Der vorliegende Sammelband vereint Beiträge, die den Begriff der Verantwortung in seiner Aktualität reflektieren.
Historisch gesehen ist der Begriff der Verantwortung zuerst in der Rechtswissenschaft systematisch verwendet worden. Verantwortung bedeutet dort, einem Richter antworten zu müssen. Diese wörtliche Beziehung ist auch im Englischen sichtbar: responsibility leitet sich von to respond ab. Darin spiegelt sich die in der griechischen Antike gewonnene Überzeugung wider, dass der Mensch für sein Handeln Rechenschaft ablegen und Gründe angeben können muss. Diese ursprüngliche Bedeutung sollte uns vor einem Missverständnis schützen: Verantwortung ist nicht notwendig mit ethischen Aspekten verbunden. Die Rechtfertigung einer Handlung kann auch im Falle schlimmer Folgen durchaus gelingen, womit jemand nachweisen kann, dass er seiner Verantwortung gerecht geworden ist. Man kann z.B. für einen Unfall verantwortlich sein, ohne deshalb ein schlechter Mensch sein zu müssen.
Die moderne Verwendung des Begriffs der Verantwortung hat sich von der rein juristischen gelöst. Dabei kam es zu einer Auffächerung in unterschiedliche Verwendungsweisen, die den Begriff schwer fassbar machen. Besonders deutlich wird das daran, dass sich einerseits die individuelle Verantwortung auch auf Taten anderer erstrecken kann, und dass andererseits neben die individuelle Verantwortung Formen kollektiver und institutioneller Verantwortung treten. So soll beispielsweise Karl der Große gewusst haben, dass er als Kaiser vor Gott für die Sünden seiner Untergebenen verantwortlich ist. Auch Otto Hahn hat eine persönliche Verantwortung für die Atombombenabwürfe auf Hiroschima und Nagasaki empfunden. David Hilbert konnte die Universität Göttingen institutionell für das Fehlverhalten von Studenten verantwortlich machen. Und nach dem erste Weltkrieg wurde mit der Kriegsschuldfrage Verantwortung auf ein nationales Niveau gehoben. Damit erlangte der Begriff überhaupt erst seine Breitenwirkung in der politischen und gesellschaftlichen Debatte. Pragmatischer ist dagegen Verantwortung in Abläufen technischer Fertigung festgelegt, bei denen mit Hilfe von Entwicklungsstufen, z.B. in Form von Technology Readiness Levels, u.a. im Flugzeugbau Verantwortung delegiert wird und erst ab einer Stufe einsetzt, auf der einerseits die sicherheitsrelevanten Prüfungen zu erfolgen haben, andererseits die wesentliche kommerzielle Nutzungsmöglichkeit beginnt. Diese Beispiele illustrieren, wie unterschiedlich der Begriff der Verantwortung heute gebraucht wird. Dabei stellt sich natürlich die Frage, ob immer das Gleiche gemeint ist und ob sich trotz vielfältiger Verwendung einheitliche Strukturen von Verantwortung finden lassen.
In diesem Buch werden wir keine systematische Begriffsdefinition versuchen; im Gegenteil, es ist unser Anliegen aus unterschiedlichen Perspektiven heraus, ein Verständnis für die verschiedenen Facetten des Begriffs von Verantwortung zu entwickeln. Dabei haben wir die Beiträge in drei Gruppen eingeteilt:
-
Historisch-systematische Begriffsbestimmung
-
Verantwortungsbegriffe im gesellschaftlichen Kontext
-
Verantwortung in der Wissenschaft
Im ersten Teil gibt Ottfried Höffe zuerst eine allgemeine Begriffsbestimmung, die neben einem geschichtlichen Abriss den Wandel von Verantwortung zu einem ethischen Leitbegriff skizziert und ihre Bedeutung als Verfassungsbegriff herausstellt.
Wenn man den Verantwortungsbegriff in den Rechtswissenschaften verankert, die in ihrer modernen Form erst von den Römern begründet wurden, darf man aber natürlich nicht annehmen, dass z.B. die alten Griechen noch kein Konzept von Verantwortung gekannt hätten. Klaus Corcilius beschreibt in seinem Beitrag wie sich unser Begriff von Verantwortung in unterschiedlicher Ausprägung bei Platon und Aristoteles nachweisen lässt, wobei sich ein Spannungsfeld bei der konzeptionellen Ausgestaltung der dem Menschen eigenen Selbstbestimmung des Handelns ergibt.
Regina Ammicht Quinn stellt in ihrem Beitrag dar, wie sich der Verantwortungsbegriff erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus dem rein juristischen Rahmen löst und sich dann im 20. Jahrhunderts mit aller Gewalt Eingang in die Ethik bahnte, wo er heute auch in die tagespolitische Debatte nicht mehr wegzudenken ist.
Schließlich behandelt Ulrich Hemel die Verantwortung in der digitalen Welt. Dabei werden die aktuellen Herausforderungen aufgezeigt, denen sich die Gesellschaft im Angesicht des digitalen Wandels stellen muss, gerade auch im Hinblick auf die Frage nach Verantwortung. Hemel fordert insbesondere eine intensivere öffentliche Diskussion über die ethischen und sozialen Auswirkungen gegenwärtiger Forschung zu Künstlicher Intelligenz. Dabei formuliert er als entscheidendes Kriterium die jeweils neu zu stellende Frage, ob eine Anwendung Künstlicher Intelligenz »Menschlichkeit fördert oder eher hemmt«.
