1. Von der Notationskunde zur Theorie musikalischer Schrift1
„Alles ist Schrift“, dieser Satz Wolfgang Rihms aus dem Jahr 19902 scheint in der jüngeren Musikwissenschaft eine erkenntnisleitende und diskursprägende Wirkung zu entfalten.3 Die Verschiebung von der historischen Notationsforschung zur Frage der Schrift für die Musik verbindet sich mit einem stärker theoretisch ausgerichteten Erkenntnisinteresse, das eine mehrfache Öffnung der Fragestellungen impliziert. Diese geht über eine reine Gegenstandserweiterung hinaus, wie sie etwa im Österreichischen Musiklexikon verzeichnet ist:
Mit der Einbeziehung außereuropäischer Musik-Notationen, der neuen Erkenntnisse der Physiologie und Psychologie des Hörens (Musikpsychologie) sowie der Informationstheorie wurden in den letzten Jahrzehnten die Kenntnisse der Notation von Musik von einer ‚Notationskunde‘ zu einer umfassenden Musik-Graphik erweitert, die eine systematische Erforschung und Klassifizierung aller Schriftsysteme und des verwendeten Zeichenmaterials (Worte, Silben, Buchstaben, Ziffern, Neumen, Notenzeichen) zum Ziel hat.4
Mit der Frage nach dem Verhältnis von Musik und Schrift5 tritt die Musikwissenschaft, nachdem sie wegen ihrer stark spezialisierten Fachsprache lange Zeit eine vergleichsweise hermetische Disziplin war, in den Austausch mit der jüngeren kulturwissenschaftlichen Forschung anderer Fächer. Und zugleich öffnen sich mit der Reformulierung der Notation als ‚musikalische Schrift‘ Begriff und Horizont der Notenschrift. Als Komplement einer ephemeren akustischen Kunst, deren Klänge in Zeit und Raum ertönen und verhallen, eignet der Notenschrift immer schon eine ungewöhnlich komplexe Struktur, zumal sie vielfältige Funktionen erfüllt: als Medium der Musikerfindung oder -gestaltung, der Kommunikation zwischen Komponisten und ausführenden Musikern und als Gedächtnis und Archiv musikalischer Kulturen. Dabei trifft die Aufzeichnung von Musik auf ein fundamentales Unbehagen, das die Geschichte der Notenschrift wie ein Cantus firmus begleitet: von der Klage über die Unvereinbarkeit zwischen der Schrift und der Notation „eines rein akustischen, nicht bedeutungstragenden Klanges“, die Matteo Nanni von Isidor von Sevilla referiert6 über die These einer fundamentalen Unzulänglichkeit der Notenschrift, die Susana Zapke von Arnold Schönberg zitiert,7 bis zu Adornos Diagnose einer Entfremdung der Musik durch Notation.8 Zudem unterliegt die Notenschrift, selbst wenn man nur ihre europäische Entwicklung von antiken Tonzeichen und Siglen über die Neumen und Mensuralnotation bis zur neuzeitlichen Takt-Notation und deren vielfältige Erweiterungen im Blick hat,9 starken historischen Veränderungen, die mit dem Wandel von Musikarten und Kompositionsstilen korrespondieren – während sie doch zugleich immer auch auf die Frühgeschichte der Schrift zurückverweist, als Zahlen und Buchstaben noch ungetrennt waren.10 Da mithilfe der Notenschrift Beziehungen zwischen Werten (von Intervallen, Tonhöhen, -längen etc.) angeschrieben werden, hat sie per se einen diagrammatischen Charakter im Sinne von Charles Peirce, dem „graphischen Denker“11, der das Diagramm gleichsam als abstraktes Denkbild beschreibt: „a diagram composed principally of spots and of lines connecting certain spots“.12 Damit unterscheidet die musikalische Notation sich vom sprachlich-textuellen Aufschreibesystem, das seinerseits nach dem „Auszug der Zahlen aus dem alphanumerischen Code“13 – in ihm fungieren Buchstaben zugleich als Sprachzeichen und Zahlenwert – und nach der Standardisierung der alphabetischen Schrift relativ konstant geblieben ist.
Aus der Betrachtung der musikalischen Notation als Schrift folgt vor allem eine Befragung ihrer Bestimmung als Medium der Übersetzung zwischen noch-nicht-erklungener Musik und real-hörbarer Musik, zumal dies eine doppelte Übersetzungsproblematik einschließt: zum einen die Übersetzung musikalischer Ideen in Notenschrift und zum anderen deren Übertragung in Klänge von Stimmen und Instrumenten. Da die Notenschrift, zumindest im Deutschen, bereits den Namen einer Schrift trägt, ist mit einem Wechsel der Bezeichnung – von ‚Sprache der Musik‘ zu ‚musikalischer Schrift‘ – noch nichts getan. Es geht, präziser formuliert, also um den Paradigmenwechsel von einer als Symbolsystem verstandenen Musiksprache zur schrifttheoretischen Betrachtung musikalischer Notationen. Dabei kommt es allerdings vor allem auf das spezifische Konzept von Schrift und Sprache an, mit dem man operiert.
Wenn mit der schrifttheoretischen Wende die Rolle der Notation als Medium befragt wird, geht es um deren Mittelbarkeit und Mitteilbarkeit, d.h. um ihren Status als Mittel und um ihre Kommunikationsfunktion. Das entspricht eben jenen Merkmalen, die Walter Benjamin als Charakteristika einer Sprache benennt, die als System von Zeichen konzipiert ist. In Abwandlung von Benjamins Satz „Das Wort soll etwas mitteilen (außer sich selbst)“14 hieße das, die Aussage, „die Notation soll etwas mitteilen (außer sich selbst)“ zu untersuchen. Denn, wie Benjamin ebenfalls betont, geht Sprache nicht in der Zeichenfunktion auf. „Es ist nämlich Sprache in jedem Falle nicht allein Mitteilung des Mitteilbaren, sondern zugleich Symbol des Nicht-Mitteilbaren.“15 Genau dieses Benjamin’sche Sprachverständnis liegt auch Adornos These von der Sprachähnlichkeit der Musik zugrunde, die er in seinem „Fragment über Musik und Sprache“ (1956) formuliert. Seinem Eingangssatz „Musik ist sprachähnlich“ folgt kurz darauf nämlich folgende sprachtheoretische Präzisierung: „Sie bildet kein System von Zeichen“, weswegen die Sprache der Musik von der „meinenden Sprache“ abgesetzt wird: „Was sie [die Musik, S.W.] sagt, ist als Erscheinendes bestimmt zugleich und verborgen.“16 Diese Charakterisierung dessen, was in und mit Musik in Erscheinung tritt, als bestimmt und verborgen zu gleicher Zeit, verweist auf denselben Zusammenhang, den auch Jacques Derrida in De la grammatologie (1967) unter dem Titel der Schrift erörtert – dort allerdings ergänzt um den Hinweis, diese Betrachtungsweise setze „einen modifizierten Schriftbegriff voraus“.17 Genau dieser modifizierte Schriftbegriff scheint in besonderer Weise für die Fragen musikalischer Schrift geeignet, insbesondere im Hinblick auf dasjenige, was dem Zeichen- und Kommunikationscharakter von Notationen vorausgeht und was über diesen hinausweist.
2. Derridas De la grammatologie und die Frage musikalischer Schrift
Bereits das Interesse an einer Aufwertung der Notation – sei es in der Absicht, die Grenzen eines konventionellen Zeichensystems aufzubrechen oder zu überschreiten, sei es um die nachgeordnete Stellung der Notation im Verhältnis zu den erdachten Klangfiguren des Komponisten, im Blick auf „die besondere Bedeutung der Schrift innerhalb kreativer Prozesse“, zu hinterfragen und als spezifische Denkform zu untersuchen18 – korrespondiert mit Derridas Zurückweisung einer sekundären Stellung der Schrift gegenüber der gesprochenen Sprache in der modernen Linguistik. Insofern ist es für die jüngere musiktheoretische Diskussion naheliegend, sich auf Derridas Schrifttheorie zu beziehen. Allerdings kann es dabei nicht so sehr um die Kritik am Phonologozentrismus des abendländischen Sprachbegriffs gehen, welche die Wirkungsgeschichte der Grammatologie über einen langen Zeitraum dominiert hat, da diese Lesart im Effekt zu einer langjährigen Marginalisierung von Stimme und Akustischem in den Kulturwissenschaften geführt hat.19 Zudem ist im Fahrwasser dieser Rezeption weitgehend übersehen worden, welch zentrale Rolle die Musik in Derridas dekonstruktiver Lektüre von Rousseaus Schriften spielt, und zwar im zweiten Teil der Grammatologie, der in der Wirkungsgeschichte des Buches ohnehin eine eher marginale Rolle spielt. In diesem sehr viel umfangreicheren Teil von Derridas Buch wird die Auseinandersetzung mit dem Schriftbegriff von Linguistik und positivistischer Schriftgeschichte im ersten Theorie-Teil mit der philosophiegeschichtlichen Genese dieses Konzepts unterfüttert. Doch ähnlich wie im Falle der Bildtheorie, für die sich weniger Derridas explizite Aussagen zum Bild als geeigneter Ausgangpunkt für den Entwurf einer Grammatologie der Bilder erwiesen haben20, geht es hier nicht vordergründig um seine expliziten Aussagen zur Musik. Da aber seine dekonstruktive Lektüre von Rousseaus Erzählung über die Entstehung der Musik Derridas Schrifttheorie zugrunde liegt, soll sie im Blick auf die Fragen musikalischer Schrift erörtert werden (s. u. Abschnitt 7).
