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Der spatial turn, der ausgehend von den Kultur- und Sozialwissenschaften mittlerweile in großer Bandbreite und Intensität Wissenschaftszweige ganz unterschiedlicher Provenienz erreicht hat, ist über die Geschichts-, die Literatur- und die Medienwissenschaften definitiv auch in der Theologie, allen voran in den Bibelwissenschaften, angekommen. Die zu Beginn dieser veritablen Forschungswende allerorts beklagte „Raumvergessenheit“ in den diversen Disziplinen ist einer intensiven, differenzierten und in ihrer Gänze kaum noch überschaubaren Auseinandersetzung mit raumbezogenen Fragestellungen gewichen, die Raum als einer kulturellen, sozialen, politischen etc. Größe und entsprechend codierten Raumvorstellungen und Raumkonzepten besondere Beachtung schenkt. Wieweit für alle Ansätze dabei tatsächlich von einer grundlegenden Neuorientierung im Sinne des spatial turn gesprochen werden kann, ist Gegenstand der Debatte und wird, maßgeblich beeinflusst durch den Diskurs in der Soziologie, insbesondere etwa daran bemessen, ob Raum (noch) als absolute, unveränderliche Entität und eigenständiges Gegenüber wahrgenommen und untersucht wird oder (schon) im Sinne einer fluiden, relationalen Größe begriffen wird, deren Existenz und Gehalt Prozessen der individuellen und gesellschaftlichen Konstruktion unterliegen und in derartigen Prozessen, die nicht zuletzt auch Machtstrukturen widerspiegeln, erst eigentlich ausgemacht werden. Im Bereich der Literaturwissenschaft und speziell der Narratologie findet diese Debatte einen Niederschlag in der bewusst einschränkenden, gleichwohl eng verwandten Bezeichnung als topographical turn, um zum Ausdruck zu bringen, dass darin vorrangig „die Erzeugung von Räumen durch topographische Kulturtechniken“1 bzw. der Aspekt der Darstellung, Repräsentation und Beschreibung im Mittelpunkt der Untersuchung steht. Literarisch dargestellter Raum muss (und kann) aber auch in der Narratologie keineswegs einfach als eine „starre, von Handlungen und Figuren abgelöste“ Größe verstanden werden, sondern als „eine dynamisch integrierte Größe, die der Erzählung nicht lediglich als Rahmen dient, sondern funktionaler Bestandteil der erzählten Welt ist und selbst ‚Protagonistenqualitäten entwickelt‘“2.

In den Bibelwissenschaften hat sich die Beschäftigung mit dem Thema Raum zunächst vorrangig im Bereich der Erforschung des Alten Testaments etabliert. Für das Neue Testament konstatiert Moisés Mayordomo noch im Jahr 2017 in einem knappen Forschungsbericht, dass von einem spatial turn bislang „wenig zu spüren“ sei.3 Doch das Bild hat sich zwischenzeitlich auch in der neutestamentlichen Wissenschaft erheblich gewandelt. Die Beschäftigung mit Raum hat durchaus Konjunktur, gewinnt zunehmend an Aufmerksamkeit und hat in jüngerer und jüngster Zeit eine beachtliche Anzahl an Studien zu einer Vielzahl von Ansätzen, Themen und Texten hervorgebracht. Naturgemäß sind es dabei vor allem die narrative Literatur, die Einzelerzählungen und Erzählsequenzen in den Evangelien, der Apostelgeschichte und der Johannesapokalypse und/oder der narrative Plot der jeweiligen Gesamtschriften, die unter dem Vorzeichen von Raum und Raumkonzept, Raumkonstruktion und Raumvorstellung vorrangig Beachtung finden.4 Nur eher ausnahmsweise stand indes bislang die Frage nach Raum und Raumvorstellungen in der neutestamentlichen Briefliteratur und insbesondere beim Apostel Paulus im Fokus von Analysen aus der Perspektive des spatial turn, ein Desiderat, das es nach wie vor zu konstatieren gilt.5 Doch auch hier schreitet die Forschung voran; und immerhin sind auch schon einzelne Monographien erschienen, die sich mit je unterschiedlichem Zuschnitt auf eben diesem Terrain bewegen.6

