Die Novelle ist eigentlich nur denkbar durch Einführung eines Abenteuers.
(Paul Scheerbart)
Als sich der Protagonist im dritten Buch von Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) mit der Schauspielertruppe auf dem gräflichen Schloss aufhält, wird er von der Baronesse und Philine in eine kleine Intrige verwickelt. Sie soll ihn „der Gräfin näher […] bringen“, auf deren „Herz“ er einen „tiefen Eindruck“ gemacht hat.1 Während der Graf über Nacht auf die Jagd geritten ist, soll sich Wilhelm, als Graf verkleidet, im gräflichen Kabinett niederlassen. Die Gräfin soll informiert werden, dass ihr Ehemann überraschend zurückgekehrt sei, sie soll sich in das Kabinett begeben und mit ihrem vermeintlichen Gemahl vertraulich verkehren, bis dieser sich schließlich „hübsch artig und galant“ (WML 549) als Wilhelm zu erkennen gibt. Doch die Intrige misslingt. Denn der Graf kommt tatsächlich vorzeitig von der Jagd zurück, und zwar so vorzeitig, dass Wilhelm sich noch allein im Kabinett befindet. Mit dem Rücken zur Tür und gegenüber einem Spiegel platziert, sieht er, als die Tür sich öffnet, den Grafen im Spiegel hinter sich, so wie der Graf Wilhelm im Spiegel vor sich erblickt. Verstört von dieser unerklärlichen Begegnung mit dem Spiegelbild seines Doppelgängers, zieht der Graf wortlos die Tür zu, begibt sich zu seiner Gemahlin und ruft dann nach Wilhelm, dem er ein Buch in die Hand drückt, aus welchem der Held „eine abenteuerliche Novelle nicht ohne Beklemmung vorlas“ (WML 551). Um welches Buch es sich handelt, wird dem Leser nicht verraten. Der Ausdruck „abenteuerliche Novelle“ aber verweist auf die Gattungstradition, an die Goethe mit seiner Verkleidungs- und Doppelgänger-Episode anknüpft. Mit dem Liebhaber in der Rolle des Ehemanns greift er ein Motiv auf, das Giovanni Boccaccio in die Novelle einführte, und gestaltet es so aus, dass die erzählte Wirklichkeit zur Bühne wird, auf der das novellistische Motiv sich abspielt.2
Als „novellistische Einlage“3 zeugt die Episode von Goethes Interesse an kleineren prosaischen Erzählformen, deren Spektrum er in den 1790er Jahren erkundet. Gleichzeitig mit der Fertigstellung der ersten, 1795 publizierten Bände der Lehrjahre entsteht die Erzählsammlung Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, die ebenfalls 1795 in der von Friedrich Schiller herausgegebenen Zeitschrift Die Horen erschien. Für die Zuwendung zu diesen kleinen Erzählformen sind divergierende Motive ausgemacht worden. So ist Goethes Beschäftigung mit dem Genre der Novelle als Zeichen eines gewandelten Verhältnisses zum Publikum und eines Bemühens um Öffnung gegenüber breiteren Leserschichten,4 als Versuch der Entwicklung von Erzählweisen, die nicht den strikten Wahrscheinlichkeitsgeboten der Aufklärung gehorchen,5 sowie als Ausdruck einer „Polarisierung des literarischen Feldes“6 rekonstruiert worden, in der die Novelle in Abgrenzung von populären Sensations- und Kriminalgeschichten ebenso wie von populärwissenschaftlichen, moralischen und philosophischen Erzählungen literarisch nobilitiert wird und sich als ein poetisches Genre formbewusster narrativer Prosa konstituiert. Diese divergierenden Befunde lassen sich ergänzen, wenn man der Spur der novellistischen Einlage im dritten Buch der Lehrjahre folgt. Sie legt die Vermutung nahe, dass die Konjunktur kleinerer narrativer Formen auch mit der aufklärerischen Kritik des Abenteuers zusammenhängt, das sich nach seiner Austreibung aus dem Roman als integrales Erzählschema zersetzt, in einzelnen Merkmalen oder Zügen aber in kleineren Erzählformen weiterlebt.7 Man kann sich diesem Zusammenhang in Goethes Werk auf verschiedene Weise nähern: über die eingelegten Novellen in den Wahlverwandtschaften und den Wanderjahren oder über Novellensammlungen und eigenständige Novellen. Die folgenden Überlegungen beschränken sich auf das zuletzt genannte Korpus. Ausgehend von der Verkleidungs- und Doppelgänger-Episode der Lehrjahre gehen sie dem Zusammenhang von Abenteuer und Novellistik am Beispiel von Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten sowie seiner späten Novelle (1828) nach.
I
Was besagt der Ausdruck „abenteuerliche Novelle“, inwiefern gleicht die zitierte Episode der Lehrjahre einem „Abenteuer“ (WML 556)? Auf der einen Seite kommunizieren diese Begriffe mit einem Grundzug des zweiten bis vierten Buchs des Romans, die sich in verschiedener Hinsicht an den Typus des Abenteuerromans anlehnen.8 Auf der anderen Seite entsprechen sie den Momenten des Außeralltäglichen, des Sonderbaren, Wunderlichen und Gefährlichen, die der Situation des Helden im gräflichen Kabinett angedichtet werden.9 Die Ironie ist dabei nicht zu verkennen. Denn außeralltäglich ist die Episode allenfalls insofern, als sie auf einen Einfall zurückgeht, der das Leben als Bühne der Inszenierung abgeschmackter, ungereimter und in diesem Sinn abenteuerlicher Plots versteht, die in Novellen vorgefertigt werden. Von einer Rehabilitierung des Abenteuers oder einer Nobilitierung der Novelle kann hier kaum die Rede sein. Nicht einmal für Wilhelm ist die novellistische Figur des Liebhabers in der Verkleidung des Ehemanns eine attraktive Rolle; sie versetzt Goethes bürgerlichen Helden nur in peinliche „Verlegenheit“ (WML 550). Zwar ist sein Sinn durchaus auf Abenteuer gestellt, doch will er höher hinaus. Das scheint ihm zunächst auch gestattet zu werden. So schließt das dritte Buch mit einer Liebesszene zwischen Wilhelm und der Gräfin, an deren Ende der Erzähler ironisch das Handlungsschema des ‚hohen‘, heliodorischen Abenteuerromans aufruft.10
Dass die Anspielungen aufs Abenteuer allein auf den Helden zu beziehen sind, ist allerdings nicht ausgemacht. Es könnte auch das Doppelgänger-Erlebnis des Grafen mitgemeint sein. Dafür spricht nicht zuletzt, dass die Episode werkgenetisch insofern eine Ausnahme darstellt, als sie im Unterschied zur Hauptmasse der Begebenheiten auf dem gräflichen Schloss nicht schon in dem vor 1789 entstandenen Romanfragment Wilhelm Meisters theatralische Sendung vorgebildet ist, sondern für die Lehrjahre ganz neu konzipiert wurde. Denn die Reaktion des Grafen, dessen „Betragen […] seit jenem Abenteuer […] ein völliges Rätsel“ (WML 556) ist, der von Ahndungen und Ängsten heimgesucht wird und der Melancholie und religiösen Grübelei verfällt, erinnert nicht nur an die schwärmerische Frömmigkeit des Grafen Zinzendorf, dessen Herrnhuter Brüdergemeine Goethes fiktiver Graf sein ganzes Vermögen hinterlassen wird. Sie korrespondiert auch mit der gesteigerten Empfänglichkeit für Wunder und Wunderbares, die Goethe in Schriften der 1790er Jahre als eine Folge der epochalen Erschütterung der Revolution beobachten zu können glaubte.11 Damit rückt das semantische Feld in den Blick, in dem das Abenteuer in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten auftaucht.
II
Im Medium einer narrativen Fiktion machen Goethes Unterhaltungen das traditionelle novellistische Modell des Rahmenzyklus sowie kleine Prosaformen des Erzählens zum Gegenstand poetologischer Sondierungen. Die Grundsituation weist auf das Decamerone zurück. So wie Boccaccios Florentiner Aristokraten sich vor den Verheerungen der in der Stadt wütenden Pest aufs Land zurückziehen, flieht bei Goethe eine adlige Familie mit Gefolge vor der französischen Revolutionsarmee von ihren linksrheinischen Gütern auf rechtsrheinisches Gebiet. Doch anders als bei Boccaccio dringt die Katastrophe, vor der man sich in Schutz zu bringen sucht, in die kleine „Gesellschaft“ ein.12 Nicht nur ist der „Donner der Kanonen“ aus der Ferne zu hören, angesichts der „vielen zuströmenden Neuigkeiten des Tages“ kann „der politische Diskurs“ und mit ihm der Streit der Meinungen und Gesinnungen nicht „vermieden werden“ (UdA 1000). Bald stehen sich Anhänger und Gegner der Revolution so feindlich gegenüber, dass die eine Partei sich durch die andere vertrieben sieht. Erst nach diesem „Fall“ (UdA 1006), der schon der narrativen Konstruktion des Erzählrahmens novellistischen Charakter verleiht, konstituiert sich die Fluchtgesellschaft als eine Erzählgesellschaft.