Ausgangpunkt dafür aber ist seine grundlegende Befragung der These arbiträrer Zeichen, der linguistischen Annahme einer willkürlichen, unmotivierten Vereinbarung (institutions immotivées) konventioneller Zeichen also, die in der Opposition von Natur und Institution, zwischen physis und nomos gründe.21 Von hier aus gilt es, die Heterogenität zwischen Hörbarem und Sichtbarem, zwischen Klang und Schrift neu zu denken, und zwar jenseits der Arbitraritäts-Annahme. Im Zentrum stehen dabei Derridas Konzept der Spur bzw. sein Theorem der différance, ein ökonomischer Begriff, der „die Produktion des Differierens im doppelten Sinne des Wortes [différer – aufschieben / (voneinander) verschieden sein]“ bezeichnet.22 Mit der différance führt Derrida ein prozessurales Konzept ein, das den Vorgang des Differierens, die Hervorbringung von Differenz in der Dimension der Zeit denkt, und setzt dies mit dem Begriff der Spur gleich:
Ohne in der minimalen Einheit der zeitlichen Erfahrung festgehalten zu werden, ohne eine Spur, die das Andere als Anderes im Gleichen festhält, könnte keine Differenz ihre Arbeit verrichten und kein Sinn in Erscheinung treten. Es geht hier nicht um eine bereits konstituierte Differenz, sondern, vor aller inhaltlichen Bestimmung, um eine reine Bewegung, welche die Differenz hervorbringt. Die (reine) Spur ist die différance. Sie ist von keiner sinnlich wahrnehmbaren, hörbaren oder sichtbaren, lautlichen oder graphischen Fülle abhängig, sondern ist im Gegenteil deren Bedingung.23
Als Theorem für die Bedingung inhaltlich bestimmter lautlicher und graphischer Erscheinungen, unabhängig von der spezifischen Materialität, bietet sich Derridas Konzept somit auch an, um die Rolle der Notation im Prozess der Genese von Musik zu untersuchen, die Beziehung zwischen musikalischer Idee, Notation und hörbarer Musik.
Es sind vor allem seine Überlegungen zur Spur und zur supplementären Ökonomie der Schrift, die anschlussfähig sind für die Theorie musikalischer Schrift; insbesondere seine Ausführungen zur ‚unmotivierten Spur‘ und zur Möglichkeit der trace instituée (übersetzt als vereinbarte Spur) sind geeignet, die Frage nach den Beziehungen zwischen dem Unerhörten der Musik, der Notation und den musikalischen Klängen zu erörtern: „Es gilt die Spur vor dem Seienden zu denken. Aber die Bewegung der Spur ist notwendig verborgen, sie entsteht als Verbergung ihrer selbst. Wenn das Andere als solches sich ankündigt, gegenwärtigt es sich in der Verstellung [dissimilation] seiner selbst.“24 Das bedeutet, dass die vorgängige Spur im Moment der Aufzeichnung, d.h. im Moment ihres In-Erscheinung-Tretens, in der Schrift aufgehoben und dadurch verborgen wird: die Schrift als Materialisierung, Gestaltwerdung und Verbergung der an-akustischen, unsichtbaren, unhörbaren Spur, – also auch der virtuellen Musik. Der grammatologische Imperativ Derridas, die Spur vor dem Seienden zu denken, eröffnet für die Musik damit die Frage nach dem An-Akustischen und nach den Spuren, die jeder materiellen musikalischen Gestalt vorausgehen, der aufgezeichneten wie der gespielten Musik. Diese Frage betrifft zum einen das Verhältnis von Kompositionsarbeit und Niederschrift, zum anderen das Verhältnis zwischen dem (Un-)Eindeutigen der Notenschrift und dem Klangereignis.
Dabei trifft die von Derrida thematisierte Gleichzeitigkeit von Entstehung und Verbergung der Spur im Falle der Musik auf eine komplexe Konstellation: aufgrund der Ungleichzeitigkeiten zwischen Komponieren/Gestalten und der Nachträglichkeit des in der Zeit statthabenden akustischen Ereignisses. In dieser Konstellation nimmt die Notation eine Art Schwellenposition ein.
3. Zur musikalischen différance
Da die Notenschrift für eine klangliche Realisierung bzw. Interpretation nicht nur durch andere Personen disponiert ist, sondern auch zu einem späteren Zeitpunkt und an einem anderen Ort, impliziert diese Schrift immer schon Differenz in mehrfachem Sinne. Aufgrund der zeitlichen, räumlichen und personellen Differenz könnte man – in Analogie zu Derridas Konzept der ‚postalischen différance‘ in Die Postkarte – von einer musikalischen différance sprechen. In dem 13 Jahre nach De la grammatologie veröffentlichten Buch La carte postale. De Socrate à Freud et au-delà (1980) entwickelt Derrida am Modell der Postkarte eine Theorie der Sendung, die „weder lesbar noch unlesbar“, die zugleich „offen und radikal unverständlich“ ist.25 Abgeleitet aus der Ähnlichkeit zwischen Philosophenbrief und Liebesbrief, der Ähnlichkeit also zwischen einer Wissens-Esoterik und einer Anspielungssprache, die selbst dem/r Adressaten/in partiell unentzifferbar bleibt, entwirft er hier eine Theorie postalischer différance, die in medienhistorischen und psychoanalytischen Momenten von Übertragung gründet: in der Übertragung verschwiegenen Wissens und der Übertragung von Erregungen und Erinnerungen. Dabei verbinden sich Adressierung, Postierung und Ungewissheit des Empfangs mit dem Zugleich von öffentlicher Zustellung und intimer Sendung. Für die Dechiffrierung dieser Schrift existiert kein eindeutiger Decodierungsschlüssel, denn ihre Kryptierung ist der offenen Übertragung von Geheimnissen, von maskierten, indirekten oder nicht-sagbaren Mitteilungen und von markierten Aussparungen geschuldet. Unter dem Titel des Postalischen ist es unmöglich, die Botschaft vom Aufgeschriebenen zu trennen oder zu extrahieren. Für die musikalische différance hieße das, dass sich das Musik-Stück für die praktizierenden Musiker*innen und Sänger*innen nicht von der Notation ablösen lässt. Diese ist zwar zugleich „Niederschrift und Vorschrift“26, ohne dass jedoch beide Funktionen identisch wären, sind ihnen doch etliche Ungleichzeitigkeiten eingeschrieben.
Derridas theoretische Allegorie der Postkarte erinnert an die unzustellbaren Briefe, von denen Heinrich Heine in der Nordsee-Abteilung der Reisebilder erzählt, in seiner Version der „Geschichte vom fliegenden Holländer, den man im Sturm mit aufgespannten Segeln vorbeifahren sieht, und der zuweilen ein Boot aussetzt, um den begegnenden Schiffern allerlei Briefe mitzugeben, die man nachher nicht zu besorgen weiß, da sie an längst verstorbene Personen adressiert sind.“27 In einer Variante dieser Holländer-Geschichte in Heines Memoiren des Herren von Schnabelewopski werden die Briefe zwar zugestellt, erreichen aber andere als diejenigen, an die sie adressiert waren. Dabei sind Nachträglichkeit und Unzustellbarkeit durch den Zeitindex der Generationenfolge strukturiert, insofern die Adressierung hier in die dritte Generation in Richtung Vergangenheit zurückreicht: „Die Briefe sind immer an Menschen adressiert, die man gar nicht kennt, oder die längst verstorben, so daß zuweilen der späte Enkel einen Liebesbrief in Empfang nimmt, der an seine Urgroßmutter gerichtet ist, die schon seit hundert Jahr im Grabe liegt.“28
Wenn man an die Stelle des Enkels in Heines Geschichte nun den Musiker setzt, der die Notenschrift eines Komponisten liest, der seit langem im Grabe liegt, so befindet auch er sich in der Lage, eine teils kryptische Schrift entziffern zu müssen, um das vor langer Zeit Aufgeschriebene und das darin Eingeschriebene zu dechiffrieren. Und tatsächlich ist es ja die Kunst der Entzifferung alter Partituren, insbesondere der handschriftlichen Partituren von Komponisten, mit der es heutigen Musikern gelingt, scheinbar vertraute, oft gespielte Musikstücke auf vollständig neue Art zu Gehör zu bringen, so wie beispielsweise der Cellist Gavriel Lipkind im Falle von Bachs Suiten für Violoncello. In seinen Ausführungen zu Bachs „musical texture“ spricht Lipkind von einer „cryptic grammar of notation“ und bezeichnet das Schreiben der Notenschrift als ‚Encryption‘: „the ability of ‚encrypting‘ all the virtues of a piece into the time and pitch values.“29 In umgekehrter Perspektive wird eine Äußerung von John Cage aus einer Debatte im Darmstädter Workshop des Komponisten und Musikwissenschaftlers William Y. Elias von 1990 überliefert, nämlich „Notation sei wie das Schreiben eines Briefes an jemanden, den man nicht kenne. Auch bei größter Sorgfalt der Notation müsse man immer auch auf die Sorgfalt des Lesens hoffen.“30 Steht diese Bemerkung, die Dörte Schmidt aus dem Archiv zitiert, bei ihr im Zusammenhang einer Untersuchung von Schreib- und Leseszenen musikalischer Schrift, so verweist sie auch auf das Phänomen musikalischer différance.
In ihrem Aufsatz bespricht sie eine Abbildung aus der ikonographischen Repräsentation der Notenschrift, in der es um das „Verhältnis zwischen Erfinden und Überlieferung“ geht, so Schmidt. Diese Urszene zeige das „mediale Setting“: zur Linken Gregor, den eine Taube auf seiner Schulter als Übermittler eines Heiligen Textes qualifiziert, rechts ein Schreiber, auf dessen Schreibgrund man Neumenzeichen erkennt.31 Die Miniatur aus einem Antiphonar vom Ende des 10. Jahrhunderts, einem der ältesten Zeugnisse der Gregorianik, ähnelt in ihrem Szenario jener Postkarte mit der Darstellung von Plato und Sokrates, die Derrida als Cover für das Buch Carte Postale gewählt hat. Diese stellt gleichsam ein philosophisches Gegenstück zur gregorianischen Schreibszene musikalischer Schrift dar; allerdings steht hier der Diktierende im Rücken des Schreibers. Bei dieser Schreibeszene philosophischer Schrift aus der Antike handelt es sich um das Frontispiz des Wahrsager-Buches Prognostica Socratis basiliei vom Ende des 13. Jahrhunderts.32 Insofern darin Sokrates der Schreibende ist, dem der hinter ihm stehende Plato diktiert, stellt diese Szene zugleich eine Inversion der kanonisierten Urszene der Philosophiegeschichte dar – obwohl der schreibende Sokrates hier den Diktierenden an Größe deutlich überragt und ihm auch die Richtung vorgibt. Da sich in und zwischen diesen beiden Aufschreibeszenen aus Musik- und Philosophiegeschichte mehrfache Inversionen ereignen, stellt sich nicht nur die Frage nach dem Verhältnis von musikalischer und philosophischer Schrift, sondern auch nach der Stellung der Schrift überhaupt, nach ihrer Vor- bzw. Nachrangigkeit: Treten die Zeichen an die Stelle des Diktierten, indem sie ihm auf dem Papier eine Gestalt geben, es fixieren und dabei zugleich substituieren? Oder bilden die Schriftzeichen die Matrix des Diktierten und geben dem (musikalischen) Text die Form vor? Genau dies sind die Fragen, die Derrida erörtert und am Ende der Grammatologie als „Ökonomie der différance oder der Supplementarität“ resümiert.33 Diese Ökonomie gewinnt er aus einer dekonstruktiven Lektüre der abwertenden Bestimmung des Supplements bei Jean-Jacques Rousseau, für den das „Verb ‚suppléer‘ (‚supplementieren, ersetzen, ergänzen, stellvertreten‘) […] den Akt des Schreibens“ definiere.34
Bevor aber Derridas Überlegungen im Hinblick auf die musikalische Schrift weiter erörtert werden, soll der historische Index der schrifttheoretischen Wende im musikwissenschaftlichen Diskurs zur Notation in Erinnerung gerufen werden, um diejenige Problemlage zu skizzieren, aus der heraus die Frage der Notation ins Zentrum der Debatten getreten ist. Zwar begegnet die Formulierung ‚musikalische Schrift‘ für die Notenschrift bereits in historischen Quellen35, doch vermutlich hat die Betrachtung der Notation als Schrift erst mit der Debatte über die Notation Neuer Musik einen erkenntniskritischen Status erhalten. Dabei ist es kein Zufall, dass in denselben Jahren, in denen eine intensive Diskussion über neue Notationen stattfand, Jacques Derrida mit der Ausarbeitung seiner Schrifttheorie befasst war, die er 1967 als De la grammatologie vorlegte. Dass die deutsche Übersetzung erst 1976 erschien, ist symptomatisch für die verspätete Rezeption von Dekonstruktion und Poststrukturalismus in der deutschsprachigen Kultur, die erst nach der 68er Bewegung einsetzte, deren forcierte Politisierung der Künste von einer tendenziellen Indifferenz gegenüber dem Eigensinn künstlerischer Ausdrucksweisen begleitet war.
