„Wir sind zur einfachsten Kriminalhandlung unfähig…“

Experimentelle Schundliteratur der russischen 20er Jahre

In: Abenteuer
Author:
Aage A. Hansen-Löve
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1 Von der ‚Abenteuer‘-Literatur zum Abenteuer ‚Literatur‘

Im Grunde liebten die Autoren der russischen Prosa-Avantgarde und ihre Theoretiker rund um 1917 die literarische Kategorie des ‚Abenteuers‘ durchaus nicht: Gleichzeitig aber konnte man den bedeutenden Publikumseffekt dieser massiv fiktionsorientierten Potentiale einer Spannungs- und Unterhaltungsliteratur ebenso wenig missen wie die damit einhergehenden Chancen, das erstarrte Gattungssystem der neorealistischen Erzählprosa zu revolutionieren. Um dies zu erreichen und zugleich auch die Abenteuer-Merkmale der vorrealistischen Prosa – zumal jener der englischen seriellen Romane des 18. Jahrhunderts – zu nutzen, zielte man auf eine grundlegende Reform, ja ‚Entkernung‘ des Abenteuer-Romans und seiner stereotypen Merkmale.

Dabei konnte man den avantgardistischen Effekt einer bewussten Reprimitivisierung des psychologischen wie ideologischen Gesellschaftsromans der russischen Klassiker gezielt verstärken, indem man die Kategorie des Abenteuers gleich auf mehrfache Weise aktualisierte und neu nutzte. Man versuchte dies mit folgenden Verfahren zu erreichen und zugleich die dahinterstehenden theoretischen Intentionen zu entblößen und damit zu verfremden:

  • Ironische Brechung der Leser-Identifikation mit dem fiktionalen Fokus der narrativen Instanzen (Protagonist – Erzähler – Autor),

  • Depsychologisierung der Protagonisten zu reinen Handlungsträgern,

  • Entideologisierung ihrer Intentionen und Programme,

  • Bloßlegung der narrativen Verfahren bis hin zur maschinellen Mechanisierung der Handlungsstruktur,

  • Bewusst anti-fiktionale Reduktion des ‚Abenteuers‘ auf narrative Funktionen der Sujetkonstruktion und der Spannungserzeugung als objektive Faktoren der literarischen Wirkung (Effizienz, Erfolg, Literarischer Markt),

  • Schaffung künstlicher Trivialgenres einer aktuellen Abenteuerliteratur bei gleichzeitiger Parodie ihrer naiven wie überreflektierten Funktionen,

  • Gegeneinander-Ausspielen der identifikatorischen Spannungseffekte und der autoreflexiven Theoriesignale als Exekutierung eines literarischen ,Experiments‘,

  • Das Experiment als Modell einer kontrollierten ,Erfahrung‘ ersetzt die existenzielle Kategorie des nacherlebbaren Abenteuers als Illusionskonzept.

Die hier lose aufgezählten Verfahren der gezielten Nutzbarmachung einer im Grunde verachteten literarischen Gattung (einer Abenteuer- und Unterhaltungsliteratur mit illusionistischen Zielsetzungen) wurzelten für die russische Prosa-Avantgarde der 20er Jahre in einer doppelten Intention: Einerseits wollte man die Versteinerung des herrschenden Gattungssystems der (neo-)realistischen Romane mit anti-realistischen und anti-fiktionalen Verfremdungsstrategien bekämpfen, anderseits sollte gleichzeitig das unübersehbare Erfolgspotential der Abenteuerliteratur und anderer Genres der Fiktionsprosa für ein Avantgarde-Projekt nutzbar gemacht werden, das auf eine Nobilitierung und ironisch-parodistische Literarisierung von Trivialgattungen abzielte. Gerade die vom Russischen Formalismus geprägte Generation der russischen Prosaiker jener „goldenen 20er Jahre“ stellte sich einem solchen Mehrfrontenkrieg auf dem Schlachtfeld des „Kampfes der Gattungen“ (bor’ba žanrov), den sie zwar am Ende jenes Zeitfensters historisch gegenüber dem Sozialistischen Realismus verlor, literarisch jedoch auf eine ebenso charmante wie witzige Weise für sich entscheiden konnte.

Zu zeigen ist dieser demonstrative Versuch einer ‚experimentellen Schundliteratur‘ im jugendlichen Geiste der russischen Formalisten auf den verminten Feldern der Bürgerkriegsliteratur ebenso wie auf jenen der nachfolgenden ,amerikanischen Phase‘ der frühen Sowjetunion, d. h. in der kurzen halb-kapitalistischen Periode der ‚Neuen Ökonomischen Politik‘, die für einige Jahre das katastrophale wirtschaftliche Scheitern der Bolschewiki aufhalten sollte, bevor dann Ende der 20er Jahre die schier endlose Stalin-Ära auch das Experiment jenes literarischen Abenteuers unserer Autoren für eine halbe Ewigkeit zum Verstummen brachte.

Wir starten unser literarisches Abenteuer der Rehabilitierung einer diskreditierten Gattung mit den jugendlichen Prosaikern der „Serapionsbrüder von Petrograd“ (Anfang der 20er Jahre) und ihrer Rehabilitierung einer handlungsstarken Abenteuer- und Spannungsliteratur und wechseln dann zu der um 1920 maßgeblichen Prosatheorie der russischen Formalisten. Hier herrschte ein ausgeprägtes und sehr unkonventionelles Interesse an der konstruktiven Generierung von narrativer Spannung, die man ausgehend von den Erfahrungen der amerikanischen short story (O. Henry) und den Detektivnovellen E. A. Poes für die Theoriebildung ebenso nutzbar machen wollte (Viktor Šklovskij) wie für die aktive Realisierung und Propagierung einer neuen ‚Sujet-Prosa‘ und der Strategien ihrer Implementierung im aktuellen ‚literarischen Markt‘ Mitte der 20er Jahre.

Ein Höhepunkt dieses abenteuerlichen Eingriffs in den herrschenden literarischen Prozess war zweifellos die aktive Autorschaft der Formalisten, zumal Viktor Šklovskijs selbst, der zusammen mit dem Meistererzähler Vsevolod Ivanov einen radikal experimentellen Schund- und Trivialroman (Iprit, 1925) in der damals noch höchst quirreligen Szene der Massenliteratur installierte. Es war in der Tat eine ‚Installation‘ auch im heutigen Sinne: ein bewusstes Durchexerzieren von spektakulären Motiven und von Spannungstechniken einer kalkulierten Bestseller-Literatur, die bei den Massen ebenso wie bei den Literaturprofis Wirkung zeigen sollte. In einer gewissen Weise war diese hochriskante Strategie, mit den Mitteln der Abenteuerliteratur das triviale Verlangen nach Spannung und Sensation zugleich zu ironisieren und zu befriedigen, das eigentliche literarische Abenteuer, worauf sich die junge Blüte der russischen Prosa-Avantgarde jener Jahre einlassen wollte.

2 Die Serapionsbrüder von Petrograd: zwischen Ornament und Krimi

Bei manchen Autoren hat es sich eingebürgert, schon bei ihrer Erwähnung den Zusatz „frühverstorben“ nicht zu vergessen. Wenn man von Lev Lunc spricht, einem der Gründungsväter der nachrevolutionären Avantgarde-Prosa in Russland, dann heißt es immer wieder: „der leider viel zu früh verstorbene Lev Lunc“.1 Im Grunde könnte man genauso sagen: die früh verstorbene Prosa-Avantgarde, der Lev Lunc sein jugendliches Gesicht verliehen hatte.

Am Ende seiner Generation und am Ende der Avantgardephase der frühen Sowjetunion wird schließlich der längst im Exil sitzende Roman Jakobson anlässlich des Selbstmords Vladimir Majakovskijs „[v]on einer Generation“ sprechen, „die ihre Dichter vergeudet hat“.2 Lev Lunc hatte das Glück, dass er dieser Generation und vielen weiteren vorausgeeilt war. Er starb im Todesjahr Lenins 1924 in Hamburg auf der Durchreise zu einem Spanien-Stipendium.

