Dass die Zeiten gespenstisch sind, mag eine zutreffende Zeitdiagnose für viele Dekaden oder Jahrhunderte sein. Aber nach den vielen Jahren Flucht und Migration aus dem sogenannten globalen Süden, Nordafrika und dem Nahen Osten, nach drei Jahren der Pandemie, nach Klimakatastrophen und nun auch noch dem Krieg in der Ukraine scheinen sich die Krisen der Gegenwart nicht mehr abzulösen, sondern nachgerade zu überlagern und miteinander zu konkurrieren. Menschen, aber auch Güter, Energie oder Viren bilden Achsen über den gesamten Erdball und bringen damit in den Zeiten überhitzter Globalisierung über lange Distanzen große Nähe mit sich. Was weit entfernt und damit ungefährlich für die eigene Lebenssituation schien – geographisch, aber auch temporal bzw. historisch als koloniale Vergangenheit, als überwunden geglaubte Familienkonflikte – rückt plötzlich dicht heran. Dass dies durchaus als Gefahr erlebt wird, ist in vielerlei Hinsicht zu beobachten. Der Kontakt mit dem ‚Fremden‘ gerät unter die Vorzeichen der Kontamination, der Beeinflussung oder der Heimsuchung. „Mais dans les périodes de crise“, so beschreibt es die französische Schriftstellerin und Rabbinerin Delphine Horvilleur in der Literatursendung La Grande Librairie im April 2022 zum Thema Vivre avec les fantômes, les morts et les souvernirs: „ils [les fantômes] deviennent beaucoup plus loquaces, et en fait, ils nous posent encore plus la question de ‚Veux-tu ou non engager avec moi une conversation?‘“ (Horvilleur 2022).
Dieser Konversation haben sich zahlreiche Texte und audiovisuelle Medien der Romania in den letzten 20 Jahren angenommen – insbesondere jene, in denen sich Flucht- und Migrationsbewegungen von Menschen mit ihren Erinnerungen verbinden und überlagern. Diese Geschichten der Migration sind (evidenterweise) Geschichten in und über Bewegung. Sie durchmessen kulturhistorische Räume, die von sozialen Auf- und Abstiegen, soziokulturellen Ein- und Ausgrenzungen und Prozessen der Trans- und Hyperkulturation erzählen. Sie übersetzen diese Phänomene in multimediale Bildwelten und beschreiben und beschreiten so Achsen, welche nicht nur kultursemantische Pole verbinden, sondern sich überlagern, raum-zeitlich beeinflussen und generieren. Das Phänomen der Achsen und Spektren in Migrationsnarrationen zeigt sich in neueren (literarischen) Texten ‚postkolonialer Literaturen‘ franko-, italo- und hispanophoner Provenienz. Beispielhaft hierfür sind Le livre d’Emma (2001) von Marie-Célie Agnant und die über zerreibendes Suchen motivierten Romane Boualem Sansals (Harraga, 2005 oder Le village de l’Allemand, 2008), das Delirieren in Gegenwart und Vergangenheit des Verre-cassé von Alain Mabanckou (2005) oder in seinem neuesten Roman Le commerce des Allongés, der in der Erzählung eines Toten und Wiedergängers den Sozialaufstieg kritisch reflektiert (Mabanckou 2022). Auch das Hôtel du Bon Plaisir von Raphaël Confiant (2009) ist von Spektren der Vergangenheit durchdrungen. Ausgerechnet an einem Ort der Immobilität, nämlich einer Gefängniszelle, tauchen die Geister der Ahnen in Wilfried N’Sondés Le cœur des enfants léopards (2007) auf. Dort suchen die Gespenster der Familienmigration den Protagonisten von Jean-Paul Dubois’ Tous les hommes n’habitent pas le monde de la même façon (2019) heim. Diese intergenerationellen spectres stehen auch hinter dem ebenso undurchsichtigen wie unberechenbaren Protagonisten in Tristan Garcias Faber (2013). In Francesca Melandris Bestseller Sangue giusto (2017) erscheint der postkoloniale Migrant wie ein Geist auf der Türschwelle Italiens oder in Igiaba Scegos Adua (2015) im Zentrum Roms. In Andrea Camilleris Il Nipote del Negus (2010) etwa ist er der stumme Schelm. Des Weiteren verhandelt eine Reihe neuerer, insbesondere spanischer Filme im Zuge der Auseinandersetzung mit Migrationsphänomenen zwischen Europa, subsaharischen Regionen und dem Maghreb spektrale Dimensionen im Aufeinanderprallen von Figuren, Kulturen, (traumatischen) Geschichten oder kartographischen Verzerrungen, wodurch Filme wie Retorno a Hansala (Chus Gutiérrez 2008) oder 14 kilómetros (Gerardo Olivares 2007) Verschiebungen in Raumkonstellationen erzeugen. Im Falle von 14 kilómetros geschieht dies über farbsemantische Neukodierungen, die geopolitisch-hegemoniale Muster zum Vorschein und ins Wanken bringen, im Falle von Retorno a Hansala in Form einer Umkehr der in der Mehrzahl der Filme über Migration skizzierten Wanderbewegung von Süd nach Nord, wenn hier ein spanischer Beerdigungsunternehmer den Leichnam eines ertrunkenen marokkanischen Geflüchteten in dessen Heimatdorf – und damit gen Süden – überführt.