Den Gesprächen dieser Gesellschaft sucht die Baronesse als Oberhaupt der Familie das „Gesetz“ (UdA 1007, 1010 f.) vorzuschreiben. Es sieht vor, dass „alle Unterhaltung über das Interesse des Tages“ aus der Gesellschaft zu „verbannen“ sei (UdA 1009). Das entspricht dem Programm der Horen, die sich, wie ihr Herausgeber Friedrich Schiller ankündigt, im Hinblick auf „das Lieblingsthema des Tages ein strenges Stillschweigen auferlegen“, so dass aus den Beiträgen alles „verbannt seyn wird“, was „Beziehungen auf den jetzigen Weltlauf“ hat.13 Aber indem Goethe das Horen-Programm innerhalb der Fiktion thematisiert, statt es stillschweigend zu befolgen, unterläuft er es. Nicht viel besser ergeht es dem „Gesetz“ der Baronesse. Kaum hat sie es erlassen, wird es bereits übertreten:
Abends nach Tische als die Baronesse zeitig in ihr Zimmer gegangen war, blieben die übrigen beisammen, und sprachen über mancherlei Nachrichten, die eben einliefen, über Gerüchte, die sich verbreiteten. Man war dabei, wie es gewöhnlich in solchen Augenblicken zu geschehen pflegt, im Zweifel was man glauben und was man verwerfen sollte. […]
[…] durch einige Wendung des Gesprächs kam man auf die entschiedene Neigung unsrer Natur das Wunderbare zu glauben; man redete vom Romanhaften, vom Geisterhaften und als der Alte einige gute Geschichten dieser Art künftig zu erzählen versprach, versetzte Fräulein Louise: Sie wären recht artig und würden vielen Dank verdienen, wenn Sie uns gleich, da wir eben in der rechten Stimmung beisammen sind, eine solche Geschichte vortrügen, wir würden aufmerksam zuhören und Ihnen dankbar sein. (UdA 1017)
Der von der Tochter der Baronesse angesprochene Alte ist ein Abbé, dem nicht zufällig die Rolle der zentralen Erzählerfigur zufällt. Denn als katholischer Geistlicher ist er gewissermaßen von Berufs wegen Experte für den Glauben an Wunderbares. Er kommt der Bitte um eine entsprechende Erzählung nach und gibt eine „gespenstermäßige[] Mystifikations-Geschichte“14 zum Besten, die auf autobiographische Zeugnisse der berühmten zeitgenössischen Schauspielerin Hippolyte Clairon zurückgeht. Daraufhin erzählt Friedrich, der Sohn der Baronesse, eine weitere Spukgeschichte, die in Weimarer Kreisen als Gerücht zirkulierte, bevor der Neffe Karl, ein leidenschaftlicher Anhänger der Revolution, das Wort ergreift und am Ende des ersten Abends mit zwei Anekdoten aus den Memoiren des Marschalls von Bassompierre zur Unterhaltung beiträgt. Die Geschichten sind also allesamt „alte Bekannte“, die man allerdings „in einer neuen Gestalt“ wieder trifft (UdA 1016); und alle gehören der „Art“ an, die der Alte ankündigt, der Art des „Wunderbaren“, „Romanhaften“, „Geisterhaften“. Sie handeln von etwas Unerklärlichem, Rätselhaftem, das unaufgelöst bleibt: von einem Ereignis, „dessen Möglichkeit und Zusammenhang man nicht einsiehet“;15 von einem Geschehen, das „den Charakter hat, der in den ehemaligen Romanen herrschend war, wie das Abentheuerliche, Verstiegene in Handlungen, in Begebenheiten“.16
Dass Goethe sich mit solchen vermeintlichen Trivialitäten abgibt, hat nicht nur zeitgenössische Leser irritiert, sondern auch die Forschung verwundert. Doch das Interesse am Wunderbaren, Romanhaften und Geisterhaften wird zeitgeschichtlich situiert. Was das Gespräch auf dieses Thema lenkt, sind ja die „Neuigkeiten des Tages“ (UdA 1000), die einlaufenden Nachrichten und Gerüchte über die „Weltbegebenheiten“ (UdA 1006). Diese „Wendung“ des Gesprächs korrespondiert mit einer Metaphorik, die sich verschiedentlich in Goethes Kommentaren zu den Ereignissen der Zeit findet, etwa in einem Brief vom Juli 1794, in dem die Rede ist vom „Spucken [sic!] des garstigen Gespenstes, das man Genius der Zeit nennt“.17 So haben die Erzählungen des ersten Abends „Symptomcharakter“ und stellen in mehrfacher Hinsicht „ein leise ironisches Nachbeben jener Erschütterungen dar[]“,18 die der revolutionäre Umsturz hervorgerufen hat. Nicht nur handeln sie von rätselhaften Vorfällen. Sie lösen Diskussionen aus und provozieren Erklärungsversuche, die von der „Neigung […] das Wunderbare zu glauben“ zeugen und damit von einer fundamentalen Verunsicherung rationaler Weltbilder und Wirklichkeitsmodelle.
Diese Verunsicherung ist im Licht der Unschlüssigkeit gelesen worden, die für Tzvetan Todorov das zentrale Kriterium des Phantastischen ausmacht.19 Das Phantastische stellt sich Todorov zufolge ein, wenn nicht zu entscheiden ist, ob ein fiktives Ereignis der realistisch-natürlichen oder der wunderbar- übernatürlichen Ordnung der Welt angehört. Die Spukgeschichten und rätselhaften Begebenheiten der Unterhaltungen wären demnach in doppelter Weise Ausdruck einer Wiederkehr des Verdrängten: Einerseits brächten sie die durch die Vorschriften der Baronesse tabuisierte politische Aktualität indirekt zur Sprache. Andererseits wären sie Symptom einer epochalen Zäsur, jenseits derer das Wunderbare, Romanhafte und Geisterhafte, das die aufgeklärte Vernunft überwunden zu haben glaubte, als Phantastisches wiederkehrt. Die Affinität, die sich daraus zwischen dem traditionellen Erzählschema des Abenteuers – als Inbegriff des Romanhaften – und der romantischen Poetik des Phantastischen ergibt, wird in einer Novelle wie E. T. A. Hoffmanns Die Abenteuer der Silvesternacht bereits im Titel fassbar.
Goethes Erzählungen allerdings betonen noch einen anderen Aspekt und dies gerade dort, wo sie ihrerseits explizit von Abenteuern sprechen. Das ist schon in der ersten Spukgeschichte der Fall, die der Alte auf die Bitte Luises hin erzählt und die er selbst miterlebt haben will. Die Geschichte handelt von einer neapolitanischen Sängerin namens Antonelli, die sich von den Besitzansprüchen eines Liebhabers, den sie ursprünglich als Freund auserkoren hatte, so bedrängt fühlt, dass sie das Verhältnis abbricht und sich auch dann nicht erweichen lässt, ihn wiederzusehen, als er im Sterben liegt. Nach seinem Tod stellt sich bei einer Abendgesellschaft erstmals der Spuk ein.
Wir saßen nach Tische in einem vertrauten Gespräch und waren alle heiter und gutes [sic!] Muts. Es war gegen Mitternacht, als sich auf einmal, mitten unter uns, eine klägliche, durchdringende, ängstliche und lange nachtönende Stimme hören ließ. Wir fuhren zusammen, sahen einander an und sahen uns um, was aus diesem Abenteuer werden sollte. Die Stimme schien an den Wänden zu verklingen, wie sie aus der Mitte des Zimmers hervorgedrungen war. (UdA 1022 f.)
Das Abenteuer, von dem hier die Rede ist,20 ist ein unerhörtes Hörereignis, ein akustischer Schock, der plötzlich in die Normalität einbricht. Das „unvermutete[] Abenteuer“ (UdA 1026) dieses Einbruchs wird sich im weiteren Fortgang der Geschichte mehrfach wiederholen, ohne dass sich das „klingende Gespenst“ (UdA 1024) dingfest machen ließe. Bei Clairon erfährt es schon dadurch eine Deutung, dass es als Wiedergänger, als „revenant“,21 bezeichnet wird. Goethes Geistlicher dagegen hält sich mit Deutungen zurück und verweist nur am Ende auf ein Gespräch mit der Sängerin, in dem diese nahelegt, der verschmähte Liebhaber habe sich von jenseits des Grabes gemeldet. Spuk also muss herhalten, um Spuk zu erklären.
Schockcharakter, Unheimlichkeit und Rätselhaftigkeit: Diese in der Antonelli-Geschichte ironisch und mit leichter Hand ins Spiel gebrachten Momente sind auch konstitutiv für das Erlebnis, in das die im weiteren Verlauf des Abends erzählte Geschichte aus dem Journal des Marschall von Bassompierre mündet. Die Geschichte, die Karl als Ich-Erzähler – und in der Übersetzung Goethes – wiedergibt, handelt von der Liebschaft mit einer schönen Krämerin, die den berühmten Hofmann bittet, „eine Nacht“ mit ihm „unter Einer Decke zubringen“ zu dürfen (UdA 1033). Wegen der in Paris ausgebrochenen Pest mit eigenen Matratzen, Decken und Leintüchern ausgerüstet, trifft der Memoirenschreiber sich mit ihr in einem „schändliche[n] Haus“ (UdA 1034) und genießt mit ihr „zwischen zwei Leintüchern“ (UdA 1033) eine so vergnügliche Nacht, dass er sie wiederzusehen begehrt. Sie willigt ein und man verabredet sich für den kommenden Sonntag im Haus ihrer Tante. Ungeduldig vor Verlangen, stellt er sich viel zu früh am Treffpunkt ein, die Tür ist verschlossen, aber „im ganzen Hause“ ist „Licht“, das manchmal „wie eine Flamme aufzulodern“ (UdA 1035) scheint.
Ich ging zurück und einige Straßen auf und ab. Endlich zog mich das Verlangen wieder nach der Türe. Ich fand sie offen und eilte durch den Gang die Treppe hinauf. Aber wie erstaunt war ich, als ich in dem Zimmer ein paar Leute fand, welche Bettstroh verbrannten und bei der Flamme, die das ganze Zimmer erleuchtete, zwei nackte Körper auf dem Tische ausgestreckt sahe. Ich zog mich eilig zurück und stieß im Hinausgehen auf ein paar Totengräber, die mich fragten, was ich suchte? Ich zog den Degen, um sie mir vom Leibe zu halten und kam nicht unbewegt von diesem seltsamen Anblick nach Hause. Ich trank sogleich drei bis vier Gläser Wein, ein Mittel gegen die pestilenzialischen Einflüsse, das man in Deutschland sehr bewährt hält, und trat, nachdem ich ausgeruhet, den andern Tag meine Reise nach Lothringen an.
Alle Mühe, die ich mir nach meiner Rückkunft gegeben, irgend etwas von dieser Frau zu erfahren, war vergeblich. […]
Dieses Abenteuer begegnete mir mit einer Person vom geringen Stande, aber ich versichere, daß ohne den unangenehmen Ausgang es eins der reizendsten gewesen wäre, deren ich mich erinnere, und daß ich niemals ohne Sehnsucht an das schöne Weibchen habe denken können. (UdA 1035)
Erneut also ein schockhaftes Ereignis, diesmal in Gestalt eines Tableaus. Es antwortet dem im Zeichen des flammenden Lichts enggeführten Begehren nach Aufklärung und nach Sexualität in dem unheimlichen Bild zweier Leichen, die so nackt sind wie die Körper der Liebenden „zwischen zwei Leintüchern“ in der gemeinsamen Nacht und den verdrängten Konnex von Sexualität und Tod plötzlich vor Augen stellen. Erst in der Übertragung Goethes rückt die Dimension des Schockhaften ins Zentrum, erst in ihr entsteht der „harte[] Kontrast“22 zwischen dem Ereignis und dem stilistischen Gestus des Memoirenerzählers.23 Im Original leitet dieser seine Erzählung mit den Worten ein: „Je partis un soir de la court et veux dire une aventure quy me survint, quy, pour n’estre de grande conséquence, est néanmois extravagante.“24 Goethe streicht diesen Einleitungssatz und behält sich den Begriff des Abenteuers für den Schluss vor, um ihn dort zu hinterfragen. Wenn die traditionelle âventiure „ein in eine Sinnstruktur hineinerzähltes Erlebnis ist“ und als solches „Instandstellung eines aus der Ordnung geratenen Geschehens“,25 dann gleicht das extravagante Abenteuer Bassompierres in der Fassung Goethes einem verstörenden Erlebnis, das sich in seiner Kontingenz der narrativen Integration entzieht. Weder bringt der Erzähler in Erfahrung, um wen es sich bei den beiden Toten handelt und was aus der schönen Krämerin geworden ist, noch gelingt es ihm, das schockhafte Tableau der beiden Leichen, unter denen ebenso gut seine hätte sein können, nachträglich in eine lebensgeschichtliche Sinnstruktur zu überführen.
