Wie häufig hervorgehoben wird, besitzt der Begriff der ‚Heimat‘ eine Fülle an Konnotationen, die vergleichbaren Worten in den Nachbarsprachen nicht gleichermaßen eigen ist. „Heimat ist ein deutsches Wort, das sich nicht umstandslos in andere Sprachen übersetzen läßt“, schreibt Christoph Türcke: „Heim, Haus, Schutz, Seßhaftigkeit schwingen da mit. Heimat ist, wo man zu Hause, geborgen, mit allem vertraut ist.“1 Die Ursprünge dieses semantischen Exzesses reichen ins 19. Jahrhundert zurück:
Dass Heimat zugleich konkreter und transzendenter Ort ist, zugleich individuellen und religiösen oder auch mythologischen Ursprung bezeichnet, dass Heimat ein gefühlsbetontes, emphatisches Konzept wird und auch dass Heimat in ein komplexes, teils antagonistisches Verhältnis zum zeitgleich sich wandelnden Begriff des Vaterlandes bzw. der Nation tritt und damit den vermeintlich apolitischen Part innerhalb eines tatsächlich hochpolitischen Begriffsgefüges übernimmt, sind neue semantische Entwicklungen der sogenannten Sattelzeit.2
In der fiktionalen Literatur wird ‚Heimat‘ nicht bloß ‚dargestellt‘ in dem Sinne, dass eine literarische Repräsentation einer realen Heimat mehr oder weniger adäquat lediglich abgebildet würde. Vielmehr wird Heimat in literarischen Texten entworfen, erfunden: nicht re-präsentiert, sondern präsentiert. Die Konjunktur, die der Begriff im Zuge der Modernisierung seit dem späten 19. Jahrhundert erlebt, machte sich in der Literatur auch durch einen stärkeren Fokus auf das Regionale bemerkbar.3 Doch wenngleich die literarische Darstellung von Heimat lange Zeit primär mit konservativen Texten und reaktionärer Ideologie assoziiert wurde, bleibt festzuhalten, dass die politisch-weltanschauliche Polyvalenz des Heimat-Begriffs dessen Aneignung durch „recht unterschiedliche ideologische Werthaltungen“4 zulässt.
Im Kontext der Rückbesinnung auf das Heimatliche, die um 1900 als Reaktion auf die fortschreitende Modernisierung nicht nur die deutsche Politik prägte, sondern auch Kunst, Architektur und Literatur, entwickelte sich selbst eine bürgerliche Zeitschrift wie Der Kunstwart zum wichtigen publizistischen Forum der Heimatkunstbewegung.5 Elemente einer deutschnationalen Ideologie fanden in die Zeitschrift insbesondere dann Eingang, wenn Beiträge sich um eine Herleitung oder Bestandsaufnahme der deutschen Literatur und Kunst bemühten. So figuriert die heimatliche Landschaft immer wieder als Quelle der Inspiration sowie als Raum der seelischen Heilung vom zivilisierten Leben in der Großstadt. Darüber hinaus ist sie aber auch Trägerin einer völkischen und zugleich ökologisch grundierten Gesundung. Beispielhaft für diese ideologische Verwicklung ist das Pathos, mit dem sich im Jahr 1905 ein Aufsatz dem innig „mit dem deutschen Wesen verwoben[en] und verwachsen[en]“ Wald widmet. Als Schauplatz typisch deutscher Kunstwerke – die Liste reicht von den Nibelungen über die romantischen Imaginationen von „Waldeinsamkeit“ und die Erzählungen Adalbert Stifters und Peter Roseggers bis hin zu den Opern Carl Maria von Webers und Richard Wagners – sei der Wald mit der Fähigkeit zur Volkserziehung ausgestattet.6
In der Hoffnung, die gebildete Leserschaft möge „aus dem internationalen Literatensalon heim in die Gotteswelt“ finden, lobte der Herausgeber des Kunstwart, Ferdinand Avenarius, die „kerngesunde Ursprünglichkeit“7 von mittlerweile in Vergessenheit geratenen Schriftstellern wie Karl Söhle, der seit 1893 als freier Kritiker für die Zeitschrift arbeitete. In seiner Rubrik „Rundschau“ empfahl der Kunstwart neben den Vertretern des Poetischen Realismus regelmäßig auch Heimatromane. Insbesondere der Schriftsteller und Literaturhistoriker Adolf Bartels,8 der um 1900 den Begriff der „Heimatkunst“ in den öffentlichen Debatten verankerte,9 erhielt dadurch eine Plattform, die es ihm ermöglichte, seine kompromisslosen Werturteile unter die