Es sind diese Narrationen der Migration, die unseres Erachtens einen neuen theoretischen Zugang erfordern. Die Perspektive in diesem Sammelband auf diese Bewegungen in Literaturen und Bildmedien des 21. Jahrhunderts ist eine in theoretischer Hinsicht doppelte – ein Strabismus, der ein komplexes Phänomen in zwei Bilder auseinandertreten lässt, und ein Fokussieren, das verschiedenste Dimensionen zu einem heterogenen Bild überblendet. Hier werden zwei Dimensionen der Migration in Zusammenhang gestellt, die die Verdichtung solcher ‚Narrative‘ als Geflecht relationaler Denkfiguren und -strategien sichtbar machen: Achsen und Spektren.
Achsen
Ermessen, (v)erdichten und (narrativ) erzeugen lassen sich jene unterschiedlichen Ebenen über raum-zeitliche Achsen. Das Zusammendenken des Spektral-Axialen, das in diesem Band sowohl Untersuchungsobjekt als auch epistemisch-operationale Größe ist, wird auf den konkreten Bereich migratorischer Bewegungen gerichtet, wie sie rezente literarische und bildmediale Texte der Romania in den Blick nehmen.
Dabei ermöglichen es Achsen, Narrationen der Migration in ihren Aus-Richtungen oder vektoriellen Dynamiken (z.B. Ette 2005) zu beschreiben. Durch das Wandeln (im doppelten Sinne) der Menschen bringen sie zum einen Orte in einen Zusammenhang. Zum anderen gehen sie über reine Binde-Funktionen zwischen jenen Orten oder Subjektpositionen hinaus, indem sie selbstreflexiv das durch migratorische Bewegungen verursachte Entstehen von Räumen markieren. Des Weiteren verschiebt Migration Achsen ebenso wie sie immer auch Grenzen überschreitet und deplatziert. Sie dehnt spatiale wie temporale Kategorien, verengt oder bricht sie zuweilen sogar derart auf, dass sich ihre Geschichten von außertextlichen Referenzen zu lösen beginnen. Achsen können Bewegungen aus kultursemantischer wie -semiotischer Sicht (im Sinne Lotmans 1974, 2010) bestimmen.
Achsen eröffnen Räume für Narrationen zwischen Generationen, in denen Migrationserfahrungen tradiert, selektiert und gespeichert werden. In den in diesem Band untersuchten Erzählungen überlagern sich horizontale Achsen zu einem komplexen Muster, sodass in einer vertikalen Perspektive historische Abdrücke, Spuren im Raum, spatiale Konnotationen von Zeiterleben und damit auch spezifische Chronotopoi (Bachtin 2008 [1975]) entstehen. Zudem überlappen sich Raumachsen mit Farbsemantiken, Affektsemantiken mit Migrationsbewegungen, Blickachsen mit Erinnerungserzählungen. Formal-ästhetisch bringt diese achsenbezogene Komplexität eine Multimodalität und -perspektivik hervor, eine intermittierende Fokalisierung oder hybride Formen von (Hyper-)Texten und Genres, die in klassischen wie neueren Medien – vom literarischen Werk bis hin zur filmischen Darstellung – anders lesbar werden. Auch inter- und transmediale Phänomene sowie interdiskursive Verschränkungen werden durch diese Achsen abgesteckt.