Gemeinsam mit einer bunten Schar junger Autoren hatte er sich in dem von Maxim Gorkij unterstützten „Haus der Künste“ (Literarisches Studio)3 ab 1919 wie in einer ‚Arche Noah‘ durch die Bürgerkriegsjahre Petrograds4 gerettet. Aus dieser losen Gruppe, die sich um 1921 nach E. T. A. Hoffmann „Serapionsbrüder von Petrograd“ nannte,5 sollte die Blüte der Prosa-Avantgarde der jungen Sowjetunion hervorgehen: Viktor Šklovskij, Evgenij Zamjatin, Konstantin Fedin, Lev Lunc, Michail Slonimskij, Vsevolod Ivanov, Elisaveta Polonskaja, Nikolaj Nikitin, Michail Zoščenko, Il’ja Gruzdev, Venjamin Kaverin u. a. Eine lebendige Schilderung des stürmischen Lebens im „Haus der Künste“ liefert Viktor Šklovskij in seiner Bürgerkriegsprosa: Die sentimentale Reise (1923).6

Abb. 11.2

Die erste Sitzung der Gruppe fand Anfang Februar 1921 statt – ohne Wahlen oder Anführer, ohne Programm und gegen jede Ideologie und Weltanschauungsprosa. Zentral war die freundschaftliche Verbindung der blutjungen Autoren und ihre geradezu naive und provokante Unabhängigkeit von den literarischen Machthabern.

Von Anfang an zeigte sich die traditionelle Gespaltenheit der russischen Literatur, ja Kultur insgesamt, in ‚Ostler‘ und ‚Westler‘: Die einen orientierten sich an der übermächtigen Tradition der handlungsschwachen ornamentalen Prosa7 des russischen Realismus und vor allem der symbolistischen Moderne – zumal Belyjs und Remizovs –, die anderen verstanden sich als ,Westler‘ mit dem Drang nach einer Handlungsprosa mit starkem Sujet, Intrigen und viel Spannung.8

Das entsprechende Textkorpus der ornamentalen Prosa jener Jahre ist so umfangreich, dass Lev Lunc im Geiste Šklovskijs und der jungen Formalisten in die Klage ausbrechen konnte, die entgegengesetzte Dominante – eine sujet- und spannungsorientierte Prosa9 – wäre peinlich unterentwickelt, wenn überhaupt vorhanden. Die russischen Autoren kämen mit der banalsten narrativen Intrige nicht zurecht, ja sie wären zur einfachsten Kriminalhandlung unfähig.

Lev Lunc war es denn auch, der in jugendlichem Ungestüm die für die Epoche der heraufziehenden Staatskunst und ihre ideologischen Zwänge provokante Losung ausgab, die Prosa-Avantgarde müsse sich „nach Westen!“10 orientieren: zumal an der Spannungs- und Trivialliteratur der Engländer und Amerikaner. Diese anglo-amerikanische Erfolgsmethode passte durchaus in die Frühphase der NEP-Periode11 mit ihrer Begeisterung für die Technik-Utopien Amerikas, für den Taylorismus und die „Modern Times“:

Im Westen gibt es von jeher eine gewisse Literaturgattung, die in Rußland als unseriös, um nicht zu sagen schädlich, angesehehn wird. Das ist die sogenannte Abenteuerliteratur. In Rußland hat man sie schweren Herzens für die Kinder geduldet. Kindern gegenüber ist man machtlos; sie lasen die „Welt der Abenteuer“, Cooper, Dumas und Stevenson […]. Als sie dann älter und vernünftiger waren und von ihren Russischlehrern aufgeklärt wurden, versteckten sie ihre Haggards und Conan Doyles mit bitterem Bedauern in den Bücherschrank, es schickte sich nicht mehr für sie, Kindergeschichten zu lesen […]. Boulevardliteratur und kindliches Vergnügen nannten wir das, was im Westen klassisch ist. Die Handlung! [Herv. i. O.] Die Fähigkeit, mit einer komplizierten Intrige umzugehen, Knoten zu schürzen und zu lösen, zu verflechten und zu entflechten, läßt sich nur durch langejährige, sorgfältige Arbeit erwerben […].

Im Westen blüht der Roman und ist durchaus nicht langweilig. In England – Kipling, Haggard, Wells, in Frankreich A. de Régnier, France, Farrère, in Amerika O’Henry und Jack London […].

Psychologisieren kann auch ein Neger, doch eine Handlung aufbauen kann nur ein Schriftsteller, der eine große Schule durchlaufen hat […].

Seid revolutionäre oder konterrevolutionäre Schriftsteller, Mystiker oder Gottesstreiter, aber seid nicht langweilig.

Deshalb – nach Westen!

Deshalb – auf die Schulbank, lernt das Abc!

Fangt von vorne an!

Brüder – zur Handlung! Brüder – in den Untergrund der Literatur! Laßt uns den Bogen in der anderen Richtung überspannen! […] Wie kleine Gymnasiasten werden wir Abenteuerromane nachahmen, zuerst sklavisch, wie Plagiatoren, und dann […] werden wir sie vorsichtig mit russischem Geist, russischem Denken und russischer Lyrik erfüllen.

Ein schwerer Weg erwartet uns. Vor uns liegt der ehrenvolle Tod oder der wahre Sieg!12

Der Aufruf ging auf verwirrende Weise nicht in Erfüllung.13 Der Tod kam – jedenfalls für Lev Lunc – wenige Jahre danach: ehrenvoll vielleicht, jedoch auf keinen Fall siegreich. Aber: Den Versuch war es wert, den schweren Tanker der russischen Traditionsprosa zu verlassen und in die dahinjagenden Rennboote zu wechseln, die eine Zeit lang die herrschende Sowjetliteratur eher alt aussehen ließen. Das Abenteuer einer neuen Abenteuerliteratur konnte beginnen.

3 Das Schreiben a tergo: Boris Ėjchenbaums „O. Henry“

Kurz nach dem Tod von Lev Lunc, im Erscheinungsjahr von Viktor Šklovskijs Theorie der Prosa (1925),14 beschäftigte sich Boris Ėjchenbaum, der maßgebliche Prosatheoretiker des Russischen Formalismus, mit den narrativen Strategien der amerikanischen short story, zumal mit jenen von O. Henry, der damals auch in Russland mit durchschlagendem Erfolg übersetzt wurde.15 Anders als in seinen Analysen der Erzähl-Rede, zumal der für die skaz-Verfahren (etwa in Gogol’s Prosagrotesken),16 konzentriert sich Ėjchenbaum hier ganz auf das damals hochaktuelle Problem der Handlungsschwäche der russischen Prosa – genau so, wie sie von Lev Lunc oder Šklovskij angeprangert wurde. Wie diese konstatiert Ėjchenbaum einen gefährlichen Abgrund zwischen der zumeist sujetlosen Prosa-Avantgarde und ihrer Theoriebildung einerseits sowie den als primitiv abgewerteten Unterhaltungsbedürfnissen des breiten Publikums andererseits.

Ėjchenbaum bezieht sich auf eben jene Jahre um 1923/24, die auch bei den anderen Formalisten den synchronen Kontext ihrer Forderungen nach spannungsgeladenen Kurzgenres bildeten. Diese Parteinahme impliziert eine doppelte Perspektive: einerseits die Verfremdung und Parodie einer auf Wortkunst, Stil und sujetlose Ornamentik orientierten Prosa17 und andererseits die Option einer Massen- und Gebrauchsliteratur, wie sie zunehmend auch das formalistische Interesse am ‚literarischen Alltag‘ mit sich brachte.

Entscheidend ist, dass es – gerade im Falle O. Henrys – eindeutig um eine Kunst-Prosa (oder Prosa-Kunst) ging, die im Geiste der Avantgarde unter dem Zeichen der literarischen Verfremdung bzw. generell einer Entblößung der narrativen Verfahren stand. Gleichzeitig befriedigte sie aber auch die Unterhaltungsbedürfnisse des non-sophisticated reader sowie den Erfolgsdruck der Journal-Redakteure. Auch hier triumphierte das Postulat einer publikumswirksamen Genre-Wahl – nämlich die Abenteuerliteratur in einer parodistischen, ironischen Genre-Verfremdung, die sowohl die fiktionalen wie die autoreflexiven Bedürfnisse des Autors und des sophisticated reader voll befriedigen sollte.

Ėjchenbaum konstatiert zunächst den Riesenerfolg gerade der angelsächsischen Unterhaltungsprosa beim russischen Leser seit 1919/20 – also im Übergang von der Bürgerkriegszeit zu dem halb-kapitalistischen Intermezzo der frühsowjetischen NEP-Periode. Aus dieser Perspektive dominierte das Interesse am Marktwert der Literatur,18 an Auflage und Verlagswesen, kommerziellem und literarischem Effekt und Erfolg. Es war dies ein ‚Amerikanismus‘, der sich parallel zur Begeisterung für die Biomechanik und Arbeitstechnologie im Geiste der Fließband-Fabriken eines Taylor entwickelte, dessen Wirkung in der frühen Sowjetunion nicht weniger gewaltig war als ein Jahrzehnt später in Aldous Huxleys Brave New World.19

Für die Formalisten war die short story bzw. die ‚Sujet-Novelle‘ ein vom Romangenre prinzipiell abweichendes, eigenes Medium des Narrativen, das aus ihrer Sicht in der russischen Prosatradition – mit wenigen Ausnahmen – schlichtweg zu kurz gekommen sei. Beide Genres sind demnach „einander innerlich feindliche Formen“20, die sich niemals gleichzeitig in einer Literatur entfalten. Die short story bzw. die Novelle ist aus einer solchen Sicht eine „elementare Grundform“ – heute würden wir sagen: ein autonomes Medium, das zwar wie das Gegen-Genre ‚Roman‘ ebenfalls mit verbalen Mitteln arbeitet, aber mit völlig anderen narrativen Verfahren.