Leser zu bringen. Bis ihm sein offen zur Schau gestellter Antisemitismus zum Verhängnis wurde und Avenarius sich schließlich in einer Stellungnahme im Kunstwart von ihm distanzierte, war Bartels zwischen 1897 und 1902 häufiger Beiträger der Zeitschrift. In einem durchaus polyphonen Diskurs wusste sich Bartels als völkisch denkender Anhänger einer Literatur „reindeutschen Ursprungs“10 Gehör zu verschaffen, welche sich um die Darstellung des Einfachen und der „Liebe zur Heimaterde, zu den Menschen der Heimat“11 bemühen solle. Unterdessen ergänzte sich Bartels’ Plädoyer für eine Literatur, die „die Verbindung mit dem Leben“12 betont, mit dem speziellen reformerischen Programm der Zeitschrift. Wesentliche Vorläufer der Heimatkunst sah Bartels in Eduard Mörike und Theodor Storm, in deren Lyrik das Typische der schwäbischen bzw. norddeutschen Landschaft zur Darstellung käme. Indes müssten die neuen Autoren einen deutlichen Schritt weitergehen: Wenn es ihnen gelänge, Gedichte und Romane zu schreiben, die ganz von den deutschen Landschaften durchdrungen wären, könnte die Heimatkunst nicht nur zur „Gesundung der Literatur“ beitragen, sondern auch den Boden bereiten „für die große nationale Kunst“.13
Die völkische Aufladung des Heimatkonzepts, die Bartels’ Schriften durchzieht, erfuhr im Zuge des Aufstiegs des nationalsozialistischen Regimes bekanntermaßen eine weitere antisemitische Prononcierung. Während die NS-Propaganda die Vorstellung von Heimat in Blut-und-Boden-Ideologie übersetzte, hatten die Emigrationswellen zur Folge, dass Heimat bzw. Heimatlosigkeit zu einem elementaren Topos in der nach 1933 entstandenen deutschsprachigen Exilliteratur wurde:
Das Exil […] begründet aber nicht nur eine besondere Intensität und Häufigkeit, sondern auch eine besondere Art und Weise der Rede von der Heimat. Heimat wird im Exil tendenziell anders konstruiert und reflektiert als im ‚Heimatland‘ selbst, was bereits daran deutlich wird, dass man Exilliteratur gewöhnlich nicht als Heimatliteratur bezeichnet.14
In den Texten emigrierter Autor*innen überlagerten sich dabei oft unterschiedliche Ausformungen des Heimatdiskurses. So konnte Heimat einerseits als Sprache und Kultur begriffen werden, andererseits als politische Utopie; auch messianische Erwartungen waren an sie geknüpft. Und schließlich ließ sich Heimatlosigkeit nicht nur als Krise, sondern auch als Befreiung deuten.15
Eine besondere Relevanz hat der Heimatdiskurs bekanntlich in der deutschen Populärkultur des 20. Jahrhunderts gewonnen, zumal in Zeiten politischer und gesellschaftlicher Umbrüche.16 Vor allem der sogenannte ‚Heimatfilm‘ bildete in den Jahrzehnten vor und nach dem Zweiten Weltkrieg ein populäres Genre im deutschen Film.17 Eine anhaltende Bedeutsamkeit behielt die Repräsentation von Heimat schließlich im deutschen Fernsehen. Ein besonders anschauliches Beispiel liefert die Pilotfolge der Schwarzwaldklinik, jener ZDF-Erfolgsserie, die in den 1980er Jahren bis zu 25 Millionen Zuschauer vor den Fernsehgeräten versammelte. In der Eröffnungsszene der Folge mit dem programmatischen Titel „Die Heimkehr“ fahren Professor Dr. Klaus Brinkmann und seine Haushälterin Käti die steilen, kurvenreichen Straßen des Schwarzwaldes hinauf, bevor sie schließlich eine Pause einlegen, um die Aussicht zu genießen. Mit Blick auf die unten im Tal liegende Klinik bemerkt Brinkmann mit der für das Heimatgenre charakteristischen, hemdsärmeligen Mischung aus Nostalgie und ökologischer Fortschrittskritik: „In dem Bach haben wir als Jungs Forellen mit der Hand gefangen. Damals gab’s noch welche.“ Brinkmann hat in Paris und Zürich praktiziert, doch als Reaktion auf persönliche Schicksalsschläge – er ist Witwer und hat vor kurzem eine neue Beziehung beendet – beschließt er, zu seinen Wurzeln zurückzukehren. So beginnt eine Wiederanbindung von Professor Brinkmann an die Kernfamilie und an seine Heimat.
