1. Bilder – ein Konstituens der Aufklärung?
Die Aufklärung, könnte man meinen, stand ganz im Zeichen des Wortes und der Schrift: Ihre Ideen formulierte sie in philosophischen, literarischen, gelehrten oder journalistischen Texten, und sie verbreitete sie über den Buch- und Zeitschriftenmarkt, durch Vorlesungen und Briefwechsel. Noch grundsätzlicher mag man fragen, ob sich ohne die Sprache überhaupt ausdrücken, ja nur denken lässt, was die Aufklärer erstrebten? Argumente gegen eine derartige Schrift- und Sprachfixierung trugen Sensualisten jedoch schon im 18. Jahrhundert vor: „Je n’ai des idées que parce que j’ai des images dans la tête“, schreibt Voltaire in seinem Dictionnaire philosophique.1 Danach basieren die Erfahrung und Erkenntnis der Welt und alles Denken auf sinnlichen Eindrücken, insbesondere auf dem Gesichtssinn, dem Sehen. Im historischen Rückblick lässt sich zudem argumentieren, dass die europäischen Gesellschaften und Kulturen im 18. Jahrhundert noch keineswegs durchweg von der Schriftkultur dominiert waren. Vielmehr waren sie in ein breites Spektrum bildgetragener Kommunikation ‚eingetaucht‘.2
Trotzdem hat sich die Aufklärungsforschung erst in jüngster Zeit auf breiter Front den Bildern zugewandt,3 seien es Malerei, Skulptur oder Architektur, Buchillustrationen oder Einzeldrucke, technische Zeichnungen und Skizzen, Tabellen, Modelle oder Diagramme (unter ‚Bildern‘ verstehen wir demnach ein breites Spektrum von materiellen, nicht-sprachlichen visuellen Repräsentationen). Begünstigt sicherlich auch durch die stark verbesserte Verfügbarkeit von Bildern im Netz, sind es heute bei weitem nicht allein Kunsthistoriker, die sie als Quellen heranziehen, gleichberechtigt mit Texten. In der Tat fällt schon bei einer Beschäftigung mit den originalen Büchern des 18. Jahrhunderts auf (selten hingegen, wenn man moderne Ausgaben benutzt), dass die Leser häufig auch Bilder zur Betrachtung und zum Verstehen angeboten bekamen, sei es in Gestalt von Textillustrationen, sei es als Frontispize.4 Am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) der Universität Halle gibt es den Forschungsbereich ‚Bilder der Aufklärung‘ seit 2017.5
Der vorliegende Band geht auf eine Tagung zurück, die vom 16. bis 18. September 2020 am IZEA als Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts (DGEJ) stattfand. Es handelte sich bereits um die dritte Jahrestagung innerhalb einer Dekade, die das IZEA für die DGEJ ausgerichtet hat. 2010 lautete das Thema „Die Sachen der Aufklärung“, 2015 „Erzählende und erzählte Aufklärung“.6 In ihrer – nicht vorweg geplanten, sondern sich nach und nach ergebenden – Abfolge haben die drei Tagungen sich verschiedene Medien vorgenommen und gewissermaßen unterschiedliche Sinne sowie entsprechende Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten abgeschritten: zunächst die damals in der Forschung neu interessierenden Objekte und deren taktile Qualitäten, sodann die sprachlichen Argumentations-, Interpretations- und Sinngebungsmöglichkeiten der Erzählung, die gehört oder gelesen werden will, nun die Bilder, die Anschauung vermitteln.
