Die Lust an der Endlosigkeit

Spuren des Abenteuers in der italienischen Gattungspoetik des 16. Jahrhunderts

In: Abenteuer
Author:
Manuel Mühlbacher
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Mit der Wiederentdeckung der aristotelischen Poetik im Italien des 16. Jahrhunderts beginnt eine neue Epoche der dichtungstheoretischen Reflexion. In den poetologischen Traktaten, die sich bis dahin meist an der Ars poetica des Horaz und an rhetorischen Kategorien orientiert hatten, eröffnen sich durch die Hinwendung zu Aristoteles völlig neue Fragestellungen: Begriffe wie „misericordia e ispavento“, „mutazione“, „riconoscenza“, „principio, mezzo e fine“, „verisimilitudine e necessità“ und „unità della favola“ werden innerhalb kurzer Zeit zum Gemeingut.1 Schon in der ersten Hälfte des Jahrhunderts beginnt die Exegese des Textes, etwa in Form von philologischen Textausgaben, Übersetzungen und umfangreichen Kommentaren, ab den 1550er Jahren wird die Poetik dann zum zentralen, ja geradezu hegemonialen Referenztext der Dichtungstheorie. Eine besonders prominente Stellung innerhalb der Aristoteles-Rezeption des Cinquecento nimmt bekanntlich die Debatte um Epos und romanzo ein, die sich zunächst anhand von Ariostos Orlando furioso kristallisiert und sich nach der Publikation von Tassos Gerusalemme liberata zu einer hitzigen Polemik auswächst.2 Für die moderne Gattung des romanzo, die sich als eine widersprüchliche Synthese aus der chanson de geste und dem höfischen Roman des französischen Mittelalters auffassen lässt,3 stellt die Konfrontation mit der Poetik zugleich einen Fluch und einen Segen dar: Da der Orlando furioso – aber auch andere als romanzi bezeichnete Texte wie Matteo Boiardos Orlando innamorato oder Luigi Pulcis Morgante – der aristotelischen Forderung nach Handlungseinheit nicht gerecht werden, sieht sich die Fraktion der Modernen vor die Alternative gestellt, entweder die Autorität des Aristoteles auf die antiken Gattungen einzuschränken oder die Regeln der Poetik so auszulegen bzw. anzuwenden, dass auch die romanzi aristotelisch gerechtfertigt werden können.4 Die meisten Dichtungstheoretiker entscheiden sich für die zweite Option und lesen einen polyzentrischen Text wie den Furioso gewaltsam als ein Epos mit einem einheitlichen mythos und eingefügten Episoden. Versuche, den romanzo als legitime Form der modernen Dichtung mit eigenen Regeln zu etablieren, wie sie etwa Giovan Battista Giraldi (Discorsi intorno al comporre de’ romanzi, 1554) und Gioseppe Malatesta (Della nuova poesia, 1589) unternehmen, stellen in diesem Kontext eher eine Ausnahme dar.

Doch auch dort, wo der romanzo in das Korsett des antiken Epos gezwungen werden soll, kann die falsche bzw. deplatzierte Anwendung der aristotelischen Begriffe eine Quelle für innovative Reflexionen darstellen. Gerade das problematische Festhalten am Primat der Handlungseinheit führt dazu, dass zum ersten Mal seit der Antike eine vertiefte Analyse von Plot-Strukturen möglich wird. Ein gutes Beispiel für dieses Ineinander von falschen Prämissen und konzeptueller Innovation findet sich bei Leonardo Salviati, der die Handlungseinheit des Furioso in mehreren Traktaten mit geradezu sophistischen Argumenten verteidigt.5 Im Infarinato secondo von 1588, seinem letzten Beitrag zur Kontroverse um den Furioso und die Liberata, kommt er dann jedoch zu einer bemerkenswerten Unterscheidung, nämlich der zwischen Handlungsvielfalt in der „larghezza“ und in der „lunghezza“: Demnach gelte es zu differenzieren, ob man es mit einer Vielzahl von parallelen, aber in sich einheitlichen Handlungen oder mit einer einsträngigen, aber immer wieder neu einsetzenden Handlung zu tun habe.6 Während der Typ des episodischen Epos (also Vielfalt in der „lunghezza“) von Aristoteles thematisiert wird,7 stellt die Vervielfältigung der Handlungen in der Breite eine narratologische Überlegung dar, die kein antikes Vorbild hat und die dem Furioso schon weit besser gerecht wird. So erzeugen selbst Fehlinterpretationen neue Beschreibungsinstrumente. Die Rezeption und Kanonisierung der Poetik hat somit einen paradoxen Effekt: Die aristotelische Brille führt in den meisten Fällen entweder zu einer kategorischen Abwertung oder zu einer groben Fehllektüre der romanzi. Doch gleichzeitig bringt sie erzähltheoretische Reflexionen hervor, die auf Grundlage von horazischen oder rhetorischen Begriffen niemals möglich gewesen wären. In letzter Konsequenz wird dadurch auch die Gattungsidentität des romanzo geschärft.8

Gemäß seinem mittelalterlichen Erbe ist der romanzo ein Genre, das ohne das narrative Schema des Abenteuers nicht zu denken wäre. Gerade Boiardos Innamorato beruht auf einer „serialità virtualmente infinita dell’avventura“, wie Sergio Zatti schreibt.9 Im Furioso wurde demgegenüber bereits ein Bedeutungsverlust des Abenteuers gegenüber queste-Strukturen beobachtet,10 was freilich nicht verhindert, dass zahlreiche Handlungssequenzen Boiardos Modell ineinander verwobener Abenteuer-Serien verpflichtet bleiben. Auch Pulcis Morgante, der noch dem Handlungsschema der cantari folgt, lässt die Ritter immer wieder vom Hof Karls des Großen aufbrechen, um im Orient Abenteuer zu suchen. Wer angesichts der ausgeprägten Abenteuerlichkeit des romanzo hofft, in den dichtungstheoretischen Traktaten des Cinquecento auf explizite Kommentare zur ventura bzw. aventura zu stoßen, wird erst einmal enttäuscht: Die Analytiker des romanzo verwenden den Begriff so gut wie nie, und dort, wo er vorkommt, wird er nicht als narrative Einheit, sondern als Teil des arthurischen Stoffkreises verwendet. Die ausführlichste Würdigung der ritterlichen Abenteuersuche findet sich bei Simone Fornari, der 1549 einen umfangreichen Kommentar zum Orlando furioso veröffentlicht. Bezeichnenderweise wird das Abenteuer nicht in den grundsätzlichen Überlegungen des Einleitungskapitels thematisiert, wo Fornari den Furioso aristotelisch zu rechtfertigen versucht und dessen Handlung als Epos mit eingeschobenen Episoden beschreibt, sondern eher beiläufig im Kommentar zum 27. Gesang:

L’inchiesta era d’andar per tutto cercando strane aventure con tal conditione, che i guerrieri, che à cio fare si disponevano, giuravano di prender la difesa di pupilli, di vedove, & d’ogni persona, che di soccorso bisogno havesse. […] Promettevano di non ritornare adietro, ne torcere il dritto viaggio per ischifare alcun pericolo, che eßi sentissero di dover loro incontrare. […] Dopo il ritorno eran costretti di confessare la verita d’ogni cosa avenuta, anchor che loro vituperosa fusse, per doversi mandar poi fedelmente nelle charte, & nelle memorie. Per questo adunque andar qua, & la errando eran cavalieri erranti nominati.11

Die inchiesta bestand darin, überall umherzuziehen und nach merkwürdigen Abenteuern zu suchen. Die Krieger, die sich dies vornahmen, mussten schwören, die Partei von Waisen, Witwen und allen anderen hilfsbedürftigen Personen zu ergreifen. Sie versprachen, nicht umzukehren und nicht vom geraden Weg abzuweichen, um eine Gefahr zu vermeiden, die sie auf sich zukommen sahen. Nach ihrer Rückkehr waren sie verpflichtet, die Wahrheit über alles Geschehene zu bekennen, auch wenn es ihnen zur Schande gereichte, weil es dann zuverlässig dem Papier und dem Gedächtnis anvertraut werden musste. Wegen dieser Irrfahrten, die sie bald hierhin, bald dorthin führten, wurden sie fahrende Ritter genannt.

