Fabula 1 (1958), S. 201 ff. (Die im Titel sich andeutende Ursprungsfrage spielt im Text keine Rolle). Vgl. auch Dennis Green, „Parzival’s Departure – Folktale and Romance“, in: Frühmittelalterliche Studien 14 (1980), S. 352–409.
Hier setzt die Kritik von Christoph Cormeau an: „Artusroman und Märchen. Beschreibung und Genese der Struktur des höfischen Roman“, in: Wolfram-Studien 5 (1979), S. 63 ff.: „Die Reduktion auf den [sic!] Raster der Märchenfunktionen schärft allenfalls den Blick für Analogien über die reinen Motivübernahmen hinaus und erleichtert den Vergleich“ (S. 74).
Nolting-Hauff, „Märchen und Märchenroman“, S. 173, 176, 156. Die Extrapolation auf die Romanformen des 19. Jahrhunderts findet sich im zweiten Teil ihres Aufsatzes: Nolting-Hauff, „Märchenromane mit leidendem Helden. Zur Beziehung zwischen einfacher Form und narrativer Großform in der Literatur (zweite Untersuchung)“, in: Poetica 6 (1974), S. 417–455, hier S. 452 ff.
Vgl. hierzu Walter Haug, „Eros und Fortuna. Der höfische Roman als Spiel von Liebe und Zufall“, in: Fortuna, hg. v. Walter Haug u. Burghardt Wachinger, Tübingen: Niemeyer 1995, S. 52–75, insb. S. 66 f.
Vgl. Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausgabe Karl Lachmanns rev. u. komm. v. Eberhard Nellmann, übers. v. Dieter Kühn, 2 Bde., Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag 1994 (= Bibliothek des Mittelalters 8). Zitiert wird nach Abschnitt und Vers. – Parzival hat sich, wie ihm Trevrizent darlegt, nicht auf seine „vünf sinne“ (Abschn. 488, 26) verlassen. Darin besteht, wenigstens in der Begegnung mit dem Gralskönig, seine Sünde.
Maria Bindschedler, „Der Bildungsgedanke im Mittelalter“, in: DVjs 29 (1955), S. 20–36, hier S. 29. Hans Heinrich Borcherdt führt den Parzival als Vertreter des Bildungsromans auf, weil er das „Zusichselberkommen“ des Protagonisten zur Darstellung bringe (Heinrich Borchert, „Bildungsroman“, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, hg. v. Werner Kohlschmidt u. Wolfgang Mohr, Berlin u. New York: de Gruyter 2001, Bd. 1, S. 175–178, hier S. 176). Ruth Sassenhausen optiert für den weiteren Begriff des Entwicklungsromans, „weil in der Vormoderne weniger ein konträres Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft vorauszusetzen ist, das der Forderung unterliegt, überwunden zu werden“ (Ruth Sassenhausen, Wolfram von Eschenbachs „Parzifal“ als Entwicklungsroman. Gattungstheoretischer Ansatz und literaturpsychologische Deutung, Köln: Böhlau 2007, S. 32 f.).
Vgl. Hugo Kuhn, „ ‚Erec‘ “, in: Hartmann von Aue, hg. v. Hugo Kuhn u. Christoph Cormeau, Darmstadt: wbg 1973, S. 17–48.
Kinder und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm, München: Artemis & Winkler 1993. Zitiert wird, wie in der Forschungsliteratur üblich, nach der Sigle „KHM“. – Vgl. „Die Bienenkönigin“ (KHM 62), „Der Räuber und seine Söhne“ (KHM 191a [5.–6. Auflage]) und „Die sieben Schwaben“ (KHM 119). Nur hier findet sich die im höfischen Roman weitverbreitete Wendung, dass die Abenteuer gesucht werden (z. B. Chrétien de Troyes, Yvain (Der Löwenritter), Sammlung romanischer Übungstexte, hg. v. Rudolf Baehr, Tübingen: Niemeyer 1976, V. 177. Chrétien de Troyes, Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal, Tübingen: Niemeyer 1993, V. 1075 u. V. 1479).