Dass die Rede von den „Bildern der Aufklärung“ eine komplexe und vielschichtige Beziehung von Bild und Aufklärung voraussetzt, gehört zu den grundlegenden Vorannahmen der Veranstalter. Vielschichtig und komplex ist diese Beziehung schon wegen der schillernden Genitivform, die die beiden Substantive miteinander verbindet. Versteht man „Bilder der Aufklärung“ als genetivus subjectivus, sind damit Bilder gemeint, die von Vertreterinnen und Vertretern der Aufklärung hergestellt worden sind. Fasst man die Genitivform als genetivus objectivus auf, geht es hingegen um Bilder, die Aufklärung darstellen oder darstellen sollen. Schließlich kann der Genitiv aber auch als ein Genetivus possessivus bzw. als ein Genetivus qualitatis gedeutet werden: Mit den „Bildern der Aufklärung“ sind in diesem Fall Bilder gemeint, die Aufklärungscharakter besitzen oder als ‚aufklärerisch‘ gelten können. Oft lassen sich die drei hier genannten Bedeutungsebenen nicht klar voneinander unterscheiden. Zu dieser Bedeutungsvielfalt kommt die semantische Vielschichtigkeit des Aufklärungsbegriffs hinzu, die Anlass zu zahlreichen begriffsgeschichtlichen Analysen gegeben hat.7
Im Dickicht der Fragen, welche die „Bilder der Aufklärung“ aufwerfen, können drei größere Komplexe identifiziert werden, die den hermeneutischen Rahmen aller hier versammelten Aufsätze ausmachen:
Welche Bilder können, über eine epochale Zuordnung hinaus, als ‚aufklärerisch‘ bezeichnet werden bzw. stellen einen spezifischen Bezug zur Aufklärung her – und aus welchen Gründen ist dies möglich bzw. mit welchen Mitteln geschieht dies? Der Konstruktcharakter des Aufklärungsbegriffs ist den Autorinnen und Autoren der vorliegenden Beiträge dabei höchst bewusst: Das Wort ‚Aufklärung‘ oder das dazugehörige Verb oder Adjektiv kommen keineswegs überall schon in den Quellen vor, auf die der Begriff heute angewandt wird. Sowohl vom angelegten Aufklärungsbegriff her als auch mit Bezug auf die jeweiligen Bilder ist daher stets zu überlegen: Mit welchem Recht kann man dieses oder jenes Bild der Aufklärung zuordnen und was heißt dann jeweils ‚aufklärerisch‘?
Mit welchen bildnerischen Mitteln, seien es Motive oder Darstellungsweisen, lässt sich Aufklärungsprogrammatik entwerfen und propagieren? Hier wird danach gefragt, wie sich bildliche Darstellungen auf aufklärerische Gedanken, Figuren, Motive usw. beziehen und wie sie dabei als Bilder funktionieren. Nur kurz erinnert sei daran, dass das Erzählen von Aufklärung in der Forschung der letzten Jahre als Konstituens dieser Bewegung und Epoche identifiziert wurde. Dan Edelstein hat 2010 vorgeschlagen, die Aufklärungsforschung solle nicht mit einem Merkmalbündel ‚aufklärerischer‘ Ziele, Denkweisen und Praktiken starten, sondern die Frage stellen, wo sich die historischen Akteure von dem Bewusstsein leiten ließen, zur Aufklärung beizutragen. Dabei bindet Edelstein aufklärerisches Selbstbewusstsein weniger an den Gebrauch von Begriffen wie aufklären, aufgeklärt oder gar Aufklärung (bzw. lumières, éclairer, to enlighten, verlichting …), als vielmehr an ein „historical narrative“, das die eigene Gegenwart in einer für die europäische Geistesgeschichte ganz neuen Weise als Fortschritt gegenüber aller Vergangenheit definierte.8 Zugespitzt: Indem die Aufklärer (oder auch ihre Gegner) derart von einem Geschehen oder einer Tätigkeit erzählten, bildete sich das Narrativ ‚Die Aufklärung‘. Dieser Ansatz lässt sich auf die „Bilder der Aufklärung“ übertragen. Die Leitfrage lautet dann, wie Bilder zur Ausformung des aufklärerischen Selbstverständnisses und Gruppenbewusstseins beigetragen haben.
Welche Aufklärung? Hier geht es vor allem darum, der Frage nachzugehen, ob und wenn ja inwiefern sich der herkömmliche textbezogene Aufklärungsbegriff durch die Einbeziehung bildlicher Aufklärungsprogrammatik verändert. Laut Lambert Wiesing besteht „das Wesentliche des Bildes […] darin, dass man auf einem Bild etwas sehen kann, was ohne Bilder nicht zu sehen wäre“.9 Welche Auswirkungen hat es auf unser Bild von der Aufklärung, wenn wir verstärkt ihre Bilder untersuchen? Wurden Bilder in anderen Bereichen, mit anderer Adressierung und zu anderen Zwecken eingesetzt als Texte? Lassen sich durch sie bisher übersehene Felder des Aufklärens erschließen? Verändert sich die symbolische Anschaulichkeit des Begriffs „Aufklärung“ und seiner Äquivalente in den anderen europäischen Sprachen, die ebenfalls Lichtbilder evozieren, wenn sie in konkreten Bildgebungen des 18. Jahrhunderts repräsentiert wird?