Fornari trägt daraufhin Episoden zusammen, die dem Schema von Suche und plötzlicher Bewährungsprobe folgen, ohne freilich zu bemerken, dass diese bei Ariosto ironisch gefärbt sind. Die Merkmale des Abenteuers, die Fornari anführt, sind durchaus einschlägig: das Umherirren im Raum, die freiwillige Suche nach der Gefahr, der Prüfungscharakter (als Alternative von Ehre und Schande), die obligatorische Abfolge von Handeln und Erzählen. Doch stellt er keinerlei Beziehung zu den aristotelischen Begriffen her, mit denen er die Handlung beschreibt, ja die Abenteuersuche scheint das êthos der Figuren viel stärker zu betreffen als den mythos. Auch Torquato Tasso behandelt das Abenteuer als reines Material: „amori, cavallerie, venture ed incanti“ bilden gemeinsam einen modernen Erzählstoff ohne zwingende Implikationen für die Handlungsstruktur des Textes.12 Und wenn Giason Denores in seiner Poetica (1588) eine Beziehung zwischen den episodischen Epen der Antike und der seriellen Struktur der modernen romanzi herstellt, kommt er nicht auf die Idee, die Episoden des Ritterromans als „aventure“ zu bezeichnen.13 Insofern lässt sich konstatieren, dass es in der Gattungspoetik des Cinquecento kein Bewusstsein für das Abenteuer als narrative Einheit gibt.

Dennoch wäre es verfehlt, die Untersuchung an dieser Stelle abzubrechen und nicht weiter nach Spuren des Abenteuers in der Debatte um Epos und romanzo zu suchen – immerhin handelt es sich um ein in der Frühen Neuzeit einzigartiges Korpus von Rezeptionszeugnissen, die aus der Lektüre von Texten mit stark abenteuerlichem Charakter hervorgegangen sind. Allerdings muss man dafür über einen rein begriffsgeschichtlichen Ansatz hinausgehen und nach strukturellen und rezeptionsästhetischen Zuschreibungen Ausschau halten, die sich auch dann auf das Erzählschema des Abenteuers beziehen lassen, wenn dieses gar nicht explizit genannt wird. Dadurch lassen sich Beschreibungskategorien gewinnen, die als Ausgangspunkt für eine moderne, literaturwissenschaftliche Philologie des Abenteuers dienen können und zugleich einen historischen Resonanzraum besitzen. Auch wenn man die Aussagen der Dichtungstheoretiker des Cinquecento nicht einfach für bare Münze nehmen sollte, enthalten sie oft einen wahren Kern, der in heuristischer Hinsicht aufgegriffen und weiterentwickelt werden sollte. Freilich wird man nicht alle Elemente, die sich sinnvoll mit dem Abenteuer in Verbindung bringen lassen, in einem einzigen Text und als Bestandteile einer geschlossenen Theorie finden. Statt die Inhalte einzelner Poetiken vollständig zu rekonstruieren, muss man einem Lektüreparcours folgen, der durch mehrere Texte führt, diese aufeinander bezieht und in einen Dialog miteinander versetzt. Auf diese Weise lässt sich der Gattungspoetik des Cinquecento ein Wissen entnehmen, das in keinem einzelnen Text enthalten ist, sondern nur aus dem Korpus als Ganzem hervorgeht. Zwei Theoretiker werden dennoch eine herausgehobene Rolle spielen: einerseits Giovan Battista Pigna, der in I romanzi (1554) eine Lanze für den Furioso bricht, auch wenn er im Wesentlichen an der Richtschnur der Poetik festhält; andererseits Torquato Tasso, insbesondere dessen Apologia in difesa della Gerusalemme liberata (1585), die Discorsi dell’arte poetica (1587) und die Discorsi del poema eroico (1594). Passagen aus den Traktaten anderer Autoren werden diese Texte flankieren.

Während bereits großangelegte literaturgeschichtliche und diskursanalytische Studien zur Debatte um die Gattungsdifferenz von Epos und romanzo vorliegen, verfolgt dieser Artikel ein erzähltheoretisches Interesse, das sich in eine rezeptionsästhetische und eine strukturelle Fragestellung auffächert. Der erste Abschnitt untersucht die Faszinationskräfte, die bei der Lektüre der romanzi am Werk sind: Was fesselt den Leser an den Text? Der zweite Abschnitt widmet sich hingegen dem Problem der Schlussgebung: Wie lässt sich ein romanzo zu Ende erzählen? Narratives Begehren und textuelle Struktur sollen dadurch in ihrer Verschränkung begriffen werden.

1 Fahrende Leser und Dichter

Die zentrale soziologische Opposition, die die Debatte um Epos und romanzo strukturiert, ist die zwischen gebildeten und ungebildeten Lesern, zwischen dotti und indotti. Überall dort, wo ein Text diskreditiert werden soll, ist die Rede vom volgo nicht fern, häufig in Form von lexikalischen Varianten wie la moltitudine, i molti, i plebei usw. Wenn etwa Antonio Sebastiano Minturno, ein überzeugter Aristoteliker, die Mängel des Orlando furioso erörtert, liegt für ihn oft nahe, dass Ariosto sich dem Geschmack der Masse anbiedern wollte: „per piacere à molti elegesse di seguire l’abuso, che ne’ Romanzi trovava“14 („um der Masse zu gefallen, folgte Ariosto dem Missbrauch, den er in den romanzi vorfand“). Auch für Pigna ist die „feccia del volgo“15 („der Abschaum des Pöbels“) das Publikum des durchschnittlichen romanzo. Der volgo meint eine Leserschaft, die sich nicht von rationalen Prinzipien leiten lässt, sondern nach rein sinnlichem Genuss strebt. Er ist der Repräsentant einer rein lustbezogenen Konsumhaltung, eines ästhetischen Hedonismus, der weder vor den Prinzipien der aristotelischen Poetik noch vor denen der christlichen Moral bestehen kann. Welche Rezipientengruppe damit genau gemeint ist, bleibt stets offen. Man kann an das einfache Volk denken, das auf öffentlichen Plätzen gegen bares Geld den Vorträgen herumziehender Sänger, der cantastorie oder cantimbanchi lauscht. Über diese populäre und hochgradig kommerzielle Art des Geschichtenkonsums schütten die Humanisten regelmäßig ihren Hohn aus: Giraldi etwa spricht vom „cantar di questi plebei, che con le lor ciancie tendono le reti alle borse di chi ascolta“16 („Gesang dieser Plebejer, die mit ihrem Geschwätz der Geldbörse des Zuhörers eine Falle stellen“). Seit Ende des 15. Jahrhunderts befindet sich jedoch vor allem der Buchmarkt in voller Expansion, und in den Händen der frühneuzeitlichen Drucker avanciert der Ritterroman schnell zum erfolgreichsten Genre der Zeit. Die aus einzelnen, nur schwach verbundenen Abenteuern bestehenden romanzi kommen den Vermarktungsstrategien umtriebiger Verleger entgegen, die längere Texte in Episoden zerlegen und in regelmäßigen Abständen an die alphabetisierte Mittelschicht verkaufen – es handelt sich, wie Marco Villoresi treffend feststellt, um die erste serielle Produktion von Konsumliteratur im Stil des Feuilleton-Romans.17 Auch wenn die Dichtungstheoretiker des 16. Jahrhunderts selten auf konkrete Vermarktungs- und Lektürepraktiken eingehen, stellt der kommerzielle Erfolg des romanzo zweifelsohne einen Hintergrund dar, vor dem die Polemik gegen den genusssüchtigen volgo zu verstehen ist. Dass der Orlando furioso zu einem der größten Verkaufsschlager des 16. Jahrhunderts wurde18 und dadurch in eine verdächtige Nähe zur Breitenwirkung ungleich simplerer romanzi rückt, bringt die Anhänger Ariostos immer wieder in Verlegenheit: Sie müssen erklären, wie es möglich ist, dass ein Text „non solo appresso del volgo, ma etiandio di huomini gravißimi“19 („nicht nur beim Pöbel, sondern auch bei ernsten Männern“) Anklang finden kann, wie Leonardo Salviati in seinem ersten Beitrag in der Ariosto-Tasso-Kontroverse schreibt – ein Dilemma, das gerne durch das horazische Argument aufgelöst wird, dass prodesse und delectare zusammengehören.20 Dass der moderne romanzo, insbesondere der Furioso, einer breiten Leserschicht mehr diletto und piacere verschafft als das antike Epos, ist eine allgemein anerkannte Tatsache.