Spektren
Durch ihre Doppeldeutigkeit als Skalen und bildhafte Gespenster legen wiederum Spektren einen Schwerpunkt auf vertikale Verschränkungen von Geschichte(n), Genealogien und Affekten. Jenseits von Marx und Derrida akzentuieren sie Phantasmen, die das Subjekt nicht loslassen, die in und mit ihm getragen werden (Mbembe 1989, Fanon 2002 [1961]). Sie sind Geister der Hoffnung, Verzweiflung, Nostalgie, Rache oder Angst, die als sublimierte und/oder kulturell kodierte Kulturtechniken von Geschichtserzählungen auftauchen. Damit legen sie eine raumerzeugende, quer zu National- und Familiengeschichten stehende und nicht zuletzt narrative Wirkmacht offen (vgl. Hall/du Gay 2010 [1996]). Diese Geister sind revenants, Wiederkehrende, die (koloniale) Vergangenheit und (postkoloniale) Gegenwart koppeln. Die spektralen Verknüpfungen sind dabei in der Innenperspektive von und Außenperspektive auf Migrant*innen einerseits postkolonial-migratorische Figuren des Verdrängten, Unheimlichen, Traumatischen, wie Bauman dies in Angst vor den anderen (2016) aufzeigt. Andererseits weisen sie neben der kollektiven Vergangenheit zugleich in die Zukunft (vgl. Mbembe u.a. 2006).
Das Spektrale ist verknüpft mit der Schwelle. Es weitet sie aus zur Zone oder verengt sie im Gegenteil zu einer gratartigen Schnittlinie, formt sie in Zeit und Raum. Das Spektrale ist Ambiguität in seiner Materialität und gleichzeitigen „Entwirklichung“ (Philipsen 2008: 13). Diese Polysemie des Spektralen verkürzt sich im Deutschen in der substantivischen Form des Spektrums, das das Geisterhaft-Gespenstische nicht zu transportieren vermag; ihm entgleitet diese différance (Derrida 1993 [1968]). In romanischen Sprachen hingegen berührt der Terminus des spectre/espectro/spettro neben physikalischen, technisch-analytischen, medizinischen Kategorien ebenfalls Bereiche des Imaginativen, des Psychosozialen und der Affektivität. Spectres beunruhigen, ihnen ist etwas Bedrohliches inhärent, das Tod, Vergangenes und Nicht-Loslassen des Vormaligen einschließt und sie so in die Gegenwart hineinholt. Desgleichen beschreiben diese spectres ein Kontinuum ebenso wie auch ein Aktionsfeld, das räumlich-prozesshafte Momente in dem Terminus in den Vordergrund rückt. Das Unheimliche, das Schreckbild umspannt also im spectre zugleich eine spatiale und eine dynamische Dimension, die wiederum in ihrer Zeitlichkeit versteh- und darüber erzählbar wird.
In Abwandlung einer Heuristik von Baßler et al. (2005) ließe sich auch für die in diesem Band fokussierten Gespenster pointieren: Gespenster sind Diskursfiguren im dreifachen Sinne, weil sie a) als Denkfigur (im Deutschen stärker als im Französischen) im Diskurs auftauchen; weil sie b) diskursiv und literar- und filmästhetisch gemacht sind; und weil sie c) als relationale Macht- und Ohnmachtsfiguren Gewaltgeschichten aufrufen. In dieser Funktion wirken sie als spektrale Zwischenwesen, die sich etablierten Ordnungen entziehen, weil sie zumeist bei dichotomen Konstellationen in beiden Sphären zu Hause sind. Gerade deshalb sind sie un-heimlich, d.h. eben nicht in einem Heim verortbar.