Wie alle kulturellen Ausformungen von Heimat ist auch die Reintegration des weit gereisten Professors in die Sphäre des Schwarzwalds an vorherrschende gesellschaftspolitische Diskurse gekoppelt. Seit den achtziger Jahren instrumentalisieren Fernsehserien wie Schwarzwaldklinik, Der Landarzt, Der Bergdoktor und Großstadtrevier ‚typisch deutsche‘ Landschaften, um den Zuschauern Angebote einer kollektiven Identität zu unterbreiten sowie das sentimentale Gefühl einer zumindest hier noch ‚heilen Welt‘ zu vermitteln. In der Schwarzwaldklinik wird diese ‚heile Welt‘ in den einzelnen Episoden jeweils kurzfristig gestört bzw. bedroht – etwa durch Unfälle oder Besucher von außerhalb des Brinkmann’schen Refugiums –, es gelingt dem mondänen Professor jedoch immer wieder, die Ordnung der Schwarzwaldwelt innerhalb der vorgegebenen 45 Minuten zu restaurieren. In Fernsehserien wie Tatort wird das Verlassen der Heimatgegend unterdessen bevorzugt als Grenzüberschreitung in Szene gesetzt.18 Doch auch der Heimatfilm der Nachkriegszeit, bei dem es sich gewissermaßen um das Leinwand-Vorbild der TV-Serien handelt und dessen ideologische Verästelungen inzwischen gut erforscht sind,19 erfreut sich noch immer reger Beliebtheit.20 So kann Dennis Gräf konstatieren, dass das Genre eben „nicht nur von wissenschaftlichem Interesse“ ist, sondern nach wie vor auch vom breiten Publikum rezipiert werde, „was bei einem genauen Blick auf die filmischen Strukturen und die vermittelten Inhalte und Paradigmen durchaus verwundert.“21
Zur Rehabilitation des Heimatdiskurses im 21. Jahrhundert hat auch die deutschsprachige Gegenwartsliteratur beigetragen.22 Dabei ist eine auffallende Wiederkehr der Dorfgeschichte23 zu beobachten, deren struktureller und thematischer Horizont so unterschiedliche Beispiele prägt wie Josef Haslingers Erzählung fiona und ferdinand (2006), Katharina Hackers Eine Dorfgeschichte (2011), Saša Stanišićs Vor dem Fest (2014), Juli Zehs Unterleuten (2016), Dörte Hansens Mittagsstunde (2018) sowie Andreas Maiers Romanreihe Ortsumgehung.24 All diese Texte arbeiten konsequent mit Authentizitätssignalen, die eine Affinität der erzählten Welt zur außertextuellen Realität suggerieren.25 Insbesondere Stanišićs Roman Vor dem Fest betont freilich auch den konstruktiven Aspekt, der jeder Art von Heimatrepräsentation zu eigen ist: Das fiktive Dorf in der Uckermark entsteht im Zusammenspiel von biographischen Erzählsträngen, ‚historischen‘ Dokumenten und märchenhaften Anekdoten.26
Neue Perspektiven: Zielsetzung des Bandes
Die deutsche Semantik des Begriffs „Heimat“ steht, wie in der Forschung umfassend dokumentiert ist, für eine traditionsreiche Verknüpfung von Ideologemen von Boden, Umwelt und eines als überzeitlich identisch imaginierten „Volks“. Angesichts der tatsächlichen Unschärfe des Begriffs, der wohl eher als soziokulturelles Konstrukt aufgefasst werden könnte, ist es in den letzten Jahrzehnten jedoch auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung zu einer Neuorientierung gekommen: Mittlerweile hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass es sich bei Heimat weniger um einen Begriff handelt, sondern vielmehr um einen äußerst produktiven „Assoziationsgenerator“,27 dessen Resultate je nach Kontext stark variieren. Wie man den vielfältigen Ausdrücken von Heimat wissenschaftlich gerecht wird, indem man ihre „rhetorische, narrative und epistemologische Prekarität“28 in Rechnung stellt, zeigen die Beiträge eines Sonderhefts der Kulturwissenschaftlichen Zeitschrift.
