Die Ordnung der Abenteuer in George R. R. Martins A Song of Ice and Fire

In: Abenteuer
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Jan Söffner
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Dieser Aufsatz,* der – das zur Warnung – mit Spoilern durchsät ist, wurde in einem Moment der teils in Aggressivität umschlagenden Kollektiventtäuschung verfasst, der die Gemeinschaft der Game of Thrones-Fans über das Ende der Serie heimsuchte. Dieser Ärger mag sich bald gelegt haben, aber er bietet guten Anlass für die Frage, was diese Entrüstung über Abenteuernarrative der Gegenwart sagt.

Vieles an der achten Staffel war tatsächlich problematisch. Etlichen Fans missfielen vor allem die Kürze, die Oberflächlichkeit und die Armut an elaborierten Dialogen. Die meisten der entscheidenden Fragen blieben offen oder sie wurden so sporadisch behandelt, dass sie hinterher noch unklarer waren als vorher. Über die Intention, die Hintergründe und die Bedeutung des Night King etwa weiß man auch nach der Serie fast nichts – und vielleicht spricht diese konzeptuelle Schwäche auch dafür, dass die ganze Figur ein eher schwacher Notbehelf und Ersatz für eine in einer Serie nicht darstellbare komplexere Handlung war: George R. R. Martins bislang unvollendete Buchreihe A Song of Ice and Fire kennt bislang keinen Night King; nur einen eher werwolfhaften Night’s King, der aber gänzlich anders eingeführt worden ist.

Erstaunlich war daran aber, dass vor allem unerwartete Wendungen der Handlung vielen Fans unerträglich schienen – denn genau für solche Erwartungsenttäuschungen waren sowohl die HBO-Serie als auch die Buchreihe eigentlich berühmt. Begeistert waren oft dieselben Fans über den frühen Tod Eddard Starks und über die Geschehnisse das „Red Wedding“. Beliebt war auch der Umstand, dass die Figuren oft schlimme oder unerwartet gute Charakterzüge an den Tag legen konnten, die zwar plausibel waren, an die die meisten Rezipienten indes nicht gedacht hatten. Eine Fan-Community, die konstante Erwartungsenttäuschungen schätzt, sollte sich – denkt man – über neuerlich enttäuschte Erwartungen eigentlich nicht so sehr ereifern.

Für die Frage, was die Enttäuschungen der achten Staffel so gravierend machte, spielt vielleicht der Umstand eine Rolle, dass die Fan-Theorien eine große hermeneutische Schärfe im Umgang mit Prophezeiungen an den Tag legten – und dass exakt diese Leistung, die die Fans erbracht hatten, im Angesicht der finalen Staffel ins Leere lief. Zum Beispiel spielte die Frage, wer die von (vor allem) dem roten Priester Thoros of Myr und der roten Priesterin und Magierin Melisandre of Asshai unter den Figuren der Serie gesuchte Erlöserfigur „Azor Ahai come again“ sei, deren Prophezeiung auf entweder Jon Snow oder Daenerys Targaryen (für eingeschworene Minderheiten an Fans auch auf andere, z. B. Jamie Lannister oder Bran Stark) hinzuweisen schien. Nun weiß man: Es gab in der Handlung von Game of Thrones keinen Azor Ahai und es wird auch wahrscheinlich im Song of Ice and Fire keinen geben. Vielmehr ist klar, dass George R. R. Martin auch diese Prophezeiung, wie eigentlich alle anderen zuvor,1 gekonnt eingefädelt hatte, um diejenigen, die sich auf sie verlassen hatten, bloßzustellen – was, denkt man an die meisten faktischen Prophetien, Prognosen und Szenarien auch noch unserer Zeit, zwar einen gewissen Realitätseffekt im Sinne Roland Barthes’ auslöst,2 aber keine große Befriedigung über einen in sich geschlossenen Plot.

Was enttäuscht wurde, war damit zunächst das Fantasy-Erzählungen oft innewohnende Transzendenzversprechen: das Versprechen einer Aufhebung der Zufälle und Widerfahrnisse einer gewöhnlichen Realität in einem Narrativ, d. h. einer wirkmächtigen Grundform des Erzählens, der etliche konkrete Narrationen (Erzählungen) folgen, und die als deren zeitliche Ordnung erwartet oder geradezu appräsentiert wird. In den Diskussionen spielte zudem – was noch wichtiger ist – persönliche Betroffenheit eine große Rolle. Das markanteste Beispiel war, dass eine beachtliche Anzahl von Fans ihre Kinder nach Game of Thrones-Helden benannt hatten – besonders Khaleesi war ein unter Fans beliebter Mädchenname: Er beruhte auf dem von der Stammesgesellschaft der Dothraki an Daenerys Targaryen verliehenen Herrschertitel. Diese Daenerys aber lässt sich in der letzten Staffel zu dem wohl brutalsten Massenmord der an solchen ohnehin nicht gerade armen Serie hinreißen: der Auslöschung der Stadt Kings Landing durch das Feuer ihres Drachen Drogon.

Heldenreise

Das Spiel mit der Enttäuschung zeitigte also offenbar wesentlich größere lebensweltliche Konsequenzen, als man bei einer fiktionalen – zumal der Fantasy-Ästhetik unterliegenden – Serie eigentlich hätte erwarten sollen. Wo Erwartungen von einer Erzählung derart wirksam enttäuscht und gebrochen werden können, und wo man gar auf ihr Hineinragen in die Lebenswelt setzt, muss es ein sehr starkes, ein mythisch zu nennendes Grundnarrativ geben, das hier verletzt wurde: Und dieses enttäuschte Grundnarrativ lässt sich leicht ausmachen. Man erkennt darin das von Martin klug und überraschend zum Clou gemachte Scheitern eines der wirkmächtigsten, und vor allem in der Fantasy-Literatur üblichen Abenteuer-Narrative. Denn was Martin – ähnlich den scheiternden Prophezeiungen – erst aufruft und dann spektakulär enttäuscht, ist die „Heldenreise“ („Hero’s Journey“), d. h. der „Monomythos“, den Joseph Campbell in seinem Werk The Hero with a Thousand Faces (1949) beschrieben hatte.3

Campbell versteht diesen als Narrativ einer (an C. G. Jung angelehnten)4 Individuation, d. h. einer Selbstwerdung eines Helden oder einer Heldin. Diese Selbstwerdung erfolgt als Emanzipation von einem gewöhnlichen und uneigentlichen Alltagsleben, d. h. es geht um die Ausrichtung der eigenen Existenz auf eine höhere Wahrheit hin. Hierin verbirgt sich bereits jene oben erwartete Aufhebung der Kontingenz einer Alltagswelt durch eine Art Fatum der Handlung, eine Narration, die den Zufälligkeiten von einer höheren Ebene her Notwendigkeit oder zumindest Sinn zukommen lässt. Es handelt sich um ein Abenteuernarrativ – aber eines, das narrative Sinnstiftung qua Spannung und Zielgerichtetheit (mit Frank Kermode ließe sich sagen: Sinnstiftung qua „sense of an ending“)5 mit Sinnstiftung qua Transzendierung verbindet.

