Das Echo der Bilder in der Tiefe des Raums

Historische und heutige Blicke auf virtuelle Bildräume

In: Bildhafte Räume, begehbare Bilder
Author:
Kassandra Nakas
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„When I enter virtual reality, what body will I leave behind?“, fragte die Architektur- und Stadttheoretikerin Karen A. Franck im Jahr 1995 mit Blick auf die damals relativ neuen und vieldiskutierten digitalen Bildtechniken der Virtuellen Realität: „Wenn ich in die virtuelle Realität eintrete, welchen Körper lasse ich dann zurück?“ Ihr Aufsatz erschien in der Zeitschrift Architectural Design, die unter dem Themenschwerpunkt „Architects in Cyberspace“ hauptsächlich die gestalterischen Potenziale computerbasierten Entwerfens erkundete.1 In Francks kurzem Beitrag sind wie unter einem Brennglas die bis heute virulenten gesellschaftlichen, körperlichen und wahrnehmungspsychologischen Implikationen der neuen Technologie angesprochen: die Frage, wie sie die Körper- und Raumwahrnehmung ihrer Nutzer:innen verändern und welche Rolle sie künftig im sozialen Miteinander spielen werde; ob beziehungsweise wie ihre Potenziale von Männern und Frauen unterschiedlich erfahren, genutzt und interpretiert würden.

Der digital gender divide äußerte sich in der feministischen Hoffnung auf einen „geschlechtsfreien Bereich der Kommunikation und Interaktion“.2 Franck hielt zudem an der leiblichen Dimension der Raumerfahrung im Virtuellen fest. Im Gegensatz zur Abwertung des Körpers in der maßstabsetzenden Science-Fiction-Literatur (etwa in William Gibsons Neuromancer, 1984), die im damaligen Architekturdiskurs Resonanz fand, beschrieb Franck die VR-Erfahrung als „sehr physisch“: es galt, virtuelle Bilder „mit dem ganzen Körper zu besetzen“.3 Realphysische und virtuelle Räume wurden in den meisten Bewertungen als strikt getrennte Sphären ohne Kontinuität gedacht, was dem digitalen Raum eskapistische Qualitäten verlieh, die nicht selten die Grundlage übersteigerter Freiheitsgefühle, ja von Allmachtsphantasien bildeten (in fiktionalisierter Form etwa in dem skurrilen Science-Fiction-Film Der Rasenmähermann von Brett Leonard, USA 1992). Wenn sie im Titel ihres Aufsatzes die Möglichkeit eines ‚Körper-Wechsels‘ suggerierte – das Hinter-sich-Lassen des realphysischen Leibes zugunsten eines zweiten Körpers im Virtuellen – plädierte Franck zugleich dafür, diese Übergangszonen als durchlässig und veränderlich zu betrachten. Somit könnten womöglich die Modi der Konnektivität und Intimität, die die virtuellen Welten bereithielten, sozial produktiv genutzt werden: Sie würden so zu potenziellen Räumen der Empathie.4

Karen Francks Beitrag in einem Fachjournal, das die Versprechen digitaler Bildwelten aus primär entwurfstechnischem Blickwinkel beleuchtete, ist bemerkenswert, weil er die emotionalen und kognitiven Dimensionen der virtuellen Raumerfahrung fokussierte. An die Stelle der technologischen Bestimmung trat die Betrachtung der Raumqualitäten, mithin die mediale Dimension des virtuellen Raumgefüges. Virtuelle Welten konnten aus dieser Perspektive als eine „vermittelnde Instanz“ auftreten, welche „neue Wahrnehmungsdispositionen von Raum schafft“ und damit ein wirklichkeitsveränderndes Potenzial zu entfalten vermag, wie es Mario Doulis, Doris Agotai und Hans Peter Wyss mit Blick auf heutige Gestaltungsansätze formuliert haben.5 In ihrer Kritik an der technoeuphorischen Abwertung leiblicher Erfahrungswerte hatte Franck in den 1990er Jahren prominente Mitstreiterinnen. Die kulturelle Strahlkraft fiktionaler Stoffe wie Neuromancer sowie das wiedererwachte Interesse an der Geschichte der Kybernetik veranlassten auch die Literaturwissenschaftlerin N. Katherine Hayles zu ihrer wirkmächtigen Zurückweisung einer Theorie der Entkörperlichung (disembodiment), die den Leib in der Mensch-Maschine-Interaktion als entmaterialisierte Datenmenge konzeptualisierte.6 Zur gleichen Zeit wandte sich die feministische Theoretikerin Elizabeth Grosz den Folgen der virtuellen Raumerweiterung für die architektonische Praxis zu. Grosz erwartete sich durch deren technologische Implementierung in die Entwurfs- und Baupraxis eine „völlig neue Art, Raum zu sehen, zu bewohnen und zu gestalten“.7 Diese Sichtweise begreift den virtuellen Raum wiederum nicht als klar begrenzbares, abtrennbares Feld, sondern sieht ihn in einem komplexen Verhältnis der Verschachtelung und wechselseitigen Einbettung zum realphysischen Raum. Der Körper ist demzufolge nicht losgelöst vom Raum zu betrachten, sondern die Raumgestaltung steht im Dienst einer „Simulation, Reproduktion, Erweiterung oder Vergrößerung der Sinne und der Materialität“.8