Der vorliegende Band, der auf eine unter dem Titel „Raum und Raumvorstellungen bei Paulus“ vom 22. bis zum 24. März 2023 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz durchgeführte Tagung zurückgeht und Einblick in die Tagungsbeiträge gibt, greift dieses Desiderat auf und versucht ganz gezielt, jenseits genuin narrativer Texte des Neuen Testaments das Augenmerk raumanalytischer Ansätze dezidiert auf die Schriften des Apostels Paulus und damit auf die Briefliteratur zu richten. Dabei wird versucht, ein möglichst breites Spektrum von Fragen rund um Raum und Raumvorstellungen im paulinischen Schrifttum abzuschreiten und zu erkunden. Die faszinierende Welt von realen und imaginierten räumlichen Gegebenheiten, von territorialen Wahrnehmungen und raumbezogener Gestaltung in den Texten soll ebenso Berücksichtigung finden wie das weite Feld der Raummetaphorik, räumlich konnotierter Ausdrucksformen und topologisch aufgeladener Vorstellungsinhalte sowie die Verbindung all dieser Themenaspekte mit soziologischen bzw. sozialgeschichtlichen, politischen, anthropologischen und/oder theologischen Fragestellungen. Soziologisch fassbare Raum-Praxis, die Manifestation von Raum-Politik oder die Rolle der Raumfrage für und ihre Rückbindung in ein spezifisches Verständnis von Christologie, Ekklesiologie und gemeindlichen Grundvollzügen rücken damit in den Fokus. Vor dem Hintergrund und unter Anwendung theoretischer Konzepte des spatial turn aus der Literaturwissenschaft, den Kulturwissenschaften und der Soziologie gelesen, geht es um die Erschließung neuer Sinndimensionen bzw. die Profilierung ganz bestimmter Sinnlinien in den Briefen des Apostels Paulus.

Aus dem skizzierten Vorhaben ergab und ergibt sich die Anordnung der Beiträge bei der Tagung selbst und in diesem Band. Die Suche nach der „mentalen Landkarte“ (mental map) des Paulus steht im Hintergrund der ersten beiden Beiträge. Torsten Jantsch hebt diesbezüglich die zentrale Rolle der Stadt Jerusalem im paulinischen Denken gerade auch unter theologischer Rücksicht und für die von jüdischen Traditionen geprägte Theologie des Apostels selbst hervor. Michael Hölscher beleuchtet das im Römerbrief entworfene missionstopographische Konzept des Paulus und fragt für die darin literarisierten Räume nach deren semantischer Codierung, argumentativer Funktion und impulsgebender Kraft. Der Römerbrief ist auch Thema des Beitrags von Ksenija Magda. Den theologischen Versuch einer Integration von weltweiter Mission der Völker und Heil für ganz Israel im Römerbrief sieht Magda auf Basis einer Analyse der Territorialität des Paulus bzw. seines „geographischen Bewusstseins“ insbesondere durch die Lösung des Konflikts mit der Gemeinde in Korinth angestoßen. Die Bedeutung der Verortung des Paulus und der Adressatinnen und Adressaten seiner Briefe, real wie symbolisch, thematisiert schließlich auch Kathy Ehrensperger und fragt mit einem sozialgeschichtlich interessierten Blick nach den Konsequenzen für das alltägliche Leben als Gemeinde im Jetzt-Schon des anbrechenden Gottesreiches und im Noch-Nicht seiner Vollendung.

Raumsemantik und Raumkonzeptionen stehen je unterschiedlich in den drei folgenden Beiträgen im Vordergrund. Peter Wick zeichnet entlang von Motivgebrauch und thematischer Schwerpunktsetzung nach, wie Paulus im Philipperbrief und in den beiden Korintherbriefen das Leben der Glaubenden, ihre Überzeugungen und ihren Umgang miteinander über räumliche Kategorien wie Hausbau oder Stadt vermittelt, und weist nach, dass eben dieser räumliche Aspekt analog auch auf der Ebene der Struktur der Briefe selbst in kunstvoller Weise seine Entsprechung findet. Das Raumsemantem οὐρανός steht im Mittelpunkt des Beitrags von Esther Kobel. Eine Analyse seiner sehr unterschiedlichen Verwendungsweisen demonstriert die Pluriformität und Polyvalenz von Himmelsvorstellungen bei Paulus. Die Raumsemantik zweier komplementärer und zugleich kontrastierend inszenierter autobiographischer Abschnitte im 2. Korintherbrief untersucht Bärbel Bosenius hinsichtlich der konkret benannten Orte und der geschilderten Bewegung und macht diese fruchtbar für die im Brief propagierte, apologetisch gestimmte Selbstdarstellung des Apostels.