Mit der Ausformulierung und Beantwortung dieser Fragen kann die konstitutive Rolle besser beleuchtet werden, die die Bilder für die Ausbildung und Verbreitung eines als ‚Aufklärung‘ verstandenen Programms spielten. Die Leitbegriffe, die wir heute auf die Aufklärer anwenden, nahmen schließlich erst im Laufe des Jahrhunderts ihre distinkte Bedeutung an. Bilder (einige zumindest) kamen bereits vor der sprachgetragenen Aufklärungsprogrammatik zur Propagierung von Aufklärungsansprüchen zum Einsatz.10 Dem Befund von der Aufklärung, die sich in Erzählungen entwirft, lässt sich daher die These an die Seite stellen, Aufklärung/enlightenment/les lumières/i lumi sei nicht allein ein bildkräftiger Begriff, sondern die damit bezeichnete Bewegung habe ihre Durchschlagskraft auch entsprechenden Bildwerken verdankt, die den Menschen des 18. Jahrhunderts vor Augen führten, wie unentbehrlich Aufklärung sei, mit welcher Naturmacht sie sich vollziehe und was sie bewirken soll.
2. Ikonographische vs. bildreflexive Ansätze
Wo die Rolle von Bildern im Projekt und Prozess der Aufklärung untersucht wird, lassen sich idealtypisch zwei divergente, aber kombinierbare Ansatzweisen beobachten; das gilt für die Beiträge zu diesem Band ebenso wie für die einschlägige Forschung im Allgemeinen. Der erste Ansatztyp macht Ideen, Intentionen und Verfahren der Aufklärung in bestimmten Bildmotiven, Darstellungsweisen oder Rezeptionsangeboten aus. Die Leitfrage lautet dann: Welche Bildelemente signalisierten Aufklärungsansprüche und wurden entsprechend wahrgenommen? Der Sprachbildlichkeit des Aufklärungsdiskurses entsprechend, richtet sich die Aufmerksamkeit dann zunächst auf Lichtmotive, Bilder des Aufhellens oder Hellwerdens, des Beleuchtens und der Vertreibung der Dunkelheit. Weitere naheliegende Bildmotive sind Szenen religiöser Toleranz, ‚tugendhafte‘ Lebensformen, der Typus des philosophe oder reale Leitfiguren der Aufklärung wie Diderot.11 Neben Motiven, die zur positiven Identifikation einladen (‚Vorbildern‘), können abschreckende Szenen des Unrechts, der Willkür und des unverschuldeten Elends als Aufforderung zu Reformen verstanden werden.12 Weiterhin lassen sich ‚aufdeckende‘ Darstellungsweisen, die etwas sichtbar machen, was normalerweise verborgen ist, als aufklärerisch interpretieren,13 gleich ob sie als optimierte Empirie auftreten wie die Uterus-Stiche des Anatomen William Hunter oder ob sie in polemischer Absicht eine pornographische Szene imaginieren wie der revolutionäre Druck mit dem doppeldeutigen Titel „Ma constitution“.14 Auch ‚epistemische Bilder‘, die Erkenntnis ermöglichen, indem sie an die Stelle der Objekte treten,15 kann man als aufgrund ihrer Bild(gebungs)verfahren ‚aufklärende‘ Bilder bezeichnen.