Der Topos des volgo im Zusammenhang mit der romanzo-Gattung ist keine Erfindung des 16. Jahrhunderts, sondern findet sich schon bei Petrarca, den Pigna in einer Passage von I romanzi explizit zitiert.21 In einer wegen ihres polemischen Charakters berühmten Passage des Trionfo d’amore liest man, wie sich die Artusritter in eine lange Serie von sündhaft Liebenden einreihen:

Ecco quei che le carte empion di sogni:
Lancilotto, Tristano, e gli altri erranti,
ove conven che ’l vulgo errante agogni.
Schau Lancelot und Tristan Bücher schmücken,
Nebst andern Irrenden, mit Traumgebäuden;
Drob steht das irre Volk starr vor Entzücken22

Dem unwahrscheinlichen und traumhaften Charakter der Ritterromane entspricht ein Lektüremodus, der auf quasi-erotischem Begehren beruht: Durch das „agognare“ rückt der volgo in ein Verhältnis zu den Romanen, das dem zwischen Ritter und Dame entspricht. Dass es sich dabei nicht nur um eine Verirrung des literarischen Geschmacks, sondern moralisch betrachtet um einen Zustand der Sünde handelt, signalisiert die Metapher des „errare“, die einerseits auf die Abenteuersuche des Ritters verweist, andererseits aber auch an die Metaphorik des verlorenen Wegs denken lässt, insbesondere an die „via smarrita“ im ersten Gesang von Dantes Commedia – ein intertextueller Verweis, der sich auch dadurch bestätigt, dass Petrarca auf die Artusritter zwei Liebende aus dem Inferno folgen lässt, nämlich Paolo und Francesca.23 Auch diese lasen bekanntlich „per diletto“24 einen Ritterroman, den altfranzösischen Prosa-Lancelot, und werden im ersten Höllenkreis von einem Wind umhergewirbelt, der nach dem Prinzip des contrappasso das unkontrollierte Spiel der Leidenschaften imitiert, gleichzeitig aber auch an das Umherirren des fahrenden Ritters erinnert: „di qua, di là, di giù, di sù li mena“ („scheucht […] [sie] nach hier, nach dort, nach oben, nach unten“).25 Dante macht die Abenteuersuche dadurch zu einem strukturellen und psychologischen Äquivalent der sündhaften Liebe; er spannt beide Formen des Begehrens durch den Begriff des „errore“ zusammen und verurteilt sie moralisch. Im Gegenzug wird das sinnliche Begehren, für das Paolo und Francesca im Inferno schmoren, als eine Triebkraft des Lesens gedeutet, d. h. als eine Art des Literaturgebrauchs, die nicht auf spirituellen Gewinn, sondern auf reinen Genuss abzielt.

Folgt man der intertextuellen Kette, die von den Traktaten des 16. Jahrhunderts zu Petrarca und dann zu Dante führt, so lässt sich nachvollziehen, wie dem romanzo ein erotisch konnotiertes Faszinationsprinzip zugeschrieben wird. Auch wenn der diletto in der Dichtungstheorie des Cinquecento meist als ein positives Schlagwort auftaucht, bleibt er rechtfertigungsbedürftig, wie die geradezu obligatorische Ergänzung durch das Schlagwort des „giovamento“ zeigt.26 In Anschluss an Terence Cave kann man hier Abwehrreflexe gegen ein sich gerade herausbildendes säkulares Lektüreprinzip sehen, das auf persönlichen Lustgewinn abzielt und sich dem Schema der moralischen Allegorie entzieht.27 Und doch besitzt die Verurteilung, die den „cavaliere errante“ bei Petrarca und Dante trifft und die bis ins 16. Jahrhundert nachhallt, einen Erkenntniswert: Das Begehren des Ritters und das des Lesers nach immer neuen Abenteuern lässt sich tatsächlich nicht stillen, weil das Ende des einen immer nach dem Beginn des nächsten Abenteuers ruft. Der Unterschied zur tragischen Katharsis, die aus der Peripetie eines einheitlichen mythos hervorgeht und deshalb nicht beliebig wiederholbar ist, könnte kaum größer sein. Dass die Anhänger des antiken Epos deren Fehlen im Furioso beklagen, fügt sich in dieses Bild.28

Auf Petrarcas Vorstellung eines irrenden Romanlesers antwortet im Cinquecento aber nicht nur die kollektive Kritik am Geschmack des volgo, sondern auch eine wesentlich innovativere Metapher, die sich erneut bei Pigna findet. Dieser deutet die Bewegung des Umherirrens positiv um und macht sie zu einem Erzählprinzip des romanzo. Im Zusammenhang mit dem narrativen Verfahren, das heute als entrelacement bezeichnet wird, führt Pigna die Vorstellung eines „poema errante“ in die Diskussion ein. Der Text irrt selbst zwischen verschiedenen Handlungssträngen umher und vollzieht dadurch die ziellose Bewegung des fahrenden Ritters auf einer strukturellen Ebene nach:

E perché d’erranti persone è tutto il poema, egli altresì errante è, in quanto che piglia e intermette infinite volte cose infinite, e sempre con arte, percioché, se bene l’ordine epico non osserva, non è che una sua regola non abbia, la quale è questa, che quasi non può farne fallare: tralascia quando il tempo dà che s’interponga o quando nol dà.29

Und weil die ganze Dichtung von umherirrenden Personen handelt, irrt sie selbst umher, insofern sie unendliche Male unendlich viele Dinge aufgreift und einstreut, und das immer voller Kunst, denn auch wenn sie der epischen Ordnung nicht folgt, bedeutet dies noch nicht, dass die keine eigene Regel besitzt, die sie auch kaum verfehlen kann, und diese lautet: sie bricht ab, wenn sich ein Einschub anbietet, oder wenn er sich nicht anbietet.

Zunächst, so legt Pigna nahe, setzt das entrelacement eine Handlungsstruktur voraus, in der sich Momente der Spannung und der Entspannung abwechseln. Der Erzähler kann den Handlungsstrang unterbrechen, wenn gerade ein Ruhepunkt erreicht ist, oder einen Moment besonderer Spannung wählen, um zu einem anderen Handlungsstrang zu springen, wodurch ein Cliffhanger entsteht. Beide Varianten lassen sich jedoch als Teil eines hedonistischen Lektüreprinzips verstehen: Bei der ‚passenden‘ Unterbrechung entsteht eine beruhigende „contentezza, e perciò piacere“ („Freude, und daher Genuss“), im Fall der unvermittelten Unterbrechung hingegen wird der Leser gespannt („sospeso“), „e ne nasce un desiderio che fa diletto“30 („und daraus entsteht ein Verlangen, das Vergnügen bereitet“). Gerade der zweite Fall, das spannungssteigernde entrelacement, erinnert an das Schmachten des sündigen Lesers bei Petrarca: Durch das Prinzip der ständigen sospensione erzeugt der romanzo immer neuen Genuss, ohne das Begehren jemals völlig zu stillen. Insgesamt beschreibt Pigna das entrelacement als ein strukturell realisiertes Meta-Abenteuer: Das unvorhersehbare Springen zwischen den Handlungssträngen entspricht den unkalkulierbaren Wendungen der fahrenden Ritterschaft.