Mit Nachdruck hat gerade die jüngere Forschung auf die dem Heimatkonzept inhärente Widersprüchlichkeit hingewiesen. So zeigt Susanne Scharnowski in ihrer 2019 erschienenen Geschichte eines Missverständnisses, dass schon der oft zitierte Ursprung des Heimat-Begriffs in der Romantik irreführend ist, da bei Dichtern wie Joseph von Eichendorff das Heimweh nicht ohne Reiselust auskommt: Die Glocken der Heimatstadt konkurrieren in aller Regel mit dem Fernweh hervorrufenden Posthorn.29 Ohnehin belegt gerade das Werk Eichendorffs, dass Heimat in der Romantik „auf unauflösbare Weise beides, transzendent und immanent“,30 ist; mehr noch: Die Vorstellung des Heimatlichen droht jederzeit ins Unheimliche abzugleiten.31 Darüber hinaus ist festzuhalten, dass Erfahrungen von Migration bereits für die Entwicklung des Heimatdiskurses im 19. Jahrhundert zentral waren: Die Heimat entwickelte sich auch deshalb zu einem emphatisch beschworenen Ort, da sie zunehmend prekär wurde.32 In der Spätmoderne der Jahrtausendwende hat neben der Globalisierung vor allem die zunehmende Migrationsbewegung durch Flucht und Vertreibung zur stärkeren Präsenz und Ausdifferenzierung des Heimatdiskurses beigetragen, wobei der konstruktive Charakter von ‚Heimat‘ stärker ins Bewusstsein getreten ist.
Eine neue Perspektive auf das Thema der Heimat ist insbesondere von dem Paradigma des Ecocriticism hervorgebracht worden. Hier wird Heimat nicht mehr als Quelle „völkischer“ Identität begriffen, sondern als die Summe der durch die humanen Eingriffe in die Natur bedrohten Orte. Gerade dieser theoretische Kontext erweist sich für unsere Diskussion als besonders fruchtbar. So hat Axel Goodbody nicht nur mit Blick auf die Literatur um 1900 gezeigt, dass Heimat ökologisches Bewusstsein und damit auch Identität zu stiften vermag;33 anhand von Jenny Erpenbecks Roman Heimsuchung (2008) hat er außerdem dargelegt, wie in der Gegenwartsliteratur mithilfe neuer Konzepte von Heimat der Dualismus von Natur und Kultur aufgebrochen wird.34
Unser Sammelband zu Heimatdiskursen in Literatur und Kultur möchte einerseits neue Perspektiven auf klassische Texte entwickeln. Andererseits sollen bislang weniger intensiv diskutierte Texte (neu) entdeckt und auch Beispiele aus den Bereichen Film und Fernsehen einbezogen werden. Unser Anliegen ist es somit, ideologische Zusammenhänge in kritischer Perspektive zu analysieren und zugleich den Blick auf neue Konstellationen zu schärfen, in denen – jenseits hergebrachter ideologischer Konnotationen – Heimat wieder relevant werden kann. Im Zentrum steht dabei stets die Frage, welche „Verfahren, Funktionen und Ansprüche“35 der Heimatdiskurs aufruft.
Die Beiträge des Bandes sind in vier Sektionen aufgeteilt. In der Sektion „Heimat und Nation“ wird das Verhältnis zwischen den Kategorien der Heimat und der Nation untersucht. Martin Wagner widmet sich dem Verhältnis zwischen Heimat und Nation in zwei Texten der Lyrikerin Betty Paoli. In den beiden ‚Künstlerstudien‘ über die Schauspielerin Julie Rettich und den Schriftsteller Franz Grillparzer entwirft Paoli Heimat, wie Wagner formuliert, als eine „identitätsprägende und Entscheidungen beeinflussende Größe“. Oliver Kohns analysiert die politischen Implikationen des Heimatdiskurses in Richard Wagners Aufsatz „Was ist deutsch?“. Die Aussicht auf eine politische Einheit Deutschlands beschwört für Wagner im Jahr 1865 die Gefahr imperialistischer Machtpolitik und Heimatvergessenheit. Bernhard Walcher untersucht die Bedeutung der Kategorie der Heimat beim frühen, „politischen“ Theodor Fontane. In dessen Erzählung Tuch und Locke bezeichnen „Heimat und Herkunft“ eine bedeutsame politische „Standortbestimmung“ für die jeweiligen Protagonist*innen.
