Die Menge der Armen durchquert unsere Gegenwart. Sie wird zu einer prekären Menge zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, zwischen Ausschluss und Einschluss, Sprachlosigkeit und Äußerungsakten.1 In der „masse des exclues“2 bzw. „masse informe“3 konstituieren sich die Ausgeschlossenen als die Anderen: als Barbaren, Analphabeten, Flüchtlinge usw. In dieser „formlosen Masse“ Differenzierungen vorzunehmen, verschiebt die Aufmerksamkeit auf den Zwischenbereich zwischen Menge und Armut.4 Die Menge wird auf diese Weise zum Erscheinungsraum, in dem eine Form des Lebens sichtbar wird, die die Armut der Menschen einschließt. Nach Hannah Arendt liegt dieser zwischen den Menschen. Es ist ein Raum, der nicht an einen Ort gebunden ist, da es sich um einen Zwischenraum handelt. Wie kann man diesen Raum zwischen Armut und Menge in den Blick nehmen? Und wie lässt sich in literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive die Beziehung zwischen Menge und Armut bestimmen? Für wen ist die Menge der Armen sichtbar und wie kann sie sichtbar gemacht werden? Wie kann sie sich Gehör verschaffen, wer kann oder darf für sie sprechen? Und wie können auch sie in den Stand politischer Repräsentation gelangen? Was sind die spezifischen historischen und diskursiven Bedingungen, die dem Paradox ihrer Artikulationen und Visualisierungen zugrunde liegen? Welche rhetorischen, poetologischen und ästhetischen Praktiken und Medien bestimmen die Bedingungen ihres Erscheinens? Den sich aus diesen Fragen ergebenden Problematiken widmen sich die Beiträge dieses Bandes.
Die vorgenommenen Differenzierungen bestehen in der Identifikation von Einzelfiguren, aus denen sich die masse des exclues zusammensetzt. Was in den Blick geraten soll, ist nicht die Einheit der Masse, sondern eine Menge von Einzelnen, niederes Volk, Volksmenge, gemeine Leute, die in der Vereinzelung sichtbar werden und damit auch als Randständige auftreten: die Stummen, die Ausgeschlossenen, die nicht Repräsentierten, die sich aus der Unbestimmtheit der Masse lösen. Mit der Bestimmung des Pariser Lumpenproletariats in der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Karl Marx eine spezifische Figur und Phänomenologie der Menge in den Blick gerückt, die die Einzelnen hervortreten lässt, indem ihnen eine Bühne in der Geschichte verschafft wird: „Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Lazzaroni, Taschenspieler, Spieler, Macquereaus, Bordellhalter, Lastträger, Tagelöhner, Orgeldreher, Lumpensammler, Scheerenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz die ganze unbestimmte hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen la Bohème nennen“5. Die folgenden Beiträge erkunden ihre Erscheinungsformen in drei unterschiedlich fokussierenden, aber stark miteinander korrespondierenden Feldern. Durch Repräsentationen, Ordnungen und (Re)Figurationen werden Problematiken der Versammlung und Vertretung, der Kontrolle, Macht und Regulierung sowie der Sichtbarmachung, Diversifizierung und Differenz verhandelt und zum Gegenstand der hier geführten Diskussion, die an den Workshop „Menge und Armut“, der am 4.-5. November 2021 im Rahmen des DFG-Netzwerks Dispositiv der Menge stattgefunden hat, anschließt.