Im Unterschied zu solchen ikonographischen und perspektivanalytischen Herangehensweisen kann ein zweiter Typ von Ansätzen als ‚bildreflexiv‘ charakterisiert werden. Hier wird das spezifische Verhältnis der Aufklärung zu den Bildern in der von ihnen angestoßenen, gesteigert kritischen Reflexion ihrer Darstellungsmodi sowie der Rolle des Betrachters und des Sehens gesucht.16 Ein „Aufklärungsinstrument“, wie der Bildtheoretiker Wiesing schreibt, sind sie immer dann, wenn sie Sichtweisen sichtbar machen, nämlich die Sichtweisen, die der Sehende selbst nicht sehen kann.17 Analog zur sprachgetragenen Selbstreflexion, die für die Aufklärung so wichtig war, geht es in dieser Perspektive darum, ob und wie Bilder im 18. Jahrhundert darüber ‚nachzudenken‘ und ihre Betrachter darüber aufzuklären vermögen, was sie medial auszeichnet und was sie leisten. In diesem Sinne hat bereits Diderot die selbstreflexive Beredtheit von Chardins Gemälden gerühmt: „Vous revoilà donc, grand magicien, avec vos compositions muettes ! Qu’elles parlent éloquemment à l’artiste ! Tout ce qu’elles lui disent sur l’imitation de la nature, la science de la couleur, et l’harmonie ! Comme l’air circule autour de ces objets ! La lumière du soleil ne sauve pas mieux les disparates des êtres qu’elle éclaire.“18 Bildtheoretische Überlegungen, die z.B. die Autonomie des Bildes von seiner mimetischen Funktion abheben oder performative von illustrativen Bildern unterscheiden, schließen daran an.
So unterschiedlich diese Ansätze sind, sie schließen sich nicht gegenseitig aus und treffen sich zudem in der Frage, welche Art von Aufklärung Bilder bewirken können bzw. bewirkten, zumal im Vergleich mit Texten. Fragen lässt sich dabei sowohl nach Korrespondenzen19 als auch nach Konkurrenzen. Wo beispielsweise ließen sich Bilder besser als Texte dafür einsetzen, Kritik an den geistlichen, philosophischen oder politischen Autoritäten zu artikulieren, sei es im Wortsinn plakativ, sei es weniger direkt und damit weniger angreifbar? Wie konnten sie ihren Betrachtern eine Schärfung des Blicks vermitteln, sei es phänomenologisch oder metaphorisch als Kritikfähigkeit verstanden?20 Wo wurden bildliche Darstellungsverfahren genutzt, um Ansichten zu präsentieren, Einblicke zu geben oder Übersichten zu ermöglichen, die sprachlich nicht in derselben Klarheit oder Dichte und Detailliertheit und damit Eindrücklichkeit repräsentierbar gewesen wären?21 So zu fragen, heißt wohlgemerkt nicht zwingend, allein die darstellende oder didaktische Funktionalität von Bildern – und nicht auch ihren ‚Eigensinn‘ – in den Blick zu fassen.22 Was ‚wahr‘ ist an Bildern, bemisst sich jedenfalls nicht allein an ihrer mimetischen Referenzialität. Vielmehr können sie durchaus idealisierende Selbstbilder zeichnen oder ein kollektives Imaginäres visualisieren, das nur als Vorstellungskomplex Realität hat.23 Deswegen waren und sind sie womöglich aber nicht weniger wirkmächtig.
3. Dekodierbarkeit vs. Opazität der Bilder
Eine große Rolle auf der hallischen Tagung spielten methodologische Fragen, die den interpretatorischen Umgang speziell mit Bildern betreffen: Wie viel formulierbare Bedeutung oder sogar eine Aussage im Diskurs der Aufklärung darf ihnen zugeschrieben werden und auf welcher bildtheoretischen Grundlage? Oder ist eher ihre Opazität zu betonen und dass sie nicht reduzibel sind auf propositionale Bedeutungen? Einerseits kann man argumentieren, dass sich das bildliche Zusammenspiel von Formen und Farben weder von vorgängigen Ideen herleiten noch auf Begriffe bringen lässt. Bilder dürfen daher nicht zu Illustrationen, sei es der Aufklärung, sei es anderer Gehalte, verkleinert werden. Sofern man Bildern überhaupt die Fähigkeit zur Bedeutungserzeugung zumisst,24 vollzieht sich diese auf einer, verglichen mit Texten, schwankenderen Grundlage. Johannes Grave schreibt dazu: „anders als bei Texten lässt sich die Struktur bildlicher Darstellungen nicht auf distinkte Grundeinheiten (Buchstaben, Lautsilben oder Wörter) zurückführen. Vielmehr haben sowohl semiotische Bildtheorien als auch deren Kritiker darauf aufmerksam gemacht, dass sich in Bildern in der Regel keine stabilen bedeutungstragenden und -unterscheidenden Einheiten finden lassen, die problemlos als Zeichen gelten könnten.“25 Auf der anderen Seite zeigte sich in vielen Beiträgen und Diskussionen, dass nicht nur Texte, sondern auch Bilder dekodierbar sind, zumindest partiell, indem man allegorische Bedeutungen aufdeckt oder Bildschemata, -formeln und -traditionen identifiziert. Stehen sich demnach eher den ästhetischen Eindruck beschreibende und eher diesen Eindruck in Bedeutungen übersetzende Ansätze gegenüber, so sind jedenfalls die Ambiguitäten bildlicher Semiose zu betonen. Ohnehin handelt es sich nicht ausschließlich um die Frage einer methodischen Vorentscheidung. Vielmehr hängt ihre Beantwortung auch vom jeweiligen Bild ab: Während manche Bildwerke primär den Eindruck erzeugen, dass sie als Darstellung transparent sind, indem sie scheinbar nur das Dargestellte und dessen Bedeutungen zeigen, kehren andere ihre Darstellungsweise und Materialität hervor, bis hin etwa zum Pinselduktus.