4. Die zeitgenössische Debatte um freie Notationen – Darmstadt 1964
Derridas grundlegende Revision der Schrifttheorie aber entsprang demselben intellektuell-künstlerischen Impetus wie auch die musiktheoretischen Debatten der Nachkriegszeit: der Absicht, das Korsett tradierter Symbolsysteme und Kunstsprachen abzuwerfen. Der zeitgenössische Diskurs über Notationen steht dabei im Zusammenhang der Musikalischen Avantgarde um 1960, deren Tendenz als „Ablösung der Struktur durch die Textur“36 charakterisiert worden ist, bzw. als „shift from the overriding preoccupation with pitch towards a new concern with texture.“37 Während die entsprechenden theoretischen Debatten in Deutschland in dem relativ geschlossenem Milieu der ‚Neuen Musik‘ stattfanden, bei den Donaueschinger Musiktagen und den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt, waren die Musiker der New York School wie John Cage, Morton Feldman, Earle Brown, David Tudor u. a. Teil einer künstlerischen Avantgarde aus Vertretern verschiedener Künste. Das wird u. a. daran deutlich, dass Earle Browns Aufsatz in den Darmstädter Beiträgen zur Neuen Musik zum Thema Notation Neuer Musik (IX, 1965) nicht nur von Musik handelt, sondern auch über Malerei spricht. Die Darmstädter Beiträge, die mehrere Diskussionsbeiträge aus dem Internationalen Ferienkurs 1964 versammeln, werden von Carl Dahlhaus mit der Feststellung eröffnet, dass „die Vorstellung vom Sinn einer musikalischen Schrift“ in Extreme gespalten sei.38 In den Beiträgen des Heftes, Schauplatz der Ausdifferenzierung verschiedener Positionen und Abgrenzungen untereinander, stand die konventionelle Notation aufgrund zahlreicher neuer, freier graphischer oder auch zeichnerischer Notationen zur Disposition, während umgekehrt die freieren Notationsformen auf ihre Spielbarkeit hin kritisch befragt und von einigen ausführenden Musikern teils prinzipiell infrage gestellt wurden.
Zentraler Gegenstand der Kontroverse in Darmstadt 1964 war die ‚musikalische Graphik‘ – so die damalige Bezeichnung für alle Notationsformen, die die standardisierte Fünf-Linien-Notenschrift überschreiten oder auch gänzlich hinter sich lassen. Diskussionsprägendes Leitmotiv war der Gegensatz zwischen Zeichen und Zeichnung, – dies obwohl sich nicht alle Beiträge von 1964 ausschließlich auf handgefertigte graphische Gebilde beziehen. So verweist etwa György Ligeti auf die Programmiersprache Fortran als Analogie für die Kodierbarkeit traditioneller Notation in Zeit-Frequenz-Amplitude-Diagrammen und bringt u. a. das Beispiel einer in Zahlenreihen ausgeschriebenen Komposition für elektronische Klänge von Gottfried Michael Koenig.39 Und die Überlegung von Earle Brown, „unmittelbar in Zeitrelationen statt in einer metrischen Notation“ zu schreiben,40 verweist auf die Thematisierung von Zeit, Raum und Berechnung, die vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung von Informatik41 und Computernotationen bald in den Vordergrund treten und neue Arten von graph scores (wie z.B. von Iannis Xenakis) und event scores (wie z.B. bei John Cage) hervorbringen sollte.
Doch in Darmstadt 1964 bildeten graphische Notationen den Dreh- und Angelpunkt der Debatte, in der die Situation sehr unterschiedlich analysiert wurde; entsprechend verschieden fallen die Antworten aus. Für Dahlhaus, den Musikwissenschaftler, hat „notierte Musik“ unleugbar den „Charakter eines Imperativs“ und muss sich an Kriterien von Klarheit und Deutlichkeit messen lassen, weshalb er die Lösung von offensichtlich gewordenen Mängeln an der konventionellen Notation in deren Reform erblickt. Musikalische Graphik wird von ihm aufgeteilt in einen Anteil, der Zeichenfunktion erfüllt, und einen „Rest“, den er als „ästhetischen Gegenstand“ bewertet.42 György Ligeti lässt zwar eine musikalische Graphik, die nicht als Zeichensystem funktioniere und seiner Auffassung nach insofern „keine direkte Beziehung zur Musik“ habe, als Darstellung gelten, die „zum Entstehen von Musik“ führen könne, und diskutiert auch Mischformen, plädiert seinerseits aber für ein Entweder–Oder: entweder „totale musikalische Graphik“ mit einem „rein ästhetischen Wert“ oder „totales Zeichensystem“, das einen praktischen Wert besitze.43
Dem engen Begriff von Ästhetik in der Opposition ‚praktischer vs. ästhetischer Wert‘ steht am deutlichsten der Beitrag von Earle Brown entgegen, der die Notations-Frage als Teil eines zeitgenössischen „Bewußtseinsklimas“ diskutiert, in dem der Begriff dessen, was heute Kunst ist, herausgefordert sei, wobei er sich auf Musik, Malerei und Literatur bezieht (u. a. Gertrude Stein, Joyce und Pollock). Und er erweitert den kulturgeschichtlichen Horizont der Kontroverse um die Standardnotation, indem er u. a. auf die „Notation nichtabendländischer Musik“ und auf den Jazz als einer „am ‚Ohr‘ orientierten“, praktisch unnotierbaren Musik verweist. Das Notationsproblem, auf das er selbst 1952 gestoßen sei, habe ihn zur „Entdeckung des ‚graphischen‘ Potentials“ geführt, „um die Probleme der ‚Beweglichkeit‘ und Unmittelbarkeit zu behandeln“44 – jene Art Unmittelbarkeit, für die er die Malerei bewundert und beneidet. Zudem eröffnet die graphische Notation für ihn eine aktive Rolle der Interpreten: „Beweglichkeit der Klangbestandteile innerhalb des Werks und graphische Provokation einer intensiven Mitarbeit des Ausführenden waren für mich die faszinierendsten neuen Möglichkeiten für ‚Klangobjekte‘ analog zur Skulptur und Malerei. Die Notwendigkeit neuer graphischer Darstellungsmittel ist evident.“45
Andere, die wie er die Notwendigkeit zur Generierung neuer Notationen aus der Veränderung der Musik selbst ableiten, widersprechen der Gegenstellung von Zeichen und Zeichnung. So geht Roman Haubenstock-Ramati davon aus, „daß der Kompositionsvorgang, sozusagen das Erfinden von Musik, gleichzeitig die Erfindung einer graphischen Darstellung bedeutet“ – ein Vorgang, den er in einer „Korrelation zwischen Auge, Ohr und Technik: Technik des Spielens und Technik des Komponierens“ verortet.46 Dagegen wird in Mauricio Kagels Version der Generierung neuer Notationen ein Paradox erkennbar, wenn er „determinierte Mehrdeutigkeit in der formalen Artikulation eines Werkes“ anstrebt47, sich aber genötigt sieht, dies mit Mitteln der Eindeutigkeit zu sichern. Im Interesse der Mehrdeutigkeit sei es nötig und möglich, „einige ad hoc erfundene Zeichen hinzuzufügen“. Dann aber berichtet er, wie er durch das Bemühen, für „jedes kompositorische Moment die geeignete Form des Schreibens zu finden und diese Form zu definieren und einzuordnen,“ allmählich gezwungen gewesen sei, „ein umfangreiches System von Zeichen, Symbolen und neuen Notationsverfahren zu entwickeln, um meine Vorstellungen präzis niederschreiben zu können.“48 Das auf diese Weise zustande kommende Paradox kennzeichnet die Konstellation, aus der heraus die neuen Notationen entstanden sind. Was die Musikwissenschaft im Rückblick als „neuralgische Epochenschwelle“49 bewertet, lässt sich in schrifttheoretischer Hinsicht als Grenzsituation fassen: die Notation an der Schwelle zwischen Konvention und „neuen Gebilden“50, zwischen einem verbindlichen Kodierungssystem und freier Interpretation. In ihr stellt die graphische Notation den Grenzfall dar.