Während im Roman die sukzessive Aneinanderreihung von Motivketten, ihre Bremsung, Vernetzung und Verlötung dominieren, ist die Kurzgeschichte final auf eine Pointe bzw. eine Auflösung orientiert, geometrisch strukturiert und zwischen einer Ausgangsfrage, einem semantischen Widerspruch und seiner Neutralisierung im Finish ausgespannt. Es geht primär um diese Spannung, die in der syntagmatischen Struktur liegt (Inversion der Motive etc.), und nicht um das Thema. Für den Roman dagegen ist das Finish immer eine gewisse peinliche Pflichtübung. „Die Novelle ist ein Rätsel, der Roman etwas in der Art einer Scharade oder eines Rebus.“21 „Rätsel“ meint in der Narratologie des Russischen Formalismus eine semantische Polarität, die in einem pragmatischen Widerspruch oder einer offenen Frage entfaltet wird, welche dann mit narrativen Mitteln ‚gelöst‘ wird.

Genau diese Kernstruktur des narrativen Sujets – das „Sujet-Rätsel“ und die „Sujet-Parallele“22 – steht auch im Mittelpunkt von Šklovskijs Prosatheorie. Im Falle der short story wird diese Sujetstruktur – vor allem der Typ I, das „Sujet-Rätsel“ – gewissermaßen ‚nackt‘ präsentiert und ohne viel Material von Motivationen, Beschreibungen und Charakteristika quasi ‚geometrisch‘ entwickelt. Insofern ähnelt diese narrative Kurzform auch der „Wortkunst“23 bzw. dem Gedicht, das ja auch gewissermaßen in toto und in all seinen Teilen gleichzeitig rezipierbar sein sollte. Beide profitieren von ihrer überschaubaren Kürze, die es gestattet, den Text progressiv wie regressiv, von vorne und vom Ende her zu schreiben und zu lesen.

In der short story und den Sujet-Genres steht die unterkomplexe Konstruktion im Mittepunkt und nicht die pragmatische, stilistische, perspektivische Komplexität. Daher betont Ėjchenbaum auch mehrfach, dass die short story (ebenso wie eine Kriminalgeschichte24) „von hinten“25 her konstruiert wird: von der Auflösung her, von der Pointe, auf die dann für den ‚von vorne‘ rezipierenden Leser alles ‚zuläuft‘. Der Effekt, die Überraschung, ja Überrumpelung des Lesers durch den „Schlußakzent“26 operiert gleichzeitig mit den fundamentalen Affekten von Rätsel und Auflösung (auch im Sinne von Freuds „Auflösungslust“27), Problem und Bewältigung, Frage und Antwort. Genau diese short story ist die eigentliche Domäne der amerikanischen Literatur, während die englische aus einer solchen Sicht am Romangenre festhält – von Edward Bulwer-Lytton und William Thackeray bis Charles Dickens. Ganz anders in Amerika: Hier gab es E. A. Poe, Nathaniel Hawthorne, Bret Harte, Henry James, Mark Twain, Jack London – und eben O. Henry.

Das für den russischen Formalismus zentrale Verfremdungsprinzip der „Entblößung des Verfahrens“28 (obnaženie priema) triumphiert hier vollends – ebenso wie die Idee, dass diese Thematisierung und ikonische Präsentation der konstruktiven Techniken, ja komplexer theoretischer Konzepte, auch zu einer ‚Entlarvung‘ von Geisteshaltungen führt, zu einer ironischen, parodistischen Herabminderung ‚hoher‘ Genres und erhabener Positionen kultureller Dominanz, die solchermaßen karnevalesk umgestürzt werden. „Entblößung“ der Struktur macht das sichtbar, was die Maskierungen und kulturellen Täuschungsmanöver verbergen – und eben diese Entlarvung verbindet die Analytik der Formalisten mit jener Sigmund Freuds oder derjenigen des frühen Marx.

4 Parteinahme der Formalisten für die ‚Sujet-Prosa‘

Zu den radikalsten Theoriebeständen des jungen Formalismus um 1920 gehört zweifellos die frühe Erzähltheorie, die primär auf die Differenz von ‚Fabel‘ (fabula) und ‚Sujet‘ (sjužet) fixiert war.29 In der fabula dominiert der kausal-empirisch rekonstruierbare und dem jeweiligen „Wahrscheinlichkeitsmodell“30 (Jakobson) folgende ordo naturalis, womit eigentlich ein ordo culturalis gemeint ist. Eine solche fabula gibt es freilich nur in einem annähernd realistischen Erzählen, das sich auf pragmatische Kontexte und konventionelle Handlungsabläufe verlässt, ohne die der Erzähltext unverständlich wäre.

Diese als vorgegeben gedachte ,Ordnung der Dinge‘ (die zeitliche, logische, alltägliche Reihung von Motiven und Motivationen) wird im jeweiligen narrativen Sujet deformiert, verfremdet und auf spezifische Weise umgebaut.

Das Sujet ist für die Formalisten kein Thema, nichts Stoffliches – sondern nichts weniger als die Regeln der Text-Syntagmatik, eine Art narrative Syntax. Diese ist regulativ und normbildend im Rahmen eines generellen narrativen Codes (der Erzählsprache und ihrer Konstruktion), der wiederum in eine spezifische textuelle Performanz (im konkreten Einzeltext) und eine konkrete Realisierung im Rezipienten perspektivisch aktualisiert wird. Hier haben wir es dann – analog zur Vers-Rede – mit der ‚Erzähl-Rede‘ zu tun.31 In der frühen, vor allem von Šklovskij entwickelten Sujet-Theorie (zusammengefasst in seiner Theorie der Prosa, 1925/1929), ging es vor allem um die V-Effekte einer maximalen Differenz zwischen vorgegebener bzw. mitgedachter fabula- Ordnung und der konkreten, an generellen Regeln orientierten narrativen Syntax (Sujet) des jeweiligen Textes. Erzählen in der Moderne, besonders aber in Zeiten der Avantgarde, war immer eine kritische, ja polemische Auseinandersetzung mit den fiktionserzeugenden Potentialen des Narrativen; eine jede Avantgarde-Prosa strebte nach der Verfremdung, Demontage und Neumontage des Erzählens: sei es der Ereignisse einer Handlung, der eingesetzten Diskurse oder einer identifizierbaren Erzählperspektive.

Dabei unterscheidet Šklovskij zwei Typen von Sujets: Als Sujettyp I die „entfaltete Parallele“32 (razvernutaja parallel’), die sich analog zum Konzept der Textentfaltung aus semantischen bzw. rhetorischen Figuren (razvertyvanie) verhält. Hier haben wir das Verbindungsstück zum frühen Formalismus, ebenso wie im Sujettyp II, der zukunftsweisend als „Sujet-Rätsel“33 (sjužet zagadka/razgadka) fungiert, wobei hier die komplexe Differenz zwischen Verrätselung (zagadka) und Enträtselung (razgadka) gerade im Genre des Abenteuer- oder Kriminalromans auf eine prinzipielle semantische Inkongruenz verweist, die vom Leser unter Zuhilfenahme der narrativen Codes rekonstruiert werden. Diese gestatten ihm den Einsatz seiner Ergänzungsleistung, wenn im Gefolge der – vor allem in Kriminal- und Abenteuerromanen eingesetzten – Spannungstechniken (dem „System der Mystifikationen“, sistema tajn) die einzelnen narrativen Motive in einer permutierten Reihenfolge (der vorausgesetzten bzw. mitgedachten Fabula-Ordnung) präsentiert werden. Dabei hat der Rezipient die Aufgabe, die Varianten einer wahrscheinlichen Kette und der damit einhergehenden Motivationen der Figuren zu rekonstruieren bzw. zu „erraten“ (razgadka).

Šklovskij unterscheidet in diesem Sinne – auch mit Blick auf die aktuelle Situation der (avantgardistischen) Erzählgenres der frühen 20er Jahre – zwischen Sujet-Verfremdungen mithilfe markanter syntagmatischer Umstellungen in prägnant handlungsorientierten Genres (ostrosjužetnye žanry) wie Kurzgeschichten, Novellen, Kriminal- und Abenteuerromanen und bewusst sujetschwachen Genres, die dem Prinzip der „Sujetlosigkeit“34 (bessjužetnost’) folgen.