I. Repräsentationen: Versammlung und Vertretung
Wie die marginalisierte Menge der Armen darstellbar oder sichtbar gemacht werden und wie sie vertreten werden kann, ist als Kernproblem der literarischen Darstellung zugleich ein politisches Problem: „The poor are thus the literary subject par excellence who show the very political dimension at stake whenever the operation of ‚giving a voice‘ is performed“6. Gayatri Chakravorty Spivak hat im postkolonialen Kontext den doppelten Charakter von Repräsentation betont, insofern der Begriff sowohl auf Darstellung als auch Vertretung verweist.7 Daraus ergeben sich Fragen nach den semantischen Ambivalenzen der Repräsentation eines „Volkes“ („peuple“, „popolo“, „pueblo“), das zwar in den Körper einer Nation oder politischen Gemeinschaft münden kann, aber auch ungeordnet, unbestimmt, unbeständig, randständig ist und sich gängigen Verfahren der Repräsentation entzieht.8 Bereits in der antiken Kultur geht die Menge der Bedürftigen zurück auf die Vorstellung von plêthos bzw. multitudo, turba, oder vulgus9 als die – paradoxe – Vielzahl der Einzelnen, denn die Größe der Menge verweist etymologisch auf Fülle und Reichtum. Die Menge als Vielzahl der Armen steigert sich in der Potenzierung des Mangels: „Weniges von Vielem (pauroi ge pollôn), ist die Figur des Verlusts von fast allem.“10
Stefan Jonsson geht von der Prämisse aus, dass die Kombination von Armut und numerischer Anzahl (Menge, Kollektiv) das Grundmoment der Emergenz des Politischen und damit auch den Grundimpuls von Demokratie darstellt. Dabei betont Jonsson die Rolle, die ästhetische und rhetorische Verfahren für die Selbstartikulation unterdrückter oder marginalisierter Gruppen spielen. Das Verhältnis zwischen Armut und multitude, so Jonsson, wird sichtbar an spezifischen Manifestationen kollektiver Solidarität, wie bei einem gemeinschaftlichen Füreinander-Einstehen (wie in dem berühmten kollektiven Schuldbekenntnis in Lope de Vegas Bauerndrama Fuenteovejuna). Als emblematisches Zeichen, performatives Ereignis und wiederkehrende Manifestationsform des sozialen Protests identifiziert Jonsson die Form des Bandes, oder Kreises, wie sie in den kollektiv verfassten Beschwerdebriefen der Frühen Neuzeit (Round Robin; frz. ruban rond), aber in veränderter Form auch im Korea vom Ende des 19. Jahrhunderts, oder im nördlichen Schweden um 1917 zum Ausdruck kommt. Das Phänomen der politischen Emergenz deutet Jonsson als Reaktion auf die Aporien der im Begriff des „Volkes“ angelegten Ambivalenzen – zwischen sozialer Marginalisierung und konstituierender Körperschaft. Im zweiten Teil des Beitrags diskutiert Jonsson just diese Problematik der Repräsentation des Volkes mit Blick auf einschlägige Gesellschaftsphilosophien (von Marx zu Hobsbawm, Agamben und Badiou). Der dritte Teil des Beitrags schließlich ist ein close reading einer zeitgenössischen Artikulation der Protestform des round robin, das digitale Literatur-Projekt A Dictionary of the Revolution (2014–2017) der ägyptisch-amerikanischen Künstlerin Amira Hanafi. Das Werk sammelt kollektive Stimmen und Meditationen zu Schlüsselkonzepten, wie sie sich aus der Erinnerung an die ägyptische Revolution des 25. Januar (2011) auf dem Tharir-Platz ergeben. Jonsson analysiert hier, wie die digitale Installation in Form eines kreisförmigen Diagramms die Struktur des round robin wiederaufnimmt. Insofern kann Hanafis Dictionary als exemplarisch dafür gelten, wie ästhetische Formen das Wissen über revolutionäre Ereignisse verkörpern, das Wissen der Gesellschaft über sich selbst sichtbar machen, indem sie zwischen individuellen Erfahrungen, vernakulären Ausdrucksweisen und den sozialen Codes des Universalen vermitteln.
Wie literarische Formen und sprachliche Verdichtungen sich die Repräsentation der Menge bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu eigen machen, untersucht der Beitrag von Maud Meyzaud. So formiert sich die „Menge der Ausgeschlossenen“ („la foule des parias“) in den Prosagedichten Charles Baudelaires gegen den Traditionsbestand von römischen vulgus und turba in Titus Livius’ Ab urbe condita und der „levée en masse“ der Revolution und erweist sich damit als eine Figur der Pluralisierung, die mit „variablen Mengen“ operiert. Das Eintauchen in die Menge als Möglichkeit des Fühlens mit den Armen bezeichnet Baudelaire als „sainte prostitution“, der er ein neues „domicile dans le nombre“ bereitstellt, durch das sich die foule konstituieren kann. Wie in Baudelaires Prosagedicht Le vieux saltimbanque besteht auch in Georg Büchners Woyzeck die unbestimmte Menge aus „Volk“ oder „Leut“, und wird so sicht- und hörbar: „Buden. Lichter. Volk.“ Die Simultanität der Menge und die verstreute Singularität wird gleichzeitig in Bezug zur Pluralität gesetzt: als Verdichtung von Sprache, aus der die Verbundenheit mit dem Volk, mit den Vielen, den Armen, hervorgeht, ohne dabei mit Volkssprache zusammenzufallen.