Die Sektion „Topografien von Heimat“ sammelt Beiträge, die sich unterschiedlichsten Formen von literarischen Geografien widmen. Martin Roussel analysiert die Abenteuergeschichten Karl Mays als „Heimatgeschichten“ auch und gerade da, wo die Protagonisten ihre Heimat verlassen müssen, um das Abenteuer finden zu können. Indem Heimat bei May als Figur der „Verdrängung“ erscheint, werden die Abenteuererzählungen als literarische Reflexion des Heimatraums lesbar. Ofer Ashkenazi untersucht die privaten Fotoalben von Juden im nationalsozialistischen Deutschland. Die Trope der Heimat spielt in diesen Fotografien eine entscheidende Rolle für den jüdischen Identitätsdiskurs der Epoche, insofern sie die „Zugehörigkeit der Juden zur modernen, gebildeten Bourgeoisie“ unterstreicht. Thorsten Carstensen analysiert die Beziehung zwischen Heimat und Exil in Anna Seghers’ Transit und Der Ausflug der toten Mädchen. Der von den Nationalsozialisten okkupierte Heimatbegriff wird hier umgedeutet als Medium des Widerstands und der Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen. Matthias Bauer behandelt die Repräsentation von Heimat in Erwin Wittstocks Erzählungen über Siebenbürgen. Die Bedeutung von Heimat weist hier jedoch weit über die Grenzen dieser Region hinaus, insofern sie in Wittstocks Erzählungen als ein poetisch ‚erhöhtes Abbild‘ des Menschen überhaupt lesbar wird. Mattias Pirholt beschreibt, wie das Konzept der Heimat im Werk Ingeborg Bachmanns im Kontext der Diskurse über Heimatlosigkeit und Heimatkritik aufgenommen wird. „Heimat“ wird dabei konsequent mit Vorstellungen der Wüste assoziiert.
In der Sektion „Diskursive Auseinandersetzungen mit Heimat“ finden sich neue Lektüren von literarischen Heimatentwürfen aus dem 19. und 21. Jahrhundert. Brian Alkire und Stefanie Heine analysieren das Verhältnis zwischen Heimat und dem „anderen“ in Adalbert Stifters Erzählung Bergkristall. „Heimat“ bedeutet in Stifters Text nicht einfach das Idyllische und Vertraute, sondern inkludiert – über die Assoziation mit dem Heimlichen und Unheimlichen – strukturell auch das Fremde. Eine Entgrenzung des scheinbar eng begrenzten Heimatraums bei Stifter untersucht auch Birthe Hoffmanns Beitrag. In Stifters Mappe meines Urgroßvaters erscheint Heimat, wie Hoffmann schreibt, als ideeller Auftrag an das Individuum. Lukas Künzler untersucht mit Jeremias Gotthelf einen Autor, dem lange Zeit der Ruf des antimodernen Heimatdichters anhaftete. Gotthelfs Schilderungen der Naturlandschaft sind jedoch vielmehr im Kontext christlich-republikanischer Ordnungsvorstellungen zu verstehen. Im Gegensatz zu dem etablierten, meist konservativen Verständnis von ‚Heimat‘ beschreibt Friederike Eigler in ihrem Beitrag über Saša Stanišić, wie das Konzept aus der Perspektive marginalisierter Gruppen neu interpretiert werden kann. In Stanišićs Texten erhält ‚Heimat‘ eine letztlich poetologische Interpretation und wird zum Ort der Fiktionen.