Šklovskij zumal und die anderen jugendlichen Vertreter des russischen Formalismus an der Wende zu den 20er Jahren wollten sich nicht prinzipiell für einen der beiden Prosatypen entscheiden: Der „Auftrag“ (zakaz) des aktuellen Genre-Systems wie überhaupt der „Modernität“35 (sovremennost’) war primär die entblößende outrierte Demonstration eines jeweiligen Extremtyps – also totale Sujethaftigkeit bzw. totale Sujetlosigkeit – als Avantgarde-Konzept, oder aber eine Kombination aus beiden in einem hybriden dritten Typus, der die prägnante Sujethaftigkeit mit einer Material-Montage im Sinne der Faktenliteratur kombinierte.36

Eben dies gilt für serielle Großtexte wie Šklovskijs Sentimentale Reise (1923). Auch in seiner Theorie der Abenteuererzählung bzw. des Abenteuerromans im Rahmen seiner Theorie der Prosa (1925; erweitert 1929) ging es Šklovskij primär um die verfremdende, schockierende Rehabilitierung eines den russischen Erzählkanon negierenden und provozierenden Kriminal- und Abenteuergenres – sei es jenes Conan Doyles oder des alten Cervantes.

Im Mittelpunkt stand das Interesse an Sujet-Verfremdung und nicht an der ontologischen Definition einer generischen Erzählgattung, die favorisiert oder kritisiert werden sollte. In diesem eminent avantgardistischen Verständnis von ‚Genre‘ hat die Fixierung auf das Sujet immer schon etwas Parodistisches, da die im nach wie vor herrschenden Realismus psychologisch, sozial oder ideologisch reich bestückten Motive und Motivationen auf das reine Handlungsskelett geometrisiert werden.

5 Angewandte Literatursoziologie des späten Formalismus

Ebenso wie für den Kunsttext eine permanente Zufuhr von noch nicht automatisiertem ‚Material‘ aus peripheren, kunstfernen Bereichen erforderlich ist, entstammt der Zustrom neuer Verfahren, Motive oder Gattungen der literarischen bzw. kulturellen Peripherie, die mit dem Zentrum des Gesamtsystems in einem permanenten Kreislauf verbunden ist.37

Der russische Begriff byt bezeichnet den Alltag des konkreten Daseins; im Rahmen der formalistischen Theorie des „literarischen Alltags“ (literaturnyj byt) könnte man auch von ‚Literatur-Szene‘ sprechen. Gemeint ist damit jenes kommunikative Feld, das zwischen dem Autor als „literarischer Persönlichkeit“38 (literaturnaja ličnost’), den Literaturinstitutionen (Verlag, Salons, Kritik etc.) und den erwartbaren Rezipientenhaltungen vermittelt.

Hier lässt sich eine Homologie zwischen der Konzeption der „Faktenliteratur“ (literatura fakta) und der literarhistorischen Konzeption des „literarischen Alltags“ (literaturnyj byt) beobachten, geht es doch in beiden Fällen um die permanente Neu-Valorisierung der Grenze zwischen inner- und außerliterarischem Material, zwischen Norm und Exzentrik, Luxus und Abfall:39

Alle festen statischen Definitionen von Literatur werden durch das Faktum der Evolution hinweggefegt. Jene Definitionen von Literatur, die mit ihren „grundsätzlichen“ Zügen operieren, stoßen sich am lebendigen literarischen Faktum. Während es immer schwieriger wird, eine feste Definition von Literatur zu geben, wird jeder beliebige Zeitgenosse mit dem Finger darauf weisen können, was ein literarisches Faktum ist. Er wird sagen, daß dieses nicht zur Literatur gehört, da es ein Faktum des Außerliterarischen oder des persönlichen Lebens des Dichters ist, jenes dagegen gerade als literarisches Faktum erscheint. […] Hier erweisen sich nicht nur die Grenzen, die „Peripherie“, die Grenzgebiete der Literatur als fließend, nein, es geht um das „Zentrum“ selbst: nicht, dass im Zentrum ein uralter ererbter Strom fließt und evolutioniert und die neuen Erscheinungen nur an seinen Ufern auftauchen – nein, eben diese ganz neuen Erscheinungsformen rücken ins Zentrum vor. Das Zentrum hingegen gleitet an die Peripherie. Jedes beliebige Genre rückt in der Epoche seines Verfalls aus dem Zentrum an die Peripherie, an seinem Platz aber taucht aus den Kleinigkeiten der Literatur, aus ihren Hinterhöfen und Niederungen eine neue Erscheinung im Zentrum auf.40

Die Aufträge an die Kunst und Literatur kommen aus einer solchen Sicht nicht direkt aus der Gesellschaft oder den ideologischen Apparaten, sondern aus den herrschenden Erfordernissen des Gattungssystems, aus der Aktualität des laufenden Kultur- und Kunstdiskurses: Die ‚literarische Gegenwart‘, das dynamische ‚Zeitgenossentum‘ (sovremennost’) und seine Interessenslage sollten entkoppelt werden vom ‚Parteigenossentum‘ und den Kommandostellen der offiziellen Kulturpolitik. Es sind objektiv nachvollziehbare, diachron herleitbare und synchron wirksame Gesetzmäßigkeiten, die ein soziales oder kulturelles Faktum zu einem ‚literarischen Faktum‘ machen. Heute würden wir sagen: Dieses wird projektiv konstruiert, konzeptualisiert, ‚erfunden‘; damals sprach man von einer Konstruktion im Sinne von Machen, jetzt aber nicht mehr ein Montage-Bau auf der ‚grünen Wiese‘, sondern eine Art Selbstorganisation unter der Wirkung jener Kraftfelder, die in der aktuellen Kulturszene quasi naturgesetzlich auftreten.41

Es ging darum, den soziologischen bzw. ideologischen Determinismus einer kruden Widerspiegelungstheorie und ihrer pseudo-realistischen Mimesis durch ein falsifizierbares Regelwerk zu ersetzen, das nicht nur historisch rekonstruierbar sein sollte, sondern auch – wie in den ‚harten Wissenschaften‘ – prädiktabel zu sein hatte: Eine Gesetzmäßigkeit der Biosphäre war ja auch nur dann eine solche, wenn sie nicht nur für die Vergangenheit Geltung hatte, sondern auch gegenwärtige und vor allem zukünftige Situationen regulierte. Die ‚Schwerkraft‘ des physischen Seins und jene des Daseins sollten ebenso korrespondieren wie das Geheimnis des Fliegens und die Konstruktion utopischer Kunstmaschinen. Die epistemische Vorhersagbarkeit der Kunstrevolution prolongiert auf säkulare Weise die metaphysische der apokalyptischen Antizipation der Jahrhundertwende von 1900.42

Was die ‚harten‘ Naturwissenschaften für ihre Biosphäre postulierten, sollte auch für Jurij Lotmans „Semiosphäre“ gelten.43 Mehr noch: Die Literaturwissenschaftler, zumal die Formalisten, griffen eigenhändig in den literarisch-künstlerischen Prozess ihrer Gegenwart ein; sie verlängerten die Position der Bewertung synchroner Werke durch eigenes literarisches Schaffen, indem sie nicht etwa bloß Erzähltheorie betrieben, sondern gleich selbst Romane, Erzählungen und Filmszenarios schrieben.

6 Experimentelle Trivialliteratur

Das Revolutionäre an der literatursoziologischen Wende des Formalismus seit Mitte der 20er Jahre war die Hereinnahme von bisher als peripher geltenden Genres des Schrifttums und der epistemischen Prozesse: journalistische, faktographische Genres, Werbung und Kunstkritik, Propaganda und Salondiskurse, Tagebücher und Korrespondenzen, Gebrauchs- und Trivialliteratur aller Art. Das literarische Feld wurde so enorm ausgeweitet, während die dabei erschließbaren Regelwerke auf wenige Stereotype und Standards reduzierbar waren. Denn die nunmehr integrierten Genres und Medien, die bisher nur als Hintergrundgeräusch der großen Literatur und Kunst registriert wurden, gaben nunmehr den Ton an und lieferten die Folie, vor der die jeweils literarisch wirksamen Verfahren und Textsorten ablesbar waren.