Im Anschluss an die Darmstädter Debatte hat Erhard Karkoschka in einer „Bestandsaufnahme“ zum Schriftbild der Neuen Musik (1966) die „neue[n] Notationssymbole“ nach der „Exaktheit der Vorschriften“51 geordnet und in absteigender Stufung systematisch dargestellt: von ‚präzisen‘ Notationen über ‚Rahmennotationen‘, die „innerhalb festgelegter Grenzen Wahlmöglichkeiten lassen“, und ‚hinweisenden‘ Notationen, wozu er die „neuen dynamischen Zeichen“ zählt, die z.B. Hinweise zu Tondauer, -höhe und -intensität für verschiedene Instrumente geben, und schließlich zur ‚musikalischen Graphik‘, deren Aufzeichnungen „Klangassoziationen wecken“ sollen.52 Währen er davon ausgeht, dass von den hinweisenden Aktionszeichen „viele Übergänge zur musikalischen Graphik“ führen53, zieht er zugleich eine deutliche Grenze zwischen den ersten drei und letzterer: „In die drei Bereiche der präzisen Notation, der Rahmennotation und der hinweisenden Notation fällt ein Werk dann, wenn es das übliche Koordinatensystem von Zeit und Raum zur Basis hat, wenn es mehr Zeichen als Zeichnung enthält und von einer zeilenhaften Darstellung ausgeht.“54 Insofern ist auch bei ihm die musikalische Graphik dort situiert, wo der linearistische Schriftbegriff überschritten wird. Damit markiert die graphische Notation auch in Karkoschkas Systematik den Grenzfall musikalischer Schrift.
5. Die graphische Notation als Grenzfall
Die Entstehung freier Notationen seit den 1950er Jahren wird von Nanni als „Tendenz zur Entgrenzung“ gedeutet, die auf die im Laufe des 20. Jahrhunderts verstärkte Überdetermination antwortet, wobei letztere darauf ziele, „sämtliche Parameter so präzise wie möglich zu bestimmen und schriftlich zu fixieren“.55 Da die Texte der Komponisten die „wichtigsten Quellen“ zur Erforschung der veränderten Notationen sind,56 nimmt – aus dem vielgestaltigen Komplex der Notationsumbrüche im 20. Jahrhunderts – die graphische Notation auch in der aktuellen musikwissenschaftlichen Theoriebildung eine paradigmatische Position ein – mit der Folge einer Akzentverschiebung zum Ikonischen bzw. zum Bild. Diese Verschiebung zielt darauf, „den Blick auf das genuin visuelle Moment der Schriftbildlichkeit musikalischer Notation präziser zu schärfen“, so Nanni.57 Da das Feld graphischer Partituren aber äußerst vielfältig ist, hat das bildliche Moment in den einzelnen Notationen eine sehr unterschiedliche Bedeutung.
Julia Schröder z.B. hat graphische oder zeichnerische Partituren im Rückblick systematisch entlang der Dominanz von Zeichen bzw. Bildlichkeit auf einer Skala von ‚graphischen Notationen‘ über ‚musikalische Grafik‘ bis zu ‚Bildpartituren‘ sortiert.58 Bei ersteren treten individuell gestaltete graphische Symbole, die in einer Legende erläutert werden, an die Stelle der eingeführten Zeichen der Standardnotation. Das läuft letztlich auf eine Erweiterung und Individualisierung der Notenschrift hinaus. Allerdings führt die individuelle Einführung eigener Symbole durch Komponisten nicht selten zu einer verstärkten Zeichendeterminierung, – nur dass darin Arbitrarität und Konvention auseinandertreten, während die Symbole für Tonwerte, Tempi, Phrasierungen etc. in der Standardnotierung, die ja bereits den Charakter einer graphischen Schrift hat, konventionalisierte arbiträre Zeichen sind. Bei ‚Bildpartituren‘ dagegen überschreiten die graphischen oder zeichnerischen Gebilde die Zeichenfunktion und verlagern die Interpretation mehr oder weniger auf die ausführenden Musiker*innen.
Den Grenzfall musikalischer Schrift bilden die verschiedenen graphischen Partituren, indem sich in ihnen – abhängig vom Maß der Referenz auf vertraute Zeichen – der Umschlag von Konvention zu mehr oder weniger freier Interpretation ereignet. Letztere kann zu jener „polyvalenten Lesbarkeit“ tendieren, für die Luigi Nonos Formulierung infiniti possibili in seiner Komposition A Carlo Scarpa architetto, ai suoi infiniti possibili (1984) stehen kann, so Susana Zapke.59 Am Beispiel von Anestis Logothetis’ aus zwei Blättern bestehender Partitur Globus für Vermeulenflöte (1978) hat Gesa Finke gezeigt, dass das kreisförmige Gebilde des einen Blattes mithilfe des Titels klangassoziativ gelesen werden kann, während die andere Darstellung, eine „sich serpentinenartig bewegende Intervalllinie“, Tonhöhensymbole nutzt.60 Das bedeutet, dass ein Blatt stärker auf den Ähnlichkeitsaspekt von Bildern rekurriert, das andere stärker auf die Zeichenfunktion der Symbole. Für die Nutzung ikonographischer Figuren zur Stimulierung einer assoziativen Interpretation sind die Partituren von „George Crumb’s meticulously drafted scores“ besonders sinnfällig, da sie „often present Western notation in a symbolic fashion illustrating the work’s programmatic content.“61 In der Partitur von Makrokosmos Vol. II for amplified piano (1973) nutzt er zwar die Standardnotation, löst deren übliche horizontale links-rechts-Richtung aber auf und schreibt sie stattdessen als spiralförmige Gestalt an, die das Bild einer Galaxis assoziiert (Abb. 1.1). Für solche Notationen gilt, dass „the performer’s mind is supposed to be inspired by the graphics through some sort of mental resonance“, so Georg Hajdu.62
George Crumb: Makrokosmos, Volume I (1973), for amplified piano, 12. Spiral Galaxy [SYMBOL] Aquarius, Edition Peters No. 66539a. © Copyright 1973 by C.F. Peters Corporation, New York. With kind permission by C.F. Peters Ltd & Co. KG, Leipzig.
Auch innerhalb einer Komposition kann sich die Bewegung eines solchen Umschlags abspielen, wie das Beispiel von Sylvano Bussottis Partitur Sette Fogli (1959) zeigt, die er selbst als „Erkundungszüge auf grafisch-musikalischem Gebiet“ mit „verschieden weit entwickelten grafischen Experimenten“ vorstellt.63 Während einige der Graphiken die fünf Linien der üblichen Notenschrift nutzen, diese aber frei auf der Fläche anordnen, lösen sich andere vollständig von den konventionellen Symbolen. Und nur dem ersten Blatt ist eine Legende beigefügt, in der die umfangreiche Liste individueller Symbole für die Handhabung von Flöte und Piano ausführlich erläutert wird, während der Komponist in seiner Vorbemerkung mit dem Untertitel Una Collezione Occulta dagegen von seiner Verweigerung einer solchen Kommentierung spricht, die er als „theoretische Entzauberung der eigenen musikalischen Entdeckungen“ bewertet (im italienischen Original „deflorazione teoretica delle proprie scoperte musicali“).64
In der Darmstädter Debatte 1964 wurde die Notation überwiegend als Medium zur Realisierung oder Darstellung musikalischer Ideen diskutiert. So spricht Haubenstock-Ramati zwar von einem „reziproken Verhältnis zwischen der Idee und der langsam sich ausbildenden Niederschrift“, die sich ständig gegenseitig beeinflussen, bemisst die Frage der „bestmöglichen Niederschrift“ aber daran, ob die „ursprüngliche Idee des Werkes musikalisch wahr“ sei.65 In dieser Rede von einer ursprünglichen, wahren musikalischen Idee vor jeder Notation gerät deren Status als eine Art virtueller Musik, die erst in/mit der Niederschrift manifest wird, jedoch aus dem Blick. Dasselbe geschieht mit dem Status der Partitur als virtuellem Klanggebilde, das ja erst durch Stimme und Instrument zum Klangereignis wird, wenn jene Effekte getilgt werden, die das spezifische Notenbild für die Art und Weise akustischer Realisierung produziert. So beispielsweise, wenn der Cellist Siegfried Palm in seinem Beitrag zur Darmstädter Debatte berichtet, dass er „sich das Notenbild spielbar“ mache oder manchmal auch neu schreibe.66 Eine solche Praxis, neue bzw. freie Notationen in ihnen vertraute graphische Symbole zu übertragen, scheint unter Instrumentalisten offenbar nicht selten zu sein. Dörte Schmidt spricht diesbezüglich von einer Rückübersetzung in traditionelle Notenschrift.67 Doch impliziert der Begriff der Rückübersetzung streng genommen, dass der freien oder graphischen Partitur eine konventionelle Notation vorausgegangen sei, dass die musikalische Idee also zunächst mithilfe der standardisierten Symbole aufgezeichnet wurde. In der Kompositionspraxis vieler Musiker scheint aber eher das Umgekehrte üblich zu sein, dass nämlich eine musikalische Idee zunächst skizziert wird, ob zeichnerisch oder in einer anderen Form, um im zweiten Schritt gleichsam ausbuchstabiert und in eine kommunizierbare Notation übertragen zu werden.
6. Notation als Übersetzung ohne Original
Ein herausragendes, sehr spezielles Beispiel dafür sind die zahllosen Zeichnungen von Iannis Xenakis, in denen seine Musik und seine Klanginstallationen zuerst Gestalt gewonnen haben, bevor daraus Kompositionen generiert und in die Form einer musikalischen Notation übertragen wurden. Xenakis, dessen Erfahrungen mit graphischen Entwürfen aus der Architektur während seiner langjährigen Zusammenarbeit mit Le Corbusier stammen, verstand diese Zeichnungen als Entwürfe und Modelle. Dabei griff der Komponist, der das Komponieren an der Schwelle zur elektronischen Musik erneuerte, auf mathematische, stochastische Modelle68 zurück, um Bestimmtheit und Unbestimmtheit, Zeitlosigkeit mit Bewegung zu verbinden, „often by drawing freehand the shape or texture of the sound he was looking for, and then casting about for the mathematical tool that would allow him to fix this shape precisely.“69 Klassisches Beispiel hierfür ist die Komposition Metastaseis (1953/54), die in Donaueschingen 1955 Furore machte:
He began by sketching arcing shapes – ruled parabolas. In this pleasingly mind-blending form, lines at right angles drawn at regular intervals produce a graceful curve at their points of intersection. In this composition he assigned each of forty-six ruled lines to separate string instruments – violin, viola, and so on. […] Every detail was carefully plotted out.70
Da die kurvenförmigen Linien der gezeichneten Studie für Metastaseis mit den gekrümmten paraboloiden Oberflächen des weitgehend von Xenakis entworfenen Philips Pavillon für die Brüsseler Expo 1958 korrespondieren, dessen Bauform die Architektur revolutioniert hat, werden die Streicher-Glissandi von Metastaseis gern als „klingender Bauplan“71 bezeichnet. „Particularly the idea of the continuous line, represented in the buildings structural elements, found its musical equivalent in the glissando.“72 Der Entwurfs-Charakter von Xenakis Zeichnungen als einer ersten musikalischen Schrift in materieller Gestalt, die sowohl der methodischen, gleichsam technischen Kompositionsarbeit als auch der für die ausführenden Musiker bestimmten Notation vorausgeht, verweist einmal mehr auf die prinzipielle Frage nach der Rolle der Schrift im Prozess der Generierung von Musik, nach dem Wie des Writing Music.