Die Sektion „Heimat in Film und Fernsehen“ versammelt neue Lektüren zum Genre des Heimatfilms sowie zu dessen Nachwirkungen in Film und Fernsehen der Gegenwart. Wilfried Wilms analysiert Luis Trenkers Filme Die heiligen drei Brunnen und Der verlorene Sohn. ‚Heimat‘ wird hier für einen ‚touristischen‘ Blick zubereitet und so letztlich kommodifiziert und kommerzialisiert. In seiner Lektüre des frühen deutschen Tonfilms zeigt Johannes Pause, wie dort ‚Heimat‘ chorisch verfasst ist, insofern sie durch das Sprechen einer Gruppe „mit einer Stimme“ bestimmt wird. In Robert Lands Primanerehre und Luis Trenkers Der verlorene Sohn formiert sich der Chor so als Inszenierung von Heimat, die nicht einfach gegeben, sondern in der Inszenierung hergestellt wird. Claudia Liebrand interpretiert Hans Deppes Schwarzwaldmädel als Travestiefilm, in dem Heimat nur noch als museale Kulisse erscheinen kann. Die ironische Pointe dieser Lektüre ist, dass Heimat im ‚Heimatfilm‘ so nicht mehr als Gegensatz zur Moderne erscheint, sondern als deren Produkt. Dass sich Heimatfilme – ähnlich wie die Dorfgeschichte des 19. Jahrhunderts – mit der Verlustseite des technisch-ökonomischen Fortschritts befassen, verdeutlicht Susanne Scharnowski. Der internationale Populärfilm entwirft dabei durchaus produktive Antworten auf die Zerstörung von Strukturen, indem er Heimat nicht einseitig als zu Bewahrendes präsentiert, sondern als beständig zu erneuernde Aufgabe des Individuums begreift. Oliver C. Specks Beitrag behandelt die Repräsentation von Heimat in den deutschen Fernsehserien Der Alte und Tatort. Heimat wird in beiden Serien auf leicht erkennbare Klischeebilder reduziert und erscheint letztlich als Chiffre für „bürgerliche Empfindsamkeit“ – für das, was die meisten Zuschauer*innen als ‚Norm‘ anerkennen können.
Christoph Türcke, Heimat. Eine Rehabilitierung, Springe 2006, S. 7.
Anja Oesterhelt, Geschichte der Heimat. Zur Genese ihrer Semantik in Literatur, Religion, Recht und Wissenschaft, Berlin/Boston 2021, S. 11f. [Herv. i.O.].
Vgl. Thorsten Carstensen, „Dahoam is dahoam: Hermann Bahrs oberösterreichische Wende“, in: Text & Kontext. Jahrbuch für germanistische Literaturforschung in Skandinavien 41 (2019), S. 72–94.
Joachim Wolschke-Bulmahn, „Heimatschutz“, in: Uwe Puschner/Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht (Hg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München u.a. 1996, S. 533–545.
Zur publizistischen Situation der Heimatkunstbewegung um 1900 vgl. Karlheinz Rossbacher, Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende, Stuttgart 1975, S. 16–19.
O.V., „Der Wald als Erzieher“, in: Der Kunstwart 20, 5 (1906), 304–306, hier S. 304.
A. [Ferdinand Avenarius], „Ein neuer Erzähler“, in: Der Kunstwart 11, 6 (1897), S. 182–183, hier S. 183.
Vgl. Thomas Rösner, „Adolf Bartels“, in: Uwe Puschner/Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht (Hg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München u.a. 1996, S. 874–894.
Adolf Bartels, „Heimatkunst“ [1900], in: Erich Ruprecht/Dieter Bänsch (Hg.), Jahrhundertwende. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1890–1910, Stuttgart 1970, S. 333–339. Adolf Bartels’ widersprüchliche Ästhetik lässt sich als „Ausdruck der vielfältigen Funktionen“ verstehen, „welche die Heimatkunst übernehmen soll: eine integrative Funktion (nämlich bezogen auf die ‚Moderne‘), eine Funktion der Platzhalterschaft (in Bezug auf die ‚Nation‘), eine nach innen ausgrenzende (bezogen auf alles ‚Undeutsche‘, Jüdische oder Fremdländische) und nach außen expansionistische Funktion (deutsche Heimat als Exportmodell).“ Oesterhelt, Geschichte der Heimat, S. 527.
Adolf Bartels, „Warum wir uns über die Heimatkunst freuen“, in: Der Kunstwart 13, 6 (1899), S. 220–223, hier S. 220.