Indem die Formalisten die Strukturen der Alltagskultur bloßlegten, bewegten sie sich sowohl in der Sphäre einer methodologischen Ausweitung ihrer Forschungsperspektive als auch auf der praktischen Ebene ihrer Anwendung im Rahmen eines neu definierten Gattungs- und Mediensystems. Daher auch der Zusammenhang zwischen der formalistischen Theorie der Trivialmedien und der aktiven Parteinahme für triviale Genres in der Unterhaltungsindustrie von Literatur und Film, Werbung und Selbstinszenierung. Deshalb konnten auch so konträre Konstruktionsprinzipien wie jene der geometrisch konzipierten short stories problemlos neben die sujetlosen Genres, die Material-Montagen einer ‚Fakten-Literatur‘ bzw. ‚Fakten-Kinematographie‘ treten – oder beide konnten zusammen hybride Genres herausbilden, in denen das Prinzip der ,Großen Abstraktion‘ (im Sinne Kandinskijs)44 mit dem der ‚Großen Realistik‘ gleichberechtigt präsentiert wird.

Gerade diese gespaltenen Perspektive war wohl auch der Grund dafür, dass es im Falle einer konstruierten Trivialliteratur als literaturtheoretisches Experiment so viele Missverständnisse und Misserfolge gab. Denn im Grunde brachte man beide Leserschaften gegen sich auf: Der non-sophisticated reader spürte instinktiv die zusätzlichen Absichten der gewitzten Autoren, Versatzstücke aus dem intertextuellen Feld einzuschmuggeln, während die professionellen Leser (ebenso wie die Literatur-Kollegen) bei all dem unter das Verdikt des Goetheschen Satzes gerieten: „Man merkt die Absicht und ist verstimmt.“ Gerade diese ‚Absichtlichkeit‘ und ihre intentionale Markierung beherrschte das literarische Täuschungsmanöver von Anfang an und bedingte schließlich auch seine relative Erfolglosigkeit.

Es ist aus einer solchen Sicht keine Schande, sich mit kulinarischer Unterhaltungsliteratur von den Krimis bis zum Comic-Helden Tarzan zu beschäftigen. Schon 1924 hatte sich Šklovskij in einer Glosse mit dem Phänomen des enormen Publikumserfolges der Tarzan-Bücher und Filme beschäftigt: „Man kann Tarzan auch ignorieren – doch das wird wohl traditionell und dumm sein. Das Studium der Massenliteratur und der Ursachen ihres Erfolges ist unumgänglich.“45

Karl Marx hatte bekanntlich in seinen berühmten Thesen über Feuerbach die noch berühmtere Behauptung aufgestellt, „die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es [komme] aber darauf an, sie zu verändern“46. Nicht anders waren die russischen Formalisten – allen voran Viktor Šklovskij und Jurij Tynjanov – davon beseelt, nicht nur die bisherige Literatur als Philologen wie gehabt zu beschreiben, sondern die aktuelle Literatur als Kritiker mitzugestalten und im besten Falle jene Evolutionsgesetze, die man aus der Analyse der Geschichte ableiten konnte, eigenhändig in die Gegenwart und Zukunft zu verlängern.

So war der Philologe kein Philosoph oder Historiker oder Ideologe mehr – sondern wirkte selbst in der Avantgarde der aktuellen „Kunst- und Literaturfront“. Genau so nannte sich im übrigen auch die avancierteste Plattform der konstruktivistischen Avantgarde um Vladimir Majakovskij: Linke KunstfrontLEF und Novyj Lef. Šklovskij und die seinen wollten nicht nur als Analytiker der synchronen und diachronen Regeln und ihrer textuellen Strukturen auftreten, sie entwickelten sich zu den markantesten Prosaikern ihrer Zeit, zu kämpferischen und umstrittenen Autoren und Regisseuren, die Kunst nicht nur be-schreiben, sondern auch er-schreiben wollten.

Was Lev Lunc programmatisch verlangte und in seinem eigenen Schreiben einlöste; was Šklovskij, Ėjchenbaum oder Tynjanov postulierten, war die Synchronizität und wirkende Aktualität der Theorie als Praxis: und in dieser Gleichstellung beider waren der Formalismus und seine Literatur ein Kind der Avantgarde, der Futuristen und Neoprimitivisten. Genauer gesagt: Er war ein Adoptivkind, da seine Prosa – synthetisch gezeugt und vielfach montiert – eine Collage aus vorgegebenen Zitaten und Allusionen darstellte. Das Kind wurde also nicht regulär gezeugt und im Mutterleib der generischen Kreativorgane ausgetragen:47 Es war konstruiert, gebastelt, technisch montiert als eine Art literarischer Roboter, der im hochverminten Feld der sich formierenden Staatskultur der jungen Sowjetunion eine Literatur verkörpern sollte, die auf parodistische Weise geklont, geklebt und gemacht wirkte.

Wesentlich für Šklovskij war aber das Experimentelle des stilisierten Schundromans unter dem giftigen Titel Iprit (1925).48 Worum es dabei ging, damit hielt Šklovskij nicht hinter dem Berg, wenn er zum Erscheinen des Romans in der Zeitschrift der „Linken Kunstfront“ (Lef) 1925 schrieb: „Das Auffüllen des Abenteuerschemas nicht mit bedingtem literarischen Material wie bei Džim Dollar (Mariėtta Šaginjan), sondern mit Beschreibungen faktischen Charakters.49 Die Krise des Genres [der Erzählprosa, A.H.-L.] kann man nur durch das Heranziehen neuen Materials überwinden. Das Genre des Abenteuerromans wird heute als Stilisierung verwendet. So ergibt sich ein Spiel mit Schablonen und der Anschein der Übersetzung aus einer westlichen Literatur.“50

Den reaktionären Marxisten-Leninisten hält er deren Auftrag entgegen, die Literatur solle nach westlichem Vorbild aber mit ideologisch korrekten Inhalten eine funktionierende Massen- und Unterhaltungsliteratur aus dem Boden stampfen. So hatte Bucharin im Oktober 1922 die Schaffung einer „revolutionären Romantik“51 und eines „kommunistischen Pinkerton“52 verlangt.

Diesem Aufruf folgten scharenweise Autoren und Autorinnen – so Marietta Šaginjan mit ihrem Roman Mess-Mend oder die Yankees in Petrograd (1924) oder Ilja Ėrenburg, mit seinem Chulio Churenito (1922).53 Außer diesen beiden sind die anderen einschlägigen roten Abenteuerromane mit wenigen Ausnahmen in der von ihnen selbst geschaffenen literarischen Wüste verdorrt.

Šaginjans Kolportage-Roman Mess Mend wurde wie Iprit in einer Massenauflage gedruckt und nicht so sehr als ein literaturtheoretisches Experiment publiziert als vielmehr mit dem Ziel, in der Tat einen echten Abenteuerroman in die sowjetischen 20er Jahre zu verpflanzen. Šaginjans Roman erschien nur sechs Monate nach der russischen Heftserie Mess Mend oder die Yankees in Leningrad, die sie unter dem Pseudonym „Džim Dollar“ publiziert hatte. Die Auflage betrug 25.000–50.000 Exemplare, die Serie umfasste 10 Heftromane, und den Umschlag gestaltete Aleksandr Rodčenko.

1925 wurde Šklovskijs und Ivanovs Roman Iprit als Schundroman im Verlag Gosizdat in Moskau in der gigantischen Auflage von 30.000 Stück herausgebracht; die einzelnen Teile erschienen als insgesamt neun Fortsetzungshefte, deren Einbanddesign genau an die von Schundhefte angepasst war, die man aus dem Westen kannte.

Der literarische Misserfolg des experimentellen Schundromans Iprit war gewissermaßen vorprogrammiert, wenn nicht gar eingeplant, waren doch seine Riss- und Sollbruchstellen im Text selbst schon angelegt. Der Misserfolg in der ‚Realliteratur‘ (des herrschenden Realismus) ebenso wie aus der Sicht einer schon nostalgischen Avantgarde, dieses Scheitern lässt sich nicht leugnen.

Abb. 11.3
Abb. 11.3

Umschlag von Aleksandr Rodčenko zu Mariėtta Šaginjan Mess Mend

Abb. 11.4
Abb. 11.4

Iprit-Ausgaben in ,Schundheft‘-Format

Šklvoskij verbindet die geometrisch zugespitzten Sujet-Genres einer anekdotischen Narrativik, wie er sie selbst in seiner Sentimenalen Reise (1919/1923) ins Werk gesetzt hatte, mit der sujetlosen Faktographie und vor allem mit der ornamentalen Erzählrede eines Vsevolod Ivanov, der die ,östliche‘ Tradition der Serapionsbrüder und den Ornamentalismus einer zugespitzten Exotik ad absurdum führen sollte. Man saß sich gewissermaßen – wie Il’ja Il’f und Evgenij Petrov, die wohl berühmtesten Co-Autoren der Epoche – an ein und demselben Schreibtisch gegenüber (oder nebeneinander) und tauschte mehr oder weniger laut lachend jeweils Bruchstücke der eigenen Schreibpraxis aus.