Pignas ingeniöse Parallele zwischen Abenteuerweg und Textstruktur bringt aber auch eine neue Problematik ins Spiel, nämlich das Verhältnis zwischen Gesetz und Zufall. Die Kunstregel, die Pigna dem romanhaften entrelacement zuschreibt, ist schlichtweg paradox: Obwohl der romanzo nicht den aristotelischen Vorschriften für das Epos folgt, ist er nicht regellos, aber seine Regel ist so beliebig, dass er gar nicht gegen sie verstoßen kann. Der romanzo wird dadurch zu einer Gattung der Kontingenz: Nichts ist jemals notwendig, alles ist jederzeit möglich. Regeln lassen sich nur als freie Wahl zwischen zwei komplementären Mengen formulieren.31 Zu dieser Beobachtung ergibt sich ein interessantes Echo in Tassos poetologischen Schriften. Am Anfang des dritten Buchs der Discorsi del poema eroico vergleicht dieser die moderne Dichtung mit den Entdeckungsreisen der Neuzeit: In beiden Fällen wird ein Terrain erschlossen, das in der Antike unkartiert war. Allerdings sollten weder der Entdecker noch der Dichter auf gut Glück verfahren, sondern rationalen Regeln folgen: „non lodo l’audacia senza consiglio, parendomi pazzia ch’altri voglia fare arte del caso […] e tutto concedere alla fortuna“32 („den Wagemut ohne Planung lobe ich nicht, denn es scheint mir Wahnsinn, dass so mancher den Zufall zur Kunst erheben […] und alles dem Glück überlassen will“). Mit Hilfe der „ragione“ bzw. des „intelletto“ müsse man daher versuchen „di moderare i fortunosi avvenimenti e di restringerli quasi sotto alcuna legge“33 („die Wechselfälle des Glücks zu mäßigen und sie gewissermaßen einem Gesetz zu unterwerfen“). Die Kritik am Aufsuchen des Zufalls evoziert einmal mehr die ritterliche Abenteuerlust und macht diese zu einem Analogon für das regellose Vorgehen der romanzo-Autoren. Auch wenn Pigna versucht, eine Regel für das romanhafte entrelacement anzugeben, sagt er unfreiwillig genau dasselbe wie Tasso: Die Gattung des romanzo ist ebenso kontingent wie das Umherirren der „cavalieri erranti“, denen völlig unmotiviert immer neue Bewährungsproben begegnen. Das Beharren auf der Notwendigkeit eines vernünftigen Gesetzes subsumiert die Sinnlichkeit zudem implizit unter die Domäne des Zufalls: Wer ohne Vernunft auszieht, ist den unvorhersehbaren Wechselfälle der Fortuna ausgeliefert. Der rational Planende kann Zufälle hingegen ausschließen.

Tasso erteilt dem Genuss damit freilich keine Absage: Anders als viele Kritiker des romanzo lehnt er hedonistische Lektürepraktiken nicht ab, sondern geht davon aus, dass die Dichtung grundsätzlich auf diletto abziele. Dieser lasse sich jedoch durch das Befolgen bestimmter Kunstregeln – insbesondere der aristotelischen Forderung nach Einheit der Handlung – am besten steigern. Neben diesen ewigen Wahrheiten („non si muta già mai“34) bezieht Tassos Dichtungstheorie jedoch auch ein historisch-variables Element mit ein, nämlich das Verlangen des modernen Lesers nach varietà.35 Der Dichter darf die antiken Epen daher nicht sklavisch nachahmen, vielmehr muss er der besonderen Bedürfnisse des zeitgenössischen Publikums Rechnung tragen:

Non era per aventura così necessaria questa varietà a’ tempi di Virgilio e d’Omero, essendo gli uomini di quel secolo di gusto non così isvogliato: però non tanto v’attesero, benché maggiore nondimeno in Virgilio che in Omero si ritrovi. Necessariissima era a’ nostri tempi.

Möglich, daß diese Abwechslung zu den Zeiten Vergils und Homers entbehrlicher war, da sich der Geschmack der Menschen jener Jahrhunderte noch nicht so übersättigt hatte. Sie waren deshalb nicht so sehr darauf aus. Immerhin ist die Abwechslung bei Vergil schon viel ausgeprägter als bei Homer. Ganz unerlässlich war sie für unsere Zeiten.36

Es gibt, so legt dieses Dekadenznarrativ nahe, eine kulturgeschichtlich fortschreitende Zerstreuung der Aufmerksamkeit, der die Dichter mit einer immer stärkeren Beigabe von varietà begegnen, um die „gusti sì delicati“ (den „so heikle[n] Geschmack“)37 ihrer Leser zu befriedigen. Das Erfolgsrezept der romanzo-Autoren besteht darin, die gestiegene Nachfrage nach ästhetischer Abwechslung durch die Vervielfältigung der Handlungen und Handlungsstränge zu befriedigen, während schulbuchmäßige Klassizisten für ein Publikum schreiben, das seit Jahrhunderten nicht mehr existiert. Aus Tassos Perspektive ist die umherirrende Struktur, die Pigna dem romanzo zuschreibt, ein modernes Phänomen: Sie kommt einem gerade in der Neuzeit gewachsenen Bedürfnis entgegen, muss aber natürlich auch ihrerseits einen Gewöhnungseffekt erzeugen, so dass der Leser in der Folge nach immer mehr Abwechslung verlangen wird.

Tassos Konzept des Epos zielt darauf ab, eine Synthese aus dem gestiegenen Verlangen nach varietà und den unveränderlichen Regeln der Poetik herzustellen. So wie der Kosmos eine Einheit bildet, die doch eine Vielfalt der Teile umfasst, so muss auch eine Vielfalt unterschiedlicher Gegenstände in die Einheit der Handlung eingehen: „ma che nondimeno uno sia il poema che tanta varietà di materie contegna, una la forma e la favola sua“ („ein Dichtwerk, das aber, bei aller Mannigfaltigkeit der Gegenstände, eine Einheit bildet, einheitlich ist in Gestalt und Handlung“).38 Der epische Dichter macht sich dadurch eine wesentliche Einsicht des modernen romanzo zu eigen, ohne die ewigen Lehren des Aristoteles zu verletzen. Es liegt nahe, in Tassos Lösungsversuch zugleich einen Kompromiss zwischen Sinnlichkeit und Vernunft zu sehen: Die rational nachvollziehbaren Wahrheiten der Poetik sind unveränderlich, während das sinnliche Verlangen nach varietà einem historischen Wandel unterliegt. Auf ähnliche Weise legt Giovambattista Strozzi das Verhältnis von Einheit und Vielheit aus, als er 1599 vor der florentinischen Accademia degli Alterati einen Vortrag zur „unità della favola“ hält. Die Einheit ist ein universelles metaphysisches Prinzip, das Gott, der Welt und dem Menschen innewohnt und dessen Betrachtung Genuss erzeugt. Die Vielheit gefällt ebenfalls, allerdings auf einer rein empirischen Ebene: „La varietà è per se stessa dilettevole; e perché è cosa manifesta al senso, non ne occorre altra prova“39 („Die Abwechslung bereitet an sich Genuss; und weil dies für die Sinne offensichtlich ist, wird kein anderer Beweis benötigt“). Die Freude an der Vielfalt der Gegenstände steigt jedoch, wenn sie in eine Einheit eingebettet ist – ähnlich wie Tasso strebt Strozzi also nach einer Synthese aus rationaler unità und sinnlicher varietà, auch wenn seine Theorie der Handlung keine historische Dimension besitzt.

Aus diesen Elementen ergibt sich ein stimmiges Rezeptionsmuster, das im italienischen 16. Jahrhundert fortwährend mit dem romanzo in Verbindung gebracht wird: ungebildete und genusssüchtige Leserschaft, sinnliche Lust am Text, dezentrierte Struktur, schwache Synthese der einzelnen Teile, moralische und strukturelle Regellosigkeit, zerstreute Aufmerksamkeit und dadurch Verlangen nach immer mehr varietà. Trotz der stets polemischen Untertöne enthält diese Kritik ein analytisches Moment: Man hat es hier mit einer rudimentären Psychologie des Lesens zu tun, die an den frühneuzeitlichen romanzi geschult ist und Aufschluss darüber gibt, welche Rezeptionsmechanismen bei der Lektüre von abenteuerlichen Narrativen am Werk sind. Inwiefern diese Beschreibung auf die einzelnen Texte zutrifft, steht freilich auf einem völlig anderen Blatt und muss von Fall zu Fall geprüft werden. Es erweist sich jedoch als aufschlussreich, die unter der Gattungsbezeichnung des romanzo verhandelten Texte am kritischen Erwartungshorizont der aristotelischen Dichtungstheoretiker zu messen – auch und gerade dann, wenn die polemischen Zuschreibungen wie im Fall des Orlando furioso nicht aufgehen.