Sie sind überdies im doppelten Sinne Medienfiguren, weil sie erstens in den jeweiligen Medien eine spezifische Kontur bzw. Faktur bekommen und weil sie zweitens medien-selbstreflexiv funktionieren, denn sie thematisieren immer die Grenzen von Literatur und Bildmedien mit. Baßler et al. 2005 verweisen diesbezüglich auf den Begriff des Mediums im Zusammenhang mit Spiritismus und Parapsychologie. Man könnte noch weitergehen und fragen: Verstärken Gespenster die Beschaffenheit von Medien als Simulakren und darüber hinaus von Kollektiverzählungen als fragile und deshalb immer wieder zu tradierende bzw. iterative Konstrukte? Nicht zuletzt sind Gespenster auch Affektfiguren, die ohne affektive Aufladung und eine diegetische sowie rezeptionsästhetische Wirkungsweise gar nicht zu denken sind.
Zum Mehrwert einer Korrelation von Achsen und Spektren der Migration
Doch was ist nun der epistemische Mehrwert einer Korrelation von axialen und spektralen Dimensionen in Migrationserzählungen? Wir sehen hier insbesondere zwei Aspekte, die sowohl auf der terminologischen als auch auf der operativ-methodischen Ebene eine Neuausrichtung und damit einen Erkenntnisgewinn versprechen. Einerseits erlaubt es die Wechselbeziehung von Achsen und Spektren, Migrationsgeschichten nicht getrennt als Erzählungen einer axialen Bewegung durch Räume zu beschreiben, als Geschichten von Erinnerungen und Gespenstern der Vergangenheit bzw. einer kulturell-spirituellen Prägung. Das Spektrale fordert bei der Reflexion und Analyse von Achsen ein, dass Erinnerung und Metaphysisches nicht zugunsten einer horizontal-geographisch erzählten Migrationsgeschichte vernachlässigt werden darf. Vice versa drängt das axiale Moment bei der Untersuchung des Spektralen in den Literaturen und Bildmedien darauf, dass das Auftauchen von Geistern und Gespenstern nicht allein eine vertikal-historische Erinnerungsleistung oder metaphysische Erfahrung ist, sondern dass die Bewegung entlang bestimmter Achsen damit in Zusammenhang steht. Je nach Text, Serie oder Film stehen die Geister in kausaler, konsekutiver oder gar kontingenter Beziehung zu den Reisen, Wege und Fluchtlinien. Dies lässt sich eindrücklich am Roman La Tour von Doan Bui (2022) nachvollziehen, in dem Vertikalität über das Architektural-Spatiale eines Pariser Hochhauses und seines subterranen Wimmelns abgesteckt wird, in dem sich Geister und Migrant*innen überlagen. Andererseits ist die Korrelation von Achsen und Spektren method(olog)isch für die konkrete Analyse von Literaturen und Bildmedien Gewinn und Herausforderung zugleich, weil sie der Komplexität von Migrationsgeschichten gerecht(er) zu werden versucht. Eine axial-spektrale Analyse richtet demzufolge den Blick auf die Relationen und Interdependenzen beider Konzepte.
Die Beiträge in diesem Band richten ausgehend von diesen Vorüberlegungen ihren Blick auf jene Achsen und spectres im Sinne von relationalen und affektiv aufgeladenen Denkfiguren, die sich in Migrationsbewegungen aufspannen, in denen sich Migrant*innen und Gespenster ebenso kreuzen wie annähern und zugleich Gespenster der Migration in Form von Ahnen und Stimmen hörbar machen. Dabei werden beide Konzepte in ihren Potenzialen für die theoretische Reflexion und ihre Operationalisierbarkeit für die Untersuchung unterschiedlicher Medien überprüft.
Zu den Beiträgen
Zunächst ist die Ebene der diskursiven Achsen und Gespenster zu unterscheiden. Hier stehen kulturräumliche bzw. nationale Achsen im Fokus: China – Frankreich/Bretagne im Beitrag von Renaud Lagabrielle über die bande dessinée Baume du Tigre von Lucie Quéméner; Karibik – Frankreich sowie Südamerika, Europa und Spanien im Vortrag von Hanna Nohe über Memorias de una dama (2009) von Santiago Roncagliolo; Kanada – China bei Ying Chen, der sich Schmelzer in ihrer Analyse zuwendet, sowie Kanada – Haiti bei Dany Laferrière im Beitrag von Margot Brink, die die Thematik Exil versus Heimat in Korrelation von Raumachsen mit Affektsemantiken aufspannt. Nord-Süd-Achsen und die Umkehr erwartbarer migratorischer Linien thematisiert Lara Maria Bitters Beitrag über Binnenmigration von Nord- nach Süditalien bei Luisa Ruggio. Gesine Müller bewegt sich in ihrer Studie fort von binären hin zu plurilokalen Achsen, die sie im Romanwerk Yuri Herreras analysiert. Cornelia Ruhe und Thomas Wortmann wiederum arbeiten in ihrem Beitrag über die Arte-Mini-Serie Eden axiale, oszillierende Vernetzungsprozesse heraus. Auch urbane Achsen, strukturiert durch oben/unten, Zentrum/Peripherie, werden im banlieue-Film beleuchtet, und zwar im Beitrag von Susanne Greilich über das französische Gegenwartskino, aber auch in Schmelzers Analyse der Figuren des arpenteur/navigateur nach LeRue im Werk Chens.