Chrétien kennt aventure nur im Sinne des „Ereignisses“; Marie de France freilich verwendet den Begriff schon ganz unbefangen im Sinn der „Geschichten, die vorgefunden (trover) wurden“ (de France, Lais, S. 92 f.). Hartmann von Aue bezieht ihn im Erec (V. 185, 281, 743, 2239, 2897, 4629, 7835) auf die Quellen seiner Erzählung (Hartmann von Aue, Erec. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung, übers. u. hg. v. Thomas Cramer, Frankfurt/Main: S. Fischer 1972). Vgl. Volker Mertens, „Frau Âventiure klopft an die Tür …“, in: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Beziehungen von Rede und Schrift im Mittelalter, hg. v. Gerd Dicke u. a., Berlin: de Gruyter 2006, S. 339–346). Als Bezeichnung der eigenen Erzählung erscheint âventiure erst bei Wolfram; neben dem Prolog des 9. Buches zum Beispiel Abschn. 115, 24 u. 29; Abschn. 123, 14.
In einem Aufsatz über Parzival und Gawan formuliert Wolfgang Mohr sehr brüsk: „Gawans Entwicklungen sind nicht erzählenswert, er ‚wird‘ und entfaltet sich nicht, er ist.“ (Wolfgang Mohr, „Parzival und Gawan“, in: Wolfram von Eschenbach, hg. v. Heinz Rupp, Darmstadt: wbg 1966, S. 287–318, hier S. 294 [Herv. i. O.], vgl. auch S. 306 f.).
Das hat Bachtin im Sinn, wenn er von „Abenteuerzeit“ spricht: Sie sei eine „außerzeitliche Spanne zwischen zwei Momenten der biografischen Zeit“. „Die Kluft, die Pause, die Spanne, die zwischen diesen beiden unmittelbar aneinander grenzenden Momenten entsteht und in der sich ja gerade der ganze Roman entfaltet, geht in die biographische Zeitreihe nicht ein, liegt außerhalb der biographischen Zeit, sie vermag weder am Leben der Helden etwas zu verändern noch ihm etwas hinzuzufügen.“ (Michail Bachtin, Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt/Main: S. Fischer 1989, S. 13). Hier liegt eine Gemeinsamkeit von Märchen und antikem Abenteuerroman.
Vladimir Propp, Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens, übers. v. Martin Pfeiffer, München: Hanser 1987, S. 61. Initiation als Tod und Neugeburt: S. 111 f.; als restlose Vergesellschaftung: S. 168 (deswegen tragen die Märchenhelden meist keine Namen); zusammenfassend: „der Zyklus der Initiation [ist] die älteste Grundlage des Märchens“ (S. 461).
Vgl. Propp, Die historischen Wurzeln, Kap. III (S. 59–136): Die Initiation ist ein Gewaltmodell der Identitätsbildung. Es wurden Brandmale beigebracht, Hautstreifen abgeschnitten und die Wunde verätzt, so dass eine lebenslange Narbe zurückblieb; Finger wurden abgeschnitten und bei den männlichen Initiationsriten stand die Beschneidung im Zentrum.
Auch die Bestrafung der bösen Eltern – meistens die Stiefmutter, die Mutter (die Hexe als Mutterfigur) – erfolgt nach diesem Schema; so wie in einem russischen Märchen, in dem von der Vergangenheit buchstäblich nichts mehr übrig bleibt: „Die Hexe aber wurde einem Pferd an den Schweif gebunden, das Pferd jagte davon und die Hexe wurde zerstückelt: wenn ein Bein liegenblieb, wurde es zu einem Schürhaken, wenn ein Arm liegenblieb, wurde er zu einem Rechen, und wo der Kopf liegenblieb – wucherte ein Strauch über einem hohlen Stumpf; Vögel kamen geflogen und pickten das Fleisch auf, Winde erhoben sich und verwehten die Knochen, und so blieb von ihr keine Spur und kein Zeichen.“ (Alexander Nikolajewitsch Afanasjew, Russische Volksmärchen, übers. v. Swetlana Geier, Frankfurt/Main: S. Fischer 2013, S. 213).