2 Offene Enden

Die Frage nach der Faszination des romanzo ist untrennbar mit einem strukturellen Problem verbunden: dem der narrativen Schlussgebung. Im Cinquecento wird die Fragestellung natürlich stets in aristotelischen Termini formuliert. Das Epos beruht auf einem einzigen mythos, der über Anfang und Mitte zum Ende führt. Davon ausgehend lautet eine Beschreibung der romanzo-Handlung etwa so: „molte et varie attioni di molti et varii“40 („viele und wechselnde Handlungen, die von Vielen und Wechselnden vollbracht werden“), oder noch kürzer: „più fatti di più uomini“41 („mehrere Taten mehrerer Männer“). Hat man einen Text wie den Orlando innamorato vor Augen, so kann man die „fatti“ und „azioni“ getrost als einen Platzhalter für das nie genannte Abenteuer lesen. Da ein solcher romanzo nicht eine Handlung, sondern viele ineinander verschlungene Abenteuer schildert, die außerdem von vielen Rittern vollbracht werden, drängt sich die Frage auf, wo die Grenzen des Textes liegen. Sowohl in seiner episodischen Länge als auch in der Breite seiner Handlungsvielfalt scheint der romanzo kein natürliches Limit zu kennen. Pigna unterstreicht diesen Punkt in aller Deutlichkeit: „essendo che più azioni di termine mancherebbono, e verrebbe il processo in infinito, e più fini farebbono“42 („da mehreren Handlungen der Schluss fehlen würde, liefen sie ins Unendliche fort und hätten mehrere Enden“). Dieses Problem ergibt sich nicht nur aus der aristotelischen Poetik, an der Pigna sich orientiert, sondern findet seine literaturgeschichtliche Entsprechung im seriellen Charakter der frühneuzeitlichen Ritterromane. Autoren wie Pigna oder Giraldi waren nicht nur mit der ausufernden einheimischen Produktion, sondern auch mit dem spanischen Amadís-Zyklus vertraut, der ab 1546 auf Italienisch erschien.43 Es fehlte also nicht an Anschauungsmaterial, das von der konstitutiven Endlosigkeit des romanzo zeugt. Pigna versucht deshalb, ein feststehendes Ziel zu formulieren, auf das der romanzo zusteuert und nach dessen Erreichen er enden muss: „da qualche famosa sua impresa comincerò, trasferendomi a molte altre, e in una mi fermerò, oltra la quale una maggiore o avere o formare non possa“44 („ich werde mit einer seiner berühmten Taten beginnen, und zu vielen anderen vorrücken, und bei einer werde ich aufhören, jenseits von der eine größere Tat weder gegeben noch gedacht werden kann“). Erneut handelt es sich um eine Regel, die nichts als ein Inbegriff der Regellosigkeit ist. Im romanzo präsentiert sich jede Tat immer schon als die größte, völlig unabhängig von ihrer syntagmatischen Position: „E comincioron sì fiera battaglia / che far comparazion non si può a quella“ („So heftig stürzten sie sich in den Streit, / mit dem kein anderer sich je verglich“),45 heißt es etwa im sechsten Gesang von Pulcis Morgante, der an dieser Stelle bereits die Rhetorik des Superlativs parodiert. Da der Ritterroman nach dem Prinzip der amplificatio immer gewaltigere Taten aneinanderreiht, lässt sich nach Pignas Maßgabe kein Ende finden: Jedes Abenteuer kann überboten werden, wenn die Phantasie des Autors nur mächtig genug ist.

Das Problem der Unendlichkeit des romanzo hat auch Tasso erkannt: „può questo progresso andare in infinito, senza che le sia da l’arte prefisso o circonscritto termine alcuno“ („und dies kann bis ins Unendliche gehen, ohne daß die Kunstregel eine Grenze vorschreiben oder umreißen könnte“).46 Dennoch, so argumentiert er, lässt sich für den romanzo zumindest indirekt eine ideale Ausdehnung angeben. Deren Bestimmung folgt Tassos eigener Logik: Für ihn begründet der romanzo keine eigene, moderne Gattung, er stellt vielmehr eine degradierte Variante des Epos dar. Das eigentliche Ziel des Autors müsste also darin bestehen, die Regeln der aristotelischen Poetik zu befolgen und ein Epos zu schreiben. Wenn er aus Rücksicht auf den vorherrschenden Publikumsgeschmack dennoch in der epischen Sub-Gattung schreiben will, die romanzo genannt wird, dann muss er sich jedoch nach völlig anderen Regeln richten. Im Fall der Ausdehnung läuft die goldene Regel des romanzo auf eine Negation der aristotelischen Forderung nach Übersichtlichkeit (eusynoptos47) hinaus: Derjenige romanzo ist der beste, der die größte Ausdehnung besitzt.48 Passenderweise beschreibt Tasso dieses Streben nach Grenzenlosigkeit mit einem Vergleich, der aus den Ritterromanen selbst hergenommen ist: „la grandezza [è] tanto più risguardevole, quanto meno usata, perciò che fra’ giganti ancora quelli sono più maravigliosi che superano più la commune statura“49 („die Ausdehnung ist umso bemerkenswerter, je ungewöhnlicher sie ist, weil ja auch unter den Riesen diejenigen am wunderbarsten sind, die die durchschnittliche Statur am deutlichsten übertreffen“). Die Größe des Riesen steht metaphorisch für das Ausmaß des Textes: Beide sind einer unbegrenzten Steigerung fähig und werden ihrer Rolle doch dann am besten gerecht, wenn sie alle anderen übertreffen. Denkt man an Pignas Vorstellung einer unüberbietbaren Heldentat, die das Ende des romanzo markiert, wäre aber auch eine metonymische Lesart möglich: Der Riese ist als schrecklicher Gegner Bestandteil zahlreicher Abenteuer. Seine Körpermaße sind zugleich das Maß, an dem sich die bestehende Prüfung bemessen lässt – ein Prinzip, das später Cervantes parodiert, indem er die Riesen im Kopf seines Helden wortwörtlich bis in den Himmel wachsen lässt: „diez gigantes que con las cabezas no sólo tocan, sino pasan las nubes“ („zehn Riesen […], deren Köpfe die Wolken nicht nur streifen, sondern überragen“).50 Den größten Riesen, das gewaltigste Abenteuer und das definitive Ende kann es im romanzo niemals geben.

Der romanzo zielt daher gemäß seinem Gattungsideal auf Endlosigkeit ab, auf sich immer weiter addierende und verschlingende Abenteuer, denen nur äußere Zwischenfälle ein Ende setzen können: etwa wenn der Verfasser durch Tod oder sonstige Umstände gehindert wird, den Text fortzusetzen. Es handelt sich hier nicht um eine reine Spekulation, denn Boiardos unvollendeter, aber immerhin 69 Gesänge umfassender Orlando innamorato bricht mitten im neunten Gesang des dritten Teils ab, und zwar mit einem Hinweis auf den Einfall eines französischen Heeres unter der Führung Karls VIII., das im Oktober 1494 Ferrara erreichte:

(Mentre che io canto, o Dio redemptore,
Vedo la Italia tutta a fiama e a foco
Per questi Gallli, che con gran valore
Vengon per disertar non sciò che loco:
Però vi lascio in questo vano amore
Di Fiordespina ardente a poco a poco.
Un altra fiata, se mi fia concesso,
Raconterovi el tutto per espresso).
Indeß ich dieses sing’ – o Gott der Güte! –
Seh’ ich Italien rings in Flamm’ und Brand
Durch diese Gallier, deren Kriegsgewüte
Verheeren will, ich weiß nicht welches Land.
Drum lass’ ich Fleurdespinen, die erglühte
Von eitler Liebe, nach und nach entbrannt.
Ein andermal (begünstigt Gott mein Streben)
Hoff’ ich von Allem euch Bericht zu geben.51

Die letzte Stanze markiert den Einbruch eines völlig äußeren, kontingenten Ereignisses in den Text, dessen letzter Cliffhanger nicht mehr aufgelöst wird.52 Boiardo starb zwei Monate später, und sein Text erschien 1495 in der finalen Fassung, die dann von diversen Autoren – darunter auch Ariosto – fortgesetzt wurde.53 Selbst der äußere Zufall unterbricht den Text nur vorübergehend, denn in letzter Instanz triumphiert einmal mehr das Gattungsprinzip der unendlichen Fortsetzung.