III
Goethes Arbeit am Roman und seine Erprobung kleiner narrativer Formen ist in den 1790er Jahren Teil einer umfassenden Erkundung sowohl des Begriffs der Gattung als auch des Systems literarischer Gattungen, darunter verschiedener Gattungen bzw. Arten des Erzählens. In kurzen Abständen erscheinen, neben den Lehrjahren und den Unterhaltungen, die Hexameter-Epen Reinecke Fuchs (1794) und Hermann und Dorothea (1798), die Idylle Alexis und Dora (1796) sowie verschiedene Balladen (1797). Ebenfalls auf die 1790er Jahre geht der Plan zu einem „episch-romantische[n] Gedicht“26 Die Jagd zurück, das ursprünglich als Seitenstück zu Hermann und Dorothea geplant war. Die Transformation des Abenteuers in ein novellistisches Ereignis, das bislang an schockhaften Vorfällen der Unterhaltungen verfolgt wurde, lässt sich auch an der Entwicklung dieses Erzählprojekts beobachten.
Einem Bericht Wilhelm von Humboldts zufolge war als Held ein deutscher Erbprinz vorgesehen, der aus den Revolutionskriegen zu seiner Familie zurückkehrt. Während man über den Krieg und die politische Lage Gespräche führt, sollte plötzlich „die Nachricht“ kommen,
daß in einem benachbarten kleinen Städtchen beim Jahrmarkt Feuer ausgekommen sei und bei der Verwirrung, die dadurch entsteht, wilde Tiere losgekommen wären, die man da sehen ließ. Nun macht sich der Prinz und sein Gefolge auf, und die heroische Handlung dieses epischen Gedichts ist nun eigentlich die Bekämpfung dieser Tiere.27
Das Vorhaben wurde im Austausch mit den eher skeptischen Freunden Schiller und Humboldt hin und her gewendet. Zur Diskussion stand zunächst, ob der Stoff überhaupt ein epischer sei bzw. sich für ein Hexameter-Epos eigne. Was für Schiller dagegen sprach, war unter anderem das „Überraschende, Verwunderung Erregende“28 der Handlung. Im Zusammenhang mit der Wiederaufnahme der Arbeit am Faust kam Goethe dann die Idee, seinen „neuen epischen Plan[] […] in […] Reim- und Strophendunst in die Luft“29 gehen zu lassen. Schiller assoziierte zu diesem Dunst nicht, wie manche spätere Forschung, die Gattung der Ballade, sondern die „Strophenform“ und „metrische Form“ eines „romantischen Gedichts“,30 also Stanzen in der Tradition der Versepen von Ariost und Tasso.31 Diese Behandlungsart fand Schillers vorbehaltlose Zustimmung. Denn mit seinem „Seltsamen und Überraschenden“, seiner „Löwen- und Tiger-Geschichte“ und seinen „Fürstlichen Personen und Jägern“, von denen es „nur ein leichter Schritt zu den Ritterfiguren“ sei, sei der Stoff des Gedichts doch nicht repräsentativ für die „griechische Welt“, zu der der Hexameter gehöre, vielmehr könne „die mittlere und neue Welt, also auch die moderne Poesie […] ihn mit Recht reklamieren.“32
Obwohl der Plan des Jagd-Epos weit gedieh, kam das Vorhaben nicht zur Ausführung. Erst dreißig Jahre später, im Herbst 1826, im Zuge der Vorbereitung der Publikation des Briefwechsels mit Schiller, nahm Goethe sich seines „romantischen Jagdstücks“33 wieder an. Ein „[e]rneuertes Schema der wunderbaren Jagd“34 wurde angelegt und in diesem Schema wurde der Stoff nun als „Novelle“35 entworfen. Wiederum also bietet sich die kleine Form narrativer Prosa zur Bearbeitung von Begebenheiten an, die den Charakter des Romanhaften und Wunderbaren haben. Mehr noch: In diesem Fall wird ein Projekt, das als romantisches Gedicht in der Tradition frühneuzeitlicher Ritterepen gedacht war, in eine Novelle überführt, die den Gattungsbegriff programmatisch im Titel führt. Die Novelle (1828) wiederum wurde unter dem Eindruck der Romane von James Fenimore Cooper verfasst, der in einer zeitgenössischen Rezension von The Last of the Mohicans (1826) als „Ariosto […] of the west“36 bezeichnet wurde. Die Wiederaufnahme des Jagd-Plans scheint durch die Lektüre von Coopers Roman The Pioneers (1823) im Herbst 1826 angeregt worden zu sein, in den nächsten Wochen las Goethe, gleichzeitig mit der Ausarbeitung der Novelle, die Romane The Last of the Mohicans und The Spy (1821). Der Hauptgrund für seine Beschäftigung mit Cooper waren die Wanderjahre mit ihrer Ausrichtung auf den Vorstellungsraum Amerika, aber auch in der „Jagdnovelle“ hinterließ die Lektüre ihre Spuren.37 Nichts liegt Goethe in seinem Spätwerk allerdings ferner als die unterhaltsame Erzählung spannender Abenteuer. Vom ersten Satz der Novelle an befinden wir uns im Raum einer extrem verdichteten und vielfach geschichteten Prosa, die sich in der distanziert-abgeklärten Haltung ihres Erzählers, ihrem zeremoniellen Gebaren und ihrem stilistischen Dekorum von der Genretradition absetzt und auch von den Novellen der Wanderjahre unterscheidet. Dennoch ist der Text durchgängig von der Auseinandersetzung mit der Gattung geprägt. Das zeigt nicht zuletzt das häufig als „variierende[] Wiederholung“38 bezeichnete Verfahren der Zitation und Umgestaltung, das auf verschiedenen Ebenen zum leitenden Prinzip der novellistischen Komposition wird. Das gilt für den narrativen Diskurs, der in seinem eigenen Fortschreiten eine Vielzahl von Texten und Traditionsbeständen zitiert und transformiert; und es gilt für die diegetische Welt, in der das Neue des novellistischen Ereignisses sich als déjà-vu erweist. Zwischen Wiederholungszwang und Restauration auf der einen Seite und Revolution und Traditionsbruch auf der anderen erkundet Goethes Novelle Wege, um das Neue, dem sie ihren Namen verdankt, als Erneuerung zu denken, die das Alte zugleich bewahrt und transformiert.
IV
Die Erzählung ist in einem absolutistischen Kleinstaat angesiedelt und spielt in der Epoche ihrer Entstehung.39 Die Französische Revolution ist Vergangenheit, doch verfolgt sie die älteren Mitglieder der Fürstenfamilie als traumatische Erinnerung an eine Brandkatastrophe, die in der Einbildungskraft jederzeit wieder auflodern kann. Die Gegenwart ist geprägt von politischer Restauration, ökonomischer Liberalisierung, Bürokratisierung der Verwaltung und einem Bemühen, den Schein einer traditionellen Kultur feudaler Repräsentation aufrechtzuerhalten – und also die Repräsentation selbst noch einmal zu repräsentieren. Das spiegelt sich in der Veranstaltung einer Jagd, die etwas von einer „touristisch-folkloristische[n] Darbietung“40 an sich hat, in der der fürstliche Jagdzug sich den aus Anlass der Handelsmesse in die Stadt geströmten „Fremden“41 präsentiert.
Die Novelle beginnt mit einer Beschreibung der Jagdgesellschaft, die sich im Schlosshof versammelt:
Ein dichter Herbstnebel verhüllte noch in der Frühe die weiten Räume des fürstlichen Schloßhofes, als man schon mehr oder weniger durch den sich lichtenden Schleier die ganze Jägerei zu Pferde und zu Fuß durch einander bewegt sah. (N 533)
Dieser erste Satz entwirft ein Tableau, das in einer Zwischenzone zwischen dem Nebel, der „[noch] verhüllte“, und dem „schon“ des „sich lichtenden Schleier[s]“ angesiedelt ist. So wie der Schleier als sich lichtender in Bewegung begriffen ist, fungiert er als semi-diaphanes Medium, durch das eine bewegte Szenerie mehr oder weniger zu sehen ist. „Halbgesehenes Gewimmel“ (N 1057) heißt es dazu im letzten Schema der Novelle. Denn die Szenerie ist schwankend und im Ganzen diffus. Einzelne Momente treten schon hervor, aber sie ergeben noch keinen Zusammenhang, sondern bleiben ein „Gewimmel“. Das korrespondiert mit der Schwellenfunktion, die dem Satz als Anfang der Erzählung zukommt. Zugleich entspricht die zwischen Verhüllung und Entschleierung angesiedelte Zwischenzone des „[h]alb bedeckte[n] Schloßhof[es]“ (N 1057) den atmosphärisch geprägten Gründen, die Juliane Vogel als die produktive Matrix herausgestellt hat, aus der die Auftritte der Figuren im Theater Goethes hervorgehen.42 Und hier wie dort ist die Produktivität des Grundes mit einer Temporalisierung des Erscheinens von Formen und Figuren verbunden. Diese sind nicht einfach da, sondern emergieren in einem Prozess des In-Erscheinung-Tretens. Im Eingangstableau der Novelle gewinnt das Gewimmel dabei die Züge einer Inszenierung, die auf ein Gesehen-Werden angelegt ist: Die Figuren, die in der „Halbhelle“ hervortreten, können „eine gewisse Eitelkeit sich zu zeigen nicht verleugnen“ (N 533), sie präsentieren sich, stellen sich zur Schau. Offen bleibt, ob diese Eitelkeit habituell oder auf den Fürsten berechnet ist, auf den alle warten.
Der Fürst wird in Form einer narrativen Analepse eingeführt, die mit wenigen Strichen ein Bild von ihm, seiner Gattin und seinem Fürstentum zeichnet. Dann bricht der Fürst „mit Gästen und Gefolge“ zur Jagd auf, um „weit in das Gebirg hineinzudringen“ und „die friedlichen Bewohner der dortigen Wälder durch einen unerwarteten Kriegszug zu beunruhigen.“ (N 534) Derweilen bleibt die junge Fürstin mit dem alten Oheim Fürst Friedrich und dem Junker Honorio im Schloss zurück. Mit diesem Trio wird eine Handlung aufgebaut, die den ersten Teil der Erzählung ausmacht. Auf Wunsch der Fürstin, die „große Lust“ hat, sich „heute weit in der Welt umzusehen“ (N 537), unternimmt man einen Ausritt, dessen Ziel die alte Stammburg des Fürstengeschlechts ist. Diese Handlung spielt sich nicht nur kompositorisch vor dem Hintergrund der in den Tiefenraum des Gebirges eindringenden fürstlichen Jagd ab. Sie hat selbst Züge einer Jagd und ist in einer latenten Gewalt grundiert, die die Wirklichkeit ebenso wie die Vorstellung von ihr prägt. Die Gewalt tritt in einer Kette von novellistischen Begebenheiten zutage, die dem älteren, etymologischen Sinn des Wortes „Ereignis“ entsprechen. Sie ‚eräugnen‘ sich, zeigen sich, stellen sich vor Augen.43 Dagegen wird das Neue, Unvorhergesehene des novellistischen Ereignisses in der außerordentlich komplizierten Choreographie der Erzählung konsequent durchgestrichen. Die Neugierde der Fürstin richtet sich ironischerweise ja zunächst auf ein „Denkmal alter Zeit“ (N 534). Dieses Denkmal, den „Trutz- und Schutzbau“ (N 535) des Fürstengeschlechts, wird das höfische Personal zwar nie erreichen. Doch bereits auf dem Weg zu ihm steht oder tritt den Figuren vor Augen, was ihnen später als Eruption von Gewalt oder gewaltsame Eruption entgegenkommt, was sich später schockhaft ereignet. Die Zukunft, auf die die Figuren zugehen, ist ein Schauplatz der Vergangenheit; und was ihnen aus der Zukunft entgegenkommt, ist ein Schon-Gesehenes.