Folgen hat die medial und semiotisch bedingte Ambiguität der Bilder nicht allein für die Interpretation einzelner Artefakte, sondern auch für mögliche Antworten auf die Ausgangsfrage, ob sich unser Bild von der Aufklärung verändert, wenn wir die Bilder der Aufklärung analysieren. Und dies nicht allein, weil der Ansatz bei den Bildern ein primär intellektualistisches Aufklärungsverständnis unmöglich macht.26 Sich mit den Bildern der Aufklärung zu beschäftigen führt zu einer komplexeren Ansicht dieser Bewegung und Epoche und verstärkt noch die Pluralisierung, die in den textinterpretierenden Wissenschaften seit geraumer Zeit zu beobachten ist.27 Sich mit den Bildern der Aufklärung zu beschäftigen hat nicht nur, aber auch zur Konsequenz, dass das Vorhaben, sich überhaupt ein Bild – und gar einen Begriff – von der Aufklärung zu machen, als problematisch erscheint.
Angelegt ist die Gemengelage von identifizierbaren propositionalen Bedeutungen und ästhetischen Anmutungen, die sich solcher Festlegung entziehen, bereits in der ästhetikgeschichtlichen Situation des 18. Jahrhunderts: Es gab noch ein akademisches System der Kunstgattungen, aber dieses wurde nicht selten missachtet oder überschritten. Und die Allegorie verlor dramatisch an Ansehen, doch ihre bedeutungstransportierenden Verfahren waren noch fleißig in Gebrauch. Das Spannungsfeld zwischen Dekodierbarkeit und Opazität, in dem sich, wie die Tagung zeigte, heutige Interpretationen der Bilder der Aufklärung bewegen, hat demnach auch seine historischen, epochenspezifischen Gründe. Zu fragen ist indes, in welchem Maße Bilder in dieser Hinsicht von Texten abzuheben sind. Denn die gerade genannten Tendenzen finden wir ebenso oder ähnlich im literarischen Feld, man denke nur an den Umschwung von einem Literaturkonzept, das auf die eingängige Vermittlung einer vorgängigen Lehre zielt, zu einer Auffassung von Literatur als Problematisierung aller Kategorien der Weltwahrnehmung und Sinnproduktion.28 Die Tendenz zur ästhetischen Autonomie verbindet die Geschichte der Bilder und die der Texte im 18. Jahrhundert. Was wiederum unseren Umgang mit Texten angeht, haben wir von der Dekonstruktion gelernt – falls wir es nicht schon als Hermeneutiker wussten –, dass textuelle Bedeutungserzeugung ein unsicherer und unabschließbarer Prozess ist. Auch Texte der Aufklärung können die performative Qualität aufweisen, die mit der „Autonomie des Bildes“ verbunden ist, die in der neueren Kunstgeschichtsforschung der französischen Genremalerei der Aufklärung zugemessen wird.29
Zumindest einen prinzipiellen Unterschied zwischen der Analyse von Bildern und der von Texten gibt es trotzdem: Anders als Textanalysen vollziehen sich Bildanalysen in einer Mediendifferenz zwischen dem Gegenstand und dem Diskurs darüber. Wenn die auf der hallischen Tagung gewonnenen Eindrücke nicht täuschen, sensibilisiert dies für die Schwierigkeiten der Bedeutungszuschreibung. Für die Aufklärungsforschung dürfte es kein Schaden sein, wenn das zur Folge hätte, dass sie sich der Distanz zu ihren Gegenständen verstärkt bewusst wird.30
4. Die Historie, die Bilder und die (wechselseitige) Aufklärung in einem Frontispiz von 1775
Zu einigen abschließenden methodologischen Reflexionen gibt das Bild Anlass, das die Vorlage für das Plakat der Tagung sowie das Cover dieses Bandes bot. Es handelt sich um das Frontispiz zum Katalog einer berühmten Kunstsammlung, die im Winter 1775/76 in Paris versteigert wurde. Ihr Besitzer Pierre-Jean Mariette war ein ausgezeichneter Antiquar, insbesondere auf dem Gebiet der Gemmen und geschnittenen Steine, und galt als einer der besten Kenner des 18. Jahrhunderts auf dem Feld der Druckgraphik.31 Seine Büste blickt vom rechten Rand des Frontispizes über die allegorischen Figuren hinweg, die im Vordergrund sichtbar machen, welche Talente den Verstorbenen auszeichneten und was er geleistet hat.