Dieses Narrativ folgt einem recht einfachen quest-Schema. Einem meist heranwachsenden Helden (oder einer Heldin) eröffnet sich ein die als selbstverständlich geglaubte Welt in Frage stellendes Mysterium. Meist muss er oder sie in das Abenteuer gezwungen werden – und es beginnt die Reise in eine höhere Realität, in der dann ein höheres Ziel verfolgt wird und der Held oder die Heldin sich dabei gegen äußerste Gefahren behaupten und bewähren muss. Zunächst hilft dabei ein Mentor, der aber meistens bald stirbt. Auf sich allein gestellt, besteht der Held oder die Heldin dann die Probe, kehrt in die alte Welt zurück, muss sich dort mit den eigenen Ahnen versöhnen und wird zum Sinnstifter für die Welt, aus der er bzw. sie aufgebrochen ist. Er (oder sie) wird zum Meister beider Welten.

Campbell versuchte dieses Narrativ als überkulturelle Grundstruktur menschlicher Gesellschaften festzulegen; seiner Ansicht nach handelt es sich um einen die Essenz menschlicher Mythen mythologisch zusammentragenden und vereinenden Grundmythos. Das Verfahren, das ihn zu diesen Ergebnissen geführt hatte, war aber derart eklektisch und er selbst derart widerspruchsresistent, dass man seine größte Leistung eher mythographisch zu nennen hat: Er fand den zumindest in der Massenkultur einflussreichsten Mythos des 20. Jahrhunderts weniger in den Menschheitsmythen und in einer angeborenen Tiefenstruktur der menschlichen Seele vor, als dass er ihn mit seinem Werk erst festlegte.

Besonders – aber nicht nur – in der Fantasy-Bewegung wurde Campbells Heldenreise prägend. Von der akademischeren Intellektualität wenig beachtet, konnte die Heldenreise erstaunlich große Teile der Populär-Kultur für sich gewinnen: Dem Monomythos entsprechen etliche Marvel-Superheldennarrative, Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey, die ersten sechs Star Wars-Episoden genauso wie The Matrix, Harry Potter und Indiana Jones. Etliche der für die Enkulturierung von Generationen so entscheidenden Disney-Narrative (gegenwärtig etwa Frozen oder Moana) folgen dem Monomythos. Creative Writing-Schulen zogen nach, arbeiteten also mit der als Grundnarrativ eingeübten Erwartungsappräsentation und trugen zu deren noch größerer Verbreitung bei.

Dass ein Abenteuernarrativ in Zeiten, die sich für aufgeklärt, realistisch und entzaubert hielten, eine solche Wirkmacht erreichen konnte, mag überraschen. Doch Campbell hatte vielleicht ein größeres Gespür für seine eigene Zeit als für die Mythen. So barg seine vage Transzendenztheorie in den ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg das Versprechen, kulturübergreifend und damit pazifizierend zu funktionieren: Es ließ sich darin, in Zeiten der Menschheit bis dato unbekannter Feindseligkeiten und Völkermorde, etwas Verbindendes sehen. In einer Zeit, die sich mit dem kollektivistischen Totalitarismus der Faschisten und Kommunisten auseinanderzusetzen hatte, bot Campbells Theorie zudem eine Form der Individuations-Ideologie, die (zum Beispiel in den ersten sechs Episoden von Star Wars) den Monomythos als individualistisches Narrativ antitotalitaristischer ‚Rebellen‘ erscheinen ließ. Auch passte der Monomythos in seinem Transzendenzversprechen gleichermaßen in eine Zeit der utopischen wie esoterischen Gegenwelten, mit denen die 68er-Generation der kapitalistischen Realität ihrer Zeit begegnete. Und schließlich kann Campbell insofern als Kind seiner Zeit gelten, als seine Berufung zur Transzendenz so vage gehalten war, dass sie sich zumindest oberflächlich genauso mit der von Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir theoretisierten existentialistischen Freiheit paaren ließ wie mit einer gnostischen Eigentlichkeit, die zur selben Zeit von Hans Jonas umrissen wurde. Der Monomythos war unbestimmt genug, um sich mit so gut wie allen populärkulturellen Gattungen zu vereinen – aber präzise genug, um darin als Sinnstiftung qua Bestimmung zur Selbstbestimmung gelten zu können, und damit die philosophisch eher gegensätzlichen Konzepte der Freiheit und des Schicksals im Abenteuer zusammenzuführen: Das Narrativ hatte, um eine Marlboro-Reklame derselben Zeit zu zitieren, den „Geschmack von Freiheit und Abenteuer“.

Daenerys Targaryen, nach der so viele Mädchen benannt wurden, war nun nicht nur eine der Kandidatinnen für die ausgebliebene Azor-Ahai-Prophetie gewesen, sondern auch eine der Figuren, für die genau dieses Narrativ auf die schlimmste und augenfälligste Weise scheiterte. Als – dem eigenen Glauben nach – letzte rechtmäßige Erbin auf den Thron von Westeros nach Essos geflohen, wächst sie auf der Flucht auf. Nach einer mühsamen Emanzipation von ihrem Bruder erkennt sie nicht nur ihre eigene Bestimmung an, das große Erbe der Targaryens anzutreten, sondern glaubt darin auch ein höheres Schicksal zu erkennen, da sie übernatürliche Begabungen an sich entdeckt. Ein klassisches „calling“ (Berufung), d. h. nach Campbell der Eintritt in jene Transzendenz, die Abenteuergeschichte und Individuation vereint, erfolgt, als sie eine Feuerprobe im wörtlichen Sinne besteht und unversehrt einem Scheiterhaufen entsteigt – wo sie im selben Akt drei Drachen aus versteinerten Eiern zum Leben erweckt. Ihre von etlichen Mentoren beförderte Heldenreise führt sie nicht nur durch nahezu das ganze von Martin erfundene Universum der Kulturen von Essos und Westeros, sondern setzt sie auch mit Mächten in Kontakt, die über die Ordnung der gewöhnlichen Welt hinausgehen.