Raummetaphorik in einem sehr weit gefassten Sinn, bezogen auf die kollektive Größe der Gemeinde einerseits und auf die Person als Individuum andererseits, bestimmt thematisch schließlich die übrigen Beiträge. Das mit den Bildern von Ackerfeld, Bau(werk) und Tempel zum Ausdruck gebrachte Gemeindeverständnis des Paulus greift Konrad Huber auf und unterzieht es einer Relecture aus der Perspektive aktueller raumsoziologischer Theoreme. Die dabei angestellte Zusammenschau diverser Raumvorstellungen und relationaler Prozesse von Raumkonstruktion erweist sich im Sinne einer Polyphonie der Räume auch als theologisch bedeutsam. Auf der individuellen Ebene wird der Körper als Raum zum Thema, wenn Sandra Huebenthal ausgehend von der paulinischen Verwendung von Körper-Raum-Metaphern die mystische Vorstellung der Einwohnung Gottes unter den Aspekten von Christian Spacing und Divine Spacing samt den jeweils korrelierenden Syntheseleistungen einer raumsoziologischen Reflexion unterzieht. Eine raumsoziologische Sicht auf „Körperräume“ des 2. Korintherbriefs führt Nils Neumann wiederum dazu, die von Paulus im Zusammenspiel von Herz und Organen als körperliche Interaktion gestaltete Briefkommunikation in den antiken Diskurs um den Sitz der Seele im Körper einzuzeichnen. Auf einer raumpolitischen Ebene siedelt demgegenüber Christian Blumenthal seine zugleich raum- und ambiguitätstheoretische Lektüre des Philipperhymnus an und deutet von dort aus die paulinische Sicht auf die lebensweltliche Realität des Menschen „in Christus Jesus“ als eine spannungsgeladene Gleichzeitigkeit einer extremen Differenzerfahrung, wie sie in gleicher Weise auch universalkosmisch gegeben ist.

Im abschließenden Beitrag kommt mit Markus Schroer ein international ausgewiesener Experte im Bereich der Raum-, Stadt- und Architektursoziologie zu Wort. In Form eines öffentlichen Abendvortrags haben wir mit seinem Beitrag den Rahmen der Tagung bewusst geöffnet, eine Sichtweise „von außen“, d. h. außerhalb der neutestamentlichen Exegese, eingespielt und die Basis des Diskurses hermeneutisch wie methodisch auf eine dezidiert soziologische Perspektive hin geweitet. Inhaltlich geht es im Beitrag von Schroer nicht mehr um Paulus und um Fragen des literarischen Raumes, sondern auf einer ganz allgemeinen Ebene um die Beziehung zwischen Religion, Raum und Gesellschaft und um Beobachtungen zum Raumbezug von Religion, wie sie sich an der sichtbaren Materialisierung von Kirchengebäuden und am gesellschaftlichen Umgang damit ablesen lassen.

Moisés Mayordomo gelangt in seinem eingangs erwähnten Forschungsbericht zu folgendem Resümee: „Eine Revolution ist vom spatial turn in der neutestamentlichen Exegese kaum zu erwarten. Dennoch können alte Fragestellungen in neuem Licht betrachtet und […] Ergebnisse präsentiert werden, die exegetisch wie theologisch produktiv sind.“7 Mit Blick auf die zahlreichen Studien, die seither unternommen und vorgelegt wurden, lässt sich unseres Erachtens zu Recht anfragen, ob einer Exegese des Neuen Testaments unter Fokussierung auf die Raumfrage und unter Einbeziehung raumtheoretischer Diskurse und raumbezogener Deutungsmodelle über „kleine Neuperspektivierungen“ hinaus nicht doch deutlich mehr Potenzial zugestanden werden muss, als von Mayordomo im Jahr 2017 eingeräumt und prognostiziert. Das gilt gleichermaßen auch für die Analyse und Interpretation der im Neuen Testament überlieferten Schriften des Apostels Paulus. Letztendlich ist es dann an den Leserinnen und Lesern zu entscheiden, ob der multiperspektivische Zugang, die breit gefächerten Untersuchungen und die Ergebnisse des vorliegenden Tagungsbandes dazu einen substanziellen Beitrag leisten.