Ungeachtet dieser frühen architekturtheoretischen Problematisierungen des Verhältnisses von Raumgestaltung, Raumdarstellung und menschlichem Körper steckt die Auseinandersetzung mit virtueller Raum-Bildlichkeit in der architektonischen Praxis noch weitgehend in den Kinderschuhen; einige aktuelle Ansätze sind Gegenstand der vorliegenden Publikation. Währenddessen bietet die bildende Kunst ein breites Spektrum an experimentellen Arbeiten, die die Trias von Raum, Bild und Körper in virtuellen Erfahrungswelten zum Gegenstand machen, wovon ferner die zuletzt wachsende Zahl an Ausstellungen von VR-basierter Medienkunst zeugt.9 Im Folgenden soll die Rauminstallation Image Technology Echoes (2020/21) der Australierin Lauren Moffatt näher vorgestellt werden, die die genannten Kategorien auf vielschichtige Art verhandelt.10 Sie weist eine Verschachtelung dreier Raumebenen auf, durch welche die Besucher:innen aus dem Ausstellungsraum über einen virtuellen Museumsraum in den jeweils subjektiven ‚Innenraum‘ zweier virtueller Protagonist:innen gelangen. Die erste Ebene besteht dabei aus einer herkömmlichen, wenn auch sparsam inszenierten realphysischen Installation: Hier finden sich eher versatzstückartig einige Gemälde an den Wänden, projizierte sowie auf einem Leuchttisch platzierte Dutzende Kleinbilddias mit gemalten Motiven (Landschaften, Gesichtern, Tieren), eine Zwischenwand mit flächendeckender Kohlezeichnung sowie zwei großen Papierbögen, auf denen wie von Kinderhand krakelige Buchstaben geschrieben sind (Abb. 11.1).11 Auf einem Tisch in der Ecke schließlich kauert eine weibliche Primatengestalt vor einem aufgeklappten Laptop, dessen Display wiederum ein gemaltes Motiv zeigt. Auch wenn der Computer keinen visuellen Rückkoppelungseffekt bietet, erinnert die Konstellation einer sitzenden Gestalt vor bildgebendem Gerät entfernt an Nam June Paiks berühmte Video-Installation TV Buddha (1974), die in den Anfangszeiten von Video als künstlerischem Medium das Sehen und Gesehenwerden, Technologie und Spiritualität thematisierte.

Abb. 11.1
Abb. 11.1

Lauren Moffatt, Image Technology Echoes, 2020/21 (Detail), Virtual Reality-Installation, Dauer variabel (interaktiv); produziert von VSENSE mit Unterstützung von The Science Foundation of Ireland. Courtesy J. Pegman.