Dass Daenerys nun ihre sich über siebeneinhalb Staffeln und bislang fünftausend Buchseiten erstreckende Heldenreise durch einen einzigen Moment rauschhafter Brutalität zerstört, entspricht genau der Logik derjenigen Wendungen, für die George R. R. Martins Erzählungen so berühmt sind; denn diese lange Vorbereitung scheint eine solche Wendung zu verbieten – aber eben nur in Hinblick auf Campbells narrative Ordnung, nicht in Hinblick auf die tatsächlich beschriebenen Ereignisse. Im Nachhinein scheint jedoch alles sehr plausibel und vor allem erzählerisch klar vorbereitet: Erstaunlich viele von Daenerys scheinbar gerechtfertigten und als Befreiungen gefeierten Taten – etwa die Eroberung der Sklavenstädte Astapor und Mereen sowie in der Serie auch der Mord an den Adeligen in Vaes Dothrak – hatten eine bedenkliche Schattenseite. Sowohl Lord Varys, der dafür als Verräter hingerichtet wird, als auch Tyrion Lannister, dem dieses Schicksal am Ende durch Jon Snows Verrat an Daenerys erspart bleibt, bringen die Kippfigur zwischen Befreiung und Massenmord in der vierten und sechsten Folge der Staffel gut auf den Punkt. Gewissermaßen bringt diese Wendung sogar noch mehr zum Sprechen, nämlich die Spannung der von Martin gegeneinander ausgespielten Erzählformen – einer realistischen, auf charakterliche Stringenz und weltliche Kontingenz setzenden und einer phantastischen, die mit Individuation und Transzendierung des Alltäglichen arbeitet. Hatte Martin am Ende seines ersten, ansonsten vor allem der realistischen Haltung verschriebenen Buches A Game of Thrones die Leser mit Daenerys’ Drachenerweckung vor den Kopf gestoßen, die die Geschichte letztlich doch noch in die Ordnung der Fantasy zu überführen schien, dann liegt mit dem an Hiroshima erinnernden Feuermeer, das just einer der erweckten Drachen auslöst, die gegenteilige Wendung nahe, die die Fantasy-Erzählordnung unerwartet doch noch in eine realistische Logik umschlagen lässt.6

Martin zitiert den Monomythos auch an anderen Stellen oft sehr gekonnt – und lässt ihn dort ebenso scheitern. Leicht ist dies schon daran zu erkennen, dass er notorisch diejenigen Figuren am Leben lässt, die in Monomythos-Erzählungen gestorben wären: Die scheinbaren Nebenfiguren, die gebrochen sind und kein größeres Schicksalspotential mehr erkennen lassen, geschweige denn verfolgen können – Figuren wie Theon Greyjoy, Sandor Clegane, Davos Seaworth oder Catelyn Stark (alias Lady Stoneheart; offenbar erschien Benioff und Weiss dieser letzte Handlungsstrang so wenig publikumskonform, dass sie Catelyn durch einen frühzeitigen Tod erlösten). Unverrichteter Dinge sterben lässt Martin indes genau die klassischen Campbell-Figuren wie Eddard Stark, Robb Stark, Jon Snow (auf dessen vermutlich weniger geradlinige Auferstehung die Buchleser noch warten) oder Podrick Payne (der hingegen in Game of Thrones überlebt – auch das eher ein Zeichen einer Begradigung). Deutlicher noch wird die Brechung des Campbell-Narrativs bei zentralen Figuren, die tatsächlich mit starken Monomythos-Anklängen beginnen, aber mit einer Berufung, die eine dafür ungewöhnlich traumatische Versehrtheit zurücklässt: Wenn etwa Bran Stark tatsächlich in eine höhere Welt eingeführt wird, dort auf Mentoren trifft und am Ende der achten Staffel wirklich beide Welten beherrscht, dann tut er dies aufgrund einer Querschnittslähmung, eines Überfalls auf seine Burg und schließlich aufgrund verborgener Zwänge und Planungen, die jeweils gegen seinen Willen und gegen seine Neigung erfolgten. Wäre er, wie Campbell es verlangt, seinem „bliss“, also seiner als Drang und Bestimmung spürbaren Entrückung in eine höhere Welt gefolgt – und also nicht der Pflicht und dem Zwang, die ihn letztlich retten –, dann wäre seine Reise völlig unmöglich gewesen.

Martin setzt für seine Dekonstruktion der Heldenreise bereits bei der Perspektive ein: bei adeligen Figuren, denen die Welt und die Probleme des „smallfolk“ bestenfalls gleichgültig sind; aus dieser somit ausgeblendeten Schicht hätte die Fantasy-Literatur ansonsten gerade ihre Helden (die typischen Farm-Boys à la Luke Skywalker) rekrutiert. Nicht, dass in gezielt verstörenden Dosen nicht auch die gesellschaftliche Untensicht dargeboten würde. Martin widmet fast ein ganzes seiner fünf Bücher (A Feast for Crows) den katastrophalen Auswirkungen eines letztlich um die Entführung einer Adeligen geführten Krieges, der seinerseits hunderttausende von Vergewaltigungen nichtadeliger Frauen nach sich zieht (übrigens ein deutlicher Verweis auf den Troja-Mythos, der in glorifizierter Form auch für Campbell eine wichtige Rolle spielte). Was in gewöhnlichen Fantasy-Erzählungen Helden mit tausend Gesichtern gewesen wären, erweist sich in diesen Momenten als Haufen von Millionen chancenloser Underdogs, die bloße Spielbälle eines brutalen Geschehens werden. Die Geschichten, die die von Kapitel zu Kapitel wechselnden – (mit Ausnahme der Prologe und des loyalen und damit selbst der Obensicht verpflichteten Wächters Areo Hotah) durchweg adeligen – Perspektivträger vermitteln, sind indes so angelegt, dass der Leser auf subtile Weise dazu gezwungen wird, die sowohl historisch als auch moralisch problematische Obensicht nachzuvollziehen. Gerade diese Obensicht ist in Daenerys’ Auslöschung der Stadt Kings Landing bildlich in Szene gesetzt, fliegt sie doch auf ihrem letzten Drachen Drogon über die Stadt und brennt sie auf eine Weise nieder, die sie selbst die menschlichen Schicksale, die sie ihrem eigenen Schicksal opfert, kaum als solche wahrnehmen lässt. (Auch dies war übrigens in ihrem ersten Drachenflug in einer Arena bereits vorbereitet, der etliche unschuldig verbrannte Zuschauer in der Begeisterung über den Befreiungsakt leicht in Vergessenheit geraten lässt – zu leicht, wie man nun weiß).