Ebd., S. 221f.
Adolf Bartels, „Von der jüngsten deutschen Literatur (Schluß)“, in: Der Kunstwart 12, 2 (1899), S. 137–140, hier S. 140.
Adolf Bartels, „Aufgaben der Heimatkunst“, in: Der Kunstwart 14, 4 (1900), S. 131–133, hier S. 131.
Gregor Streim, „Konzeptionen von Heimat und Heimatlosigkeit in der deutschsprachigen Exilliteratur nach 1933“, in: Edoardo Costadura/Klaus Ries (Hg.), Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016, S. 219–241, hier S. 220. Vgl. zu Heimat und Exil den Beitrag von Carstensen im vorliegenden Band.
Vgl. zu diesen unterschiedlichen Diskursen Streim, „Konzeptionen von Heimat und Heimatlosigkeit“, S. 223–241.
Vgl. Susanne Scharnowski, Heimat: Geschichte eines Missverständnisses, Darmstadt 2019, S. 15, die Heimat „als Gegenbegriff zu Fortschritt und Moderne“ bzw. „als Gegenpol zur Entfremdung“ bestimmt.
Vgl. dazu die Beiträge von Liebrand, Pause und Wilms im vorliegenden Band.
Björn Bollhöfer, Geographien des Fernsehens. Der Kölner Tatort als mediale Verortung kultureller Praktiken, Bielefeld 2015. Vgl. zum Tatort den Beitrag von Speck im vorliegenden Band.
Vgl. Johannes von Moltke, No Place Like Home. Locations of Heimat in German Cinema, Berkeley, CA 2005. – Die Bedeutung des Heimatdiskurses für das deutsche Kino, auch und vor allem jenseits des Heimatfilmgenres, hat Alexandra Ludewig hervorgehoben. Vgl. Alexandra Ludewig, Screening Nostalgia. 100 Years of German Heimatfilm, Bielefeld 2011. Vgl. Neuerdings auch Sarah Kordecki, Und ewig ruft die Heimat … Zeitgenössische Diskurse und Selbstreflexivität in den Heimatfilmwellen der Nachkriegs- und Nachwendezeit, Göttingen 2020.
Seit den 1990er Jahren dienen die Heimatfilme der Nachkriegszeit den TV-Anstalten als „standard fillers“. Elizabeth Boa/Rachel Palfreyman, Heimat: A German Dream. Regional Loyalties and National Identities in German Culture, 1890–1990, Oxford 2000, S. 86.
Dennis Gräf, „‚Grün ist die Heide‘. Die (Re-)Konstruktion von ‚Heimat‘ im Film der 1950er Jahre“, in: Martin Nies (Hg.), Deutsche Selbstbilder in den Medien. Film – 1945 bis zur Gegenwart, Marburg 2012, S. 53–82, hier S. 54.
Vgl. Christopher Schmidt, „Heimat – was ist das? Die Rückkehr der Heimat in die Literatur“ [2011], in: Literaturkritik.de vom 2.3.2017. Zum Themenkomplex Heimat und Gegenwartsliteratur vgl. neuerdings auch Garbine Iztueta Goizueta/Carme Bescansa/Iraide Talavera/Mario Saalbach (Hg.), Heimat und Gedächtnis heute. Literarische Repräsentationen von Heimat in der aktuellen deutschsprachigen Literatur, Bern u.a. 2021 (= Jahrbuch für internationale Germanistik 2021).
Zum Zusammenhang von Heimat und Dorfgeschichte vgl. Carsten Gansel, „Von romantischen Landschaften, sozialistischen Dörfern und neuen Dorfromanen. Zur Inszenierung des Dörflichen in der deutschsprachigen Literatur zwischen Vormoderne und Spätmoderne“, in: Werner Nell/Marc Weiland (Hg.), Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt, Bielefeld 2014, S. 197–225. Zum Genre insgesamt vgl. Marcus Twellmann, Dorfgeschichten. Wie die Welt zur Literatur kommt, Göttingen 2019.