Abb. 11.5

Vsevolod Ivanov war also als Co-Autor des Iprit-Projekts für die ‚östlichen‘ Sujet-Linien und Motive zuständig (man kannte das ja von seinem berühmten Bürgerkriegsroman Der Panzerzug 14–69), Šklvoskij für die ‚westlichen‘, wie man das an seinem unverwechselbaren Telegrammstil ablesen kann. Diese beiden Sujet-Linien wurden mehr oder weniger mechanisch miteinander verkoppelt, im wörtlichen Sinne ‚montiert‘. Während Šklovskij die Abschweifungstechnik des Tristram Shandy in seinen Telegrammstil integrierte, signalisiert Vsevolod Ivanov in den für ihn typischen exotischen Redeflüssen die Technik der stilisierten mündlichen Rede (des skaz). Beides zusammen spiegelt sich auch in der Doppelgängerschaft der Haupthelden des Iprit, die den Zwillingscharakter des Romanexperiments gewissermaßen verkörpern.

Bis zu einem gewissen Grad resultiert das amüsante Missverständnis der Trivialliteratur in den russischen 20er Jahren aus einer fundamentalen Differenz in deren Einschätzung. Während bei den Russen Trivialität schon durch die bloße Dominanz von Sujetstrukturen signalisiert wird, fällt diese Wirkung in den westlichen, vor allem den hier wirksamen angelsächsischen Literaturen völlig aus, die ja über ein funktionierendes Handlungsrepertoire verfügten. Hier ist die Trivialitätsgrenze erst erreicht, wenn die Invarianz und permanente Wiederholung ein- und derselben Handlungszüge ein Übermaß erreicht hat.

Šklovskijs berühmtes Pamphlet „Die Kunst als Verfahren“ (1917) erfuhr in diesem Roman seine literarische Umsetzung nach der Formel ‚Die Kunst als Verschiebung‘: Es ging um die Konstruktion eines Romans als Verschubbahnhof von Motiven und Motivationen, von kolportagehaften Stereotypen und slap stick-Szenen aus Stummfilmen – eingebaut in eine fröhliche literaturtheoretische Schnitzeljagd, die von den gewitzten Autoren für ein animiertes Publikum gedacht war. Zitiert wurde alles (mögliche): von Shakespeare bis Puškin, von Boccaccio zu Defoe, von Boris Pil’njak zu Il’ja Ėrenburg, von Dickens und E. A. Poe zum Detektiv Pinkerton oder Sherlock Holmes, von Džim Dollar oder Mariėtta Šaginjan bis Lev Lunc. Ganz zu schweigen von den Klassikern des 19. Jahrhunderts – von Gogol’ bis Dostoevskij. Die aktuelle westliche Abenteuerliteratur war nicht weniger reichlich vertreten: die Rocambole-Fortsetzungsromane54 ebenso wie die Tarzan-Heftchen und ihre Verfilmungen, die auch in der jungen Sowjetunion mit Riesenerfolg liefen.

Während im Totalitarismus die Vorratswirtschaft und ihre affirmative Attrappenästhetik dominieren sollte, gab es in den 20er Jahren während der NEP-Periode nochmals das veitstanzartige Aufbäumen einer Bedarfswirtschaft und ihrer fiebernden Märkte: Hier sollten eine hoch spekulative Literatur ebenso wie entsprechende Kinogenres ein Massenpublikum unterhalten und zugleich dem Anspruch gerecht werden, Avantgarde einer neuen Ästhetik zu sein. Allenthalben konnte man spüren, dass die linksutopischen Projekte der Revolutionsära längst im Auslaufen waren – im Ersticken und Verhungern. Šklovskij und Ivanovs Iprit bildete den Versuch, die gesamten Errungenschaften einer Prosa-Avantgarde in einem einzigen Papierfeuerwerk in die Luft zu schießen und im Konfettiregen einer zerfetzten Literatur das eigene Finale zu übertönen.

So wurde aus dem Experiment mit den zunächst unterschätzten, ja verachteten Versatzstücken einer Literatur des Abenteuers und der Handlungsspannung das Abenteuer einer Literatur, die sich dem Erfolgsdruck der modern times und des für wenige Jahre frei funktionierenden ,Literarischen Marktes‘ ver-schrieben hatte und dabei ihr hoch entwickeltes Avantgarde-Bewusstsein ironisch ,zu Markte trug‘. Ob dieses Experiment überhaupt gelingen konnte, bleibt bis heute eine offene Frage, die zum Konzept einer ‚offenen Literatur‘, wie sie die Prosa-Avantgarde jener Jahre provokant postulierte, durchaus passen mag.

1

Lev Lunc (1901–1924), „Warum wir Serapionsbrüder sind“, in: ders., Die Serapionsbrüder von Petrograd, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1963, S. 7–12. Vgl. auch das Vorwort von Friedrich Scholz, „Lev Lunc und die russische Literatur“, in: Lev Lunc, Die Affen kommen. Erzählungen. Dramen. Essays. Briefe, hg. v. Wolfgang Schriek, Münster: Helmut Lang Verlag 1989, S. 7–13.

2

Roman Jakobson, „Von einer Generation, die ihre Dichter vergeudet hat“ [Zum Freitod Majakovskijs 1930], in: ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979, S. 158–191.

3

Viktor Šklovskij, Sentimentale Reise [1923], Frankfurt/Main: Suhrkamp 1964. Vgl. auch Verena Dohrn, Die Literaturfabrik. Die frühe autobiographische Prosa V. B. Šklovskijs – ein Versuch zur Bewältigung der Krise der Avantgarde, München, Berlin u. Washington D.C.: Otto Sagner 1987.

4

Seit dem Krieg mit Deutschland wurde die alte Hauptstadtbezeichnung Sankt Peterburg durch Petrograd ersetzt – und das von 1914–1924. Im Todesjahr Lenins wurde aus Peterburg/Petrograd Leningrad, das seinerseits 1991 wieder auf das alte Sankt Peterburg rückgetauft wurde.

5

Die Gruppenbezeichnung leitet sich von E. T. A. Hoffmanns gleichnamiger Erzählsammlung ab, die etwa 100 Jahre zuvor erschien, vgl. dazu: Viktor Šklovskij, „Die Serapionsbrüder“ [1921], in: ders., Die Erweckung des Wortes, Leipzig: Reclam 1987, S. 59–61 sowie den gleichnamigen Sammelband von 1921, auf Deutsch erschienen in der Übersetzung von Gisela Drohla (Hg.), Die Serapionsbrüder von Petrograd, Frankfurt/Main: Insel Verlag 1963.

6

Ausführlich zum Leben im „Literaturhaus“ in Petrograd Anfang der 20er Jahre: Šklovskij, Sentimentale Reise, S. 262–272. Vgl. dazu Jan Levčenko, „‚Revoljucija vključila skorost’ i poechala …‘ Bronevik v proze Viktora Šklovskogo“ („‚Die Revolution gewann an Geschwindigkeit und stürmte los …‘ Der Panzerwagen in der Prosa Viktor Šklovskijs“), in: Russkij avangard i vojna („Russische Avantgarde und Krieg“), hg. v. Kornelija Ičin, Beograd: Izdatel’stvo Filologičeskogo fakul’teta v Belgrade 2014, S. 256–270. Vgl. auch Aage Hansen-Löve, Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1978, insb. S. 510–530.

7

Zur „sujetlosen Prosa“ vgl. zuletzt Aage Hansen-Löve, „Frühsowjetische Avantgarde-Prosa: Ornament statt Verbrechen“, in: Prosa: Zur Geschichte und Theorie einer vernachlässigten Kategorie der Literaturwissenschaften, hg. v. Svetlana Efimova u. Michael Gamper, Berlin u. Boston: de Gruyter (im Druck).

8

Zur Sujet-Prosa der 20er Jahre vgl. Hansen-Löve, Formalismus, S. 515–530. Zur „ornamentalen Prosa“ jener Periode vgl. ders., Formalismus, S. 530–537 sowie ders., „Beobachtungen zur narrativen Kurzgattung“, in: Russische Erzählung. Russian Short Story. Russkij Rasskaz, hg. v. Rainer Grübel, Amsterdam: Rodopi 1984, S. 1–45. Vgl. auch Hansen-Löve, „Zur Diskussion um die narrative Kurzform in der russischen Prosa der frühen Zwanziger Jahre“, in: Miscellanea Slavica. To Honour the Memory of Jan M. Meijer, Utrecht 1984, S. 317–339. Vgl. ferner Wolf Schmid, Ornamentales Erzählen in der russischen Moderne. Čechov – Babel’ – Zamjatin, Frankfurt/Main, Berlin u. a.: Peter Lang 1992.