Im Zentrum der Komposition sitzt die Personifikation des unermüdlichen Studiums32 (unermüdlich, weil ein Hahn an ihrer Seite für durchwachte Nächte steht). Ihre linke Hand weist auf Druckgraphiken in einer aufgeschlagenen Sammelmappe, die sie betrachtet hat. Doch nun wendet sie sich zur neben ihr sitzenden Historia, der Personifikation der Geschichtsschreibung, die an ihren Schreibwerkzeugen sowie dem vor ihr kauernden Chronos erkennbar ist. Das Studium der bildenden Kunst ermöglicht, so die Aussage dieser Konstellation, historische Erkenntnis, die sich im Medium der Schrift vollzieht. Die Mediendifferenz, die durch die geschnittenen Steine, Medaillen oder Münzen auf dem Boden vor der Studiumsfigur im Unterschied zu den gebundenen Büchern auf Chronos’ Seite noch unterstrichen wird, bildet dabei kein Hindernis. Im Gegenteil: Hier – und zwar genau im Schnittpunkt der Diagonalen des Bildes – werden ‚Lichter angesteckt‘ und findet ein Erhellungswerk statt, soll heißen: werden Einsichten (frz. lumières) gewonnen. Die gerade in der französischen Aufklärung als Bildmotiv und Metapher beliebte Fackel deutet jene Arbeitsgemeinschaft darüber hinaus als Beitrag zur Aufklärung in einem allgemeineren Sinne. Die Studiumsfigurr ist dabei nicht nur die Gebende, sondern empfängt auch, denn sie zündet ihre Fackel an der Lampe der personifizierten Zeichnung an,33 die mit ihrem Zeichengerät für die technisch-künstlerische Beherrschung der Sache steht. Über der ganzen Gruppe hält der Gott des Geschmacks seine Fackel.
Pascal Griener hat das Bild unter der Überschrift einer im Aufklärungszeitalter ‚neuen Erkenntnistheorie des Blicks‘ („une nouvelle épistémologie du regard“) besprochen.34 In den sich überkreuzenden Blicken der Historia und der Figur des Kunststudiums auf die Medien des jeweils anderen propagiert das Frontispiz in der Tat, dass mediendifferente Perspektiven voneinander profitieren können. Das heißt zugleich, dass es nicht um eine exklusive Privilegierung der visuellen Erkenntnis sowie der bildenden Künste geht. Wie auch Griener bemerkt, ist indes ebenso deutlich, dass hier ein Modell von Kennerschaft und Erkenntnisgewinnung, ja Aufklärung propagiert wird, das sich von einem anderen Modell, nämlich von der reinen Büchergelehrsamkeit, absetzt. Denn diese rückt, in Gestalt der Bücherregale oben links, in den sowohl bildlich konkreten wie auch als Nachrangigkeitsmetapher zu verstehenden Hintergrund. Die allegorische Figurengruppe wendet den Büchern geradezu demonstrativ den Rücken zu. Immerhin jedoch haben Zeichner und Stecher darauf verzichtet, den Bereich der exklusiven Schriftkultur zu verschatten und dadurch im Kontext der aufklärerischen Lichtbildlichkeit zu pejorisieren. Vielmehr setzen sie – was die schwierigere Variante war – die Gruppe im Vordergrund dadurch von jenem hellen Hintergrund ab, dass sie eine Schattenzone aus Vorhang und Wandpanelen dazwischenlegen.