Es bietet sich an, die End- und Ziellosigkeit des romanzo mit dem bereits skizzierten Rezeptionsmodell der Spannung zu verbinden: Pigna zufolge besteht der Reiz des romanzo aus einer Serie von relativ kurzen Spannungen und Entspannungen, in die das entrelacement spannungssteigernd eingreift, indem es die Abenteuer der Figuren durch das Umherirren des Erzählers noch einmal verdoppelt.54 Übergeordnete Spannungsbögen, sofern sie überhaupt vorhanden sind, erfüllen dann in erster Linie die Funktion, neue Abenteuer zu ermöglichen. Dieses zirkuläre Modell von Spannungsaufbau und -abfuhr ist ebenso offen wie der romanzo selbst, ja es stellt nichts anderes dar als das rezeptionsästhetische Korrelat der narrativen Endlosigkeit. Mit Hilfe der dichtungstheoretischen Texte des 16. Jahrhunderts lässt sich das Prinzip des romanzo bereits auf Begriffe bringen, die an Peter Brooks’ Theorie des narrativen Begehrens erinnern, und das ist sicherlich kein Zufall, denn Brooks beruft sich immer wieder auf die aristotelische Handlungsstruktur von Anfang, Mitte und Ende, die auch in der Debatte um Epos und romanzo einen ständigen Referenzpunkt darstellt. Für Brooks ist die Tatsache von zentraler Bedeutung, dass jede Erzählung ein Ende voraussetzt, weil nur durch die narrative Schließung die im Plot angelegte Bedeutung zur Geltung kommt – was auch einer definitiven Abfuhr der durch den Impuls des Anfangs erzeugten Spannung entspricht:

The very possibility of meaning plotted through sequence and through time depends on the anticipated structuring force of the ending: the interminable would be the meaningless, and the lack of ending would jeopardize the beginning.55

Nun ist dieses Modell offensichtlich am realistischen Roman des 19. Jahrhunderts und an der aristotelischen Poetik geschult, also an einer literarischen Strömung, die sich im Gegensatz zur abenteueraffinen romance herausgebildet hat, und an einem theoretischen Text, der früh für die Kritik am Abenteuerschema eingespannt wurde. Die frühneuzeitliche Narrativik unterhält demgegenüber ein flexibleres Verhältnis zur Schließung. Ihre strukturelle Offenheit resultiert daraus, dass das Abenteuer über weite Strecken sich selbst überlassen bleibt, was zur endlosen Verschlingung einer Vielzahl von Abenteuer-Sequenzen führt. Aus diesem Modell versucht schon Ariosto auszusteigen: Seine erste Operation besteht folgerichtig darin, die Bedeutung des Abenteuers gegenüber der queste der einzelnen Ritter zu reduzieren und diese schließlich in ein episch gefärbtes Finale übergehen zu lassen.56 Der Text entgeht der eigenen Endlosigkeit unter anderem dadurch, dass er seine epischen Bestandteile – die matière de France mit dem kollektiven Kampf gegen die Mauren – reaktiviert. In den „verwilderten“ Romanen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, wo das Abenteuer keinem höheren Sinnzusammenhang mehr zugeordnet ist, sondern einen reinen Selbstzweck darstellt,57 findet sich hingegen ein narratives Begehren, das nicht nach dem einen Ende strebt, sondern sich immer wieder erneuert und daher eher zyklisch als teleologisch angelegt ist. Umso überraschender ist es, dass Brooks gerade das Abenteuer als Paradefall des vom Ende her konstruierten Handlungsschemas aufgreift: „The sense of adventure thus plotted from its end, so to speak, has something of the rigor and necessity provided in poetry by meter and rhyme“.58 Das mag auf einzelne Abenteuer zutreffen, wo das scheinbar kontingente Ereignis immer schon auf einen bestimmten Sinn, nämlich die Bewährung des Helden ausgerichtet ist. Doch im romanzo der Frühen Neuzeit bilden Abenteuer gerade kein finalisiertes Syntagma, sondern endlose Serien. Das Ende des einen Abenteuers geht hier immer schon mit dem Begehren nach dem nächsten einher – so wie auch ein Vers oder ein Reim, um bei Brooks’ Analogie zu bleiben, formal abgeschossen ist und gleichzeitig auf die nächste metrische Einheit vorausweist. Zu dieser Analogie zwischen narrativer und metrischer Einheit59 passt, dass Giraldi die für den romanzo typische Strophenform, die Oktave, nach einem ähnlichen Muster beschreibt. Der Abschluss der Oktave im Paarreim hebt einen Zustand der Spannung auf und erzeugt diletto, doch mit dem Erreichen dieses metrischen Ruhepunkts entsteht bereits das Verlangen nach der nächsten Strophe:

perché aspettando quel fine chi legge o chi ascolta, quanto piú dolce il ritrova, tanto piú volentieri vi si riposa e divien piú avido di udire le altre stanze; nella qual cosa, insieme col diletto che dà il poeta, si mostra egli di molto giudicio in sapere con felice destrezza pigliare l’animo di chi legge, et con mirabilie artificio.60

denn auf dieses Ende hat der Leser bzw. Zuhörer gewartet, und je angenehmer es ihm erscheint, desto lieber ruht er sich an dieser Stelle aus und wird begierig, die anderen Strophen zu hören. Dadurch erzeugt der Dichter nicht nur Genuss, sondern beweist auch seine Urteilskraft, weil er mit glücklichem Geschick und wundersamer Kunstfertigkeit die Seele des Lesers zu ergreifen weiß.

Diesem zyklischen Schema von Spannung und Genuss gehorcht auch das seriell erzählte Abenteuer. Dem unendlichen Text des romanzo entspricht deshalb ein unersättliches narratives Begehren, das bei Petrarca als ein Zustand des „aggognare“, des Schmachtens beschrieben wurde.

Während die Endlosigkeit des romanzo für die meisten Leser offenbar lustvollen Charakter hatte, spricht aus den poetologischen Traktaten des Cinquecento bereits eine gewisse „fear of endlessness“, wie man mit Brooks sagen könnte.61 Aber wie später in der Literatur der Moderne findet auch in der Frühen Neuzeit kein reiner Ausschluss des Abenteuers statt – selbst Tasso scheint es unmöglich, den modernen Leser an einen Text zu fesseln, ohne die im romanzo enthaltene varietà zumindest auf Ebene des verarbeiteten Materials zu integrieren. Der abenteuerliche romanzo kann zwar endlos fortlaufen, er gilt im 16. Jahrhundert aber auch als eine literarische Gattung, die einen schnellen Lustgewinn garantiert und das Begehren einer breiten Leserschicht besonders stark an sich bindet. Wer diese Lust am Text nicht eliminieren wollte, der konnte auch das Abenteuer nicht endgültig loswerden.

1

Die italienischen Begriffe wurden dem Kommentar von Lodovico Castelvetro entnommen: Poetica d’Aristotele: vulgarizzata e sposta [1570], hg. v. Werther Romani, Rom: Laterza 1979, S. 155, 182, 205, 270. Sie finden sich aber in dieser oder ähnlicher Form in allen Texten, die in diesem Artikel zitiert werden.