Zwischen all den Bildern unterschiedlicher Materialität, die zugleich Spuren künstlerischer Arbeit darstellen, liegt ein VR-Headset, mit dessen Hilfe die Besucher:innen auf die zweite, virtuelle Raumebene gelangen. Erzählerisch passiert hier zunächst wenig: Zwei Personen – ein älterer Mann und eine junge Frau – stehen in einem großzügigen Museumsraum vor einem Gemälde, das sie, begleitet von gelegentlichen Wortwechseln, in ruhiger Kontemplation betrachten (Abb. 11.2). Umgeben sind sie von weiteren großformatigen Gemälden und Skulpturen, die sich nur durch Lichtspots von dem weitgehend in Grau getauchten Saal abheben. Als Betrachter:innen stellen wir uns neben das ungleiche Paar, teilen ihre Blickrichtung, können sie aber auch umkreisen und ihnen direkt ins Gesicht blicken. Tatsächlich berühren, ja erschrecken plötzliche Blickkontakte mit den Gestalten umso mehr, als ihre Physiognomien fremdartig zwischen Abstraktion und Realismus schwanken. Die Verzerrung resultiert aus Glitches, die bei der Übertragung der ursprünglich im 3D-Scanverfahren produzierten Figuren ins Digitale auftraten; die eigenartig plastische Qualität verstärkt sich im (virtuellen) Umschreiten der beiden Gestalten und verleiht der Begegnung eine deutlich physische Dimension. Noch irritierender ist eine abrupt auftretende Verwandlung der Gesichter. Von einem Moment zum anderen ist ihnen eine Maske vorgeblendet, in der eine VR-Brille mit einer Guckkastenbühne gekreuzt ist (Abb. 11.3 und 11.4). Darin erblicken wir die dritte Raumebene, die jeweils als individuelles Zimmer der beiden Protagonist:innen gestaltet ist. Durch die weitere, unmittelbare körperliche Annäherung an die Figuren gelingt es den Betrachter:innen, auch diese dritte Raumebene zu betreten. Wir befinden uns nunmehr im ‚Kopf‘ (oder Bewusstsein) der Figuren und zugleich in eben jenem von ihren individuellen Habseligkeiten gekennzeichneten Zimmer (Abb. 11.5). Der Akt des Eintretens in diese mentale Sphäre bedeutet aber nicht das Zusammenfließen der Körper: Auch auf dieser Ebene sehen wir die Protagonist:innen von außen, blicken in ihre ausdrucksstarken Gesichter, folgen ihren Blicken.

Abb. 11.2
Abb. 11.2

Lauren Moffatt, Image Technology Echoes, 2020/21 (Detail), Virtual Reality-Installation, Dauer variabel (interaktiv); produziert von VSENSE mit Unterstützung von The Science Foundation of Ireland. Courtesy Lauren Moffatt.

Abb. 11.3
Abb. 11.3

Lauren Moffatt, Image Technology Echoes, 2020/21 (Detail), Virtual Reality-Installation, Dauer variabel (interaktiv); produziert von VSENSE mit Unterstützung von The Science Foundation of Ireland. Courtesy Lauren Moffatt.

Abb. 11.4
Abb. 11.4

Lauren Moffatt, Image Technology Echoes, 2020/21 (Detail), Virtual Reality-Installation, Dauer variabel (interaktiv); produziert von VSENSE mit Unterstützung von The Science Foundation of Ireland. Courtesy Lauren Moffatt.

Abb. 11.5
Abb. 11.5

Lauren Moffatt, Image Technology Echoes, 2020/21 (Detail), Virtual Reality-Installation, Dauer variabel (interaktiv); produziert von VSENSE mit Unterstützung von The Science Foundation of Ireland. Courtesy Lauren Moffatt.

Lauren Moffatt entwirft ein gestaffeltes Raumgefüge, das das verbreitete Faszinosum virtueller Erfahrungswelten – die scheinbar unendliche Weite, welche die User:innen in alle Richtungen erkunden können – pointiert kontrastiert. Die digitalen Räume sind deutlich begrenzt und unterschiedlich charakterisiert: Der glatten Kälte des Museumsraums steht in den subjektiven Individualräumen der darauffolgenden Ebene eine zwar auch graue, aber eher unordentliche Lebenssphäre gegenüber, die mit Bildern, Fotografien, Büchern und Einrichtungsgegenständen angefüllt ist. Wenngleich ihr nun komplett alle Farbigkeit entzogen ist, erzeugen die vielfältigen Texturen von dunklen Wänden, Böden, Bildern etc. eine haptische Wirkung, die sich aber eines eindeutigen Illusionismus enthält. Dabei kommunizieren die Gemälde in der dritten Raumebene mit jenen der ersten, realphysischen: Letztere bildeten die Vorlage für die virtuellen und wurden von der Künstlerin über einen Zeitraum von zehn bis fünfzehn Jahren geschaffen.12 Und auch das große Gemälde, das die Protagonist:innen im Museumssaal konzentriert betrachten, findet sich in verkleinerter Form – ebenfalls mit expressiver Oberflächentextur – im Hier und Jetzt des Realraums. Die digital hervorgerufenen Texturen akzentuieren umso mehr die unterschiedliche Medialität der vorgestellten Bilder.