Die im Schicksal einer Abenteuerhandlung gebündelte Transzendenz, die die Kontingenz der Realität in einen höheren Sinn aufhebt, ist ein Kernstück der Campbell’schen Theorie der Individuation – besonders da sich menschliche Bestimmung für Campbell, der darin wie Wilhelm Reich ein Vorreiter der New Age-Bewegung ist, emotiv äußert: als Gespür und Drang, als Gefühl zu etwas berufen oder für etwas bestimmt zu sein, mit anderen Worten, als Kopplung der Sehnsucht nach persönlicher Freiheit mit derjenigen nach Abenteuer. Der Glaube an die eigene transzendente Bestimmung ist indes Daenerys’ charakterlich schwächster Punkt. „She’s a girl who walked into a fire with three stones and walked out with three dragons“, sagt Tyrion Lannister in der vierten Folge der achten Staffel: „How could she not believe in destiny?“7 Die Art, wie sich die Tochter des „Mad King“ Aerys allmählich zu einer Städte niederbrennenden „Mad Queen“ entwickelt, ist damit nicht einfach ein Fehlschlag innerhalb einer Heldenreise – sie ist vielmehr auf mehreren Ebenen deren fatale Konsequenz: Daenerys folgt ihrem Bewusstsein nach einfach nur ihrer Bestimmung, ihrem Schicksal und ihrer Neigung. Die Wunde des Monomythos, in die Game of Thrones hier den Finger legt, liegt in jenem Glauben an eine die einfache Existenz überschreitende Bestimmung des Menschen. Und die Empfindung vieler Fans, zu einem Shitstorm berechtigt zu sein, ähnelt damit in seiner Selbstverständlichkeit exakt demjenigen Glauben, der fiktionsintern Daenerys in ihrer eigenen Zerstörungswut beflügelt hatte.

âventiure

Dieser Glaube scheint in der Fantasy-Bewegung besonders stark ausgeprägt zu sein, und das hängt an einer weiteren kulturgeschichtlichen Bedingung, die Campbell in der Nachkriegszeit vorfand. Es war dies auch eine Zeit, in der die kulturelle Moderne, deren mannigfaltige „Entzauberungs“-Bewegung8 sich seit ihrem Beginn gegen Ende des 18. Jahrhunderts immer mit einer ebenso vielgesichtigen romantischen Gegenbewegung auseinandersetzen musste, sich zunehmend von jener ungeliebten Stiefschwester zu emanzipieren glaubte – zumal sie in den späten Ausläufern der Romantik (besonders bei Wagner, im Ästhetizismus und in der Esoterik) eine Mythographie erkannte, die auch für den Faschismus und Nationalsozialismus maßgeblich gewesen war. Campbells Narrativ war indes in der Lage, die losen Fäden der auf diese Weise liegen gelassenen Romantik zusammenzufügen und gewissermaßen im Abseits der offiziellen Kultur fortzuführen. Dafür spielte wiederum eine recht maßgebliche Rolle, dass Tolkien, der mit seinem Lord of the Rings eine Art Gründungsepos der Fantasy-Literatur vorlegte, Campbells Monomythos schon recht exakt vorweggenommen hatte. Dies liegt nun aber wieder nicht daran, dass es sich eben um einen allgemeinen menschlichen Grundmythos handelt, dem Tolkien als Romancier und Campbell als Theoretiker gerecht geworden wären, sondern ist dem Umstand geschuldet, dass sie beide auf ein romantisches Abenteuernarrativ verwiesen waren, das seinerseits mit einer Spannung zweier Welten – einer alltäglichen und einer magischen – arbeitete und darin Freiheit mit Transzendenz in Form eines Abenteuers bündelte. Auch Stevensons Treasure Island oder Conrads Heart of Darkness liegt eine solche Struktur zugrunde. Maßgeblich war für die Wirkmacht dieser Erzählform eine Romantik, die ihrerseits auf ein neu entdecktes Mittelalter zurückgriff. Man sollte auch nicht die philologische Schärfe unterschätzen, mit der von Walter Scott oder auf seine Weise auch von Novalis das Mittelalter in den Blick genommen worden war. Ihr Fokus lag dabei in der Tat auf einem gleichermaßen auf Transzendenz und auf Freiheit hin lesbaren Abenteuernarrativ, das hier nur knapp skizziert sei.

Die Paarung von Freiheit und Abenteuer, auf die Romantik und Fantasy gleichermaßen rekurrieren konnten, stammt aus dem 12. Jahrhundert, jener Zeit, in der kurz zuvor mit der Minne oder genauer dem amor der Troubadours auch die passionierte Liebe als Lebenshaltung etabliert wurde, die die Emotionsgeschichte der kommenden Jahrhunderte stark beeinflussen sollte. Die spätere Geschichte dieser Liebe zeichnete Niklas Luhmann in seinem unerreichten Bändchen Liebe als Passion nach.9 Denis de Rougemont hatte bereits zuvor versucht, an dieser Liebe, ihrer Radikalität und ihrem Zwiespalt mit der verantwortungsvollen ehelichen Nächstenliebe den Grundkonflikt des Abendlandes festzumachen10 – und auch Campbell macht darin seine Theorie des „bliss“ als Berufung an dieser Liebe fest. Letzterer allerdings fußt – mehr noch – auf genau jener neuen Figuration des Abenteuers, die die zweite, vielleicht sogar wichtigere kulturelle Weichenstellung ausmacht.