Mit der derzeit dominanten Akzentverschiebung zum Bild, Visuellen oder Ikonischen in der Notationstheorie wird diese Frage aber nur zum Teil berührt. Denn die Analyse von Notationen unter dem Gesichtspunkt ihrer ‚Schriftbildlichkeit‘ bezieht sich auf die abgeschlossene Gestaltung der Notation und untersucht deren spezifische graphische Gestalt im Hinblick auf die Interpretation – dies oft im Anschluss an Sybille Krämers Konzept der Schriftbildlichkeit. Darin wird Schrift unter dem „Doppelaspekt von Textur und Textualität“ betrachtet: hier die Fläche mit „einer – zumeist graphische[n] – Notation und mit ihr alles, was zur Materialität, Sinnlichkeit und Handhabbarkeit zählt“, dort „Sinngehalt und Interpretierbarkeit von Schriften“.73 In dieser Perspektive geht es um den Blick ausführender Musiker/innen auf die Partitur. Und auch mit Krämers Adaption von Peirces Konzept der Diagrammatik, das die Operativität der Schrift ins Zentrum stellt, wird primär die Beziehung zwischen Notation und klanglicher Realisierung erörtert. Auf diese Weise fokussiert die musikwissenschaftliche Schrifttheorie derzeit eine Seite des vielfachen Übersetzungsproblems musikalischer Schrift, nämlich diejenige zwischen Partitur und erklingender Musik, weniger aber die Transformation virtueller Musik bzw. einer erst imaginierten Komposition, die noch keine materielle Gestalt gewonnen hat, in musikalische Schrift. Dabei bietet sich, aus dem Blickwinkel der Komposition, im Anschluss an den schrifttheoretischen Begriff der ‚Textur‘ auch eine andere Perspektive an, nämlich die Frage nach dem Verhältnis der Textur zum Begriff der musikalischen texture, wie er in der Theorie der musique informelle benutzt wird.74
Ohnehin ist der Begriff der Übersetzung im Feld der Musik unscharf, da Übersetzung die Übertragung zwischen Sprachen bezeichnet, auch wenn der Begriff jüngst – im Zuge des translational turns75 – zu einem kulturwissenschaftlichen Schlüsselbegriff avanciert ist, der sehr viel weiter gehende Transferprozesse bezeichnet, wie beispielsweise in der Rede von der ‚kulturellen Übersetzung‘. Bei der Frage des Writing Music geht es aber wesentlich auch um den Vorgang der Kompositionsarbeit, in dem an-akustische musikalische Vorstellungen ihre Schrift- oder Sprachform überhaupt erst finden, in dem also musikalische Ideen, virtuelle Musik oder eine latente Komposition erst in und mit ihrer Notation – in welcher Form auch immer, ob in Standardnotenschrift oder als graphisches Gebilde – eine manifeste Gestalt gewinnen. Insofern könnte man die musikalische Schrift aufseiten der Komposition als Übersetzung ohne Original begreifen, – in Anlehnung an die Beschreibung des Verhältnisses von manifestem Traum und latentem Traumgedanken in Sigmund Freuds Traumdeutung (1900): der manifeste Traum als Übertragung eines latenten Traumgedankens mithilfe der Darstellungsmittel der Traumsprache, einer Bilderschrift, die aber, so Freud, nicht nach ihrem Bildwert, sondern nach ihrer Zeichenbeziehung zu lesen sei.76 Denn die sogenannte ursprüngliche musikalische Idee, ein ‚Original‘ vor jeder Aufzeichnung und vor jedem Klang ist nicht sinnlich greifbar und hat keine materielle Gestalt. Vielmehr verlieren sich deren Spuren als gedachtes oder imaginiertes Klangbild im inneren Ohr oder im Kopf des Komponisten – mit Derrida gesprochen, in den Spuren, die dem Seienden vorausgehen. Denn der Begriff der Schrift wird in der Grammatologie umschrieben als „die allen Bezeichnungssystemen gemeinsame Möglichkeit – die Instanz der vereinbarten Spur (trace instituée).“77 Ephemer ist Musik ja erst als Klangereignis; der ephemeren Musik aber geht die virtuelle Musik voraus, die Musik vor jeder Schrift und vor jedem Klang. Die Spur vor dem Seienden zu denken, bedeutet, das Unerhörte der Musik zu denken.
7. Spur und Schrift
Mit seiner Umschreibung einer allen Bezeichnungssystemen gemeinsamen Möglichkeit zur trace instituée entwickelt Derridas Grammatolgie einen umfassenden Begriff der Schrift, der jeglichen Vorgang einschließt, bei dem – in welcher Art von Signifikation auch immer – Bedeutung qua Differenz erzeugt wird, eine Bewegung, die bei ihm den Namen der différance erhält. Diese Art von Signifikation bestehe, so Derrida, noch bevor der Begriff der Schrift „mit der Einkerbung der Gravur, der Zeichnung oder dem Buchstaben, einem Signifikanten also, in Verbindung gebracht wird.“78 Damit geht sein Begriff der Schrift auch hinter die Opposition von Zeichen und Zeichnung zurück. Zwar bildet die Zurückweisung der sekundären, abgeleiteten Stellung der Schrift als Repräsentation, Abbild oder natürliches Symbol der Sprache bei Ferdinand de Saussure79 bzw. als „einfaches Supplement zum gesprochenen Wort“ bei Jean-Jacques Rousseau80, also die Kritik am Phonologozentrismus, den Ausgangspunkt der Grammatologie. Doch das weitergehende Projekt besteht im Entwurf einer umfassenden Theorie der Schrift, die Derrida über eine dekonstruktive Lektüre der Voraussetzungen von Saussures und Rousseaus Konzepten entwickelt. Zu diesen Voraussetzungen gehört die Charakterisierung der Worte als arbiträr, d.h. die Idee einer willkürlichen Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant, was nichts anderes heiße, als dass „in Wirklichkeit keinerlei ‚natürliche Zusammengehörigkeit‘“ existiere. Wobei Derrida hinzufügt, dass der Bruch mit einer natürlichen Zusammengehörigkeit für ihn „viel eher die Frage nach der Idee der Natürlichkeit als nach der der Zusammengehörigkeit“ aufwerfe.81 Genau dies ist die Frage, die ihn zur Auseinandersetzung mit Rousseaus „Gesetz des Naturbegriffs“ führt, in dem er eine kulturgeschichtliche Ableitung der nachgeordneten Stellung der Schrift entdeckt; und genau darin bildet die Frage der Musik ein gewichtiges Argument.
In einer detaillierten, textnahen Lektüre von Rousseaus Essai sur l’origine des langues: où il est traité de la mélodie et de l’imitation musicale (1762), dessen 12. und 19. Kapitel der Musik gewidmet sind, und Rousseaus Encyclopédie-Artikeln zur Musik arbeitet Derrida heraus, auf welche Weise darin die Idee der Natur überhaupt erst aus der Perspektive der Kultur konstituiert wird. Dasselbe gilt für die Idee vom Ursprung, die erst aus der Entfernung von einem vergangenen, vorgestellten Zustand entsteht. „Wir werden sehen“, so Derrida, „dass der ganze Text Rousseaus den Ursprung als Anfang vom Ende […] beschreibt.“82 Für Rousseau steht am Anfang jeder Musik der Gesang; er betrachtet ihn als Imitation der Akzente der leidenschaftlichen und der sprechenden Stimme, womit für ihn am eigentlichen Ursprung der Musik noch unartikulierte Schreie und Wehklagen stehen. Daraus folgt eine positive Beschreibung der Melodie, die vom sprachlichen Akzent geprägte sei, und der Töne, die als Zeichen der Affektionen, d.h. als Ausdruck und Abbild der Gefühle gedeutet werden. Darin sieht Rousseau eine Art natürlichen Zustand der Kunst, der durch die als kalt qualifizierte Berechnung der Intervalle in der Harmonie gestört werde. Somit erscheint die Harmonie, weil sie die Melodie verderbe, als ursprüngliches und zugleich gefährliches Supplement der Melodie. Dazu Derrida: „So fügt sich also das gefährliche Supplement, die Tonleiter oder die Harmonie als das Übel und der Mangel von außen zur glücklichen und unschuldigen Fülle“, für die bei Rousseau die „reine Melodie“ einstehe. Gefährlich sei das Supplement bei Rousseau „als ein Substitut, das schwächt, versklavt, tilgt, trennt und verfälscht“.83 Ähnlich wie auch die Schrift:
Das Werden der Musik, die betrübliche Trennung von Gesang und gesprochenem Wort nimmt die Gestalt der Schrift als ‚gefährliches Supplement‘ an: Berechnung und Grammatikalität, Energieverlust und Substitution. Die Geschichte der Musik verläuft parallel zur Geschichte der Sprache, ihr Unheil ist wesentlich graphischer Natur.84
So Derridas Resümee von Rousseaus Invektive gegen die Schrift auf dem Umweg über die Entstehung der Musik aus Gesang und Melodie. Aus Derridas Verfahren dekonstruktiver Lektüre – deren Methode besteht darin, von innen zu operieren, um die Logik der betreffenden Struktur durchzustreichen,85 – folgt nicht, eine Antithese zu Rousseau und Saussure zu formulieren. Vielmehr nimmt er Rousseaus These von der „absoluten Exteriorität der Schrift“ als „originäres Supplement“ gleichsam beim Wort, um die Alterität der Schrift in eine Ökonomie der differance oder der Supplementarität umzuschreiben: „Dieses Supplement ist, wie man von einem Werkstück sagt, original. / Damit wird man dem Umstand gerecht, daß die absolute Alterität der Schrift dennoch von draußen, in ihrem Innern die lebendige Rede affizieren, sie alterieren kann.“86 Die supplementäre Ökonomie nimmt also in den Blick, auf welche Weise die Schrift, die ihrem Charakter nach auswärtig ist, das nicht-zugängliche Innere alteriert, d.h. wie die materielle Gestalt der Schrift das Vorgängige, Nicht-greifbare formt, gestaltet und dabei verändert. Anders gesagt, wie die Schrift „das Andere als Anderes im Gleichen festhält“, um noch einmal die oben zitierte Umschreibung der Spur zu verwenden, mit der Derrida die Heterogenität im Übersetzungsvorgang zu begreifen sucht – beispielsweise die Heterogentität zwischen musikalischer Idee und Notenschrift wie auch zwischen Notation und ephemerem Klangereignis.