Des Weiteren werden temporale Achsen in den Blick genommen, u.a. im Hinblick auf die Frage nach ihrer Überwindbarkeit durch Fiktion oder Traum. Brink untersucht beispielsweise die Überbrückung der Zeitebenen durch den Traum, während sich Melanie Koch-Fröhlich der Vergleichzeitigung von Orten, Zeiten und Gesellschaften im récit de filiation des 21. Jahrhunderts zuwendet. Halluzinationen oder Flashbacks versus die Unüberwindbarkeit der Zeitebenen wendet Kurt Hahn in seiner Untersuchung von Meursault, contre-enquête von Kamel Daoud (als postkoloniale Aktualisierung des Stoffs von Albert Camus’ Étranger) und Roberto Bolaños Estrella distante zu. Bei den temporalen Achsen spielen insbesondere Gewaltachsen eine zentrale Rolle, etwa in Bezug auf die Fokussierung der Sklaverei im Raum zwischen Karibik (Haiti, Martinique, Guadeloupe) und Frankreich als paradigmatisches Thema für spektrale und axiale Erzählungen im Beitrag von Gisela Febel. Hahns Vortrag wiederum verbindet koloniale und diktatoriale Gewaltachsen, v.a. über die Diktatur als politisches Resultat kolonialer Regime und Bolaños Roman über das Gewaltarchiv der Pinochet-Diktatur als Performance-Kunst. Auch Torsten Königs Analyse des Romanwerks von Alexis Jenni und Francesca Melandri deutet alltagsrassistische Phänomene als etwas, das andauernder maskuliner Kolonialgewalt entsprungen ist. Damit gehen auch Perspektiven auf Generationenachsen einher: Familiengeschichten, auch verbunden mit spatialen Achsen, z.B. im Beitrag von Koch-Fröhlich. Wie Birgit Mertz-Baumgartners Analyse zeigte, überschneiden sich diese Generationenachsen dann mit Gewaltachsen, wenn spektrale, mitunter monströse Mutterfiguren literarisch als Handlungsträgerinnen maskuliner Domination reflektiert werden, etwa im Werk Kaouther Adimis und Malika Mokeddems.
In direkter Nähe zu diesen raumzeitlichen Achsen werden in den Gegenwartsliteraturen und -medien soziale und Subjektachsen inszeniert, die die Transgressionen von Klasse und Generation herausarbeiten, Überschreitungen, die sich im literarischen Schaffen Quéméners, Adimis und Mokeddems als besonders augenfällig erweisen. Die Re-Inszenierung von Geschlechterachsen, zum Beispiel von Vater-Tochter-Verhältnissen oder Mann-Frau-Beziehungen, wird von Lagabrielle beleuchtet. Eine brisante Thematisierung von Subjektpositionen offenbart sich in dem Abschreiten von Achsen sowie dem Entlanglaufen oder Erleiden von axialen Bewegungen. Gespenster zeigen das diskursive Moment und den Versuch der Verortung auf: Spectres sind deshalb nicht liminal, sondern axial, weil sie in allen Sphären zu Hause sind, deshalb Grenzen passieren und in einem dynamischen Raum artikuliert werden. Dies zeigt die Analyse von Christian von Tschilschke über das kinematographische Schaffen Mati Diops anhand zweier Varianten derselben Erzählung im Kurzfilm Atlantiques und im Spielfilm Atlantique. In beiden wirken die Geister ertrunkener (männlicher) Migranten auf die (weiblichen) Lebenden, und damit auf die Daheimgebliebenen, ein.
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