2

Die Orientierung im umfangreichen Korpus der poetologischen Traktate des 16. Jahrhunderts wäre ohne Bernard Weinbergs monumentale Überblicksdarstellung kaum möglich. Vgl. A History of Literary Criticism in the Italian Renaissance, Chicago u. London: University of Chicago Press 1974, insb. Bd. 2, S. 954–1073. Grundlegend ist weiterhin die diskursanalytische Studie von Klaus Hempfer, der die Rezeptionszeugnisse zum Furioso für eine Heuristik der Textlektüre nutzbar macht: vgl. Diskrepante Lektüren. Die Orlando-Furioso-Rezeption im Cinquecento, Stuttgart: Frank Steiner Verlag 1987. Auch in diesem Artikel sollen die Texte mit einem heuristischen Interesse gelesen werden, allerdings in einer narratologischen Perspektive.

3

Vgl. dazu Karlheinz Stierle, „Die Verwilderung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeit“, in: Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters, hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht, Heidelberg: Winter 1980, S. 253–313.

4

Zu diesen Optionen, die die Debatte um den Furioso strukturieren, vgl. Daniel Javitch, Proclaiming a Classic: The Canonization of „Orlando Furioso“, Princeton: Princeton University Press 2014, S. 21–47.

5

Zu Salviatis inkonsistenter Argumentation vgl. auch Hempfer, Diskrepante Lektüren, S. 151–156.

6

Vgl. Leonardo Salviati, LoNfarinato secondo, Florenz: Anton Padovani 1588, S. 73.

7

Aristoteles, Poetik, übers. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam 2006, 1451a.

8

Daniel Javitch weist darauf hin, dass die Auslegung des Furioso als aristotelisches Epos ab den 1560er Jahren an Überzeugungskraft verliert. Die strukturellen Besonderheiten des romanzo treten damit deutlicher hervor. Vgl. Javitch, Proclaiming a Classic, S. 44–47. Gerade Gioseppe Malatesta verwendet in Della nuova poesia große Energie darauf, die aristotelische Fehllektüre zu widerlegen und den Furioso als Repräsentanten einer genuin modernen romanzo-Gattung zu rechtfertigen. Vgl. Malatesta, Della nuova poesia ovvero delle difese del Furioso, Verona: Sebastiano dalle Donne 1589, z. B. S. 31 f.

9

Sergio Zatti, „L’avventura del cavaliere rinascimentale“, in: L’eroe e l’ostacolo. Forme dell’avventura nella narrativa occidentale, hg. v. dems., Rom: Bulzoni 2010, S. 101–130, hier S. 114.

10

Vgl. dazu Riccardo Bruscagli, „ ‚Ventura‘ e ‚inchiesta‘ fra Boiardo e Ariosto“, in: ders., Stagioni della civiltà estense, Pisa: Nistri-Lischi 1983, S. 87–126.

11

Simone Fornari, La spositione di M. Simon Fornari sopra l’Orlando furioso di Lodovico Ariosto, Florenz: Lorenzo Torrentino 1549, S. 452 f. Zitate aus dem Italienischen werden im Folgenden übersetzt. Falls keine Quelle angegeben ist, handelt es sich um eigene Übersetzungen des Autors.

12

Torquato Tasso, Discorsi dell’arte poetica e in particolare sopra il poema eroico, in: ders., Scritti sull’arte poetica, hg. v. Ettore Mazzali, Turin: Einaudi, S. 3–64, hier S. 40.

13

Vgl. Giason Denores, Poetica, Padua: Paulo Meietto 1588, S. 58.

14

Antonio Sebastiano Minturno, L’arte poetica [1564], München: Wilhelm Fink 1971, S. 29. Zum Argument der ungebildeten Leserschaft vgl. auch Hempfer, Diskrepante Lektüren, S. 51–53.

15

Giovan Battista Pigna, I romanzi, hg. v. Salvatore Ritrovato, Bologna: Commissione per i testi di lingua 1997, S. 45.

16

Giovan Battista Giraldi, Discorsi intorno al comporre, hg. v. Susanna Villari, Messina: Centro interdipartimentale di studi umanistici 2002, S. 16.

17

Vgl. Marco Villoresi, La fabbrica dei cavalieri. Cantari, poemi, romanzi in prosa fra Medioevo e Rinascimento, Rom: Salerno 2005, S. 31 u. 148.

18

Vgl. Javitch, Proclaiming a Classic, S. 10–20. Allein zwischen 1540 und 1580 zählt Javitch 113 Auflagen des Furioso.

19

Leonardo Salviati, Degli accademici della Crusca difesa dell’Orlando furioso dell’Ariosto. Stacciata prima, Florenz: Domenico Manzani 1584, S. 1.

20

So etwa bei Giraldi, Discorsi intorno al comporre, S. 18 f. u. 23.

21

Vgl. Pigna, I romanzi, S. 44.

22

Francesco Petrarca, Trionfi, Rime estravaganti, Codice degli abbozzi, hg. v. Vinicio Pacca u. Laura Paolino, Mailand: Mondadori 1996, S. 148 (Triumphus Cupidinis III, V. 79–81) u. Canzoniere, Triumphe, Verstreute Gedichte, übers. v. Karl Förster u. Hans Grote, hg. v. Hans Grote, Düsseldorf u. Zürich: Artemis & Winkler 2002, S. 571. Zur ambivalenten Rolle der Lancelot-Figur bei Petrarca (und bei Dante) allgemein vgl. Daniela Delcorno Branca, Tristano e Lancilotto in Italia. Studi di letteratura arturiana, Ravenna: Longo 1998, S. 143–154.

23

Vgl. Petrarca, Trionfi, S. 150 (Triumphus Cupidinis III, V. 83 f.). Aufgrund einer Passage aus De vulgari eloquentia („Arturi regis ambages pulcerimme“) stellen Pacca und Paolino im Kommentar zu diesen Stellen der Trionfi einen Gegensatz zwischen Petrarcas negativem und Dantes scheinbar positivem Urteil über die Artusstoffe her. Da die „ambages“ aber auch eine dunkle, doppeldeutige Rede und einen in die Irre führenden Weg meinen können, ist Dantes Lob auf die Ritter der Artusrunde mit Vorsicht zu genießen. Vgl. die Annotation zur entsprechenden Stelle von De vulgari eloquentia in: Dante, Le opere, hg. v. Enrico Fenzi, Rom: Salerno 2012, Bd. 3, S. 68 (I.II.2).

24

Dante, Divina Commedia, hg. v. Anna Maria Chiavacci Leonardi, Mailand: Mondadori 1991, Inf. V. 127.

25

Dante, Divina Commedia, Inf. V. 43 u. Die Göttliche Komödie I: Hölle, übers. v. Hartmut Köhler, Stuttgart: Reclam 2010, S. 77. Die Verbindung zwischen der Bestrafung der Liebenden im Inferno und dem Umherirren des fahrenden Ritters stellt auch Ariosto her, der mit denselben Formeln die vergebliche inchiesta seiner Figuren beschreibt. Vgl. dazu Donald Carne-Ross, „The One and the Many: A Reading of Ornaldo Furioso“, in: Arion 3 (1976), S. 146–219, hier S. 153. Eine ähnliche Parallele zwischen Abenteuer und Eros bei Dante hat zuletzt Giorgio Agamben aufgewiesen. Vgl. L’avventura, Rom: nottetempo 2015, S. 48–53.

26

Giraldi, Discorsi intorno al comporre, S. 27.

27

Vgl. Terence Cave, „ ‚Suspendere animos‘: pour une histoire de la notion de suspens“, hg. v. Gisèle Matthieu-Castellani u. Michel Plaisance, Paris: Aux Amateurs de Livres 1990, S. 211–218.

28

So etwa Filippo Sassetti, der das Fehlen der Katharsis vor allem darauf zurückführt, dass eine Figur wie Orlando selbstverschuldet ins Unglück gerät, aber auch eine Verbindung zu den Unterbrechungen der Handlungsstränge herstellt: Wenn eine Tragödie kurz vor dem Moment des Glückswechsels unterbrochen würde, ginge die Hälfte des Schreckens verloren, weil die „sospensione d’animo“ des Lesers bzw. Zuschauers langsam abkühlen würde, statt sich plötzlich zu entladen. Vgl. Filippo Sassetti, „Il discorso contro l’Ariosto“, in: Rendiconti della Reale Accademia dei Lincei 22 (1913), S. 474–524, hier S. 502 f. u. 511–515.