Vgl. Susanne Scharnowski, „Die Wiederkehr und das Verschwinden der Heimat: Das Landleben in der Gegenwartsliteratur“, in: Martin Hellström/Linda Karlsson Hammarfelt/Edgar Platen (Hg.), Umwelt – sozial, kulturell, ökologisch. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur, München 2016, S. 10–24. Vgl. auch Natalie Moser, „Realismus für das 21. Jahrhundert (I): Die Wiederkehr der Dorfgeschichte“, in: ZfL BLOG, 14.4.2016, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2016/04/14/realismus-fur-das-21-jahrhundert-i-die-wiederkehr-der-dorfgeschichte-natalie-moser/]. DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20160414-03 (letzter Aufruf am 2.3.2022).
Hierbei handelt es sich um eine Strategie, die bereits im Heimatfilm der 1950er Jahre zur Anwendung kommt. Vgl. Gräf, „‚Grün ist die Heide‘“, S. 55.
Noch deutlicher tritt das spielerische Element der Heimatkonstruktion in Stanišićs Roman Herkunft zutage, der 2019 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Wie Solvejg Nitzke und Lars Koch hervorheben, gelingt es diesem Text, sich „als Nicht-Heimatgeschichte“ zu positionieren: „Anstatt sich am Unerreichbaren aufzureiben, jeden Schritt mit Pathos aufzuladen und sich selbst zum Exempel der Migrationsgeschichte zu machen, experimentiert dieser Text mit der Möglichkeit, Zugehörigkeit jenseits von ‚Heimat‘ und ‚Natürlichkeit‘ zu erzählen.“ Solvejg Nitzke/Lars Koch, „Prekäre Heimat. Programmatik und Scheitern eines Entstörungsversuchs“, in: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 2020/1, S. 1–14, hier S. 3. Vgl. zu Stanišić den Beitrag von Eigler im vorliegenden Band.
Gunther Gebhard/Oliver Geisler/Steffen Schröter, „Heimatdenken: Konjunkturen und Konturen. Statt einer Einleitung“, in: dies. (Hg.), Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld 2007, S. 9–56, hier S. 9.
Vgl. Kulturwissenschaftliche Zeitschrift, 2020/1; Zitat Nitzke/Koch, „Prekäre Heimat“, S. 5.
Scharnowski, Heimat: Geschichte eines Missverständnisses.
Oesterhelt, Geschichte der Heimat, S. 243.
Vgl. zu diesem Topos auch: Carme Bescansa/Mario Saalbach/Iraide Talavera/Garbine Iztueta (Hg.), Unheimliche Heimaträume. Repräsentationen von Heimat in der deutschsprachigen Literatur seit 1918, Bern u.a. 2020 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik 2020). Der Band verfolgt explizit das Ziel, das Heimatkonzept aus dem rechtspopulistischen bzw. identitären Umfeld zu lösen.
Vgl. zum Zusammenhang von Heimatvorstellungen und Migration im 19. Jahrhundert das von Beate Althammer und Anja Oesterhelt herausgegebene Themenheft „German Heimat in the Age of Migration“ der Zeitschrift The Germanic Review: Literature, Culture, Theory 96.3 (2021). Zum Zusammenhang von Auswanderung und Heimat in der Literatur des 19. Jahrhunderts vgl. Oesterhelt, Geschichte der Heimat, S. 362–386.
Axel Goodbody, „Heimat als Identität und ökologisches Bewusstsein stiftender Faktor: Zu Ansätzen in Romanen um 1900 von Bruno Wille, Hermann Hesse und Josef Ponten“, in: Adam Paulsen/Anna Sandberg (Hg.), Natur und Moderne um 1900: Räume – Repräsentationen – Medien, Bielefeld 2013, S. 183–202.
Axel Goodbody, „Heimat and the Place of Humans in the World: Jenny Erpenbeck’s Heimsuchung in Ecocritical Perspective“, in: New German Critique 43.2 (2016), S. 127–151. Tatsächlich gehört Erpenbecks Heimsuchung zu einer Reihe von Romanen, die durch die Negierung einer ländlichen Heimatidylle einen kritischen Blick auf das wiedervereinigte Deutschland werfen und dabei zugleich Kontinuitäten zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts aufzeigen. Vgl. Mary Cosgrove, „Heimat as Nonplace and Terrain Vague in Jenny Erpenbeck’s Heimsuchung and Julia Schoch’s Mit der Geschwindigkeit des Sommers“, in: New German Critique 39.2 (2012), S. 63–86.
Nitzke/Koch, „Prekäre Heimat“, S. 4f.