Der Beitrag von Cornelia Wild zeigt, dass auf dem Marktplatz, dem Vorplatz der Fabrik und an den Stadträndern, die Menge der „Lumpen“, der „Niederen“, hervortritt, wodurch Menge und Erscheinen, Versammlung und Äußerungsakt miteinander verschränkt werden. Im filmischen und literarischen Werk von Pier Paolo Pasolini werden Stellvertreterfiguren der Menge an der Repräsentation als Darstellung beteiligt. Gegenüber der Kultur des Konsums der Massen im Italien der 1960er-Jahre erweist sich die verhandelte Menge als prämoderne, archaische Figur („popolo arcaico“), durch die Pasolini zu einer Geschichte der Subalternen aufschließt. Das Sichtbar-Werden konstituiert dabei den Prozess der Repräsentation, bei dem Pasolini nicht nur als Fürsprecher für die Armen auftritt, sondern durch eine veränderte Perspektive beispielsweise die Arbeiterinnen in Comizi d’amore oder das Lumpen-Mädchen in La ricotta zu Seherinnen werden können. Mittels filmischer und literarischer Verfahren werden die Rahmung, die die Repräsentation ermöglicht, und die Möglichkeiten des Erscheinens sichtbar gemacht. Pasolini stellt damit in Aussicht, aus der Perspektive der Subalternen heraus die Bedingungen der Darstellbarkeit der Menge in den Blick nehmen zu können.
Die politische, soziale und kulturelle Repräsentation der Menge und ihre Vertretung durch Intellektuelle ist ein zentrales Merkmal der lateinamerikanischen Länder spätestens seit der Epoche der Unabhängigkeitsbewegungen und den ambivalenten Modernisierungserfahrungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die Frage der kulturellen Repräsentation des Volkes (pueblo) stellt sich auch deshalb verschärft im lateinamerikanischen Kontext, da sich, angesichts von relativ niedrig alphabetisierten Bevölkerungen, die letrados, die Intellektuellen und Schriftsteller oft berufen fühlten für das „unterdrückte“ Volk zu sprechen. Diese bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wirksame Konstellation erfährt jedoch einen entscheidenden Umbruch während der 1960er Jahre, wie Gesine Müller in ihrem Beitrag herausstellt, der zeigt, dass diese Veränderung auch unmittelbar Fragen des literarischen Feldes berührt. Mit Blick auf die männlichen Autoren des Boom argumentiert Müller, dass der einstige Bezugspunkt der Linksintellektuellen, das pueblo – etwa in Form des dezidiert politischen Eintretens von Gabriel García Márquez für die Arbeiter der kolumbianischen Bananenplantagen – zurückgelassen wird zugunsten einer Orientierung an dem Publikum (público), was somit einer zunehmenden Autonomisierung des literarischen Feldes entspricht. Als einen entscheidenden Motor für diese Veränderung verweist Müller (neben veränderten Marktmechanismen des internationalen Literatursystems) auf die Desillusionierung mit dem einstmals als politisches Modell gesehenem (und internationalistisch wirksamen) revolutionären Kuba. Spätestens seit den 1980er Jahren hat, wie Müller es formuliert, das „ideologische Konstrukt des unterdrückten Volkes“ ausgedient.