Zur äußeren Gestalt des Tagungsbandes selbst noch eine Anmerkung: Bei der Suche nach einem geeigneten Bild für das Cover dieses Bandes sind wir auf den Künstler Robert Delaunay (1885–1941) gestoßen. Sein 1912 entstandenes Fenster-Bild „Les Fenêtres simultanées sur la ville“ hat uns spontan angesprochen.8 Neben der ausdrucksstarken Farbgebung und den weitgehend aufgelösten Formen von Raum und Architektur war das Sujet der durch ein Fenster und in kontrastierendem Licht gebrochenen Sicht auf die Stadt dafür ausschlaggebend. Geometrie und Dynamik, Konstruktion und Abstraktion, Heiliges und Profanes vermischen sich darin im Sinne eines Spiels mit der Illusion von Raum in unmittelbarer Gleichzeitigkeit. Die an diesem Bild und an einer Reihe weiterer Werke ablesbare Zuwendung Delaunays zum Kubismus fügt sich zum Raumthema unseres Bandes ebenso wie die Beobachtung, dass der Rahmen selbst Teil des Bildes ist, die Komposition sich also über scheinbare Grenzen hinaus ausdehnt und darüber eine Metaebene der Betrachtung eingespielt wird, die für die Raumperspektive auf literarische Zeugnisse der Vergangenheit, wie es die Texte des Paulus sind, ebenfalls kennzeichnend ist. Vielleicht kann der vorliegende Band auf seine Weise wie ein solches Fenster Einblick auf ungeahnt bunt und facettenreich aufstrahlende Texträume eröffnen.

Unser Dank gilt zuallererst den Kolleginnen und Kollegen, die unserer Einladung zur Tagung gefolgt und ihre Tagungsbeiträge für den vorliegenden Band ausgearbeitet und zur Verfügung gestellt haben, sowie allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern an der Tagung für den fruchtbaren Austausch zum Thema. Für die vielfältige Unterstützung bei der Organisation und Durchführung der Tagung und im Zuge der Erstellung und formalen Bearbeitung dieses Bandes danken wir Susanne Patock-Westrich und Anja Tsioullis in den beiden Sekretariaten, den wissenschaftlichen Mitarbeitenden Dr. Andrew Bowden und Laura Henke sowie den wissenschaftlichen Hilfskräften Paula Greb, Martha Linck und Janina Serfas sehr herzlich. Unserem Fachbereich 01 Katholische und Evangelische Theologie danken wir für die Bereitstellung der Infrastruktur und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz sowie dem Verein der Freunde der Universität Mainz für die großzügige finanzielle Unterstützung zur Durchführung der Tagung ebenfalls sehr herzlich. Den Herausgeberinnen und Herausgebern der „Studies in Cultural Contexts of the Bible“ gilt unser Dank für die Aufnahme des Tagungsbandes in die Reihe und Frau Dr. Martina Kayser und ihrem Team vom Verlag Brill Schöningh für die umsichtige verlegerische Betreuung.

1

Kirstein, Robert: Raum – Antike, in: Contzen, Eva von; Tilg, Stefan (Hg.): Handbuch Historische Narratologie, Stuttgart 2019, 206–217, hier 206. Vgl. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (rowohlts enzyklopädie; rororo 55675), Reinbek bei Hamburg 52014, 300, 311.

2

Kirstein, Raum, 207.

3

Mayordomo, Moisés: Raumdiskurse in der neutestamentlichen Forschung, in: VF 62 (2017) 50–56, hier 50. Mit Bärbel Bosenius und Ksenija Magda kommen auch im vorliegenden Band immerhin zwei Autorinnen der vier von Mayordomo vorgestellten Monographien zu Wort.

4

Unter den Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes sind etwa Studien von Christian Blumenthal, Bärbel Bosenius, Michael Hölscher, Konrad Huber und Nils Neumann hervorzuheben.

5

Vgl. Schreiner, Patrick: Space, Place and Biblical Studies: A Survey of Recent Research in Light of Developing Trends, in: CBR 14 (2016) 340–371, hier 361: „Paul’s letters are ripe for analysis, as there has been very little done along these lines.“

6

Vgl. Magda, Ksenija: Paul’s Territoriality and Mission Strategy. Searching for the Geographical Awareness Paradigm Behind Romans (WUNT 2/266), Tübingen 2009, und Økland, Jorunn: Women in Their Place. Paul and the Corinthian Discourse of Gender and Sanctuary Space (JSNTS 269), London 2004. Monographisch neuerdings auch Blumenthal, Christian: Paulinische Raum-Politik im Philipperbrief (FRLANT 286), Göttingen 2023.

7

Mayordomo, Raumdiskurse, 56.

8

Delaunay, Robert: Les Fenêtres simultanées sur la ville. 1re partie, 2e motif, 1re réplique, 1912; Mischtechnik auf Leinwand mit bemaltem Rahmen aus Fichtenholz.

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