Panzer, Märchen, S. 92 f.
Chrétien de Troyes, Yvain (Der Löwenritter), V. 177.
Wolfram von Eschenbach, Parzival, Abschn. 285, 1.
Insofern wäre mein Vorschlag, die im „Wissenschaftlichen Programm“ gegebene Arbeitsdefinition von ‚Abenteuer‘ um diesen Punkt zu ergänzen: „(5.) ein erotisch und/oder aggressiv fundiertes Bedürfnis, Abenteuer zu erleben.“ Dieses muss nicht von Beginn der Erzählung an vorhanden sein. Es kann sich auch herausstellen, wie zum Beispiel in Tolkiens The Hobbit, in dem erst mit der Zeit die Abenteuerlust in dem ängstlichen Spießer erwacht, als welcher der Protagonist zunächst vorgeführt wird.
Vgl. dazu den Beitrag von Susanne Gödde in diesem Band.
Das Subjekt des Abenteuers: der „jüngling, der aus blossem tatendrang […] das heimathaus verlässt, […] existenzen, die […] vollkommen plan- und kopflos des sports wegen in der welt herumziehen“ (Gustav Ehrismann, „Märchen im höfischen Epos“, in: Paul und Braunes Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 20 (1905), S. 14–54, hier S. 21 f.). Seine Folgerung, „der abentheuernde ritter ist also eine märchenfigur“, ist freilich aus diesem Grunde unzulässig: in den Märchen kommen – mit Ausnahme der Heldenmärchen, die gattungstypologisch eher zur Sage zählen – solche Figuren gerade nicht vor.
Mohr, „Parzival und Gawan“, S. 301. Nichts davon passt auf das Märchen.
In den Chansons de geste spielt überdies die soziale, teilweise auch die religiöse Funktion der zu bestehenden Kämpfe eine Rolle. „Die Ritter, die dort [in den Chansons de geste] reiten, haben ein Amt und stehen in einem politisch-geschichtlichen Zusammenhang […]; das feudale Ethos [dagegen] dient keiner politischen Funktion und überhaupt keiner praktischen Wirklichkeit mehr; es ist absolut geworden. Es hat keinen anderen Zweck mehr als die Selbstverwirklichung“ (Auerbach, Mimesis, S. 130).
Hartmann von Aue, Iwein V. 532 f., in: ders., Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein, übers. u. hg. v. Volker Mertens, Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag 2004, S. 317–768, hier S. 346 f.
Hartmann von Aue, Erec, V. 9108–9108, S. 397.
Wolfram von Eschenbach, Parzival, Abschn. 257, 8–24. Vgl. auch die erste Schilderung Énides bei Chrétien (V. 400 ff.) und bei Hartmann von Aue (V. 323 ff.).
Völker, Märchenhafte Elemente, S. 26.
Nolting-Hauffs Begriff „Märchenreihe“ (vgl. Anm. 12) ist also auch hinsichtlich des Bestandteils der „Reihe“ problematisch.
Vgl. Lüthi, „Das Volksmärchen als Dichtung und als Aussage“, S. 298; Lutz Röhrich, „Mensch und Tier im Märchen“, in: Wege der Märchenforschung, S. 250. Er verweist zum Beispiel auf das Märchen vom Froschkönig.