Die Konstruktion eines unterdrückten, armen und zugleich revolutionär ermächtigten Volkes markiert wiederum die zentrale Paradoxie der Mengen-Repräsentation in der Folge der mexikanischen Revolution von 1910–1917, zumal diese zu einer Art Staatsräson der mexikanischen Nation wurde. Der Beitrag von Jobst Welge verfolgt diese paradoxale Semantik der Menge als einen Topos der mexikanischen Literatur- und Kulturgeschichte. Paradigmatisch hierfür ist zunächst das charakteristische Genre des Revolutionsromans, verkörpert durch das kanonisch gewordene Werk Los de abajo (1915/1916) von Mariano Azuela. Wie Welge darlegt, ist der Roman seinerseits in seiner politischen Intention (und in seiner ideologischen Rahmung der Raummetapher von „Unten“ und „Oben“) ambivalent, da der Aufstand der verarmten Bauern und kleinen Landbesitzer in ein marodierendes Banditentum umschlägt, das wahlweise als revolutionär oder vorpolitisch gedeutet werden kann. Dabei ironisiert der Roman bereits selbst die Rolle von revolutionär gestimmten Intellektuellen, die sich zum Sprachrohr der unterdrückten, aufständischen Bevölkerung machen. Ausgehend von diesen Problematisierungen der Repräsentation der Menge in Azuelas Roman nimmt der Beitrag schlaglichtartig weitere Reiterationen dieser Ambivalenz in den Blick, sei es in der Perspektive einer gescheiterten, oder unvollständigen Revolution (anhand von Beispielen aus dem Umkreis der mexikanischen Avantgarde der 1920er Jahre), sei es im Sinne einer Erstarrung der Revolutions-Rhetorik selbst (anhand des komischen Romans Te vendo un perro von Juan Pablo Villalobos).
II. (Un)ordnungen: Kontrolle, Macht, Regulierung
Die Beziehung von Menge, Armut und Macht, die (bio)politischen und medialen Verfahren, wie die formlose, unbotmäßige Menge kontrolliert, reguliert und verwaltet, wie ein öffentliches, fremdbestimmtes Bild von ihr erzeugt wird,11 sei es in sozialhygienischer oder philanthropischer Absicht, steht im Fokus der zweiten Sektion des Bandes. Wie erscheint die ungeordnete Menge in der Sphäre der Macht, wie wird sie administriert, wie wird sie sichtbar und darstellbar gemacht und wie wird umgekehrt ihr aufrührerisches Potential oder ihre archaische Kraft in Szene gesetzt? Entscheidend ist dabei die Frage, inwieweit künstlerische und literarische Praktiken und Medien an diesen Dispositiven und Zurichtungen der Menge partizipieren, sie konterkarieren oder unterlaufen.
Die historischen und kulturellen Bedingungen, Möglichkeiten und Formen der Regulation von Armut werden im Beitrag von Davide Giuriato mit Bettine von Arnims Armenbuch bis hin zur modernen Armenpolitik als Dispositiv lesbar gemacht, das die Bedingungen des Erscheinens und Verschwindens der Armen reguliert. Während die Armen des Mittelalters eine sichtbare Realität darstellen, werden sie in der Moderne in den Bereich sozialer Latenz verdrängt und ihre Verteilung durch ein polizeiliches Regime gesteuert. Diese Absonderungsprozesse zeigt Martin Luthers Vorwort zu einer Neuauflage des Liber Vagatorium von 1528, in dem eine Kultur der Armen entwickelt wird, die falsche von wahren Bettlern trennt. Die karitative Geste der Fürsorge kippt dabei in den Verdacht um, das Individuum dechiffrieren zu können und die formlose Menge der Elenden zu verwalten. Das Armenbuch konstruieren tabellarisch angeordnete Armenlisten, die das Elend in nüchterne und objektive Aufzählung fassen und somit Armut nicht erzählbar, sondern zählbar machen. Die Sichtbarkeit der Armen und das „Werk der Menschenliebe“ folgen somit verwaltungstechnischen Verfahren, die als machttechnische Kontrollinstrumente die Armen sortieren, ordnen und identifizieren. Zugleich manifestiert sich hierdurch eine „karge Prosa“, die durch die formale Reduktion die Armut als (neue) poetische Form hervortreten lässt.