Selbstverständlich waren die Begriffe, Konzepte und Praktiken der Kopplung von Freiheit und Abenteuer schwer vergleichbar – auf den Begriff der licentia und der adventura werde ich zu sprechen kommen. Doch ist – gerade in Hinblick auf Game of Thrones und auf A Song of Ice and Fire ein Aspekt an der höfischen Kultur entscheidend, nämlich dass diese eine Kultur extremer „deep plays“ war,11 eine Kultur, die im öffentlichen Raum notorisch mit dem Feuer spielte. Die Troubadour-Liebe überhöhte meist die Ehefrau des jeweiligen Lehnsherren – war aber damit immer auch auf ein latent ehebrecherisches Begehren angelegt, das im höfischen Kontext immer auch Spannungspotential haben und Sänger-Mut erfordern musste. Ähnlich waren Turniere (vor allem der ältere Buhurt, später auch der Tjost) nicht allein für die Beteiligten gefährlich, sondern auch für die Repräsentation und Ausübung von Herrschaft. Sie konnten immer in offene Gewalt und tiefe Feindschaften umschlagen; zudem wurden dort die kompetitiven Tugenden der Ritter auf eine Weise ausgespielt und in Szene gesetzt, die nicht nur die Legitimität der Herrschaft der Kaste festigte, sondern potentiell immer auch die Legitimität der jeweils Unterlegenen zumindest spielerisch in Frage stellen konnte. Der Risikosuche und damit dem Abenteuer eignete somit eine politische Dimension, die allerdings auf einer zweiten Ebene stattfand: einer Ebene, der einerseits eine gewisse Eigentlichkeit (im Beweis wahrer ritterlicher virtus, die im politischen Alltag unsichtbar blieb), andererseits aber auch die Uneigentlichkeit einer bloß spielerischen Ausnahme zukam.

Diese im Song of Ice and Fire in diversen Turnieren und Festen nachvollzogenen und klug in ihrem politischen Risikopotential durchleuchteten „deep plays“ waren zwar sicherlich keine Vorläufer demokratischer Kritik an den Herrschenden, wohl aber ein internes Korrektiv und eine Hinterfragung der je Herrschenden durch die höfische Kultur selbst. Es basiert auf einer Art bewusster Aufs-Spiel-Setzung, die es meines Erachtens wahrscheinlich macht, dass auch das Abenteuer-Narrativ, das in diesem Kontext entstand, kaum zu überschätzende emotions-, haltungs- und handlungsgeschichtliche Folgen gezeitigt hat; vielleicht sogar größere als die höfische Liebe. Und ähnlich wie diese führte das Abenteuer in eine Übersteigerung und damit in die Nähe der Transzendenz; es entfaltete sich einerseits auf einer weltlichen, kontingenten und profanen Ebene – und andererseits einer solchen der Risiko-Übersteigerung in Richtung des Fatum und des Wunderbaren, was das Abenteuer ebenfalls in die Nähe der Transzendenz rückte.

Die begriffsgeschichtliche Herkunft des Wortes Abenteuer bzw. italienisch avventura, französisch aventure, oder Englisch adventure weist darauf hin, dass die Helden der höfischen Romane einen Ausritt ins Ungewisse bestehen müssen, der auf erstaunlich ähnliche Weise doppelt kodiert ist. Sich der Kontingenz auszusetzen, ist der Kerngedanke dieses Begriffs, denn das Ungewisse war mittellateinisch die adventura – das von alleine Kommende, die Zukunft, woraus dann im Altfranzösischen die auenture oder eingemittelhochdeutscht die âventiure geworden war: der Zufall, das Glück oder die Ungewissheit, die Kontingenz, in damaligen lateinischen Worten die fortuna. Diese ist im mittelalterlichen Wissenssystem nicht ohne einen Gegenbegriff zu denken, nämlich den der providentia, der christlichen Vorsehung. Im theologischen Diskurs waren Zufall, Glück und Ungewissheit – die Kontingenz also – durch den Sündenfall entstanden. Gott hatte die fortuna als Statthalterin der eigentlichen Vorsehung über die gefallene Welt eingesetzt – während letztere im Verborgenen in Form seiner allwissenden Voraussicht, Notwendigkeit, Gerechtigkeit und Gewissheit am Werk war. Âventiure war daher ein Ausreiten in die Welt der Kontingenz, in der man sein Glück und in diesem Glück schließlich auch die Bestimmung anzutreffen hatte. Dabei war auch der Zwiespalt von fortuna und providentia, von Zufall und Vorsehung nicht derselbe wie in der zeitgenössischen Theologie. Ritter, die ins Ungewisse ausritten, trafen keine göttliche Wahrheit an, sondern eine unzivilisierte Natur voller Wunder und Bewährung – eine Welt, die von Wesen bewohnt war, von denen man ansonsten nur gehört, die man aber nie gesehen hatte: Riesen, Zwergen, Löwen und Heiden.

Dass auch die Freiheit für diese Transzendenz eine Rolle spielte, war ebenfalls im höfischen Roman angelegt, wo die Freiheit und Pflicht zum Ausritt Bedingung der Möglichkeit des Abenteuers war; denn um in die Gegenwelt des Zufalls und der Bestimmung aufbrechen zu dürfen, mussten die Helden aus den Pflichten der Zivilisation entbunden werden. Die Helden brauchten für den âventiure-Ausritt die Erlaubnis, die licentia ihres Lehnsherren – mittelhochdeutsch den urloup. Die licentia war also noch nicht das, was heute der Urlaub wäre – er war vielmehr eine Freiheit auf Zeit, die ein Entbunden-Sein aus den Herrscherpflichten bedeutete, zugleich aber für die eigene Bewährung genutzt werden musste: eine Bewährung, die innerhalb der höfischen Welt nur spielerisch (im Turnier und nach den riskanten Spielregeln der höfischen Liebe) möglich gewesen wäre.

Damit kennt die âventiure-Erzählung zwei Arten der Kontingenzbewältigung. Einerseits die gesittete politische Verwaltung einer gefallenen Welt durch ihre Machthaber, die als solche eine gute und gottgewollte Ordnung inmitten der dem Zufall anheimgefallenen Welt etablierten – Macht war insofern legitim, als sie Zufallsbändigung bewirkte. Andererseits stand auch der gegenteilige Weg offen, nämlich das ungehemmte Sich-Einlassen auf den radikalen Zufall der nicht gesitteten, im Wald und in Märchenwelten anzutreffenden gefallenen Welt, d. h. es gab den Weg der âventiure als Zufallsübersteigerung. Die Wahrheit lag – und auch hier verhalten sich höfischer und theologischer Diskurs auf völlig uneinige Weise letztlich doch parallel – nicht in der Alltäglichkeit, sie lag nicht in der Macht des Hofes, seiner Verwaltung, seiner Staatlichkeit, sondern in dessen Transzendierung. Bloß war dies nicht eine Transzendierung ins christliche Jenseits, sondern eine Transzendierung ins Abenteuer.