In der Ausgestaltung dieses visuellen Geschehens gelangt ein ganzes Spektrum von Organen, Perspektiven, Medien und Instrumenten zum Einsatz: Die Figuren stellen sich die Welt mit äußerem und innerem Auge vor Augen, in Ansichten, Aussichten, Voraussichten, in Überblicken und Rückblicken, in Erzählungen und Zeichnungen, im Licht des Morgens, des Mittags und des Abends, mit „guten unbewaffneten Augen“ (N 542) oder bewaffnet mit optischen Instrumenten. Eine Hauptwaffe ist das „treffliche Teleskop“ (N 534), das vom Vorabend her noch im Schloss in „Stellung“ (N 534) liegt. Es zielt auf die „hohen Ruinen der uralten Stammburg“ (N 534), die das Fürstengeschlecht einst auf einem fernen Berggipfel errichtete und die die „annähernden Gläser“ (N 534) des Rohrs nun vor Augen rücken. Nachdem die Natur sich seit hundertfünfzig Jahren diesen Gipfel zurückerobert hat und „ungehindert und ungestört“ (N 534) in den allmählich verfallenden und zusammenstürzenden Gebäuden emporwachsen konnte, ist man jetzt denkmalpflegerisch tätig geworden. Wie der Oheim erzählt, hat man die „Wildnis zugänglicher“ (N 535) gemacht und durch Sprengungen und Durchbrechungen von Mauerwerk einen Weg in den Schlosshof gebahnt, die Ruine aber inwendig sich selbst überlassen, so dass sich die Äste mächtiger Bäume „bis in die Galerien hinein [erstrecken], auf denen der Ritter sonst auf und ab schritt“ (N 536). Der Prozess der Renaturalisierung der Kultur wird also seinerseits kulturell anverwandelt, so dass in der konservatorischen Inszenierung der Ruine nicht „Natur“ und „Kunst“, sondern Renaturalisierung und Rekulturalisierung ineinander übergehen. Der Oheim illustriert diese Inszenierung anhand von zeichnerischen „Ansichten der Stammburg“ (N 535), die auch die „mannigfaltigen Baumarten“ (N 534) mit ihren „verschiedenen Stamm- und Wurzelarten“ (N 535 f.) kenntlich machen und zukünftig, in Gemälden ausgeführt, den Gartensaal des Schlosses zieren sollen. Sie lassen die Fürstin „verlangend“ werden, „mit Augen zu sehen was mir in der Erzählung unmöglich schien und in der Nachbildung unwahrscheinlich bleibt“ (N 537).
Der morphologische Blick auf die Welt, von dem die Beschreibung der Stammburg geprägt ist, macht bei den botanischen Baum-, Stamm- und Wurzelarten nicht Halt. Er umfasst in der metapoetischen Erzählung der Novelle auch Gattungen und Arten der Dichtkunst und deren formensprachliche Entwicklung.44 Der Ausritt, zu dem man auf Wunsch der Fürstin aufbricht, gleicht dem Weg durch eine poetologische Topographie, der von den „wohlversorgte[n] Frucht- und Lustgärten“ (N 540) des Lehrgedichts über den locus amœnus von „Wiesental“ und „Quelle“ (N 540) und eine „steinichte breite Fläche“ (N 541) zu der heroischen Landschaft der mächtigen Stammburg aufsteigt, die „als Fels- und Waldgipfel“ (N 540) hervorragt. Diese literarischen Landschaftsformationen wiederum korrespondieren mit Affekt- und Triebarten, die während des Ausritts durch verschiedene Medien stimuliert werden und in dem Phantasma eines Abenteuers kulminieren, das auf die novellistische Begebenheit projiziert wird.
Noch bevor das Trio aufbricht, um auf dem Weg ins Freie zunächst Stadt und Markt zu durchreiten und sich hoch zu Pferd dem Volk zu präsentieren, hat man entworfen, was dort zu sehen sein wird: Die Fürstin projiziert die „Übersichten“ (N 537), die sie am Tag zuvor gewonnen hatte, als der Fürst ihr Messe und Handel erläuterte. Und der Oheim setzt an, von dem „ungeheure[n] Unglück“ zu erzählen, das ihm bei jedem Besuch von Markt und Messe „wieder in die Einbildungskraft [flammt]“: von der Brandkatastrophe, die sich ihm „gleichsam in die Augen eingebrannt“ hat, als er „eine solche Güter- und Warenbreite in Feuer aufgehen sah“ (N 538). Was nicht „voraus zu sehen“ (N 538) war, ist allerdings das „ohrzerreißende[] Gebrülle“ (N 539) eines Löwen, das ihnen entgegen tönt, als sie am Rande der Stadt die Buden und Verschläge des Jahrmarkts passieren, in denen wilde Tiere zur Schau gestellt werden. In naturam lässt sich der „König der Einöde“ (N 539) zwar (noch) nicht erblicken, aber immerhin im Bilde:
Zur Bude näher gelangt durften sie die bunten kolossalen Gemälde nicht übersehen, die mit heftigen Farben und kräftigen Bildern jene fremden Tiere darstellten, welche der friedliche Staatsbürger zu schauen unüberwindliche Lust empfinden sollte. Der grimmig ungeheure Tiger sprang auf einen Mohren los, im Begriff ihn zu zerreißen, ein Löwe stand ernsthaft majestätisch, als wenn er keine Beute seiner würdig vor sich sähe; andere wunderliche bunte Geschöpfe verdienten neben diesen mächtigen weniger Aufmerksamkeit. (N 539 f.)
Als die Fürstin vorschlägt, die „seltenen Gäste“ bei der „Rückkehr“ (N 540) näher zu betrachten, stimmt ausgerechnet der katastrophenfixierte Oheim, der bei jeder Gelegenheit von seinem Branderlebnis erzählt, eine Klage über die Sensationsgier des Menschen und über die Bänkelsänger an, die „Brand und Untergang […] an jeder Ecke wiederholen“ (N 540). Das entbehrt nicht der Ironie und verweist zugleich mit dem „Bänkelsänger“ auf einen Kolporteur von Nachrichten, der ein entfernter Verwandter des Novellisten ist.45
Nachdem man „zum Tore hinausgelangt“ und „in die heiterste Gegend“ getreten ist, scheinen die „Schreckensbilder[]“ jedoch wie ausgelöscht (N 540). Das entspricht ebenso der Verschränkung von Landschaft und Affekt wie der Umstand, dass bei der Annäherung an die steilen und jähen Felsgipfel der Stammburg, die „dem Kühnsten jeden Angriff zu verbieten [schien]“ (N 541), unter den jungen Leuten eben diese Angriffslust sich meldet. So beschließen sie, den Gipfel bis zu dem Punkt „zu erstürmen, zu erobern“ (N 541), an dem „ein vorstehender mächtiger Fels einen Flächenraum darbot“, von wo man eine weite „Aussicht“ auf Schloss, Stadt und Landschaft hat (N 541). Von „dieser öden, steinigten Fläche“ (N 534) aus, die unterhalb des letzten Anstiegs zur Burg liegt, war bereits der Fürst bei seinem Eindringen in die Gebirgstiefen aus dem Blickfeld der Fürstin entschwunden, als sie ihm mit einem Teleskop nachsah. Sie bezeichnet den zentralen Schauplatz des ersten Teils der Novelle46 und zugleich den Schwellenraum, über den die höfische Gesellschaft nie hinauskommen wird.
Als das Trio diese Fläche in der Mittagsstunde des Pan erreicht, tut das mitgebrachte „Fernrohr“ (N 542) seine Dienste. Kaum hat Honorio mit dem „so förderliche[n] Werkzeug“ (N 542) den Markt als „Mittelpunkt“ (N 537) der Stadt fokussiert, fördert er ein Ereignis zutage, das schon ‚voraus gesehen‘ (vgl. N 538) wurde, wenngleich nicht im Sinne einer Prognose. Dem lateinischen Wortsinn von Fokus entsprechend, das ja u. a. Brand oder Herd bedeutet, „fängt es [auf dem Markte] an zu brennen“, das „Feuer greift weiter um sich“ (N 542), und nach kurzer Zeit ist „das Unheil“ auch „den guten unbewaffneten Augen der Fürstin bemerklich“ (N 542). Das heißt allerdings nicht, dass ihre Sicht der Dinge unvermittelt wäre. So wie das Fernrohr das Feuer zur Erscheinung bringt, entzündet das Feuer die Einbildungskraft der Fürstin. Nachdem der Oheim vor ihnen in die Stadt zurückgeritten und sie mit Honorio allein an den Fuß des Gipfels zurückgekehrt ist, sieht sie in der Phantasie „alle die Schreckbilder welche des trefflichen Oheims wiederholte Erzählung von dem erlebten Jahrmarkts-Brande leider nur zu tief eingesenkt hatte.“ (N 543) Weil das so ist, wird dem Leser in der Darstellung des Ereignisses anstelle des „unerwartet außerordentlichen Fall[s]“ (N 543) des aktuellen Brandes der fürchterliche „Fall“ des vergangenen repräsentiert. Das gerät zu einer virtuosen Demonstration hypotypotischer Darstellung:
Fürchterlich wohl war jener Fall, überraschend und eindringlich genug, um zeitlebens eine Ahnung und Vorstellung wiederkehrenden Unglücks ängstlich zurückzulassen, als zur Nachtzeit auf dem großen budenreichen Marktraum ein plötzlicher Brand Laden auf Laden ergriffen hatte, ehe noch die in und an diesen leichten Hütten Schlafenden aus tiefen Träumen geschüttelt wurden; der Fürst selbst als ein ermüdet angelangter erst eingeschlafener Fremder ans Fenster sprang, alles fürchterlich erleuchtet sah, Flamme nach Flamme, rechts und links sich überspringend, ihm entgegen züngelte. Die Häuser des Marktes, vom Widerschein gerötet, schienen schon zu glühen, drohend sich jeden Augenblick zu entzünden und in Flammen aufzuschlagen; unten wütete das Element unaufhaltsam, die Bretter prasselten, die Latten knackten, Leinwand flog auf und ihre düstern an den Enden flammend ausgezackten Fetzen trieben in der Höhe sich umher, als wenn die bösen Geister in ihrem Elemente[,] um und um gestaltet[,] sich[] mutwillig tanzend verzehren47 und da und dort aus den Gluten wieder auftauchen wollten. […] Wie mancher wünschte nur einen Augenblick Stillstand dem heranprasselnden Feuer, nach der Möglichkeit einer Besinnung sich umsehend, und er war mit aller seiner Habe schon ergriffen; an der einen Seite brannte, glühte schon, was an der andern noch in finsterer Nacht stand. […] Leider nun erneuerte sich vor dem schönen Geiste der Fürstin der wüste Wirrwar, nun schien der heitere morgendliche Gesichtskreis umnebelt […]. (N 543 f.)