Als ein materielles Chaos und eine formlose Struktur erweist sich die „turba“, im Sinne von Lukrez. Denn sie zeichnet sich dadurch aus, sowohl zur „Menge der Lebewesen“ als auch zum „Aufruhr der Materie“ zu gehören. Im Beitrag von Gianluca Solla ist sie die unsichtbare Grundlage für die menschliche Rechtsordnung. Die Fetzen der Lumpensammler bei Eugène Atget und die Mikroben im hygienischen Dispositiv als Refigurationen der Lukrez’schen Menge werden durch Aufteilungen und Ordnungssysteme im modernen Krankenhaus und in den Stadtplanungen kontrollierbar gemacht, ohne dabei die Menge des Kleinen und Kleinsten, die namenlose Menge der Mikroben restlos auflösen zu können. Der poetische Materialismus dient als Ausgangspunkt, durch ein „zitterndes Denken“ die Perspektive auf ein Jenseits der Gegensätze zu eröffnen, in dem die Aggregatzustände der Menge die schiere Materialität und ihr nacktes Leben beinhalten.
Auch in Roberto Rosselinis Stromboli konstituiert sich die Menge durch ihre schiere Materialität als Lava, Humus, fruchtbare Erde und erweist sich damit als materielle Grundlage, auf der die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, die archaische Kraft und Natur der Menge zu kontrollieren, durchgespielt werden können. Der Repräsentation der archaischen Menge in den schwarz gekleideten Frauen stellt Martin Treml die Einzelfigur Karin gegenüber, um sie als Pathosformel zu beleuchten. Aus dem Hintergrund des stummen (antiken) Chors, gebildet durch die von Armut gekennzeichneten Frauen, tritt die Einzelfigur hervor, jedoch nicht als seine Repräsentation, sondern als das, was sich diesem widersetzt. Die Menge erweist sich bei Treml damit als eine janusköpfige Figur, in der der soziale und der sexuelle Körper unauflösbar in Konflikt stehen. Erst die energetische Kraft der Menge zeigt die Doppelstruktur von Hervorbringungs- und Vernichtungsmacht, die die Menge auf dreifache Weise lesbar macht: als weiblicher Chor, vulkanische Lava und durch den Schwarm der blutigen Fische in der Szene des Thunfischfangs.
III. (Re)Figurationen: Sichtbarmachung, Diversifizierung, Differenz
Die Beiträge der dritten Sektion zeigen mit Bezug auf spezifische kulturelle Kontexte, wie das Verhältnis von Menge und Armut gerade dadurch performativ oder medial repräsentiert werden kann, dass Texte, kulturelle Praktiken und Artefakte die Konventionen, Typisierungen, etablierten Diskurse, die über die Menge/Masse im Umlauf sind (sowohl die denunziatorischen als auch die emanzipatorischen), reproduzieren, aber zugleich auch hinterfragen und dekonstruieren. Die Mitglieder der Menge werden aus ihrer Konformität und Unsichtbarkeit herausgeholt, womit eine Differenz innerhalb des Ganzen der Menge sichtbar wird, aber auch zum universalisierenden Gebrauch des Begriffs Menge (oder Masse) selbst.12 Die mit dem Begriff gemeinte Gruppe kann dabei sowohl zum Objekt der (künstlerischen, soziologischen, machtpolitischen, massenpsychologischen) Betrachtung als auch zum emanzipatorischen Subjekt der Geschichte werden.13 Die spezifischen lokalen und geografischen Kontexte der Fallstudien implizieren ihrerseits kulturelle Differenzen und paradoxale Verschränkungen: Überfluss und Reichtum im Mangel, die Form der „kleinen Gemeinschaft“, und die Strategie der „Vermengung“ als Alternativen zum Konstrukt der Masse.