Das ‚bessere Wissen‘ der realen Welt war damit – anders als bei Campbell – durch die transzendente Welt nicht einfach abgeschafft; vielmehr konnte man auch hier schon die Perspektiven gegeneinander ausspielen. Die Gegenwelten konnten etwa absurd dargestellt werden – umgekehrt ließ sich über oft erstaunlich dumm und naiv gekennzeichnete Helden (wie zum Beispiel Wolframs von Eschenbach Parzival) gut lachen, ohne dass die Geschichte damit in reine Phantastik oder Parodie des Adelsstandes aufgelöst worden wäre, vielmehr konnten die Helden in der anderen Logik der Erzählung weiterhin wirkliche Helden bleiben.

Für diesen Aufsatz ist die umgekehrte Anordnung der Inkongruenz spannender: Denn Helden, die sich auf einer an Campbell erinnernden Reise befanden, konnten auch in der höfischen Epik das höfische System empfindlich stören und sogar in den Untergang führen. Ausbuchstabiert ist dies, lange vor dem Song of Ice and Fire, ebenfalls in einem „Lied“ genannten Erzähltext, nämlich dem Nibelungenlied. Dieses führt den Abenteurer-Ritter Sîvrit (oder Siegfried), der auf der Suche nach seinem Fatum ist, in einen komplexen und etwas weniger idealisierten Hof ein, dessen Gleichgewicht fortan nicht mehr hergestellt werden kann. Kriemhilt (Kriemhild) wird auf eine Weise zur Vollstreckerin des Unheils, die durchaus schon insofern auf Daenerys hinweisen könnte, als auch sie eine rechtmäßige Königin gewesen ist, die um ihr Ansehen und ihren Mann gebracht wurde; auch sie findet zunächst im Osten, in einer anderen Kultur ein neues und gutes Leben, dessen besänftigende Kraft ihrer Rachsucht aber nicht gewachsen ist. Das Nibelungenlied erzählt diese Geschichte zudem unter Rückgriff auf nordische Untergangsmythen, die auch einen entscheidenden Hintergrund für Martin bilden12: Die Spannung zwischen Abenteuer-Reise und Ragnarök liegt beiden Werken ebenso zugrunde wie diejenige zwischen realistisch geschilderter Macht und dem letztendlich ins Verderben führenden Glauben an ein Schicksal.

Was die Romantiker in dieser Abenteuer-Tradition der zwei Welten und der zwei mit einander unverrechenbaren Formen der Kontingenz fanden, war eine Alternative zur im neuzeitlichen Roman dominanten Weltsicht, die mit nur noch einer Welt, nur noch einer Form der Kontingenz und damit ohne Transzendenznarrativ, also ohne Bestimmung auskommt. Um Georg Lukács’ Theorie des Romans auf diese Fragestellung hin zu perspektivieren, entstand damit eine Unvereinbarkeit von Leben und Wesen, die also solche zum Thema des Romans wurde,13 bis in Form der Entdecker- oder Seefahrerromantik und vor allem eben des Campbell-Narrativs eine Ambivalenz zweier aufeinander bezogener Welten, des Alltags und des ihn übersteigenden, eigentlicheren Abenteuers wieder möglich wurde.

Trauma

Damit zurück zu Game of Thrones, oder genauer: zum Song of Ice and Fire als einer Erzählung, die der neuzeitlichen und realistischen Romantradition genauso viel verdankt wie der phantastischen – oder, um es auf ein Wortspiel zu bringen: Tolstoij genauso viel wie Tolkien. Martin steht in der größeren romantischen Erzähltradition, die, wie gesagt, ebenfalls vor allem insofern die mittelalterliche Poetik neu aufgriff, als sie nach neuen Formen suchte, die innere Spannung zwischen einer entzauberten Realität und einer sie transzendierenden Abenteuerbewegung zum Sprechen zu bringen. Das lässt schon die Räumlichkeit erkennen, die für keine der vermeintlichen Heldenreisen eine Überschreitung einer uneigentlichen Realität in eine eigentliche Abenteuerwelt zulässt (wie sie etwa bei den Harry Potter-Romanen in prototypischer Form gilt, aber auch in der höfischen Epik durch den Übergang in die Welt des Abenteuers markiert war). Zunächst einmal spielt die dem Hadrianswall, dem Limes und der Chinesischen Mauer nachempfundene Eismauer im Norden von Westeros eine große Rolle, die eine zunächst eher realistische und mit wenig Übersinnlichem versehene Welt der Zivilisation von einem Norden der Abenteuer trennt. Eine von den Grenzen her bestimmte Territorialität ist eher eine der Neuzeit mit ihrer Entdecker- oder Erobererromantik als eine der mittelalterlichen Welt, deren Territorien von den Zentren her bestimmt sind. Innerhalb des zivilisierten Gebietes zählen bei Martin zwar, wie im Mittelalter, Burgen mehr als Grenzen – aber auch das eher in Anklang an die Neuzeit: Martin führt Landkarten in seine Welt ein und damit einen Blick auf die bekannte Welt, der die Abenteuer an die Stellen der weißen Flecken verlagert.

Um zum anderen, heißesten Azor-Ahai-Kandidaten und dessen vermeintlicher Heldenreise zu kommen, beginnt Jon Snows Abenteuer entsprechend mit einer Überschreitung der Grenze in den Norden. Schnell stellt sich allerdings heraus, dass sich der Realismus der Beschreibung auch auf die Menschen jenseits der Mauer anwenden lässt, so dass man von einem Schritt in die Transzendenz kaum sprechen kann. Zudem stellt sich die zivilisierte Alltagswelt als mehr und mehr von der Magie der Transzendenz infiziert dar, die sich allerdings einmal mehr als enttäuschend und traumatisch erweist. Jons Rückkehr aus dem Norden hat ihn zwar Riesen und fremden Kulturen begegnen lassen – diese erweisen sich aber als normale Menschen, und für die Rückkehr muss er außerdem seine große Liebe Ygritte opfern. Er kehrt nicht weise und als Herr über zwei Welten zurück, sondern nur gemartert und lediglich um das Wissen reicher, dass die eine Welt auch von Wildlings bevölkert ist, die als ebenbürtige Menschen anzuerkennen ihm unter den eigenen Kameraden eine extreme Feindschaft einbringt: eine Feindschaft, die ihn schließlich auch das Leben kostet. Kurz: Die Trennung zweier Welten funktioniert von Anfang an nicht – und damit auch kein Schritt in die Transzendenz oder ein solcher zurück in eine feindliche und dennoch weiterhin banale Alltagswelt. Die von der Grenze bestimmte Räumlichkeit ist also eine täuschende, nämlich in eine falsche Transzendenz führende Räumlichkeit.