Um in der Rede quasi-dramatische Präsenzeffekte zu erzeugen, empfahl die antike Rhetorik, das „Vergangene als gegenwärtig Geschehendes“48 darzustellen. In Goethes Novelle vollzieht sich diese Darstellung als mentaler Akt im „Geiste der Fürstin“. Ihr steht das Vergangene, wie es der Oheim erzählte, als aktuelles Geschehen bzw. anstelle des aktuellen Geschehens vor Augen. Was der Erzähler präsentiert, ist also eine Repräsentation, die um drei Stufen von dem Ereignis entfernt ist. Ihr Anspruch ist tendenziell paradox. Denn sie zielt darauf, ein Chaos zur Darstellung zu bringen, ein „wüstes Wirrwar“, das sich als solches der Vergegenständlichung entzieht.
In der narrativen Vergegenwärtigung dieses Wirrwarrs wird die Darstellung des wahrgenommenen Ereignisses mit der Darstellung des Ereignisses der Wahrnehmung verschränkt.49 Dabei zieht der Text einen doppelten Rahmen ein: Den ersten Rahmen spannt der Einleitungssatz, der im Tempuswechsel vom Präteritum zum Plusquamperfekt von der erzählten Gegenwart der Novelle in die Vorvergangenheit jener Situation führt, die durch den zweiten Rahmen konstituiert wird. Diese Situation ist die des Fürsten, der ans Fenster springt und als Augenzeuge fungiert, aus dessen Sicht die Brandkatastrophe im Weiteren dargestellt wird. In ihren Grundzügen entspricht diese Darstellung dem, was bei Aristoteles energeia, actualitas heißt: Die Elemente – Feuer, Flammen – werden in ihrer Wirksamkeit bezeichnet.50 Metaphorische Belebung spielt dabei eine Rolle, doch zentral ist das Wechselspiel zwischen finiten und infiniten Verbformen bzw. Partizipien.51 Die Partizipien werden in dreifacher Weise verwendet: substantivisch – die „Schlafenden“–, adjektivisch – der „eingeschlafene[] Fremde[]“, die „flammend ausgezackten Fetzen“, das „heranprasselnde[] Feuer“– und verbal – „rechts und links sich überspringend“, „vom Widerschein gerötet“, „drohend sich […] zu entzünden“. Einen interessanten Vorschlag zur Funktion solcher Partizipien in einem erzählenden Text hat Harald Weinrich in seiner klassischen Studie Tempus. Besprochene und erzählte Welt (1964) gemacht. Als infinite Verbformen verhalten sich die Partizipien grundsätzlich indifferent zu Weinrichs Leitunterscheidung. Sie geben keine Informationen darüber, ob der Text in jenem „Modus der […] Entspanntheit“ mitgeteilt ist und aufgenommen werden soll, der Weinrich zufolge durch die Erzähltempora des Präteritums und Plusquamperfekts signalisiert wird, oder im Modus der „Gespanntheit“, wie ihn die besprechenden Tempora von Präsens und Perfekt ankündigen.52 Wohl aber haben sie in einem erzählenden Text Anteil an dem, was Weinrich als „Reliefgebung“53 bezeichnet. Was Goethes Text im Zusammenspiel von infiniten Verben und Erzähltempora aufbaut, ist demnach eine Art Tempusbühne oder Tempusszene, in der die Partizipien den Hintergrund abstecken, von dem sich ein im Präteritum bezeichnetes Geschehen als Vordergrund abhebt. Wenn es etwa heißt, dass der Fürst beim Sprung ans Fenster „alles fürchterlich erleuchtet sah, Flamme nach Flamme, rechts und links sich überspringend, ihm entgegen züngelte“, dann strukturiert sich das Geschehen nicht nur durch den Augenzeugen und die Rahmung, sondern auch durch die Präpositionen sowie durch die Hintergrundtempora von Partizip I und II und das Vordergrundtempus des Präteritums als Szene. So bleibt das Hintergrundgeschehen in dem „heranprasselnden Feuer“ nicht im Hintergrund, sondern bewegt sich in den Vordergrund. Anders als die continuous form im Englischen, an der Weinrich die Reliefgebung verdeutlicht, signalisiert das Partizip Präsens im Deutschen darüber hinaus grundsätzlich ein in der Gegenwart andauerndes Geschehen. So ist das heranprasselnde Feuer eines, das noch im Heranprasseln begriffen, dessen Bewegung also noch in hohem Maße wirksam, mit großer energeia ausgestattet ist.
Das Feuer, das die Fürstin mit den „feurige[n] Augen“ ihrer Einbildungskraft „als flammend“54 vor sich sieht, signalisiert einen Aufruhr der Elemente, der den Erregungspegel der Figuren spiegelt. Auf dem Rückweg in die Stadt, auf dem Honorio und die Fürstin dem Oheim nachfolgen, entbindet dieser Aufruhr Kräfte und Leidenschaften, die der Novelle eine Wendung ins Abenteuerliche verleihen. Diese Wendung ins Abenteuerliche wiederum ist mit einer perspektivischen Verschiebung verbunden: Die abenteuerlichen Ereignisse werden aus der Sicht der Fürstin erzählt und in dieser internen Fokalisierung kehrt sich der Richtungspfeil des Geschehens um. Statt dass die Figuren ihre Aktionen und Blicke auf etwas hin ausrichten, kommt das Geschehen nun auf die Fürstin zu; wie das „heranprasselnde[] Feuer“ in der Brandphantasie ereignet es sich, indem es ihr widerfährt. Das entspricht nicht nur insofern dem abenteuerlichen Charakter des Ereignisses, als âventiure/aventure dem Wortsinn nach etwas meint, was aus der Zukunft herankommt oder entgegenkommt; vielmehr scheint in dem Abenteuer der Novelle, wie immer ironisch, auch die Vorstellung des „Sichtbarwerdens“55 bzw. „Zur-Erscheinung-Kommens“56 mitzuschwingen, die in mediävistischen Herleitungen unter Bezug auf die Affinität von aventure und adventus als eine Grundbedeutung von âventiure geltend gemacht wird.
Das Abenteuer beginnt mit dem Erscheinen eines Tigers. Er ist beim Brand in der Stadt aus der Schaubude entflohen und kommt nun Honorio und der Fürstin auf ihrem Rückritt in der arkadischen Landschaft entgegen.
In das friedliche Tal einreitend, seiner labenden Kühle nicht achtend, waren sie kaum einige Schritte von der lebhaften Quelle des nahen fließenden Baches herab, als die Fürstin ganz unten im Gebüsche des Wiesentals etwas seltsames erblickte, das sie alsobald für den Tiger erkannte; heranspringend, wie sie ihn vor kurzem gemalt gesehen, kam er entgegen; […] Flieht! gnädige Frau, rief Honorio, flieht! Sie wandte das Pferd um, dem steilen Berg zu wo sie herabgekommen waren. Der Jüngling aber, dem Untier entgegen, zog die Pistole und schoß, als er sich nahe genug glaubte; leider jedoch war gefehlt, der Tiger sprang seitwärts, das Pferd stutzte, das ergrimmte Tier aber verfolgte seinen Weg, aufwärts unmittelbar der Fürstin nach. (N 544)
Ähnlich wie das Feuer gewinnt das Erscheinen des Tigers vor allem durch das Zusammenspiel von Präteritum, Präsenspartizipien und präpositionalen Richtungsangaben seinen szenischen Charakter. Und ähnlich wie beim Feuer verschränkt sich die Darstellung des wahrgenommenen Ereignisses mit einer Darstellung des Ereignisses der Wahrnehmung. Auffällig ist deren Phrasierung. Und dies um so mehr, als ‚Heranspringen‘ ja Plötzlichkeit impliziert. Die Wahrnehmung aber erfolgt nicht instantan, sondern beginnt mit dem Erblicken von etwas Seltsamem, das „alsbald“ schematisiert und als Tiger erkannt oder wiedererkannt wird – denn auch in diesem Fall ist das, was erkannt wird, ja schon gesehen worden. Die Phrasierung der Wahrnehmung korrespondiert insofern mit den einen andauernden Vorgang bezeichnenden Präsenspartizipien, als sie das plötzliche Erscheinen der Figur temporalisiert. Wenn der Tiger „heranspringend […] entgegen [kam]“, dann ist er noch im Auftreten begriffen, ist noch nicht ganz herangesprungen, hat sich noch nicht ganz vom Hintergrund gelöst. In diesem Fall ist die Erscheinungsform allerdings in hohem Maß ironisch, denn die Fürstin reproduziert das Gemälde, auf dem der Tiger in der Tat auf dem Bildgrund fixiert ist.
Als Goethe 1797 erstmals das Vorhaben der Jagd-Erzählung entwickelte, hatte er auch deshalb Zweifel, ob der „Stoff“ sich episch bearbeiten ließe, weil dieser „keinen einzigen retardierenden Moment“ hatte.57 In der Novelle ist es ironischerweise der Tiger, der nach dem Fehlschuss Honorios diese Retardierung zustande bringt: „Tiger redardiert bergauf“ (N 1059), heißt es dazu im letzten Schema. Diese Retardierung läutet die Episode ein, in der Traditionsbestände von âventiure und romantischem Epos aufgerufen werden. Nach der Flucht der Fürstin und dem Fehlschuss Honorios flieht der Tiger „nicht mit heftiger Schnelle“ (N 544) den Berg hinauf, verfolgt von dem „Renner“ Honorio, der das „Ungeheuer“ durch einen Schuss in den Kopf tötet, so dass es ausgestreckt vor der Fürstin zu liegen kommt (N 545). So wie der Junker in eben diesem Moment vom Text zum „Ritter“ (N 545) geschlagen wird, wird er für die Fürstin zur Erscheinung, in der sie den schönen Jüngling erblickt, wie er bei ritterlichen Kampfspielen auftritt.
Der Jüngling war schön, er war herangesprengt, wie ihn die Fürstin oft im Lanzen- und Ringelspiel gesehen hatte. Eben so traf in der Reitbahn seine Kugel im Vorbeisprengen den Türkenkopf auf dem Pfahl, gerade unter dem Turban in die Stirne, eben so spießte er, flüchtig heransprengend, mit dem blanken Säbel das Mohrenhaupt vom Boden auf. In allen solchen Künsten war er gewandt und glücklich, hier kam beides zu statten. (N 545)
Um 1800 ist nicht nur das Zeitalter der ritterlichen Turniere, sondern auch das Zeitalter ihrer theatralen Re-Inszenierung längst vorbei.58 Was „die Fürstin oft […] gesehen hatte“, kann sie nie anders denn in Abbildungen gesehen oder sich in der Phantasie ausgemalt haben. Der schöne Jüngling im Ritter- und Lanzenspiel ist die Projektion eines Typus, dessen Material anonymen Tiefenschichten des kulturellen Gedächtnisses entstammt. Rezente Eindrücke allerdings haben dieses Gedächtnis aktiviert und zeugen davon, dass seine Schichtungen weiterhin virulent sind. Und dies nicht nur in der restaurativen Phantasie des Oheims, der die „Ritter“ in der einstigen „Stammburg“ zu sehen glaubt, sondern ebenso in den Kolossalgemälden der Buden, die in Gestalt des „grimmig ungeheure[n] Tiger[s]“, der „auf einen Mohren los[sprang], im Begriff ihn zu zerreißen“ (N 539 f.) zeigen, dass der europäische Kolonialismus samt seiner Phantasien auch in die letzten Winkel deutscher Kleinstaaten eingedrungen ist.