Derrida führt den Begriff der Spur also ein, um die Möglichkeit der Bedeutungskonstitution bzw. der Arbeit der Differenz jenseits der Opposition von arbiträr und natürlich zu denken. Damit ersetzt das dynamische Konzept der Spur die Idee eines Ursprungs, der als absoluter Anfang gedacht ohnehin einen unmöglichen Punkt bezeichnet. Die Spur ist „so wenig natürlich […] wie kulturell, so wenig physisch wie psychisch, so wenig biologisch wie geistig“.87 Aber die Differenz kann, so Derrida, „nicht ohne die Spur (trace) gedacht werden“,88 da die „Differenzen […] Texte, Ketten, und Systeme von Spuren konstituieren. Diese Ketten und diese Systeme können sich nur im Gewebe jener Spur, jenes Abdrucks einzeichnen.“ Und weiter:
Die unerhörte Differenz zwischen dem Erscheinenden und dem Erscheinen […] ist die Bedingung für alle anderen Differenzen, alle anderen Spuren, sie ist selbst schon eine Spur. […] Die Spur ist die différance, in welcher das Erscheinen und die Bedeutung ihren Anfang nehmen.89
Derridas Theorem einer vorgängigen Spur unterscheidet sich radikal vom verbreiteten Verständnis von Spuren als etwas Hinterlassenem, seien es materielle Überreste, ein physischer, ähnlicher Abdruck oder Anzeichen eines vergangenen Ereignisses. Derridas Spur geht vielmehr auf seine Lektüre von Freuds Konzept der Bahnung zurück. In Derridas Vortrag „Freud und der Schauplatz der Schrift“, den er 1966 im zeitlichen Umfeld von De la grammatologie am ‚Institut de Psychoanalyse‘ gehalten hat, geht es u. a. um die Zeitstruktur des Aufschubs von Präsenz und um die Verräumlichung der Schrift: „Aus der Spur wird das Schriftzeichen (gramme) und aus dem Milieu der Bahnung eine chiffrierte Verräumlichung.“90 Mit der Verschiebung des Spurbegriffs von der Ähnlichkeit (des Abdrucks) zur Differenz, vom Hinterlassenen auf das, was dem Sicht- und Hörbaren und jeder semantischen, semiotischen, akustischen oder ikonischen Differenz vorausgeht, ragt die Spur in eine Vorzeit jedes Klangbildes hinein, sowohl des in Notenschrift fixierten wie auch des akustisch realisierten, dorthin, wo sich die Spuren im Immateriellen oder Heterogenen verlieren.
8. Spuren, Linien, Klänge
Im Anschluss an Derrida lässt sich die Frage nach der musikalischen Schrift als Frage nach der Möglichkeit zur trace instituée reformulieren, d.h. nach der Möglichkeit zur Notierbarkeit wie zur Lesbarkeit und zur Manifestation als hörbarer Musik. Es geht dabei vielleicht nicht so sehr um Zeichen vs. Zeichnung, oder lebendiger Sinn vs. Zahl, graphisches Symbol vs. Bild und dergleichen mehr. Im Sinne der supplementären Ökonomie ist die Notenschrift gegenüber der musikalischen Idee in der Position der Exteriorität, kann diese aber dennoch im Innern affizieren bzw. alterieren. Die Notation wäre in diesem Sinne ein originales Artefakt – oder auch eine erste Schrift im Status einer Übersetzung ohne Original –, während die musikalische Idee – was Haubenstock-Ramati als wahre „ursprüngliche Idee des Werkes“ charakterisiert hat91 – am Ort eines unmöglichen Ursprungs zu suchen wäre.
Dabei ist bemerkenswert, dass Derridas Umschreibung der vereinbarten Spur auf den Begriff der Retention (lat. retinere, zurückbehalten) referiert, den Edmund Husserl in seinen Arbeiten zum inneren Zeitbewusstsein am Beispiel des Musikhörens entwickelt, um eine Art Nachhall des vorhergegangenen Tons im darauffolgend Gehörten zu benennen.92 Bei Derrida heißt es: „Die vereinbarte Spur lässt sich ohne den Gedanken an die Retention der Differenz in einer Verweisstruktur nicht denken, in der die Differenz als solche erscheint und damit einen gewissen Spielraum zwischen den erfüllten Termen freigibt.“93 Diese Rede vom Spielraum kann für die Musik wörtlich genommen werden: als Spielraum, der in der Bewegung von der Idee über die Skizze zur notierten Musik und darüber hinaus gewonnen wird. Es gilt also, nach der spezifischen Art der Bewegung von den vorgängigen, nicht-sicht-/hörbaren Spuren virtueller oder latenter Musik über die notierte Spur zur unmotivierten Spur zu fragen, wobei die ‚Unmotiviertheit‘, wie Derrida formuliert „immer schon geworden“ ist. Denn „in Wahrheit“ gäbe es keine unmotivierte Spur, „weder Symbole noch Zeichen, sondern nur ein Zeichen-Werden des Symbols.“94 Das wird am Beispiel der musikalischen Schrift besonders sinnfällig, weil sie den Vorgang der Zeichenwerdung der Notationssymbole oder graphischen Gebilde als Spielraum der Interpretation öffnet, indem sie ihn buchstäblich verräumlicht. Die Frage nach der Bewegung von der gedachten zur materialisierten Spur lässt sich im Falle der graphischen Notation konkretisieren, indem man Rolle und Stellung der Linie in dieser Bewegung betrachtet, denn die Linie, so meine These, ist ein Übergangsmedium im Prozess der Materialisierung und der Bild- und Zeichenwerdung musikalischer Schrift.
In der Geschichte der Künste wird der Linie bzw. dem Zug mit der Hand auf dem Papier – sei es im Renaissance-Konzept des disegno, sei es in Karl Philipp Moritz Essay zur Signatur des Schönen (1788/89) – immer schon eine exklusive Beziehung zur Idee bzw. Konzeption zugeschrieben, mit der Vorstellung einer direkten Verbindung zwischen Idee, Auge und Hand.95 Für die musikalische Schrift muss diese Trias allerdings um das Ohr ergänzt werden. Den Gegensatz zu dieser Tradition bildet das linearistische Konzept von Sprache und Schrift bei Saussure, das Derrida als Verkennung der Verräumlichung der Schrift bewertet. Denn bei Saussure ist die Linie als eindimensionale Ausdehnung von Sprache und Schrift in der Zeit gedacht und die Zeit als „homogener Zeitabschnitt“. Davon hatte sich, so Derrida, bereits Roman Jakobson distanziert, „indem er die Linie durch die Struktur des musikalischen Notensystems, ‚den Akkord in der Musik‘ ersetzt.“96 Dieser Schritt korrespondiert mit der Verräumlichung der Schrift als Horizont für die Arbeit der Differenz bei Derrida:
Verräumlichung (Pause, Leerstelle, Buchstabe, Interpunktion, Intervall im allgemeinen usw.) […] Die Verräumlichung (mit anderen Worten die Artikulation) des Raumes und der Zeit, das Raum-Werden der Zeit und das Zeit-Werden des Raumes.97
Da das Feld der graphischen Notationen generell durch die Dekonstruktion der Standardnotation charakterisiert ist,98 speziell durch die partielle oder vollständige Loslösung von der linearistischen Ausrichtung der fünf Linien als Matrix der Notationssymbole, geht es um die spezifische Stellung der Linie zwischen den Polen von Linearismus und verräumlichter Schrift. Das soll zum Abschluss kurz an einigen jener Notationen erörtert werden, in denen die Linie eine Schwellenposition zwischen Spuren und Notenbild oder Bildnotation einnimmt. Während die Linien in der konventionellen Takt-Notation eine mittelbare Funktion haben, indem sie dem Klangbild buchstäblich den Spielraum vorgeben – als Grundlage, Träger und Maßstab zugleich –, erhalten die Linien in der musikalischen Graphik eine mehr oder weniger eigenständige Funktion. Das reicht von einer Dekonstruktion der konventionalisierten Zeichenfunktion einzelner Komponenten der tradierten Notenschrift bis hin zu einer gleichsam direkten, unmittelbaren Materialisierung der Spur. Im Falle der letzteren folgt die Linie einer ähnlichen Vorstellung wie in Moritz’ Signatur des Schönen (1788/89)99, insofern das Gebilde der musikalischen Einbildungskraft des*r Komponisten*in direkt und ohne Umweg über ein Zeichensystem als Linienfiguration zu Papier gebracht wird. Das graphische Gebilde wird darin zur Signatur einer Klang-/ Stimmbewegung oder aber einer imaginären musikalischen Einheit, – dies nicht selten in einer Art verdichteter Linienkonfiguration, in der Spur und Notenschrift/-bild zusammenzufallen scheinen, womit die Diskontinuität in der supplementären Ökonomie der Schrift in der Gleichzeitigkeit des Bildes aufgehoben werden soll. Zwischen den genannten Polen finden sich etliche Varianten im Umgang mit der Linie:
Entstellung der Notenlinien
Partituren, in denen die fünf Linien der Standardnotation von ihrer eindimensionalen linearistischen Anordnung abweichen und zerbrochen sind, jedoch weiterhin als Matrix der Notenzeichen dienen, bilden gleichsam einen Übergang zwischen Standardnotation und Graphik: eine Art piktographischer Darstellung mit Notenlinien. Sie unterscheiden sich nach Anordnung und Figuration. Neben der oben erwähnten Spirale aus Crumbs Makrokosmos finden sich z.B. gerundete Notenlinien, wie in Stockhausens Refrain für drei Spieler (1961) und in Ladislav Kubkovic Partitur „…“ für Bassklarinette100, oder aber Gebilde aus schräggestellten, ineinander verschachtelten Linien, wie bei Sylvano Bussottis Komposition Siciliano für 12 männliche Stimmen (1962)101 und auf dem Blatt „Mobile-Stabile“ für Gitarre, Gesang und Piano seiner Sette Fogli (1959).