29

Pigna, I romanzi, S. 48 f.

30

Pigna, I romanzi, S. 49. Die systematische Spannungserzeugung durch das entrelacement ist eine Erfindung Boiardos. Vgl. dazu Marco Praloran, „Maraviglioso artificio“. Tecniche narrative e rappresentative nell’Orlando innamorato, Lucca: Maria Pacini Fazzi 1990, S. 21.

31

Stefano Jossa stellt fest, dass sich Pigna mit seiner Suche nach immanenten ästhetischen Strukturgesetzen von seinem ehemaligen Lehrer Giraldi absetzt – die Orientierung an der aristotelischen Poetik zielt demnach darauf ab, die Dichtung vor der Subjektivität des Dichters und der Willkür des historischen Gebrauchs in Schutz zu nehmen. Wie willkürlich die von Pigna formulierte Regel ist, unterschlägt Jossa jedoch, indem er das obige Zitat nach „non è che una sua regola non abbia“ abbricht. Vgl. Stefano Jossa, Rappresentazione e scrittura. La crisi delle forme poetiche rinascimentali (15401560), Neapel: Vivarium 1996, S. 187.

32

Tasso, Discorsi del poema eroico, in: ders., Scritti sull’arte poetica, S. 141–383, hier S. 215. Man kann hier eine unterschwellige Polemik gegen Giraldi sehen, der die modernen Dichter auffordert, über die Säulen des Herkules – also die antiken Gattungen und deren Regeln – hinauszugehen. Vgl. Giraldi, Discorsi intorno al comporre, S. 53 f.

33

Tasso, Discorsi del poema eroico, S. 215.

34

Tasso, Discorsi del poema eroico, S. 215.

35

Zur Rolle der varietà in Tassos Dichtungstheorie allgemein vgl. Georges Güntert, „Unità e varietà nella Gerusalemme liberata“, in: Versants 3 (1982), S. 45–76. Güntert geht u. a. den Quellen von Tassos Einheitskonzeption nach, während die historische Wandelbarkeit der varietà eher nebenbei behandelt wird. Eine Orientierung in den zahlreichen frühneuzeitlichen Bewältigungsstrategien angesichts explodierender Vielheit und Heterogenität ermöglicht der von Marc Föcking u. Bernhard Huss herausgegebene Sammelband Varietas und Ordo. Zur Dialektik von Vielfalt und Einheit in Renaissance und Barock, Stuttgart: Steiner 2003.

36

Tasso, Discorsi dell’arte poetica, S. 41 u. Werke und Briefe, München: Winkler 1978, übers. v. Emil Staiger, S. 770.

37

Tasso, Discorsi dell’arte poetica, S. 41 u. Werke und Briefe, S. 71.

38

Tasso, Discorsi dell’arte poetica, S. 41 f. u. Werke und Briefe, S. 771.

39

Giovambattista Strozzi, „Dell’unità della favola“ [1599], in: Trattati di poetica e retorica del Cinquecento, hg. v. Bernard Weinberg, Rom u. Bari: Laterza 1974, Bd. 4, S. 333–344, hier S. 339.

40

Giraldi, Discorsi intorno al comporre, S. 39.

41

Pigna, I romanzi, S. 30.

42

Pigna, I romanzi, S. 30.

43

Vgl. Giraldi, Discorsi intorno al comporre, S. 48 u. Pigna, I romanzi, S. 26. Zur seriellen Struktur des Amadís-Zyklus und seiner Verbreitung sowie Übersetzung vgl. Henrike Schaffert, Der Amadisroman. Serielles Erzählen in der Frühen Neuzeit, Berlin u. a.: De Gruyter 2015, S. 13.

44

Pigna, I romanzi, S. 40.

45

Luigi Pulci, Morgante, hg. v. Aulo Greco, Turin: UTET 2004, VI.44 u. Morgante, übers. v. Edith u. Horst Heintze, hg. v. Falk Peter Weber, Berlin u. Madison: Galda Verlag 2008, VI.44.

46

Tasso, Discorsi dell’arte poetica, S. 28 u. Werke und Briefe, S. 758.

47

Vgl. dazu Aristoteles, Poetik, 1459a.

48

Vgl. Tasso, Apologia della Gerusalemme liberata, in: ders., Scritti sull’arte poetica, S. 65–139, hier S. 73. Tasso verteidigt an dieser Stelle den Amadigi seines Vaters Bernardo und gerät dabei in manchen Widerspruch zu seiner eigenen Theorie des Epos. Dieser Punkt soll hier jedoch nicht vertieft werden.

49

Tasso, Apologia della Gerusalemme liberata, S. 72.

50

Miguel de Cervantes, Don Quijote de la Mancha, hg. v. Francisco Rico, Madrid: Real Academia Española 2015, Bd. 1, S. 733, Kap. II.6 u. Don Quijote von der Mancha, übers. u. hg. v. Susanne Lange, München: dtv 2016, Bd. 2, S. 57.

51

Matteo Boiardo, Orlando innamorato, hg. v. Andrea Canova, Mailand: BUR 2016, III.IX.26 u. Matteo Maria Bojardo’s, Grafen von Scandiano, Verliebter Roland, übers. v. Johann Diederich Gries, Stuttgart: Beck und Fränkel 1839, Bd. 4, S. 375.

52

Daniela Delcorno Branca weist darauf hin, dass die kontingente Unterbrechung gleichzeitig Boiardos Prinzip der Spannungserzeugung gehorcht – schon das zweite Buch des Innamorato endete mit dem Hinweis auf „quest’anime fele / Che fan guera per sdegno e per furore“ (II.XXXI.50). Insofern liegt nahe, dass Boiardo seinen Text auch nach dem Ende des französischen Feldzuges hätte fortsetzen können, wenn er nicht vorher verstorben wäre (vgl. Delcorno Branca, „La conclusione dell’Orlando furioso: qualche osservazione“, in: Boiardo, Ariosto e i libri di battaglia, hg. v. Andrea Canova u. Paola Vecchi Galli, Novara: Interlinea 2007, S. 127–137, hier S. 128).

53

Zu den Fortsetzungen des Innamorato, die meist weit hinter ihrem Modell zurückbleiben, vgl. Marco Villoresi, La letteratura cavalleresca. Dai cicli medievali all’Ariosto, Rom: Carocci 2000, S. 172–176.

54

Allerdings lässt sich auch die Entstehung eines modernen Spannungskonzepts, das einen einzigen, kausallogischen Handlungsbogen voraussetzt, in den Poetiken des 16. Jahrhunderts nachvollziehen. Vgl. dazu Irmgard Scharold, „Tancredis Phantasmen. Zur historischen Genese von Schauer und Spannung in Theorie und literarischer Praxis des italienischen Cinquecento“, in: Gespannte Erwartungen. Beiträge zur Geschichte der literarischen Spannung, hg. v. Kathrin Ackermann u. Judith Moser-Kroiss, Wien u. Berlin: LIT Verlag 2007, S. 59–97.

55

Peter Brooks, Reading for the Plot. Design and Intention in Narrative, Harvard: Harvard University Press 1992, S. 93.

56

Vgl. dazu den bereits zitierten Artikel von Bruscagli, „ ‚Ventura‘ e ‚inchiesta‘ fra Boiardo e Ariosto“. Zur epischen Schließung des Textes vgl. David Quint, „The Figure of Atlante: Ariosto’s and Boiardo’s Poem“, in: MLN 94 (1979), S. 77–91. Auch wenn Bruscagli und Quint entscheidende Beobachtungen machen, sollte man nicht von einer definitiven Abkehr Ariostos vom Abenteuer ausgehen – dieses hat bis in die letzten Gesänge seinen festen Platz in der narrativen Ökonomie des Furioso.

57

Vgl. Stierle, „Die Verwilderung des Romans“, S. 262.

58

Brooks, Reading for the Plot, S. 94.

59

Zum Verhältnis von Abenteuer und Vers- bzw. Prosaform vgl. auch den Beitrag von Martin von Koppenfels in diesem Band.

60

Giraldi, Discorsi intorno al comporre, S. 123.

61

Brooks, Reading for the Plot, S. 109.

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