Das Exponat sticht durch seine intensive blaue Farbigkeit aus der atmosphärischen Monochromie hervor, die es mit den kleineren Bildern im realphysischen Raum verbindet. Blau erscheint das große Gemälde jedoch nicht im virtuellen Museumsraum, sondern lediglich auf der dritten Erzählebene: Aus ihren jeweiligen Zimmern blicken die Protagonist:innen durch eine breite Wandöffnung auf das statische Geschehen im Museum, betrachten sich gegenseitig beim Betrachten. Weder in der einen noch der anderen Sphäre verfügt das Gemälde allerdings über eine immersive Wirkung. Es ist eine hermetische Fläche, die von den Augen abgetastet werden kann, ohne dass sie einen visuellen Sog entfalten würde. Dabei würde sich das Motiv – eine aufgewühlte Seelandschaft – für ein imaginatives Eintauchen ikonografisch durchaus anbieten. Damit stünde es in einer Tradition virtueller Erfahrungsräume, die das traditionelle Medium der Malerei mit Techniken der Immersion verknüpfen und seit den Anfängen digitaler Kunst ungebrochen Konjunktur haben.13

Moffatts Installation bricht mit solchen Erwartungen; ihr geht es vielmehr um das distanzierte, reflektierte Wahrnehmen von Bildern und Räumen. Das realphysische installative Setting mit der bereitliegenden VR-Brille und die ‚head-mounted‘ Miniaturräume vor den Stirnen der Protagonist:innen im digitalen Ausstellungsraum markieren Momente des Übergangs von einem Raum zum anderen, von einem Körper zum anderen. Der Handlungsspielraum für die User:innen ändert sich indes kaum. In den virtuellen Räumen sind wir Zuschauer:innen eines nahezu statischen Handlungsverlaufs, der im Wesentlichen ein ausdauerndes Sehen beinhaltet. Dabei ändert sich das wahrgenommene Bild je nach von uns eingenommener Perspektive sowie nach Positionierung der fiktiven Gestalten. Der Mann sieht anderes als die Frau, und auch unser Blick wandert hin und her und ist nicht identisch mit ihren Sehbewegungen. Dank ihrer Ausstattung mit ‚persönlichen‘ Dingen und ihrer einseitig offenen, fensterartigen Raumstruktur sind die individuellen Räume durch besondere Komplexität und Anspielungsreichtum gekennzeichnet. Es findet eine Analogisierung von innerem, seelischem Erleben der Protagonist:innen und Innenräumlichkeit statt – eine konzeptuelle Verknüpfung, die ihre Anfänge in der Frühzeit der Psychologie hat. Für die Beschreibung seelischer Zustände bediente sich die junge Disziplin räumlicher Metaphern, wobei dem Interieur als Ort der ‚Innerlichkeit‘ besondere Bedeutung zukam.14 In der Literatur entwickelte sich etwa zeitgleich die narrative Technik des inneren Monologs oder Bewusstseinstroms (stream of consciousness), mittels derer subjektive Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken spontan und unvermittelt wiedergegeben werden.

In Lauren Moffatts Arbeit finden sich solch rohe, ungefilterte Sprachfetzen in den Monologen der Protagonist:innen, die auf der Tonspur wiedergegeben sind, während beide das große Gemälde – oder sich gegenseitig bei dessen Betrachtung – anblicken. Dabei handelt es sich nicht um kohärente (Selbst-)Gespräche, sondern um bruchstückhafte Sentenzen, die von einer künstlichen Intelligenz erzeugt wurden. Sprache schafft hier als Instrument der Beschreibung und Analyse keine Verbindlichkeit. Was die beiden im Bild sehen und in Worten zu fixieren versuchen, bleibt schwer fassbar, ja unverständlich. Damit stellt sich letztlich die Frage, wie Bildlichkeit überhaupt in Sprache übersetzt werden kann – ein Problem, dem sich die bildwissenschaftliche Hermeneutik auch in historischer Perspektive widmet.15 Dazu passt, dass sich die Oberfläche des Bildes von Zeit zu Zeit verändert, ins Schriftliche wechselt und anstelle einer blauen Meeresfläche plötzlich Buchstaben zeigt.