Die Menge als Übermaß, als Menge von Essen und Menge der Knochen der Toten, die in dem Kult der „anime“ in Neapel zur Erscheinung kommt, rückt in den Blick von Ulrich van Loyen. Die Seherinnen, veggenti, dienen als Mittlerinnen einer Menge, wodurch sie zwei Positionen miteinander vereinen, die Neapels Verhältnis von Menge und Armut geprägt haben. Das ist zum einen der Blick auf Neapel seitens der (im weitesten Sinne) Frankfurter Schule (Walter Benjamin, Alfred Sohn-Rethel), die die ausgestellte Armut des popolo als Bühne begreift, auf der die Armen zu Akteuren werden. Der Mangel an Mitteln führt zur Ausstellung des Mangels: das Überangebot der Kinder wird zum Reichtum der Stadt, was sich in der Sichtbarkeit der Menge des Essens, im Übermaß an Essen, Bottichen voll Pasta, Unmengen schlichter Pizza, wiederholt. Zum anderen ist es die Position der sozialen Literatur der amerikanischen Ethnologie und Cultural Anthropology von Thomas Belmonte und Luigi Incoronato, die durch Feldforschung Armut als Elend und Ausgrenzung thematisiert und den Topos des Totenreichs einbringt: als Möglichkeitsbedingung des Lebens, bei der sich die Unsichtbarkeit von Armut und Menge als Einsamkeit und Leere erweist. Die Menge zeigt sich in Neapel grundsätzlich als Figur des Niederen, der Unordnung und des Durcheinanders. Der Kult der „anime“, der aus einem Überfluss an Knochen entstand, verpflichtet die Armut sowohl auf ihre Darstellung als auch auf sie als Ressource: im Überfluss der unbefriedeten Toten, der „anime pezzentelle“ populärer Volksfrömmigkeit, führen die durch Regen hervorgespülten Mengen von Skeletten, die den Friedhof der Fontanelle bilden, zur „Kettenmigration ins Jenseits“. Die damit buchstäbliche Verschiebung in den Untergrund zeigt, dass sich gerade die Unsichtbarkeit der Menge als Bedingung der Sichtbarmachung erweist.
Der Beitrag von Benjamin Loy stellt dar, wie wie in lateinamerikanischen Zivilisationsdiskursen des 19. Jahrhunderts das Phantasma der Masse Teil eines Arsenals von Exklusionsmechanismen war (paradigmatisch in Sarmientos Essay Facundo, 1845); unter dem Druck weiterer demographischer Entwicklungen und Modernisierungsbestrebungen wurde die Idee der Volksmasse dann zunehmend für patriotische Zwecke, etwa im Kontext des criollismo, mobilisiert, als Trägerschicht einer an Massenbewegungen ausgerichteten Politik. Zugleich wurde die Manipulierbarkeit der Massen szientistisch diskutiert, beispielweise in den Schriften des durch die europäische Massenpsychologie beeinflussten argentinischen Neurologen José M. Ramos Mejía. Loys Beitrag zeigt, wie sich ein modernistischer Klassiker der chilenischen Literatur, der Roman Hijo de ladrón von Manuel Rojas, neu lesen lässt. Anhand der Geschichte um den aus dem proletarischen Milieu stammenden und sich in anarchistischen Kreisen bewegenden Protagonisten Aniceto Hevia entwickelt der Roman nicht so sehr eine naturalistische Studie der sozial Marginalisierten, sondern er dekonstruiert vielmehr Typisierungen von Mengen in der Moderne, inklusive der marxistischen Vorstellung von der Masse der Armen als Subjekt eines teleologisch ausgerichteten Geschichtsbildes. Zwischen den Alternativen der Dämonisierung der Masse und ihrer Aufladung als emanzipatorisches Kollektivsubjekt, votiert dieser Roman für ein Ideal der „kleinen Gemeinschaft“ und der ökonomischen Subsistenz.