Im zweiten Teil wird die Bedeutung des Phänomens der Verantwortung im Rückgriff auf das Werk und Wirken bedeutender Denkerinnen und Denker kritisch diskutiert. Den Anfang macht Gotlind Ulshöfer, die die Aktualität des Verantwortungsverständnisses bei Max Weber herausstellt. Von Weber stammt nicht nur die berühmt gewordene Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik, er fordert auch, dass verantwortliches Handeln auf die Folgen dieses Handelns zu achten habe, sich Verantwortung also nicht allein auf Handlungsabsichten beziehen dürfe. Ulshöfer argumentiert dafür, dass Webers Verantwortungsethik im Zeitalter der Digitalisierung entformalisiert werden müsse und stellt mit Bonhoeffer Ansätze eines normativen Verantwortungsbegriffs vor.
Der Beitrag von Antonia Grunenberg behandelt die aktuelle politische Verantwortung eines jeden Einzelnen und kann dabei zentral auf das Vermächtnis von Hannah Arendt zurückgreifen. Grunenberg folgt Arendt in ihrer Kritik an dem von Jaspers stammenden Begriff der Kollektivschuld und macht deutlich, dass sich Verantwortung weder kollektivieren noch delegieren lässt. Stattdessen steht jeder Einzelne für das ein, was im Namen aller getan wurde.
Niels Weidtmann entwickelt einen phänomenologischen Zugriff auf Verantwortung und bringt Habermas, Lévinas und Arendt miteinander ins Gespräch. Er zeigt, dass Verantwortung situiert ist und sich deshalb nicht auf allgemeine Gründe berufen kann. Stattdessen sind die Gründe in jeder Situation neu zu finden. Das aber geht nur, wenn sich der Handelnde selbst in einer Weise auf die Situation einlässt, dass er sich in ihr neu gewinnt. Weidtmann bringt diesen Gedanken mit Arendts Wort von der »Gebürtlichkeit« zusammen.
Francesca Vidal betont die Bedeutung der Verantwortung für die Philosophie der Hoffnung bei Ernst Bloch. Es kann nicht verwundern, dass dessen Prinzip Hoffnung Hans Jones zum Prinzip Verantwortung führte, wobei der zugrundeliegende Nexus seine Aktualität bis heute bewahrt hat.
Den Beginn des letzten Teils bildet der Beitrag von Michael Drieschner, der die bewegte Geschichte von Carl Friedrich von Weizsäcker nachzeichnet. Nicht zuletzt seine Beteiligung am Atomprogramm des Dritten Reiches – auch wenn dieses nicht bis zu einer Planung einer Atombombe vordrang – bewog ihn in der Nachkriegszeit, die Verantwortung des Wissenschaftlers für den Weltfrieden, besonders vor dem Hintergrund der bestehenden nuklearen Bedrohung, in das gesellschaftliche Bewusstsein zu rufen.
Eine begriffliche Klärung einer wissenschaftlichen Verantwortung wird von Paul Hoyningen-Huene geleistet, wobei sowohl der berufliche als auch der gesellschaftliche Kontext hervorgehoben wird.
Für die Frage nach einer spezifischen Verantwortung in den theoretischen Wissenschaften diskutiert Reinhard Kahle das Beispiel einer möglichen Entdeckung eines schnellen Faktorisierungsalgorithmus, der das weltweite Bankensystem kompromittieren würde.
Als Abschluss dieses Buches gibt Klaus Mainzer eine kurze Einführung in das aktuelle Forschungsgebiet der Künstlichen Intelligenz und diskutiert die damit einhergehenden grundlagentheoretischen Herausforderungen, die eine besondere Verantwortung nach sich ziehen, um dem Menschen weiterhin eine angemessene Rolle in einer mehr oder weniger automatisierten Welt zuzugestehen.
Dieser Band geht weitgehend auf eine Ringvorlesung zum Thema Verantwortung zurück, die von den Herausgebern im Wintersemester 2019/20 an der Universität Tübingen veranstaltet wurde. Der Vortrag von Jürgen Mittelstraß konnte aus organisatorischen Gründen leider nicht in diesen Band aufgenommen werden und wird an anderer Stelle veröffentlicht. Dagegen konnte der einführende Beitrag von Otfried Höffe hier zusätzlich aufgenommen werden.
Wir danken allen Sprechern und Teilnehmern dieser Veranstaltung für die anregenden Vorträge und Diskussionen, die ihren Niederschlag in der vorliegenden Veröffentlichung gefunden haben. Dem Studium Generale der Universität Tübingen danken wir für die organisatorische und finanzielle Unterstützung der Veranstaltung und dieser Publikation. Ein besonderer Dank geht auch an den Mentis Verlag und Herrn Kienecker für Aufnahme dieses Bandes und die gute Betreuung bei der Fertigstellung.
Reinhard Kahle Tübingen
Niels Weidtmann Juni 2021