Überhaupt ist das Innerste der räumlichen Verschachtelung voller Zeichen: Die Wände und Böden der Zimmer sind bedeckt mit Zeichnungen, kleinen Gemälden, Karten und den erwähnten Krakeleien. Sie konstituieren einen eigenen ‚Datenraum‘, der in seiner betonten Materialität in Kontrast zur (vermeintlich) immateriellen Matrix der virtuellen Realität steht. Das Zusammenspiel von Spuren der menschlichen Hand, forcierten Texturen, dunkler Atmosphäre und der Dominanz schriftlicher und bildlicher Zeichen erinnert an eine andere eindrucksvolle künstlerische VR-Installation, den von Laurie Anderson und Hsin-Chien Huang realisierten Chalkroom (2017).16 Die Anlage dieses gigantischen Raums voller Text- und Zeichenfragmente in Kreide auf schwarzem Grund ist allerdings in einem entscheidenden Punkt verschieden: Die weitläufigen Räume werden erst durch die Schriftzeichen konstituiert, welche aus dem tiefen Dunkel auftauchen und durch wechselnde Lichtquellen erhellt werden. Ohne sich vom Fleck zu bewegen gleiten die User:innen durch dieses endlose Universum, mal dynamisiert, mal verlangsamt, dabei virtuell immense Strecken zurücklegend und große Höhenunterschiede überwindend. In Chalkroom wird der dargestellte Bildraum aktiviert und die Körper der User:innen in einen ununterbrochenen Bewegungsfluss versetzt, der alle Versprechen der technologischen Entkörperlichung zu erfüllen scheint. Es dominiert das sinnliche Gefühl, schwerelos durch die geheimnisvollen Schrifträume zu fliegen und die leibliche Verankerung im realphysischen Raum hinter sich zu lassen.

Lauren Moffatt verfolgt demgegenüber offenkundig ein anderes Interesse. Anstelle eines Effekts der Entkörperlichung sind wir uns in ihrer VR-Installation unserer physischen Positionierung stets bewusst, treten den fiktiven Figuren gegenüber, umkreisen sie, nähern uns an und treten schließlich in sie ‚ein‘. Unweigerlich reflektieren wir dabei unseren Standpunkt, unsere Perspektive. Selbst im virtuellen Akt des Sich-Hineinversetzens in die Köpfe respektive Gedankenwelten der Protagonist:innen verharren wir in der Beobachterposition. Momente der Interaktion unterbleiben, die Aufmerksamkeit liegt allein auf dem Vorgang des Sehens. Nicht zuletzt legt auch der Titel der Arbeit den Fokus auf die Wahrnehmung der Bilder in den verschiedenen Raumebenen – und auf ihre technologischen Voraussetzungen. Im virtuellen Betreten unterschiedlich konfigurierter Bildebenen wechseln sich die (fiktiven) Bildträger ebenso ab wie die Eindrücke, die wir uns vom Geschehen machen. Wie Image Technology Echoes nahelegt, sehen wir nicht nur alle etwas anderes, wenn wir den Blick auf unsere Umgebung richten; wir tragen auch selbst zahllose Bilder in unserem Bewusstsein, die – in einem echoartigen Widerhall – diesen Blick immer schon vorab rahmen und organisieren. Das englische „Echoes“ im Werktitel ist sowohl als Nomen im Plural wie als Verb lesbar – in jedem Fall rückt subjektivisch die reflektierte oder reflektierende Bildtechnologie ins Zentrum, die unsere Wahrnehmung strukturiert.17

Was uns Lauren Moffatts Arbeit folglich spielerisch anbietet, ist ein Blick ins Innere der fiktiven Figuren, ein Akt des abstrakten Einfühlens, der die Prozesse der Bild- und Raumwahrnehmung selbst zum Thema macht. Es würde wohl zu weit führen, darin den Versuch zu sehen, virtuelle Räume als Zonen der sozialen Empathie zu entwerfen, wie sie Karen A. Franck vor bald dreißig Jahren imaginierte – wobei es bekanntlich zahlreiche Ansätze in der VR-Forschung zu embodiment und presence gibt, die genau dieses Potenzial der Technologie erkunden.18 Durch die unvermittelte, dichte Begegnung mit den zwei Protagonist:innen von Image Technology Echoes, beide unterschiedlichen Alters und Geschlechts, durch die stufenweise Annäherung an ihr ‚Inneres‘ über verschiedene Raumebenen, und durch die Konfrontation mit diversen Bildformaten und -inhalten setzt Moffatts VR-Installation dennoch einen erkenntniskritischen Reflexionsvorgang in Bewegung. Als Besucher:innen fragen wir uns schließlich womöglich nicht mehr mit Karen A. Franck, „welchen Körper“ wir beim Eintritt in diese Erfahrungswelt „zurücklassen“, sondern vielmehr, in welch tiefe Räume verwirrender Innerlichkeit und brüchiger Kommunikation uns die virtuellen Bilder zu führen vermögen, um sie schließlich „mit dem ganzen Körper zu besetzen“.