9

Gemeint ist hier aus der Sicht Viktor Šklovskijs eine stark markierte Handlungsstruktur zumal in der für die Prosa-Avantgarde der frühen 20er Jahre typischen Gattungen der metafiction. Vgl. dazu Erika Greber: „The Metafictional Turn in Russian Hoffmannism“, in: Essays in Poetics 17/1 (1992), S. 1–34. Vgl. auch dies.: „Metafiktion – ein ‚blinder Fleck‘ des Formalismus?“, in: Poetica 40 (2008), S. 43–71. Der Begriff der narrativen ‚Spannung‘ wurde in jener Phase des Formalismus bzw. der ‚formalistischen Prosa‘ heftig diskutiert: Zum einen sah man die Spannung als Effekt der Sujet-Umstellung bzw. Inversion der Motive, zum andern aber auch als Ausdruck der Exotik und Interessantheit der Motive selbst. So v. a. Boris Tomaševskij in seiner Teorija literatury („Theorie der Literatur“), Leningrad: Gosudarstvennoe izdatel’stvo 1927, S. 132 f. (Zur historisch-sozialen Bedingtheit des „Interesses“ als „emotionales Element im Thematismus“ und den Effekten des „Mitgefühls“ insb. S. 133). Vgl. auch Boris Tomaševskij, Theorie der Literatur. Poetik, hg. v. Klaus-Dieter Seemann, Wiesbaden: Harrassowitz 1985, S. 157–265, hier S. 217.

Die inhaltlich-thematischen Aspekte waren in der radikal formalistischen Narrativik eher zweitrangig, da es hier primär um strukturelle bzw. syntagmatische Strrukturen des Sujets ging – und nicht um inhaltliche Aspekte der fabula. Zur Kompositionsanalyse der ‚Formal-philosophischen Schule‘ vgl. Hansen-Löve, Formalismus, S. 260–273 u. Matthias Aumüller, „Die russische Kompositionstheorie“, in: Slavische Erzähltheorie. Russische und tschechische Ansätze, hg. v. Wolf Schmid, Berlin u. New York: de Gruyter 2009, S. 91–140.

10

Vgl. die deutsche Ausgabe der Schriften von Lev Lunc, Die Affen kommen. Erzählungen. Dramen. Essays. Briefe, Münster: Helmut Lang Verlag 1989, insb. „Warum wir Serapionsbrüder sind“, übers. v. Gisela Drohla, S. 257–261, sowie „Nach Westen!“, übers. v. ders., S. 267–280.

11

NEP = Neue Ökonomische Politik 1921–1927. Ausführlich dazu vgl. Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917–1991, München: C. H. Beck 1998, S. 157–363.

12

Lev Lunc, „Nach Westen!“, S. 267 f., 272, 273, 276, 278 u. 280 (alle Hervorhebungen, die nicht anders markiert, sind stammen von A. H.-L.).

13

Ohne viel zu zögern hatte Lev Lunc die Sache gleich selbst in die Hand genommen und in einer provokant kurzen short story ein literaturtheoretisches Exempel statuiert. Programmatisch nannte er den Text „Eine nicht-normale Erscheinung“ (Lev Lunc, „Nenormal’noe javlenie“, in: Peterburg 2 [1922], S. 7–9; Reprint und Interpretation in: Aage Hansen-Löve, „Lev Lunc’ Erzählung ‚Nenormal’noe javlenie‘ als ,literatur-theoretische Parabel‘“, in: Wiener Slawistischer Almanach 1 [1978], S. 135–154; ders., Formalismus, S. 516–523. Deutsch: Lev Lunc, „Eine nicht-normale Erscheinung“, in: ders., Die Affen kommen, S. 17–25).

14

Viktor Šklovskij, Die Theorie der Prosa, Frankfurt/Main: S. Fischer 1966. Šklovskij entfaltet die Sujet-Theorie primär am Beispiel des Detektivromans. Vgl. hierzu „Die Kriminalerzählung bei Conan Doyle“, in: Der Kriminalroman I. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung, hg. v. Jochen Vogt, München: Wilhelm Fink 1971, Bd. 1, S. 76–94. Vgl. auch Šklovskij, Literatura i kinematograf, Berlin: Russkoe univerzal’noe izdatel’stvo 1923, S. 43–44 u. S. 78–80.

Zur „Sujet-Umstellung“ (sjužetnaja perestanovka) und zur „Zeit-Umstellung“ (vremennoj sdvig) in der Detektivgeschichte vgl. Viktor Šklovskij, O teorii prozy („Über die Theorie der Prosa“), Moskau u. Leningrad: Krug 1925, insb. „Novella tajn“, S. 97–111 sowie „Roman tajn“, S. 112–138. (Deutsche Übersetzung: Viktor Šklovskij: „Über das Sujet und seine Konstruktion“, in: Russische Proto-Narratologie. Texte in kommentierten Übersetzungen, hg. v. Wolf Schmid, Berlin u. New York 2009, S. 15–46. Zum Problem der „Interessantheit“ von Sujets (zanimatel’nost’, uvlekatel’nost’) vgl. insb. S. 11 f.

15

Boris Ėjchenbaum, „O. Genri i teorija novelly“ [1925], in: ders., Literatura: Teorija. Kritika. Polemika, Leningrad: Priboj 1927 [Reprint Chicago 1969], S. 166–209. Deutsche Übersetzung: Boris Eichenbaum, „O. Henry und die Theorie der Novelle“, in: Literaturtheorie und Literaturkritik in der frühsowjetischen Diskussion. Standorte – Programme – Schulen, hg. v. Anton Hiersche u. Edward Kowalski, Bern u. a.: Peter Lang 1993, S. 153–195.

16

Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, Berlin u. Boston: de Gruyter 2014, insb. S. 146–162. Zur skaz-Theorie und zur ornamentalen Prosa vgl. Hansen-Löve, Formalismus, S. 274–290 u. S. 530–537. Die klassischen Texte der formalistischen skaz-Theorie (zumal von Boris Ėjchenbaum und Viktor Vinogradov) finden sich in: Texte der russischen Formalisten, hg. v. Jurij Striedter, München: Wilhelm Fink 1969, Bd. 1.

17

Zur „ornamentalen Prosa“ vgl. Schmid, Ornamentales Erzählen.

18

Zur Theorie des ‚literarischen Marktes‘ (literaturnyj rynok) vgl. Hansen-Löve, Formalismus, S. 394–409.

19

Vgl. Michael Hagemeister, „‚Unser Körper muss unser Werk sein.‘ Beherrschung der Natur und Überwindung des Todes in russischen Projekten des frühen 20. Jahrhunderts“, in: Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, hg. v. Boris Groys u. Michael Hagemeister, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, S. 19–66.

20

Eichenbaum, „O. Henry“, S. 155.

21

Eichenbaum, „O. Henry“, S. 158.

22

Zu diesen beiden Sujet-Typen bei Šklovski vgl. Hansen-Löve, Formalismus, S. 245–252.

23

Zum Begriff „Wortkunst“ bei Roman Jakobson und im russischen Formalismus vgl. Wolf Schmid, „‚Wortkunst‘ und ,Erzählkunst‘ im Lichte der Narratologie“, in: Wortkunst. Erzählkunst. Bildkunst, hg. v. Rainer Grübel u. Wolf Schmid, München: Biblion 2008, S. 23–37.

24

Zur Theorie der Detektivgeschichte als analytisches Genre im Geiste der abduktiven Schlussfolgerung und mit einer A-Tergo-Schreibperspektive (im Gegensatz zur allgemeineren Kriminalgeschichte) vgl. Manfred Smuda, „Variation und Innovation. Modelle literarischer Möglichkeiten der Prosa in der Nachfolge E. A. Poes“, in: Vogt, Der Kriminalroman I, S. 33–62. Vgl auch Ernst Bloch, „Philosophische Ansicht des Detektivromans“, in: Vogt, Der Kriminalroman II, S. 322–343, sowie darin Siegfried Kracauer, „Detektiv“, S. 343–356.

25

Eichenbaum, „O. Henry“, S. 160.

26

Eichenbaum, „O. Henry“, S. 161.

27

Sigmund Freud, „Der Witz“, in: ders., Gesammelte Werke, Frankfurt/Main: S. Fischer 1961, Bd. VI, insb. S. 193–195.

28

Zur „Entblößung des Verfahrens“ als dem zentralen Motor der V-Poetik im Formalismus vgl. Hansen-Löve, Formalismus, S. 197–201.