Der Beitrag von Teresa Hiergeist beginnt mit der Diagnose, dass der gesellschaftspolitische Diskurs über die bedrohliche, „gefährliche“ Masse in den letzten Jahren in Frankreich zurückgekehrt ist, namentlich in der medialen Darstellung von Aufständen und (im Falle der Gelbwestenbewegung: populistischen) Protestbewegungen. Hiergeist illustriert die kulturelle Verarbeitung des Phänomens einer „Neuen Armut“ am Beispiel eines filmischen Sozialdramas, Stéphane Brizés En guerre, das quasi-dokumentarisch einen Streik angesichts einer drohenden Fabrikschließung in Szene setzt. Der Beitrag zeigt, wie das Werk mit spezifisch filmischen Mitteln stereotype und medial vermittelte Imaginationen der streikenden Arbeitermenge dekonstruiert und reflektiert über die allgemeinen Möglichkeiten der Repräsentation einer Menge der Prekären. Mit dem Begriff der „Vermengung“ arbeitet Hiergeist einerseits heraus, wie der Film selbst die „Masse als Konstrukt“, als „hegemoniales Diskurselement“ entlarvt; andererseits analysiert sie aber auch filmische Verfahren der Sichtbarmachung (Diversifizierung, Individualisierung, Archaisierung), die – trotz eigener binärer Stereotypisierungen des Films – ein Gegenmodell (im Sinne der multitude von Michael Hardt und Antonio Negri) zur alterisierenden Darstellung der formlosen Masse abgeben.
Vgl. Donatella di Cesare, Philosophie der Migration, Berlin: Matthes & Seitz 2021; vgl. Hannah Arendt, „Wir Flüchtlinge“, mit einem Essay von Thomas Meyer, Berlin: Reclam 2016.
Marc Crépon, Barbara Cassin, Claudia Moatti, „Peuple, Race, Nation“, in: Vocabulaire européen des philosophies, hg. Barbara Cassin, Paris: Seuils 2004, S. 918–930, hier S. 920.
Louisa Yousfi, Rester barbare, Paris: La fabrique édition 2022, S. 15.
Vgl. Sadri Khiari, „Le peuple et le tiers-peuple“, in: Qu’est-ce qu’un peuple? Paris: La fabrique édition 2013, S. 115–136.
Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Kommentar von Hauke Brunkhorst, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2018, S. 69. Vgl. G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 242–390, Werke, Bd. 7, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2017.
Maud Meyzaud, „Baudelaire and the Literary Fabrication of the Poor“, in: SubStance 146, 47,2 (2018), S. 156–174, hier S. 159.
Gayatri Chakravorty Spivak, „They must note how the staging of the world in representation – its scene of writing, its Darstellung – dissimulates the choice of and need for ‚heroes‘, paternal proxies, agents of power – Vertretung.“ („Can the Subaltern Speak?“, in: P. Williams, L. Chrisman (Hg.), Colonial Discourse and Post-Colonial Theory: A Reader, London: Routledge 2013, S. 66–111, hier S. 74 [Herv. im Original auf Deutsch].).
Vgl. Alain Badiou, „Vingt-quatre notes sur les usages du mot ‚peuple‘“, in: Qu’est-ce qu’un peuple? Paris: La fabrique édition 2013, S. 9–21. Zur Frage der Repräsentation des Volkes in nationalen Kontexten, vgl. Stefano Brugnolo, Rivoluzioni e popolo nell’immaginario letterario italiano ed europeo, Macerata: Quodlibet 2023.
Vgl. Alexandra Katharina T. Sofroniew, „‚Turba‘: Latin“, in: Jeffrey T. Schnapp, Matthew Tiews (Hg.), Crowds, Stanford: University Press 2006, S. 30–31.
Esther von der Osten, „Arme Erinyen. Armut bei Hesiod und Aischylos“, in: Elke Bruens (Hg.), Ökonomien der Armut, München: Fink 2008, S. 21–43, hier S. 29. Vgl. auch Alexandra Kleihues, „Einleitung“, in: Armut/Poverty, figurationen 1 (2007), S. 6–10, hier S. 8.
Vgl. Maria Muhle, „‚Il y a de la plèbe‘. Das Infame zwischen Disziplin und Biopolitik“, in: Roberto Nigro, Marc Rölli (Hg.), Machtanalyse nach Foucault. 40 Jahre Überwachen und Strafen, Bielefeld: transcript 2017, S. 95–109.
Vgl. Hermann Doetsch, Cornelia Wild, „Im Gedränge“, Vorwort zu dies., Im Gedränge. Figuren der Menge, Paderborn: Fink 2020, S. 1–15.
Vgl. Schnapp, Tiews (Hg.), Crowds sowie Michael Gamper, Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765–1930, München: Fink 2007; Stefan Jonsson, Crowds and Democracy. The Idea and Image of the Masses, New York: Columbia University Press 2013.