Die Rolle des ungeheuren Tigers hat nunmehr allerdings Honorio übernommen, der in der Vorstellung der Fürstin „heransprengend“ das Mohrenhaupt aufspießt. Honorio wiederum, der nach seinem Sieg „mit glühender Wange“ vor seiner Dame kniet, verspricht ihr das Fell des getöteten Tigers, das sie „zur Lust begleiten“ soll und das immerhin ein „unschuldigres Triumphzeichen“ sei, „als wenn die Waffen erschlagener Feinde vor dem Sieger her zur Schau getragen wurden“ (N 545). Damit nicht genug, nutzt der vermeintliche Held die „Gunst“ der Stunde, um von der Fürstin die „Gnade“ eines Urlaubs zu erbitten (N 546). Als sei er Ritter einer Tafelrunde, der auf Abenteuer auszieht, will er sich von der fürstlichen „Tafel“ entfernen und „die Welt“ kennenlernen (N 546). Die „Genehmigung zur Aventiure-Fahrt als Gegenleistung für die Befreiung der Dame“ ist allerdings die „paradoxe Umkehrung des Aventiure-Modells“59 und deutet auf Entsagung hin. Als sie seine Bitte wohlwollend entgegennimmt, zieht daher, von ihr unbemerkt, „anstatt einer jugendlichen Freude eine gewisse Trauer über sein Gesicht“ (N 546). Das ist nicht die einzige Stelle im Text, an der hinter dem Höfling Honorio die Figur des Tasso auftaucht.
Die Jagd nach dem ‚Eräugnis‘, die mit dem „treffliche[n] Teleskop“ beginnt, mündet in das Phantasma eines Abenteuers, in dem für eine ungemessene Spanne Zeit die „Lust“ regiert, bevor das Realitätsprinzip wieder die Kontrolle übernimmt. Darin steckt zum einen eine gattungspoetologische Reflexion über die Formverwandtschaft von Novelle und Abenteuer. Nicht jede Novelle ist ein Abenteuer oder handelt von einem solchen; aber es gibt kein Abenteuer ohne das narrative Element des Ereignisses, das nicht erst seit Goethes auf seine Erzählung bezogene und auf Cervantes zurückgehende Formel von der „sich ereignete[n] unerhörte[n] Begebenheit“60 als ein definierendes Merkmal der Novelle gilt. Die âventiure ist gleichsam eine episch-romantische Stammart des novellistischen Ereignisses und in dem Wald zu Hause, der die Stammburg umschloss, als es noch das „Zauberschlosse“ war, „wozu es Fürst Friedrichs Geist und Geschmack ausbilden will“ (N 549). Diese poetologische Reflexion verbindet sich zum anderen mit einer psychohistorischen. Was die novellistische Jagd nach dem Ereignis antreibt, sind Wünsche, die die Erzählung mit dem Lebensalter der Jugend verbindet: Wünsche nach Ruhm und Ehre, nach Hingabe und Gewalt, nach Eroberung der Welt, Bewährung in der Gefahr und leidenschaftlicher Liebe. Das Abenteuer stellt ein Erlebnis- und Erzählschema zu Verfügung, das diese Impulse nicht sanktioniert, sondern honoriert und ihre Ausagierung ermöglicht.
Dass dieses Schema in der Novelle als Typus auf eine Situation projiziert wird, in der ein dressierter Tiger in panischer Flucht vor einem durch eine Explosion von Schießpulver ausgelösten Feuer von einem Junker per Kopfschuss erledigt wird, ist selbstverständlich in hohem Maße ironisch. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Projektion von dem zeugt, was die Moderne versagt.61 Das Ergebnis dieser Versagung ist eine komplexe und widersprüchliche Gemengelage. Die Novelle entwirft das Bild einer bildhungrigen, sensationsgierigen und präsenzsüchtigen Kultur, die von optischen Inszenierungen eines vermeintlich Elementaren geprägt ist – Ursprüngen und Wildnissen, Jagden und Raubtieren, Feuersbrünsten und Naturgewalten. Diese visuelle Kultur spielt mit der Angstlust, sie nährt Phantasien und stimuliert elementare Triebe. Doch zugleich verlangt sie um ihres eigenen Bestandes willen die Sublimierung dessen, was sie erregt. In dem Ereignis des Abenteuers wird beides figuriert, wird das eine in das andere überführt. Als Ritter, der den Mohrenkopf aufspießt, übernimmt Honorio einerseits in der Imagination der Fürstin die Rolle des Tigers, der auf den kolossalen Gemälden der Schaubuden auf einen Mohren losspringt; andererseits wird ihm statt des Lohnes, der ihm als âventiure-Ritter für die Rettung der Dame zustände, Verzicht abverlangt, die Abtötung seiner eigenen ‚tierischen‘ Natur.
Die im Brand „ankommenden Erregungsgrößen“62 sind mit der Tötung des Tigers noch nicht aus der diegetischen Welt. Weitere Spreng-Sätze sind noch im Kommen. Dabei kehrt das Bewegungsbild, das dem Budengemälde entstammt und im Tiger-Abenteuer erstmals aktualisiert wurde, insistierend wieder. Zunächst eilt die bunt gekleidete Schaustellerin des Jahrmarkts, der der Tiger gehörte, mit ihrem „schwarzäugige[n], schwarzlockige[n] Knabe[n]“ (N 546) an den Schauplatz der Tigertötung und bricht in eine leidenschaftliche Klage über die Ermordung ihres dressierten Gefährten aus. Dann stellt sich in einem ersten Selbstzitat des ‚heranspringenden Tigers‘ und „heransprengenden“ Jünglings der Fürst samt Gefolge ein:
Sie [die Schaustellerin, I. M.-B.] hatte nicht ausgeklagt, als über die mittlere Höhe des Bergs am Schlosse herab Reiter heransprengten, die alsobald für das Jagdgefolge des Fürsten erkannt wurden, er selbst voran. Sie hatten, in den hintern Gebirgen jagend, die Brandwolken aufsteigen sehen und […] den geraden Weg nach diesem traurigen Zeichen genommen. Über die steinige Blöße einhersprengend stutzten und starrten sie, nun die unerwartete Gruppe gewahr werdend, die sich auf der leeren Fläche merkwürdig auszeichnete. (N 547)
Nicht nur lexikalisch und grammatikalisch, sondern bis in die durch das „alsobald“ signalisierte Verzeitlichung der Wahrnehmung hinein wiederholt der Auftritt der fürstlichen Jäger den des Tigers. Zugleich aber wird das Vorbild insofern variiert, als mitten in der Szene ein Perspektivwechsel stattfindet. Er hat zur Folge, dass diejenigen, aus deren Sicht die Heransprengenden fokalisiert wurden, ihrerseits von denen, die in dem Wechsel zu Einhersprengenden geworden sind, wahrgenommen werden und zwar wie Figuren, die sich auf einer leeren Zeichenfläche zu einer Gruppe konstellieren. Nachdem man die Situation so weit erklärt hat, dass der Fürst „vor dem seltsamen unerhörten Ereignis“ (N 547) steht, tritt der Mann der Schaustellerfamilie hinzu, um zu berichten, dass „auch der Löwe los“ (N 548) sei, und um Schonung des Tieres zu bitten. Ihren Abschluss findet diese Reihe der Auf- und Hinzutritte in einem letzten Zitat des Bildes vom Tigersprung:
Noch war der Fürst mit Anordnungen beschäftigt […], als oben vom alten Schloß herab, eilig ein Mann heranspringend gesehen ward, den man bald für den angestellten Wächter erkannte […]. Er kam außer Atem springend, doch hatte er bald mit wenigen Worten angezeigt: oben […] habe sich der Löwe im Sonnenschein gelagert […] und verhalte sich ganz ruhig. (N 548)
Der komische Kontrast zwischen dem heranspringenden Wächter und dem gelagerten Löwen ist nicht zu übersehen. Doch wenn der Wärter bedauert, seine Büchse nicht zur Hand gehabt zu haben, um den Löwen zu erlegen, dann liegt Gewalt weiter in der Luft. Zu einem neuerlichen Ausbruch kommt es aber nicht. Als das Kind der Schaustellerin seine Flöte hervorholt und „sanft gleichsam zu präludieren“ (N 549) beginnt, gibt der Fürst den Schaustellern die Chance, ihren Löwen mit friedlichen Mitteln und lebend einzufangen. Damit gibt er eine Besänftigung seiner eigenen Leidenschaften zu erkennen, die auf alle Mitglieder der höfischen Gesellschaft übergreift. Von der „liederartigen Weise“ des Knaben „wie bezaubert“ (N 550), hören sie, äußerlich regungslos, dem „natürlichen Enthusiasmus“ (N 551) der biblisch inspirierten Rede des Vaters sowie dem vom Vater auf der Flöte begleiteten Gesang des Knaben zu, bis „[a]lles […] wie beschwichtigt [war]“ und „jeder in seiner Art gerührt“ (N 552).
In dieser Rede, diesem Gesang und der nachfolgenden „vollkommene[n] Stille“ (N 552) wendet sich nicht nur das erzählte Geschehen, sondern die Poetik der Novelle: Nachdem der Fürst den freeze des Moments gelöst und wieder „[Bewegung] in die Gruppe“ (N 552) gebracht hat, entfernt sich das höfische Personal vom Schauplatz und kehrt zum Schloss zurück. Der Erzähler dagegen bleibt bei dem Knaben und der Mutter. Sie steigen mit dem Wärter in die Stammburg auf, wo der Knabe den entsprungenen Löwen einfängt und sich mit dem friedlichen Tier im Schlosshof präsentiert. Diese Wendung von der feudalen Gesellschaft zum fahrenden Volk geht einher mit einem Wechsel von der Prosa zur Poesie, vom Epischen zum Idyllischen (vgl. N 1060) und vom Primat des Bildes zur Synthese von Bild, Rede, Rhythmus und Reim. Das ist die innerdiegetisch sehr hörbare, aber im buchstäblichen Sinn fast „unerhörte“, nämlich von der höfischen Gesellschaft verpasste, „sich ereignete Begebenheit“, in welche die Novelle mündet.