29

Vgl. dazu Hansen-Löve, Formalismus, S. 238–259.

30

Roman Jakobson, „Über den Realismus in der Kunst“ [1921], in: Striedter (Hg.), Texte der russischen Formalisten I, S. 372–391.

31

Für Schmid, Elemente der Narratologie, S. 242–247, wäre das dann die „Präsentation der Erzählung“.

32

Hansen-Löve, „Entfaltung, Realisierung“, in: Glossarium der russischen Avantgarde, hg. v. Aleksander Flaker, Graz u. Wien: Verlag Droschl 1989, S. 188–211.

33

Zu spieltheoretischen Aspekten der Kunst und Literatur vgl. Hansen-Löve, „Kunst/Spiele. Einiges zum literarischen Ludismus“, in: Spiel und Ernst. Formen – Poetiken – Zuschreibungen, hg. v. Dirk Kretschmar u. a., Würzburg: Ergon 2014, S. 243–270, hier S. 250 f.

34

Viktor Šklovskij, „Literatur ohne Sujet“, in: ders., Theorie der Prosa, S. 163–185.

35

Für den späten Formalismus seit Mitte der 20er Jahre ist die Aktualität und das ‚Zeitgenössische‘ (sovremennost’) der zentrale Motor des ästhetisch-künstlerischen Prozesses (vgl. Hansen-Löve, Formalismus, S. 399–401). Er ersetzt den ‚planwirtschaftlichen‘ literarischen ‚Auftrag‘ (zakaz), der für die linke Avantgarde (auch für Majakovskij) den gesellschaftspolitischen wie ideologischen Beweggrund darstellte (vgl. Hansen-Löve, Formalismus, S. 404–406).

36

Ausführlich zur Position der Formalisten im Rahmen des Genre-Systems der 20er Jahre vgl. Hansen-Löve, Formalismus, S. 510–570. Letztlich war auch der unten diskutierte Iprit-Roman Škovskijs bzw. Ivanovs ein Mischgenre.

37

Hansen-Löve, Formalismus, S. 381–386. Zum literaturnyj byt vgl. auch S. 397–409.

38

Hansen-Löve, Formalismus, S. 414–420 (Herv. i. O.). Zur ,literarischen vs. ,biographischen Persönlichkeit‘ des Autors vgl. den maßgeblichen Beitrag von Boris Tomaševskij, „Literatura i biografija“ [1923], deutsch: „Literatur und Biographie“, in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hg. v. Fotis Jannidis, Matías Martínez u. Simone Winko, Stuttgart: Reclam 2000, S. 49–61.

39

Boris Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München: Hanser 1992, S 55–62.

40

Jurij Tynjanov, „Das literarische Faktum“ [1924], in: Striedter (Hg.), Texte der russischen Formalisten I, S. 393–431, hier S. 399.

41

Es ist ja kein Zufall, dass gerade Šklovskij in jenen Jahren eine ganze Reihe von Broschüren zur Technologie des Schreibens von Romanen, Drehbüchern oder Journalartikeln verfasst hat. All das diente ja der Idee, dass Kunst und Literatur lehrbar seien – jedenfalls sofern es sich dabei um ein Handwerk handelt, einen bewussten Einsatz von Verfahren und Kunstgriffen, die man trainieren kann wie einen Sport, eine angewandte Rhetorik oder Maschinenbau.

42

Hansen-Löve, „Figuren der Ankunft im russischen Symbolismus um 1900“, in: Ankünfte an der Epochenschwelle um 1900, hg. v. Aage Hansen-Löve, Annegret Heitmann u. Inka Mülder-Bach, München: Wilhelm Fink 2009, S. 109–139.

43

Die Begriffe Semio- und Biosphäre sind zentral für die Kultursemiotik Jurij Lotmans. Vgl. Semiosfera, Sankt Peterburg: Inskusstvo 2000. Eine deutsche Übersetzung erschien unter dem Titel: Die Innenwelt des Denkens, Franfurt/Main: Suhrkamp 2010, S. 163–290.

44

Wassily Kandinsky, „Über die Formfrage“ [1912], in: ders., Essays über Kunst und Künstler, hg. v. Max Bill, Teufen: Verlag Arthur Niggeli und Willy 1955, S. 15–46, hier: S. 25 f. Vgl. auch Werner Hofmann, Grundlagen der modernen Kunst, Stuttgart: Kröner 1978, S. 304 f.

45

Viktor Šklovskij, „Tarzan“, in: Russkij sovremennik 3 (1924), S. 253–254. Für Šklovskij ist das neue Medium des Stummfilms für die Entwicklung von dezidiert sujethaften Narrativen besonders prädestiniert (vgl. Viktor Šklovskij, Literatura i kinematograf, S. 32–33).

46

Karl Marx, „Thesen über Feuerbach“, in, ders.: MEW, Berlin: Dietz 1978, Bd. III, S. 5–7, hier S. 7.

47

Zum antigenerischen Wesen des Formalismus und Strukturalismus vgl. Hansen-Löve, Schwangere Musen – Rebellische Helden. Antigenerisches Schreiben von Sterne zu Dostoevskij, von Flaubert zu Nabokov, Paderborn: Wilhelm Fink 2019, S. 589–603.

48

Eine Kurzfassung des Iprit-Romans erschien zunächst in: Lef 7 (1924/25), S. 70–76; vgl. Hansen-Löve, Formalismus, S. 525–526. Die erste deutsche Monographie zu Iprit stammt von Karin Koller, Viktor Šklovskijs und Vsevolod Ivanovs experimenteller Trivialroman IPRIT, Wien 1992 (Magisterarbeit).

49

Brigitte Obermayr, „Sieben Jahre und noch immer ‚selbstbezogen, revolutionär‘? Revolution und Abenteuerroman in Marietta Šaginjans Mess Mend ili Janki v Petrograde“, in: Revolution und Avantgarde, hg. v. Anke Niederbudde u. Nora Scholz, Berlin: Frank & Timme 2018, S. 261–286. Mariėtta Šaginjan hat auch im Geiste des Formalismus Anfang der 20er Jahre die Fabula-Schwäche der frühsowjetischen Prosa kritisiert. Vgl. Mariėtta Šaginjan, „Fabula“, in: Literaturnyj dnevnik. Stat’i 1921–1923 g.g. (Literarisches Tagebuch. Artikel), Moskau u. Peterburg: Krug 1923, S. 55–62, hier S. 59 f. Zu den „Serapionsbrüdern“ vgl. insb. S. 128–133.

50

Viktor Šklovskij, „Iperit“, in: Lef 3.7 (1925), S. 70–76.

51

„Revolutionäre Romantik“ ist in der russischen Literaturgeschichte die gängige Bezeichnung für „Mitläufer“ (so Leo Trockij in seiner Schrift: Literatur und Revolution [1924], Berlin: Gerhardt 1968, S. 51–98), die keine Bolschewiken waren, sich aber dennoch zum neuen Staat und System bekannten bzw. dieses nicht direkt bekämpften. Sie wurden vor allem in der ersten Hälfte der 20er Jahre „geduldet“ und gedruckt. Vgl. dazu Marc Slonim, Die Sowjetliteratur. Eine Einführung, Stuttgart: Kröner 1972, S. 45–103. Vgl. auch Reinhard Lauer, Geschichte der russischen Literatur. Von 1700 bis zur Gegenwart, München: C. H. Beck 2000, S. 623–633.

52

Vgl. Matthias Schwartz, Expeditionen in andere Welten. Sowjetische Abenteuerliteratur und Science-Fiction von der Oktoberrevolution bis zum Ende der Stalilnzeit, Wien, Köln u. Weimar: Böhlau-Verlag 2014, S. 85.

53

Vgl. die Rezension dieses pikkaresken NEP-Romans von Lev Lunc in: Zaveščanie Carja. Neopublikovannye kinoscenarii. Rasskazy. Stat i Recenzii. Pisma. Nekrologi („Das Testament des Zaren. Unpublizierte Kinoszenarien. Erzählungen. Artikel und Rezensionen. Nekrologe“), München: Verlag Otto Sagner 1983, S. 141–144. Vgl. auch Il’ja Erenburg, Chulio Churenito, Berlin: Gelikon 1922, Moskau u. Petrograd: Gosizdat 1923. Deutsche Übersetzung: Die ungewöhnlichen Abenteuer des Julio Jurenito und seiner Jünger, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976.

54

Klaus-Peter Walter, Die ,Rocambole‘-Romane von Ponson du Terrail: Studien zur Geschichte des französischen Feuilletonromans, Frankfurt/Main: Peter Lang 1986.

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