Die ohne Gegenüberstellung von Welt der Realität und Welt der Transzendenz ausgetragene innere Spannung verschärft Martin durch eine systematische Enttäuschung der Individuations- und Transzendenzerwartung, d. h. durch eine mutwillige Abkehr von Campbells Heldenreise. Diese löst die Spannung zwischen Kontingenz und Transzendenz – anders als die mittelalterlichen Romane – recht eindeutig in Richtung der letzteren auf, indem sie das Unbestimmte und Kontingente nur der Alltagswelt zuschreibt. Martin inszeniert eine bewusst über die Länge der Romane ergebnisoffen gehaltene Spannung zwischen einer Fantasy-Handlung mit Drachen, Untoten, Wargs, Riesen, und Fabeltieren und einer extrem detaillierten und psychologisch versierten realistischen Erzählweise, die man in einem historischen Roman erwarten würde; und das heißt auch: zwischen einer mit Campbell verrechenbaren Erzählweise und einer Neuerfindung der Fantasy als einer Gattung, die wieder in der Lage ist, eine Spannung zwischen Fantasy und Realismus, zwischen Transzendenzerwartung und immanenter Kontingenzproblematik in ihrem Inneren radikal auszutragen. Insofern ist auch die beschriebene Erwartungsenttäuschung kein Fehler, sondern Kern seines Erzählprojekts.

Einer der entscheidenden Kniffe für das Funktionieren dieser Demontage des Campbell-Narrativs ist, dass Martins Erzählung – wie bereits das Nibelungenlied – nicht allein auf persönliche Bewährung hin angelegt ist, sondern den Wust der vermeintlichen Heldenreisen zugleich um eine allgemeine Bedrohung kreisen lässt – mit anderen Worten: Es geht nicht nur um Individuation, sondern auch um ein mit dieser inkompatibles Kollektivgeschehen. Die Kontingenz bleibt bei Martin daher dominant – und so galt das von der Fangemeinde eigentlich immer wieder gefeierte Moment, dass bei Martin keiner der Protagonisten vor dem frühen Tod sicher ist, unerwartet auch für den Night King und seine Armee (was in der Staffel in etwa den Effekt auslöste, als wäre in einem Bond-Film der Bösewicht nach zwanzig Minuten erledigt). Im Ausbleiben der apokalyptischen Vergemeinschaftung lag die erste große Fan-Enttäuschung, denn das Heer der Untoten, das den kommenden Winter genauso sehr verkörperte wie die Referenz auf eine Götterdämmerung, die ihre tiefbraune Färbung wohl nie mehr wird abstreifen können, war damit keine Referenz mehr: Die Transzendenzerwartung wurde nicht von der Individuation auf ein Kollektivschicksal und auch nicht auf ein Schicksalsbündnis oder gar eine Schicksalsgemeinschaft verlagert.

Wurde Game of Thrones mit den beiden Enttäuschungen – derjenigen über Daenerys’ Heldenreise zum Genozid und derjenigen über den frühen Tod des Night King – damit zu einer postheroischen Erzählung im Sinne Herfried Münklers,14 die Heldentum sowohl in Form der Campbell’schen Individualisierung als auch in Form einer schicksalhaften Kollektivierung scheitern lässt? Das wäre zu einfach – und auch das zeigt ein Blick auf die zitierten Heldenreisen. Die Helden bleiben vielmehr insofern Helden, als sie die kontingenten Unbilden, denen sie ausgesetzt sind, trotz ausbleibender Transzendenz durchaus persönlich auf sich nehmen. Martin lässt, um diese Heldenhaftigkeit zu ermöglichen, eine andere Größe an die Stelle der Transzendenz treten, nämlich das Trauma, dem sich seine Helden zu stellen haben. Gerade Jon Snow ist hier ein gutes Beispiel: Im Moment seines Todes (und in den Büchern ist er noch nicht wiedererweckt worden) erschließt sich ihm kaum etwas anderes als eine unaufhebbare Verletzung, die sich auch nach seiner Wiedererweckung in der siebten und achten Staffel von Game of Thrones kaum bessern wird.

Jon ist aber bei weitem nicht der einzige Held, für den Campbell’sches „calling“ und Trauma zusammenfallen. Der gebrochene Bran Stark, die von ihren Träumen an ihren schlimmsten Feind verratene Sansa Stark, der verkrüppelte Tyrion Lannister, der um seinen Verstand gefolterte Theon Greyjoy, der seine Söhne umsonst opfernde Davos Seaworth, der seine Hand einbüßende Jamie Lannister – sie alle geraten auf ihre vermeintliche Heldenreise entweder durch eine Berufung, die sich als traumatisch herausstellt, oder durch ein Trauma, das durch keine individuierende Transzendenz übersteigert, überwunden und sublimiert wird – aber gerade deshalb eine Helden-Existenz ermöglicht: eine Existenz als Figur, die die eigenen Täuschungen und die Beschränktheit der eigenen Realität erkennen gelernt und sich einer anderen, größeren, weniger von Schicksals- und Berufungsglauben getrübten Wirklichkeit geöffnet hat.

Dafür, dass diese Heldinnen und Helden weiterhin Abenteuer-Heroen sind, spricht der Umstand, dass sie trotz ihrer Traumatisierungen weiter in die Handlung verstrickt bleiben und ihre anders als bei Campbell zu verstehende Helden-Reise also weitergeht. Dagegen spricht, dass das Trauma an sich keine Kategorie für Abenteuererzählungen ist. Martin setzt damit Campbells positiver Transzendenzerwartung durch Berufung und höhere Welt eine negative, eine noch schlechtere, aber dafür größere Realität entgegen; eine Realität, die somit für ein uns fremderes, verstörenderes Abenteuer hin geöffnet ist und sich aus dem Scheitern des „calling“ und der Abwesenheit einer Bestimmung und Heilung herleitet. Das Trauma zeigt Martins Figuren eine Realität, die ihnen vorher in einer Art Sartre’scher mauvaise foi versperrt war, zu der sie ausgerechnet von Campbells „bliss“ angeleitet waren: Das Trauma enthebt Sansa Stark ihren zu platten Burgfräuleinträumen, die sie klein und falsch gemacht hätten; es erlöst Jon Snow von seiner Berufung zur Night’s Watch, es öffnet Jamie Lannister auf eine größere Welt der Mitmenschlichkeit hin, es macht Theon Greyjoy zu einem kaputten, aber nicht mehr selbstmitleidigen Charakter – und all das, ohne dass es dafür eine höhere Utopie oder gar transzendente Realität bräuchte. Bleibt eine komplette und allen Sinn zerstörende Gebrochenheit aus, dann droht, wie das Beispiel Daenerys Targaryens zeigt, die Individuation der Heldenreise vielmehr zu entgleiten, weil dann die Verhärtung der Schicksalserwartung als Berechtigung für jede auch noch so problematische Tat herhält.