Freisetzung der Linie aus der Trägerfunktion
Andere Partituren Bussottis, die die Dekonstruktion der Standardnotation weiter treiben, sind offensichtlich aus dem Experiment entstanden, die Linie graphisch freizusetzen, indem sie nicht nur aus der gradlinigen Parallelanordnung ausschert, sondern auch mehr oder weniger ihrer Trägerfunktion enthoben ist. Für diesen Fall finden sich verschiedene Varianten, so etwa Graphiken mit zahllosen unegalen Linien, die eine Art Grund bilden, in den Strichformationen eingetragen sind, wie auf dem Blatt „Sensitivo“ für ein einzelnes Streichinstrument aus Sette Fogli oder im dritten der Five Piano Pieces for David Tudor Nr. 3 (1959), wobei die Striche im ersteren Fall Bewegungen des Streichbogens assoziieren und im letzteren die Bearbeitung der Saiten am offenen Flügel. Andere Partituren zeigen graphische Gebilde aus mehr oder weniger gebogenen Linien, mit Bussottis eigenen Symbolen besetzt, wie auf dem Blatt „Lettura di Braibanti“ für Solostimme aus Sette Fogli. Hier ist der Stimmbewegung ein großer Spielraum gelassen, da weder Richtung noch Reihenfolge vorgegeben sind (Abb. 1.2). Im Rahmen seines Begriffsrasters Zeichen vs. Zeichnung hat Ligeti solche Partituren auf die sprechende Wendung gebracht: „Notenlinien werden weitergesponnen zu einer Zeichnung“.102
Sylvano Bussotti, Sette Fogli, „Lettura di Braibanti per Voce solo“ (a H. Pousseur). Copyright 1963 Casa Ricordi S.r.l. Milano, Nr. 134802, ISMN 979-0-041-34802-5. © 1959 Casa Ricordi Srl, a division of UMPG Classics & Screen International Copyright Secured. All Rights Reserved Reprinted by permission of Hal Leonard Europe BV (Italy).
Dialektik im Stillstand
Andere Bildnotationen sind Darstellungen eines musikalischen Bewegungsablaufs, die eher einen choreographischen Charakter haben. So etwa in der Partitur von Tona Scherchen-Hsiao103 Voyage de la Larme (1977) für eine Gesangsstimme, auf der sich gerundete Notenlinien, Tonhöhensymbole und Buchstaben zu einer Figur formen, die an die Gestalt eines Auges erinnert, aus der eine Krokodilträne tropft.104 Der Verlauf der Linien auf der Fläche stellt sich als Signatur der Stimme dar, die in der Zeit zu hören sein wird, während deren Artikulation durch eine Abfolge von Noten und Buchstaben markiert ist, – wobei die Buchstaben sich z.T. zu englisch- oder französischsprachigen Worten oder Sätzen formieren und streckenweise in lautmalerische Buchstabenketten auflösen. Aufgrund der Aufhebung dieser zeitlichen Bewegung in die Gleichzeitigkeit der Fläche lässt sich die Graphik mit Walter Benjamin als Dialektik im Stillstand105 fassen: das dialektische Bild eines gedachten Musikstücks, das als klangliches Ereignis in der Dimension der Zeit akustisch realisiert werden wird.
Am Nullpunkt der Linie
Die vielleicht radikalste Dekonstruktion erfährt die Standardnotation in der Verdichtung und Reduktion auf eine einzige Linie, die als einzigen Wert die Zeitdauer darstellt, unter Verzicht auf weitere Symbole. So in der Proportional Notation von John Cages Komposition 4’ 33” for any instrument or combination of instruments (1952), in deren drei Sätzen kein einziger Ton zu spielen ist. An diesem Beispiel an-akustischer Musik ist bemerkenswert, dass der Entzug von Klang und Noten zu einer enormen Aufwertung der Partituren geführt hat, indem dieses Stück eine Serie verschiedener Partituren hervorgebracht hat: von der verloren gegangenen Partitur und deren Rekonstruktion, die auf Grundlage der Fünflinien-Notation Takt- und Tempoangaben enthält, über Cages handschriftliche proportionale Notation und einige einseitige nicht-graphische Partituren, die lediglich die drei Sätze „tacet“, d.h. Schweigen angeben, bis zum Druck von Cages Original Version in Proportional Notation106. Am Nullpunkt des Klangs erhält die musikalische Schrift ihre eigene Geschichte und mündet in der einfachen – oder auch einsamen – Linie.
Unmittelbarkeit
Andere Partituren lassen sich als Versuch lesen, der Diskontinuität zwischen virtuellem Musikstück und Notation zu begegnen. Besetzt die Linie auf dem Blatt eine Schwellenposition zwischen An-Akustischem und Klangbild, so soll die supplementäre Ökonomie der Schrift damit in der Gleichzeitigkeit des Bildes aufgehoben werden. In Earle Browns oben bereits zitierter Erörterung der Notation von Zeit jenseits der metrischen Notation kommt die Idee einer unmittelbaren Anschreibung von Zeit zum Ausdruck, die Idee, „die Notation unmittelbar auf den Ausführungsprozeß selbst zu beziehen, und zwar im Sinne der Natur von Zeit selber.“107 Zu seiner Partitur 4 Systems kommentiert Brown: „Time is the actual dimension in which music exists when performed and is by nature an infinitely divisible continuum. No metric system or notation based on metrics is able to indicate all of the possible points in the continuum, yet sound may begin or end anywhere along this dimension.“108
Überschreibung der Linien durch Spuren
Besonders interessant sind Luigi Nonos handschriftliche Aufzeichnungen zu seiner Komposition Prometeo. Tragedia dell’ascolto (1984), insofern sowohl Skizzen überliefert sind, die der Partitur vorausgehen, als auch Überschreibungen der Partitur durch die Hand des Komponisten. Einige von Nonos Entwurfs-Zeichnungen skizzieren die Struktur der Komposition mit ihren elf Teilen oder aber die Bewegung der Töne im Raum, eine Art Klang-Choreographie, ähnlich der Tanznotationen (Abb. 1.4) – in Korrespondenz zu den Skizzen des Architekten Renzo Piano, der den Raum der Prometeo-Musik gebaut hat. Daneben gibt es Blätter, in denen die Notenschrift, die sich der eingeführten Liniennotation bedient, mit Spuren einer weiteren Bedeutungsebene überschrieben wurde, die sich wie eine großräumige Phrasierung über die darunter liegende Schrift legt (Abb. 1.5). In dieser Art der Überschreibung wird die Verräumlichung der musikalischen Schrift auf dem Papier erkennbar, die den Spielraum für die Heterogentität zwischen dem An-akustischen gedachter Musik und dem Klangereignis im Raum eröffnet. „Das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken, die Intelligenz, die Exteriorisierung einer äußersten Interiorisierung. Das ist heute das entscheidende“, so Luigi Nono in seinem Kommentar zum Prometeo-Projekt.109
Iannis Xenakis, Pithoprakta (1955), Studie (Kanach / Lovelace (Hg.), Iannis Xenakis, 2010, S. 30).
Luigi Nono, Prometeo. Tragedia dell’ascolto (1984), Zeichnung der Klangbewegungen (Luigi Nono, Verso Prometeo, hg. von Massimo Cacciari, Mailand 1984, S. 43).
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Rihm, Wolfgang: „Auf meinem Schreibtisch“, in: Wolfgang Rihm, ausgesprochen. Schriften und Gespräche, hg. von Ulrich Mosch, Winterthur 1997, Bd. 1, S. 168–171.
Schmid, Manfred Hermann: Notationskunde. Schrift und Komposition 900–1900, Kassel 2012.
Schmidt, Dörte: „Schrift. Werk. Performance. Neue Musik“, in: Ratzinger / Urbanek / Zehetmayer (Hg.). Musik und Schrift, 2020, S. 275–300.
Thomas, Ernst (Hg.), Notation Neuer Musik, Mainz 1965 (Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, 9).
Wagner, J.J.: „Ideen über Musik“, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 25/19 (1823), S. 293–300.
Weber, Samuel M.: Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-stellung der Psychoanalyse, Frankfurt am Main – Berlin – Wien 1978.
Weigel, Sigrid: „Die Stimme der Literatur. Anmerkungen zur Differenz der différance“, in: Eckart Goebel und Wolfgang Klein (Hg.): Literaturforschung heute, Berlin 1999, S. 120–124.
Weigel, Sigrid: Die ‚innere Spannung im alphanumerischen Code‘. Buchstabe und Zahl in grammatologischer und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive, Köln 2006.
Weigel, Sigrid: Grammatologie der Bilder, Berlin 2015.
Weigel, Sigrid: „Selbstübersetzung. Zwischen Kleiner Literatur, Exterritorialität und ,Bilingualism‘“, in: KulturPoetik 21/2 (2021), S. 283–299.
Zapke, Susana (Hg.): Notation, Imagination und Übersetzung, Wien 2020.
Zapke, Susana: „Einleitung: Von der Vielfalt intermedialer Translationen“, in: Zapke (Hg.), Notation, 2020, S. 9–19.
Zapke, Susana: „Die Notenschrift ‚zwischen Sprache und Welt‘. Übersetzungsprozesse der musikalischen Notation“, in: Zapke (Hg.), Notation, 2020, S. 199–224.
Online-Quellen
Hajdu, Georg: Composition and Improvisation on the Net, Hamburg o. J. http://recherche.ircam.fr/equipes/repmus/SMC04/scm04actes/P2.pdf (12.09.2022).
Rebhahn, Michael: „Greatest Hits der Donaueschinger Musiktage: Iannis Xenakis ‚Metastasis“. SWR 2, 14.10.2021, https://www.yiuu.de/podcast/treffpunkt-klassik/greatest-hits-der-donaueschinger-musiktage-iannis-xenakis-metastasis/ (03.02.2023).
Schnürl, Karl: „Notation“, in: Österreichisches Musiklexikon online, https://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_N/Notation.xml (26.03.2022).
Schröder, Julia H.: Grafische Notation und musikalische Grafik: http://www.see-this-sound.at/kompendium/abstract/78.html (28.3.2022).
Editionen
Brown, Earle: Folio (1952/53) and 4 Systems (1954), New York: Associated Music Publishers, 1961.
Bussotti, Sylvano: Sette Fogli, London 1963.
Cage, John: 4’ 33” (Original Version in Proportional Notation), Edition Peters No. 6777a.
Abbildungen
Abb. 1.1: George Crumb: Makrokosmos, Volume I (1973), for amplified piano, 12. Spiral Galaxy [SYMBOL] Aquarius, Edition Peters No. 66539a. © Copyright 1973 by C.F. Peters Corporation, New York. With kind permission by C.F. Peters Ltd & Co. KG, Leipzig.