Bibliographie

  • Bertrand, Philippe, Jérôme Guegan, Léonore Robieux, Cade Andrew McCall und Franck Zenasni, „Learning Empathy Through Virtual Reality: Multiple Strategies for Training Empathy-Related Abilities Using Body Ownership Illusions in Embodied Virtual Reality“. In Frontiers in Robotics and AI (22. März 2018) (https://doi.org/10.3389/frobt.2018.00026).

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Bildnachweise

Abb. 11.1: Lauren Moffatt, Image Technology Echoes, 2020/21 (Detail), Virtual Reality-Installation, Dauer variabel (interaktiv); produziert von VSENSE mit Unterstützung von The Science Foundation of Ireland, Courtesy J. Pegman.

Abb. 11.2 bis 11.5: Lauren Moffatt, Image Technology Echoes, 2020/21 (Detail), Virtual Reality-Installation, Dauer variabel (interaktiv); produziert von VSENSE mit Unterstützung von The Science Foundation of Ireland, Courtesy Lauren Moffatt.

1

Franck. „When I Enter Virtual Reality“. (Übersetzungen stammen, soweit nicht anders angegeben, von der Autorin.)

2

Ebd., S. 22.

3

Ebd., S. 20.

4

Vgl. ebd., S. 22.

5

Doulis et al., „Spatial Interface“, S. 60.

6

Hayles, How We Became Posthuman.

7

Grosz, „Cyberspace, Virtuality and the Real“, S. 89.

8

Ebd., S. 86.

9

Siehe etwa Schöne neue Welten. Virtuelle Realitäten in der zeitgenössischen Kunst im Zeppelin Museum Friedrichshafen (2017/18) und Mixed Realities. Virtuelle und reale Welten in der Kunst im Kunstmuseum Stuttgart (2018). Das Kuratorinnenkollektiv Peer to Space realisiert an unterschiedlichen Orten VR-Projekte, die Onlineplattform Radiance fungiert als Database. Das Künstlerkollektiv THIS IS FAKE realisiert eigene und kuratierte Ausstellungen zu Kunst mit AR-/VR-Techniken. Zum Beitrag von Clemens Schöll von THIS IS FAKE und Ortrun Bargholz siehe S. 201–225 in diesem Band.

10

Lauren Moffatt, Image Technology Echoes, 2020/21, VR- und Mixed-Media-Installation, Maße variabel. Die Arbeit wurde mit dem 2021 erstmals verliehenen VR Kunstpreis der DKB (Deutsche Kreditbank) in Kooperation mit CAA (Contemporary Arts Alliance) Berlin ausgezeichnet, zu dessen Anlass die Ausstellung Resonanz der Realitäten im Berliner Haus am Lützowplatz realisiert wurde; es erschien ein Katalog.

11

Eine Dokumentation der Arbeit findet sich auf der Website der Künstlerin: https://www.deptique.net/ongoing/image-technology-echoes.

12

So die Künstlerin in einem Gespräch mit Tina Sauerländer vom 28.04.2021, geführt anlässlich der Berliner Ausstellung und verfügbar auf dem Youtube-Kanal von Peer to Space. Mit dem Rückgriff auf Objekte der realphysischen Welt lässt sich in Moffatts Arbeit jene Tendenz zur „Verlebensweltlichung“ des Virtuellen beobachten, die Annette Urban im folgenden Beitrag anhand weiterer künstlerischer Beispiele eingehend untersucht.

13

Siehe als frühes Beispiel etwa Jeremy Gardiners Installation Purbeck light years, 2004, oder die im Winter 2021/22 als immersives „Multimedia-Spektakel“ beworbene Ausstellung zu Werken Vincent van Goghs: https://van-gogh-experience.com.

14

Vgl. Lajer-Burcharth und Söntgen, „Introduction: Interiors and Interiority“.

15

Siehe etwa Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen.

17

Die mythologische Gestalt der Echo war eine große Erzählerin, der erst durch einen Racheakt der Göttin Hera die Sprache abhanden kam. Ihr blieb fortan nur die Fähigkeit, einzelne Worten und Satzfetzen zu wiederholen.

18

Einen Überblick über diverse Ansätze geben Philippe Bertrand et al., „Learning Empathy Through Virtual Reality“.

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