Angesichts der Überdeterminiertheit Goethe’scher Motive ist es nicht überraschend, dass sich Signale ausmachen lassen, die den Wechsel ankündigen: Das „Zauberschlosse“ etwa, das dem Oheim bei der Ausgestaltung der Stammburg vorschwebt, liest sich zunächst wie eine Anspielung auf das Schloss der Armida im Epos Tassos,63 bis es der Knabe mit der Flöte in den Anspielungsraum der Zauberflöte überführt. Auch der gezähmte Löwe ist geeignet, unterschiedliche Traditionen und Sprachen ineinander zu übersetzen, denn er ist in einer Vielzahl von Welten zu Hause, epischen und idyllischen, jüdischen, christlichen und griechisch-römischen. Wichtiger für den Zusammenhang des Textes scheinen mir aber zwei andere Aspekte zu sein: Zum einen führt die Abwendung von der höfischen Repräsentation nicht schlechterdings aus dem Raum der Inszenierung hinaus, sondern in eine andere Kultur des „Schauspiels“ (N 554) hinein. So wie sich die Schausteller-Familie von Berufs wegen unterhaltsamen Darbietungen widmet, wird die Stammburg am Ende in ein Theater transformiert, in dem der flötenspielende Knabe mit dem dressierten Löwen in der „Arena“ (N 553) das aus uralten Versatzstücken montierte Stück: ‚Knabe dressiert Löwen, zieht ihm einen Dorn aus der Tatze und gewinnt ihn zum Begleiter‘ aufführt. Vor allem aber ist es der Umstand, dass die Auseinandersetzung mit dem für die Gattung der Novelle konstitutiven Moment des Neuen und dessen Verhältnis zum Alten auch im letzten Teil des Textes fortgeführt wird, der für den Zusammenhang der Novelle sorgt.
Die Figuration dieses Verhältnisses verdichtet sich am Ende in zwei komplementären Szenen. Da ist zum einen die Szene, in der Honorio aus dem Text verabschiedet wird. Er kehrt nicht mit dem übrigen höfischen Personal in die Stadt zurück, sondern wird vom Fürsten beauftragt, dafür zu sorgen, dass der Löwe nicht durch den Hohlweg entfliehen kann, der zur Stammburg führt. Dort begegnet ihm die Schaustellerin, als sie mit dem Knaben in die Burg aufsteigt. Beim Anblick seines Gesichts, das „eine rötliche Sonne überschien“, glaubt sie, „nie ein schönern Jüngling gesehen zu haben“ (N 553). Während Honorio „wie in tiefen Gedanken versunken“ (N 533) in den Sonnenuntergang schaut, verkündet sie ihm: „Du schaust nach Abend […], du tust wohl daran dort gibt’s viel zu tun; eile nur, säume nicht, du wirst überwinden. Aber zuerst überwinde dich selbst.“ (N 553). Die Melancholie ist nicht zu verkennen. Doch wenn Honorio gegen Abend schaut, dann schaut er nach Westen, wo die neue Welt liegt. Das ist die Blickrichtung der Wanderjahre. Im Abendlicht der Novelle aber verschränken sich Untergang und Aufgang. Die neue Welt liegt dort, wo der Tag der alten endet. In der Schlussszene wird der schöne Schein, der Honorio umgibt, zu einem transfigurierenden Schein gesteigert, in dem das Kind neben dem Löwen „wie verklärt“ (N 554) und in seiner „Verklärung [...] wie ein mächtiger siegreicher Überwinder“ (N 555) aussieht. Hier verschränken sich die Zeiten im Zeichen eines vom Kind vorgetragenen Liedes, das in den letzten Strahlen der Sonne Phantasien morgenländischer Ursprünge der Poesie evoziert und zugleich in seiner Komposition davon zeugt, wie aus der Transformation von Bestehendem Neues hervorgeht. So wie die Melodie eine „Tonfolge ohne Gesetz“ (N 549) ist, scheint sich der Liedtext einem Extemporieren oder einer Improvisation zu verdanken. „[N]ach seiner Art die Zeilen verschränkend und neue hinzufügend“ (N 555), greift das Kind Verse aus vorangehenden Strophen wieder auf, arrangiert sie um und bindet neue, „unerhörte“ ein. Scheinbar spielerisch und improvisierend entsteht so eine Dichtung, die die novellistische Poetik der Umgestaltung zugleich reflektiert und transzendiert.
Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, hg. v. Friedmar Apel u. a., Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag 1987–2013 [=FA], I. Abt., Bd. 9, S. 357–992, hier S. 547. Zitate aus Wilhelm Meisters Lehrjahre werden künftig nach dieser Ausgabe mit der Sigle WML und Seitenzahlen im fortlaufenden Text belegt.
Vgl. Hannelore Schlaffer, Poetik der Novelle, Stuttgart u. Weimar: Metzler 1993, S. 46–53. Schlaffer führt die Episode der Lehrjahre auf die Geschichte der Verführung Theodelindes, der Gemahlin von König Agilulf, durch einen verkleideten Stallknecht zurück, die bei Boccaccio als zweite Geschichte des dritten Tages erzählt wird.
Schlaffer, Poetik der Novelle, S. 49.
Vgl. Manfred Koch, „Zirkulation und wiederholte Spiegelungen. Kulturelle Gedächtnisbildung durch modernen Ideenumlauf in Goethes ‚Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‘ “, in: Gedächtnis und Zirkulation. Der Diskurs des Kreislaufs im 18. und frühen 19. Jahrhundert, hg. v. Harald Schmidt u. Marcus Sandl, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, S. 168–187, hier S. 173 f.
Vgl. Florentine Biere, Das andere Erzählen. Zur Poetik der Novelle 1800/1900, Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 65–198, hier bes. S. 65–68.
Werner Michler, Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, 1750–1950, Göttingen: Wallstein 2015, S. 352.
Im Hinblick auf die Fallgeschichte liegt dieser Zusammenhang auf der Hand. Friedrich Schiller etwa betont in der „Vorrede“ zu der von ihm herausgegebenen Sammlung aus dem Pitaval den Unterhaltungswert der Rechtsfälle, die dem Geschmack an Romanhaftem, an „leidenschaftlichen und verwickelten Situationen“, wie sie die populäre Literatur befriedigt, entgegenkommen, und setzt darauf, dass diese Spannung und diese Verwicklungen genutzt werden können, um Menschen- und Rechtskenntnisse unters breitere Publikum zu schmuggeln. (Friedrich Schiller, „Vorrede zur Pitaval-Ausgabe von 1792–1795“, in: Schillers Pitaval. Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit, hg. v. Oliver Tekolf, Frankfurt/Main: Eichborn 2005, S. 75–78, hier S. 75). In der Herkunftsgeschichte Mignons, die im achten Buch der Lehrjahre als eine pathologische Fallgeschichte nachgetragen wird, finden sich fast alle Plot-Elemente, die Friedrich von Blanckenburg als „Abenteuer“ aus dem Roman verbannt wissen will, es fehlt weder an „außerordentlichen Zufällen, Entführungen, Blutschande“ noch an „Einbrüchen, […] Verkleidungen, Gefahren zu Wasser und zu Lande“ (Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, Stuttgart: Metzler 1965, S. 307).
Im Hinblick auf das zweite Buch hat das schon Max Kommerell betont, vgl. Max Kommerell, „Wilhelm Meister“, in: ders., Essays, Notizen, Poetische Fragmente, hg. v. Inge Jens, Olten u. Freiburg/Breisgau: Walter 1969, S. 81–186, hier S. 98–111. Das Verhältnis des Bildungsromans zum Abenteuer steht im Zentrum der Studie, die Oliver Grill im Rahmen des von der Verf. geleiteten Teilprojekts „Dem Abenteuer entgegen. Transformationen des Abenteuers in Bildungsroman und Novelle (Goethe, Keller, Thomas Mann, Musil)“ der DFG- Forschungsgruppe Philologie des Abenteuers (FOR 2568) schreibt.
Die Rede ist von einer „sonderbaren Verkleidung“, einer „wunderlichen Maske“ und einem „Posten“, dessen Einnahme „gefährlich“ war (WML 549).
„Die Unglücklichen! welche sonderbare Warnung des Zufalls oder der Schickung riß sie aus einander?“ (WML 563); zu Adaption und Transformation von Erzählschemata Heliodors in den Lehrjahren vgl. Felicitas Igel, Wilhelm Meisters Lehrjahre im Kontext des hohen Romans, Würzburg: Ergon 2007; Cornelia Zumbusch, „Nachgetragene Ursprünge. Vorgeschichten im Roman (Wieland, Goethe, Stifter)“, in: Poetica 43 (2011), S. 267–299; Thomas Borgstedt, „Wilhelm Meisters Lehrjahre und das Heliodorische Romanschema“, in: Heliodorus redivivus. Vernetzung und interkultureller Kontext in der europäischen Aithiopika-Rezeption der Frühen Neuzeit, hg. v. Christian Rivoletti u. Stefan Seeber, Stuttgart: Steiner 2018, S. 217–229.
Vgl. Jürgen Söring, „Die Verwirrung und das Wunderbare in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 100 (1981), S. 544–559.
Goethe, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, in: FA, I. Abt., Bd. 9, S. 993–1114, hier S. 997. Zitate aus den Unterhaltungen werden künftig im fortlaufenden Text nach dieser Ausgabe mit der Sigle UdA und Seitenzahl belegt.
Friedrich Schiller, „[Ankündigung]“, in: Die Horen. Eine Monatsschrift, hg. v. Schiller, Tübingen: Cotta 1795, Bd. 1, Erstes Stück, S. III–IV (Fotomechanischer Nachdr., Darmstadt 1959). Diese Vorgabe findet sich schon in Schillers „Einladung zur Mitarbeit“, die Goethe, anders als die später entstandene „Ankündigung“, zu Beginn der Arbeit an den Unterhaltungen kannte.
Goethe an Schiller, 5. Dezember 1794, in: Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, hg. v. Emil Staiger, Frankfurt/Main: Insel 1966, S. 71.
Johann Christoph Adelung, „Wunderbar“, in: ders., Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, 2., verm. u. verb. Ausgabe, Leipzig: Breitkopf u. Härtel 1801, Vierter Theil, Sp. 1622 (Repr. Nachdr., Hildesheim u. New York: Olms 1970).
Johann Georg Sulzer, „Romanhaft“, in: ders., Allgemeine Theorie der schönen Künste, Biel: Heilmann 1777, Bd. 2.2, S. 543–544.
Goethe an Johann Heinrich Meyer, 17. Juli 1794, in: FA, II. Abt., Bd. 4, S. 13.
Söring, „Die Verwirrung und das Wunderbare“, S. 549.
Vgl. Söring, „Die Verwirrung und das Wunderbare“, S. 555 f.
Auch im französischen Original wird die Begebenheit einmal (wenn auch an anderer Stelle) als „aventure“ bezeichnet. Clairon, Claire Josèphe Hippolyte Leris de LaTude, Mémoires d’Hippolyte Clairon et réflexions sur l’art dramatique, Paris: Buisson 1799 (= An VII [Franz. Revolution]), S. 7.
Clairon, Mémoires, S. 7.
August Wilhelm Schlegel, „Rezension der ‚Horen‘ “, in: Allgemeine Literatur-Zeitung (Jena und Leipzig), 6. Januar 1795, zit. n. UdA, S. 1531–1534, hier S. 1532.