Abb. 1.2: Sylvano Bussotti, Sette Fogli, „Lettura di Braibanti per Voce solo“ (a H. Pousseur). Copyright 1963 Casa Ricordi S.r.l. Milano, Nr. 134802, ISMN 979-0-041-34802-5. © 1959 Casa Ricordi Srl, a division of UMPG Classics & Screen International Copyright Secured. All Rights Reserved Reprinted by permission of Hal Leonard Europe BV (Italy).
Abb. 1.3: Iannis Xenakis, Pithoprakta (1955), Studie (Kanach / Lovelace (Hg.), Iannis Xenakis, 2010, S. 30).
Abb. 1.4: Luigi Nono, Prometeo. Tragedia dell’ascolto (1984), Zeichnung der Klangbewegungen (Luigi Nono, Verso Prometeo, hg. von Massimo Cacciari, Mailand 1984, S. 43).
Abb. 1.5: Luigi Nono, Prometeo. Tragedia dell’ascolto, Partiturseite mit Einzeichnungen des Komponisten (Booklet der Aufnahme bei den Salzburger Festspielen 1993. ORF / EMI Electrola GmbH 1995).
Dieser Versuch wäre nicht zustande gekommen ohne die anregenden Reaktionen mehrerer Musikwissenschaftler/innen auf mein Buch Grammatologie der Bilder (2015), in dem es um die Frage der Bildgebung, d.h. um den Übergang von der Spur zum Bild und um die Transformation von An-Ikonischen in piktographische Darstellungen geht. Mein besonderer Dank gilt Melanie Unseld und Gesa Finke, deren Einladung zu einem Workshop zu graphischen Notationen mich als Nicht-Musikwissenschaftlerin motiviert hat, der Frage nach der musikalischen Schrift nachzugehen.
Rihm, „Auf meinem Schreibtisch“, S. 170.
Signalisiert wird dies nicht zuletzt durch die Etablierung der von Federico Celestini u. a. begründeten Schriftenreihe „Theorie der musikalischen Schrift“ im Verlag Brill/Wilhelm Fink.
Schnürl, „Notation“.
Ratzinger / Urbanek / Zehetmayer (Hg.), Musik und Schrift.
Nanni mit Bezug auf Isidor von Sevilla, Nanni, „‚Quia scribi non possunt‘. Gedanken zur Schrift des Ephemeren“, S. 9.
Zapke mit Bezug auf Arnold Schönberg, Zapke, „Einleitung“, S. 212.
Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion.
Schmid, Notationskunde.
Vgl. Dornseiff, Das Alphabet in Mystik und Magie, S. 11ff.
So Hankins / Silverman, Instruments and the Imagination, S. 141.
Peirce, Collected Papers, Bd. 4, Abschnitt 535; zu Charles Peirces zeichentheoretischen Ausführungen über Graphen und Diagramme vgl. Weigel, Grammatologie der Bilder, S. 64ff.
Flusser, „Die Auswanderung der Zahlen aus dem alphanumerischen Code“; dazu Weigel, Die „innere Spannung im alphanumerischen Code“.
Benjamin, „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, S. 153.
Ebd., S. 156.
Adorno, „Fragment über Musik und Sprache“, S. 252.
Derrida, Grammatologie, S. 97.
Celestini / Nanni / Obert / Urbanek, „Zu einer Theorie der musikalischen Schrift“, S. 20 u. 21, mit Bezug auf Wolfgang Fuhrmann, „Notation als Denkform“.
Weigel, „Die Stimme der Literatur. Anmerkungen zur Differenz der différance“.
Weigel, Grammatologie der Bilder.
Derrida, Grammatologie, S. 78.
Ebd., S. 44; in den Zitaten aus der deutschen Übersetzung von Hanns Zischler und Hans-Jörg Rheinberger, die Derridas Neologismus différance als „*Differenz“ anschreiben, ersetze ich dies durch das französische Original différance.
Derrida, Grammatologie, S. 109; erste Hervorhebung von mir, zweite im Original.
Ebd., S. 82.
Derrida, Die Postkarte, S. 100.
Schmidt, „Schrift. Werk. Performance. Neue Musik“, S. 284.
Heine, „Die Nordsee“, S. 223.
Heine, „Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski“, S. 528.
Lipkind, „A Personal Reassessment“, S. 24.
Schmidt, „Schrift. Werk. Performance. Neue Musik“, S. 295f.
Ebd., S. 276ff.; die Miniatur entstammt dem Hartker-Antiphonar von St. Gallen, ca. 993–997, St. Gallen Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 390 und 391.
Paris, Prognostica Socratis basilei, Fronitspiz.
Derrida, Grammatologie, S. 540.
Ebd., S. 482.
So z.B. in einem Artikel „Ideen über Musik“ in der wöchentlichen Allgemeine[n] Musikalischen Zeitung aus dem Jahr 1823, in dem ein J.J. Wagner, der teilweise im Sinne Rousseau’scher Vorstellungen argumentiert, dafür plädiert, im Gesangsunterricht müsse das Erlernen der Töne dem der musikalischen Schrift vorangehen.
Borio, Musikalische Avantgarde um 1960, S. 92.
De Henau, Towards an Aesthetics of the (in) formel, S. 12.
Dahlhaus, „Notenschrift heute“, S. 9.
Ligeti, „Neue Notation – Kommunikationsmittel oder Selbstzweck?“, S. 37; 45.
Brown, „Notation und Ausführung Neuer Musik“, S. 76.
Vgl. Schmidt über Klaus Hubers Vortrag beim ‚Composer’s Forum‘ in den 1980er Jahren; Schmidt, „Schrift. Werk. Performance. Neue Musik“, S. 290ff.
Dahlhaus, „Notenschrift heute“, S. 9, 20, 31.
Ligeti, „Neue Notation – Kommunikationsmittel oder Selbstzweck?“, S. 37, 48.
Brown, „Notation und Ausführung Neuer Musik“, S. 76.
Ebd.
Haubenstock-Ramati, „Notation – Material und Form“, S. 52.
Mauricio Kagel, „Komposition – Notation – Interpretation“, S. 55.
Ebd., S. 58.
Nanni, „‚Quia scribi non possunt‘. Gedanken zur Schrift des Ephemeren“, S. 12.
So die Umschreibung von Hans Werner Henze 1959, „Die geistige Rede der Musik“, S. 56.
Karkoschka, Das Schriftbild der Neuen Musik, S. 19.
Ebd., S. 57, S. 65ff., S. 70.
Ebd., S. 71.
Ebd., S. 80.
Nanni, „‚Quia scribi non possunt‘. Gedanken zur Schrift des Ephemeren“, S. 11.
Celestini / Nanni / Obert / Urbanek, „Zu einer Theorie der musikalischen Schrift“, S. 11.
Nanni, „‚Quia scribi non possunt‘. Gedanken zur Schrift des Ephemeren“, S. 12f.
So etwa Schröder, „Grafische Notation und musikalische Grafik“.
Zapke, „Die Notenschrift ‚zwischen Sprache und Welt‘“, S. 211.
Finke, „Partituren zum Lesen und Schauen“, Abschnitt „Einblick: Die Partitur Globus für Vermeulenflöte (1978)“.
Hope / Vickerey, „Visualising the Score“, S. 4.
Hajdu, Composition and Improvisation on the Net, S. 1.
Bussotti, Sette Fogli, Vorbemerkung.
Ebd.
Haubenstock-Ramati, „Notation – Material und Form“, S. 52.
Palm, „Zur Notation für Streichinstrumente“, S. 89.
Schmidt, „Schrift. Werk. Performance Neue Musik“, S. 286.
Darin geht es um die präzise Modellierung zufälliger Prozesse.
Hewett, „A Music Beyond Time“, S. 29.
Lovelace, „How Do You Draw a Sound?“, S. 40, 45.
So von Rebhahn, „Greatest Hits der Donaueschinger Musiktage: Iannis Xenakis ‚Metastasis‘“.
De Henau, Towards an Aesthetics of the (in) formel, S. 404.
Krämer, „Aisthesis und Operativität der Schrift“, S. 23f.
Vgl. dazu De Henau, Towards an Aesthetics of the (in) formel.
Vgl. Bachmann-Medick, Cultural Turn.
Freud, Traumdeutung, S. 280; diese Beziehung hat Samuel M. Weber in seiner Lacan-Studie treffend auf die Formel „Übersetzung ohne Original“ gebracht, in Weber, Rückkehr zu Freud, S. 5f.; im Hinblick auf das Schreiben in einer Fremdsprache und die Praxis der Selbstübersetzung vgl. Weigel, „Selbstübersetzung“, S. 296ff.
Derrida, Grammatologie, S. 81.
Ebd.
Ebd., S. 79.
Ebd., S. 18.
Ebd., S. 81.
Ebd., S. 341.
Ebd., S. 370f., Hervorhebungen im Original.
Ebd., S. 342, Hervorhebung im Original.
Vgl. ebd., S. 45.
Ebd., S. 537.
Ebd., S. 83.
Ebd., S. 99.
Ebd., S. 113f., Hervorhebungen im Original.
Derrida, „Freud und der Schauplatz der Schrift“, S. 315.
Anm. 64.
Husserl, Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, S. 24f.
Derrida, Grammatologie, S. 82.
Ebd., S. 83.
Zum Verhältnis von Spur und Linie vgl. ausführlich das Kapitel „Die Spur und die Wiederaufwertung der Linie“ in Weigel, Grammatologie der Bilder, S. 17–69.
Derrida, Grammatologie, S. 126.
Ebd., S. 118.
Vgl. Finke, „Partituren zum Lesen und Schauen“.
Vgl. Weigel, Grammatologie der Bilder, S. 50ff.
Abb. in Karkoschka, Das Schriftbild der Neuen Musik, S. 156 und S. 119.
Abb. ebd., S. 96.
Ligeti, „Neue Notation – Kommunikationsmittel oder Selbstzweck?“ S. 40.
Zu Scherchen vgl. Finke, „Komponistin und ‚Scherchentochter‘“.
Abb. auf der Seite 7th John Cage Interpretation Award Halberstadt 2021: https://johncageaward.lpages.co/john-cage-award/.
Benjamin, Passagen-Werk, Bd. 1, S. 577.
Cage, 4’ 33” (Original Version in Proportional Notation).
Brown, „Notation und Ausführung Neuer Musik“, S. 76.
Brown, Folio and 4 Systems, Prefatory Note.
Nono, Prometeo. Tragedia dell’ascolto, S. 11.