Vgl. etwa die Märchen „Iwan Bykowitsch“ und „Iwan Sutschenko und Belyi Poljanin“ in: Afanasjew, Russische Volksmärchen, S. 69 ff., S. 81 ff. In dem Märchen „Krankheit zum Schein“ erfolgt der Auszug nicht freiwillig; die Schilderung der übermenschlichen Reckenkraft, die dorthin drängt, ist allerdings sehr typisch: „Er wuchs nicht von Jahr zu Jahr, nicht von Tag zu Tag, sondern von Stunde zu Stunde, von Minute zu Minute, wie ein Hefeteig, der mit gebrühten Eidottern angesetzt ist; er wuchs zu einem starken mächtigen Recken heran, alle Stühle brachen unter ihm zusammen“ (S. 138). Ehrismanns Untersuchung ist in dieser Hinsicht symptomatisch, weil sie Märchen und Heldensage je nach Bedarf ineinander verfließen lässt.
Afanasjew, Russische Volksmärchen, S. 99.
Ein aufschlussreicher Ausdruck der erotischen Triebmacht im Abenteuerroman ist das Pferd. Wie im Freudschen Bild von Ross und Reiter – „man könnte das Verhältnis des Ichs zum Es mit dem eines Reiters zu seinem Pferd vergleichen“ (Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse/Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, hg. v. Alexander Mitscherlich u. a., Frankfurt/Main: S. Fischer 1982 [= Studienausgabe, Bd. 1], S. 514) – ist es das Ensemble der Triebmächte, das den Ritter auf seinen Weg bringt und ihn sogar führt, wenn er nicht mehr weiter weiß. Das Pferd zu verlieren oder sich mit einer Schindmähre zufrieden geben zu müssen, ist entehrend und zugleich ein sicheres Zeichen davon, dass es dem fahrenden Ritter an einem Wesentlichen ermangelt. Das Pferd ist, wie es im Don Quijote heißt „la fuerza de las aventuras“, auch wenn das für Rocinante schwerlich gilt (Miguel de Cervantes, Don Quijote de la Mancha, hg. v. Francisco Rico, Madrid: Real Academia Española 2015, S. 49, Kap. I.2). Was die Auseinandersetzung mit dem feindlichen Ritter entscheidet, ist nicht bloß die Geschicklichkeit, die Lanze an der richtigen Stelle und mit der richtigen Hebelwirkung anzusetzen – es ist die schiere Kraft des Zusammenpralls, die der Ritter seinem Pferd; der Beherrschung des ihn vorwärts jagenden libidinösen Impulses, verdankt. In den Märchen dagegen sind Pferde auf geradezu betonte Weise abwesend. Man ist zu Fuß unterwegs. Eine Ausnahme bilden wiederum die russischen Heldenmärchen, in denen der Held erst dann ein fertiger Held ist, wenn ihm ein „Reckenross“ zur Seite steht, dass allein von ihm geritten werden kann.
Afanasjew, Russische Volksmärchen, S. 274. Stärker als in der deutschen Tradition spielt die mythologische Figur des Tricksters in die russische Überlieferung hinein.
Es ist merkwürdig, dass in der so kenntnisreichen Untersuchung Völkers dieser Umstand gar nicht gesehen und als „Hauptbedingung“ des Märchens bzw. des ‚Märchenhaften‘ die „Abenteuerfahrt“ genannt wird (Völker, Märchenhafte Elemente, S. 25). Der Märchenheld durchlaufe, so heißt es an anderer Stelle, eine „Abenteuerreihe“ (S. 20).
Vgl. „Der Schmidt und der Teufel“ (KHM 81, nur 1812), „Von dem Teufel mit den drei goldenen Haaren“ (KHM 29), „Des Teufels rußiger Bruder“ (KHM 100).
KHM 62.
KHM 63. Ich zitiere nach der Erstdruckfassung.
Lüthi spricht von der grundsätzlichen Stumpfheit aller Märchenmotive (Lüthi, Märchen, S. 57); Panzer davon, „daß die innere Fügung der Märchenhandlung eine sehr lose zu sein pflegt“ (Panzer, Märchen, S. 105).
Vgl. den Beitrag von Mireille Schnyder in diesem Band, v. a. Abschnitt 1: „sælic spil oder âventiure vinden“.