Eine Öffnung zur Transzendenz qua Trauma ist damit eine Provokation, aber nicht nur der Heldenreise, sondern auch der allzu realistischen Enttäuschungsnarrative eines postheroischen Realismus, der jede Überschreitung der bloßen Immanenz als fatalen Trug zu entlarven glaubt und damit keine andere Freiheit kennt als diejenige der Emanzipation aus ideologischen Zwängen. Damit ist das postheroische Narrativ aber gekennzeichnet von einem Manko, das seltsamerweise Campbells Heldenreise in einer Hinsicht ähnelt, die von Martin überboten wird: Beide kennen Freiheit nur als Emanzipation, als Befreiung der Individuen aus gesellschaftlichen Zwängen. Als Figuren, die die gewöhnliche (täuschende) Realität überschreiten und damit zu einer Freiheit der Taten und Entscheidungen finden, scheinen Martins Figuren trotz ihrer Negativität indes wesentlich freier konzipiert und damit den mittelalterlichen Helden, die Freiheit stattdessen als Freiheit zur Entscheidung und zur Tat kennen, in einer entscheidenden Hinsicht näher zu sein: Abenteuer und Freiheit bedingen sich bei ihm gegenseitig, und diese Bedingung tritt gerade in einem Verzicht auf Emanzipationsnarrative zutage – denn nur so ist das Handeln dieser Helden in genau jener Welt verortet, in der es lebensweltliche Konsequenzen zeitigt und mit voller Reife zur Verantwortlichkeit einhergeht, die als Antwort auf Campbells eher adoleszentes Narrativ zu verstehen ist.

Ob dieser Heroismus glaubhaft wird und ob sich daraus eine neue, für traumatische Erfahrungen offene Abenteuer-Romantik gewinnen lässt, kann zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Aufsatzes kaum gesagt werden. Im Rahmen der Serie, die diese Helden am Ende zu schnell, zu oberflächlich, unterkomplex und hektisch in Szene gesetzt hat, kommt dieser Versuch nicht scharf genug auf den Punkt – und insofern war auch die Fan-Enttäuschung gerechtfertigt. Inwiefern Martin in den Büchern mehr gelingen wird, bleibt offen.

1

Ausgeführt habe ich dies bereits in meinem Buch Nachdenken über Game of Thrones – George R. R. Martins ‚A Song of Ice and Fire‘, Paderborn: Wilhelm Fink 2017; Tyrion Lannister bringt diesen Umstand prägnanter auf den Punkt: „Prophecy is like a half-trained mule“, argumentiert er. „It looks as though it might be useful, but the moment you trust in it, it kicks you in the head.“ (George R. R. Martin: A Dance with Dragons, Kapitel 40 [Tyrion], in: ders., A Song of Ice and Fire, New York: Bantam Books Mass Market Edition 2011, Bd. 5, S. 586).

2

Roland Barthes, „L’effet de réel“, in: Communications 11 (1968), S. 84–89.

3

Vgl. die Neuausgabe: Joseph Campbell, The Hero with a Thousand Faces, New York: New World Library 2008.

4

Vgl. etwa Carl Gustav Jung, Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten [1928], Zweiter Teil: Die Individuation, Ostfildern: Patmos 2019, S. 67–150.

5

Frank Kermode, The Sense of an Ending. Studies in the Theory of Fiction, Oxford: Oxford University Press 1967.

6

Von Martin selbst wurde das Verfahren der Gewöhnung einer fantasy-fernen Leserschaft an seine Romane folgendermaßen beschrieben: „You put a crab in hot water, he’ll jump right out. But you put him in cold water, and you gradually heat it up – the hot water is fantasy and magic, and the crab is the audience“ (Interview von Dave Itzkoff, New York Times, 1. April 2011. https://artsbeat.blogs.nytimes.com/2011/04/01/his-beautiful-dark-twisted-fantasy-george-r-r-martin-talks-game-of-thrones/ [abgerufen am 15. Juni 2019]).

7

Staffel 8, Folge 4: „The Last of the Starks“.

8

Vgl. Max Weber, „Wissenschaft als Beruf“ [1919], in: ders., Schriften, Stuttgart: Kröner 2002, S. 474–511.

9

Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1982.

10

Denis de Rougemont, L’amour et l’occident, Paris: Plon 1939.

11

Vgl. Clifford Geerts, „Deep Play: Notes on the Balinese Cockfight“, in: Deadalus 134.4 (2005), S. 56–86.

12

Zu Referenzen auf die nordische Mythologie vgl. Carolyne Larrington, Winter Is Coming. The Medieval World of Game of Thrones, London: Tauris 2016.

13

Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik [1916], Bielefeld: Aisthesis 2009. Der Schritt in diese Wirklichkeitspoetik manifestiert sich in Struktur und Thematik am klarsten in Cervantes’ Don Quijote, der das Erzählmuster des Ritterromans als ein inkongruentes Aufeinanderprallen von Realität und Erleben modelliert. Der Freiraum von der Alltäglichkeit, der urloup und die âventiure, sind hier in den Wahnsinn verlagert: den Wahnsinn des Titelhelden, der darin besteht, Ritterromane als faktische Wirklichkeit zu begreifen, und die reale Wirklichkeit als Ritterroman zu verklären – und der alltägliche Wahnsinn der konstruierten und vermeintlich zu sicheren, absurden Realität, die dieser Held wiederum umgekehrt herausfordert. Die Realität beginnt hier als jene entzauberte Welt zu dominieren, in der die Alltagshermeneutik über das Abenteuer herrscht und letzteres an die Unfähigkeit gebunden wird, Fiktion als solche zu erkennen. Cervantes erfindet, dieser Lesart gemäß, den modernen Roman als Spannung zwischen Erzählung und Faktenwelt, zwischen gesellschaftlich konstruierter Wirklichkeit und einer Abenteuerhandlung, die darin eigentlich keinen Ort mehr hat.

14

Vgl. Herfried Münkler, Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21 Jahrhundert, Berlin: Rowohlt 2015.

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