Vgl. auch Biere, Das andere Erzählen, S. 160–168.
François de Bassompierre, Journal de ma vie I (Episode von 1606), zit. n. UdA, S. 1516–1519, hier S. 1516.
Mireille Schnyder, „Sieben Thesen zum Begriff der âventiure“, in: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, hg. v. Gerd Dicke, Manfred Eikelmann u. Burkhard Hasebrink, Berlin u. New York: de Gruyter 2006, S. 369–375, hier S. 370.
Goethe, Tag- und Jahres-Hefte 1797, in: Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar: Böhlau 1887–1919 [= WA], I. Abt., Bd. 35, S. 70–77, hier S. 71 (Nachdruck dtv 1987).
Wilhelm von Humboldt an Caroline von Humboldt, 7. April 1797, in: Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, hg. v. Anna v. Sydow, Bd. 2, Berlin: Mittler 1907, S. 38.
Schiller an Goethe, 25. April 1797, in: Briefwechsel Schiller–Goethe, S. 380.
Goethe an Schiller, 22. Juni 1797, in: Briefwechsel Schiller–Goethe, S. 404.
Schiller an Goethe, 26. Juni 1797, in: Briefwechsel Schiller–Goethe, S. 407. Die Ballade bringt Goethe erst in seinem Antwortbrief ins Spiel und zwar als eine schlechtere Lösung. „[E]s scheint mir jetzt auch ausgemacht, daß meine Tiger und Löwen in diese Form [des Reims, I. M.-B.] gehören, ich fürchte nur fast, daß das eigentliche Interessante des Sujetes [sic!] sich zuletzt gar in eine Ballade auflösen möchte.“ (Goethe an Schiller, 27. Juni 1797, in: Briefwechsel Schiller–Goethe, S. 409).
Vgl. die Anm. des Herausgebers, in: Briefwechsel Schiller–Goethe, S. 409, sowie Michler, Kulturen der Gattung, S. 376 f. Dass ihm Schiller zu „achtzeiligen Stanzen“ riet, erinnerte später auch Goethe (Goethe mit Eckermann, 18. Januar 1827, in: Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe, hg. v. Ernst Beutler, München: dtv 1999, S. 214).
Schiller an Goethe, 26. Juni 1797, in: Briefwechsel Schiller–Goethe, S. 407.
Goethe, Tagebücher, 1827–1828, in: WA, III. Abt., Bd. 11, S. 6.
Goethe, Tagebücher, 1825–1826, in: WA, III. Abt., Bd. 10, S. 252.
Goethe, Tagebücher, 1825–1826, in: WA, III. Abt., Bd. 10, S. 255.
Vgl. James Fenimore Cooper. The Critical Heritage, hg. v. George Dekker u. John P. Williams, London u. New York: Routledge and Kegan Paul 1973, S. 87. Cooper gesellt sich damit zu Walter Scott, der in dieser Rezension als „Ariosto of the north“ bezeichnet wird.
Vgl. den Kommentar von Waltraud Wiethölter und Christoph Brecht zu Novelle, in: FA, I. Abt., Bd. 8, S. 1080. In der Szene der Pioneers, auf die die Herausgeber hier verweisen, rettet Natty Bumppo Elisabeth, die Tochter des Richters Temple, vor einem wilden Tier – bei Cooper einem „panther“ (also Puma) –, indem er das Tier durch einen Kopfschuss tötet. Von einem „Panther“ ist auch in einem der Schemata die Rede, die Goethe 1826 anlegte (vgl. Novelle, in: FA, I. Abt., Bd. 8, S. 1055). Die Klage um den toten Tiger wird manchmal mit der Totenzeremonie für Uncas am Ende von The Last of the Mohicans in Verbindung gebracht, wobei diese Affinität darauf zurückgeführt worden ist, dass beide Textpassagen eine Reminiszenz an die Sprache Ossians darstellen (vgl. Jane K. Brown, „The Tyranny of the Ideal: The Dialectics of Art in Goethe’s ‚Novelle‘ “, in: Studies in Romanticism 19 [1980], S. 217–231; Nicholas Saul, „Goethe and Colonisation: the Wanderjahre and Cooper“, in: Goethe and the English-Speaking World, hg. v. Nicholas Boyle u. John Guthrie, Rochester u. a.: Camden House 2001, S. 85–98, hier S. 94).
Kommentar zu Novelle, in: FA, I. Abt., Bd. 8, S. 1064; ebenso: Regine Otto, „Novelle“, in: Goethe Handbuch in vier Bänden, hg. v. Bernd Witte u. a., Stuttgart u. Weimar: Metzler 1996–1998, Bd. 3, S. 252–265, hier S. 256; Martin Schneider, „Paradoxien der Präsenz. Die narrative Darstellung ereignishafter Zeiterfahrung in Goethes Novelle“, in: Euphorion 11 (2017), S. 201–224, hier S. 207.
Wichtige Anregungen zu den folgenden Ausführungen verdanke ich Gesprächen mit und Hinweisen von Oliver Grill, Martin von Koppenfels und Bernhard Teuber.
Gerhard Kaiser, „Zur Aktualität Goethes. Kunst und Gesellschaft in seiner Novelle“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), S. 248–264, hier S. 250.
Goethe, Novelle, in: FA, I. Abt., Bd. 8, S. 531–555, hier S. 534. Zitate aus der Novelle werden künftig nach dieser Ausgabe im fortlaufenden Text mit der Sigle N und Seitenzahlen belegt.
Vgl. Juliane Vogel, Aus dem Grund. Auftrittsprotokolle zwischen Racine und Nietzsche, Paderborn: Wilhelm Fink 2018, S. 113–118. Dieser Studie verdanke ich eine Schärfung der Aufmerksamkeit für den szenischen Charakter der novellistischen Ereignisse.
Vgl. „ereigen“, „ereignen“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 3, Leipzig: S. Hirzel 1862, Sp. 784 f. (Fotomechanischer Nachdr., München: dtv 1984). Auch Goethe verwendet „sich ereignen“ u. a. in der Bedeutung von „sich vollziehen, erscheinen, auftreten, auch in der Beschreibung eines unmittelbaren Anblicks“ (Rose Unterberger, „ereignen“, in: Goethe-Wörterbuch, hg. v. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademie der Wissenschaften in Göttingen u. Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Stuttgart u. a.: Verlag W. Kohlhammer, 1977–2018, Bd. 3, Sp. 262 f.). Die ältere Form ‚eräugnen‘ lässt sich in Goethes Schriften erst seit 1815 nachweisen (vgl. Unterberger, „ereignen“, Sp. 262).
Vgl. Gerhard Neumann, „Fernrohr und Flöte. Erzählte Räume in Goethes Novelle“, in: Goethe und die Musik, hg. v. Walter Hettche u. Rolf Selbmann, Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 125–144; Fabian Sturm, „Das ‚Blätterwerk‘ der Kunst. Auf den Spuren des morphologischen Narrativs in Goethes Novelle“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 59 (2015), S. 156–179; Michler, Kulturen der Gattung, S. 383–404.
Vgl. Tom Cheesmann, „Goethes Novelle. Die Novelle und der Bänkelsang“, in: Goethe Jahrbuch 111 (1994), S. 125–140.
Vgl. Gerhard Schulz, „Exotik der Gefühle. Goethes Novelle“, in: ders., Exotik der Gefühle. Goethe und seine Deutschen. München: C. H. Beck 1998, S. 105–128, hier S. 116. Der Bild- und Bühnencharakter wird dadurch unterstrichen, dass dieser Schauplatz zugleich den Vordergrund zu der fürstlichen Jagd bezeichnet, die sich im Hintergrund im Tiefenraum des Gebirges abspielt.
Interpunktion in eckigen Klammern nach dem Abdruck der Novelle in: WA, I. Abt., Bd. 18, S. 331. FA transkribiert an dieser Stelle: „[…] als wenn die bösen Geister in ihrem Elemente um und um gestaltet sich, mutwillig tanzend, verzehren und da und dort aus den Gluten wieder auftauchen wollten.“ (N 543)
Longinus, Vom Erhabenen, übers. u. hg. v. Otto Schönberger, Stuttgart: Reclam 1988, S. 25.
Vgl. zu den wissensgeschichtlichen Voraussetzungen dieser Verschränkung Joseph Vogl, „Bemerkungen über Goethes Empirismus“, in: Versuchsanordnungen 1800, hg. v. Sabine Schimma u. Joseph Vogl, Zürich u. Berlin: Diaphanes 2009, S. 119–123, hier S. 115.
Vgl. Aristoteles, Rhetorik, übers. v. Franz G. Sieveke, München: Wilhelm Fink 1989, III, 11, 1411b–1412a.
Auf dieses Wechselspiel macht auch Martin Schneider aufmerksam; anders als im Folgenden vorgeschlagen interpretiert er es als Darstellung einer „paradoxe[n] Zeitlichkeit“, in der „das Präteritum präsentisch und das Präsens präterial wird, das Noch-nicht und das Nicht-mehr […] ineinanderfließen“, so dass das Ereignis „in Anbetracht unserer Erwartungen immer zu früh“ geschieht und wir doch nur „nachträglich darauf reagieren“ können (Schneider, „Paradoxien der Präsenz“, S. 215 f.).
Harald Weinrich, Tempus. Besprochene und erzählte Welt, München: C. H. Beck 2001, S. 49–50.
Weinrich, Tempus, S. 115–170.
Ein Paralipomenon Goethes zur Novelle lautet: „sie […] glaubte wirklich dergleichen zu sehen und es ist keine Frage daß ein feuriges Auge sich die Gegenstände zum schein enzünden [sic!] […] und als flammend vor sich schauen können [sic!].“ (WA, Abt. I, Bd. 18, S. 468).
Klaus-Peter Wegera, „ ‚mich enhabe diu âventiure betrogen‘. Ein Beitrag zur Wort- und Begriffsgeschichte von âventiure im Mittelhochdeutschen“, in: Das Wort. Seine strukturelle und kulturelle Dimension. Festschrift für Oskar Reichmann zum 65. Geburtstag, hg. v. Vilmos Àgel u. a., Tübingen: Niemeyer 2002, S. 229–244, hier S. 234.
Peter Strohschneider, „âventiure-Erzählen und âventiure-Handeln. Eine Modellskizze“, in: Dicke, Eikelmann u. Hasenbrinck (Hgg.), Im Wortfeld des Textes, S. 377–388, hier S. 378.
Goethe an Schiller, 22. April 1797, in: Briefwechsel Schiller–Goethe, S. 377.
Vgl. Michler, Kulturen der Gattung, S. 382 f.
Kaiser, „Zur Aktualität Goethes“, S. 254.
Goethe mit Eckermann, 29. Januar 1827, in: Eckermann, Gespräche mit Goethe, S. 225.
Vgl. Kaiser, „Zur Aktualität Goethes“, S. 251–254.
Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, in: ders., Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey, Frankfurt/Main: S. Fischer 1975, Bd. 3, S. 213–272, hier S. 238.
Vgl. Kaiser, „Zur Aktualität Goethes“, S. 262.