Wenn sich die Vordergrundszene innerhalb einer Bibliothek abspielt – und es sich um das Frontispiz zu einer Buchpublikation handelt! –, werden die Bild- und Blickemphase dann aber nicht doch in einem Rahmen von Bücherwissen und sprachlicher Bedeutungserzeugung situiert? Durchaus am Platze ist ein solches reflexives Bedenken auch gegenüber unserem Interesse an den Bildern der Aufklärung, das sich zwar den Bildern zuwendet und mit ihnen argumentiert, aber auf Sprache und Schrift angewiesen bleibt, um Thesen zu formulieren und Begründungen zu geben. Folgt man dem Mariette-Frontispiz, so lässt sich mit der Hinwendung zu den Bildern ein vielversprechender neuer Akzent in der Aufklärungsforschung setzen – ohne dass man deren traditionell schriftzentrierte Erkenntnisse und Methoden jedoch ignorieren sollte. Cochin als Zeichner – der übrigens auch das berühmte Frontispiz der Encyclopédie35 schuf – und Choffard als Stecher jedenfalls präsentieren die Arbeitsformen des Zur-anderen-Disziplin-Hinüberschauens und der gegenseitigen Erhellung als etwas höchst Lebendiges und Attraktives, das auch den Blick des externen Betrachters auf sich zieht.
Dank
Ein Experiment war die Tagung nicht allein in methodischer Hinsicht, sondern auch weil sie als eine der ersten größeren akademischen Veranstaltungen nach der ersten Welle der Corona-Pandemie stattfand. Die deshalb ungewöhnlich aufwendige Vorbereitungsarbeit wurde maßgeblich von Dr. Theresa Schön (jetzt Leipzig) geleistet; unermüdlich unterstützend wirkte die Forschungskoordinatorin des IZEA Dr. Andrea Thiele. Ihnen ist der über das Erwartbare hinaus glatte Ablauf der Tagung zu verdanken. Gleichfalls herzlichen Dank sagen wir Mike Rottmann und Dr. Jakob Heller, die uns bei der Drucklegung wesentlich geholfen haben. Leider liegt damit nur eine Auswahl von Tagungsbeiträgen gesammelt vor – mehr war aus technischen und finanziellen Gründen nicht möglich. Die Tagung selbst wurde durch die Alexander-von-Humboldt-Professur von Elisabeth Décultot und die Deutsche Forschungsgemeinschaft unterstützt, der ebenfalls unser Dank gilt.
Voltaire, Œuvres complètes. Bd. 35: Dictionnaire philosophique, hg. v. Christiane Mervaud, Bd. 2, Oxford 1994, S. 201, s. v. Idée, Ausgabe von 1765.
So die Formulierung der Romanistin und Pionierin der Buchillustrationsforschung Christina Ionescu, Towards a Reconfiguration of the Visual Periphery of the Text in the Eighteenth-Century Illustrated Book, in: dies. (Hg.), Book Illustration in the Long Eighteenth Century. Reconfiguring the Visual Periphery of the Text, Newcastle upon Tyne 2011, S. 1–50, hier S. 50 („immersed“).
Ludmilla Jordanova, Image Matters, in: The Historical Journal 51 (2008), S. 777–791, hier S. 782, sieht noch 2008 Grund genug, um zu monieren, „for many commentators ideas lie at the heart of the phenomenon called ‚the Enlightenment‘; the relationship between ideas and visual culture is at best complicated and at worst entirely problematic“.
Vgl. Nathalie Ferrand, Livres vus, livres lus. Une traversée du roman illustré des Lumières, Oxford 2009.
Erste Ergebnisse dokumentiert dieser Band: Daniel Fulda (Hg.), Aufklärung fürs Auge. Ein anderer Blick auf das 18. Jahrhundert, Halle a. d. S. 2020.
Mitorganisatorin bei diesen beiden Tagungen war Frauke Berndt (damals Tübingen), neben Daniel Fulda.
Dazu wahlweise: Heinz Thoma, Aufklärung, in: ders. (Hg.), Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe – Konzepte – Wirkung, Stuttgart / Weimar 2015, S. 67–85; Stefanie Stockhorst, Aufklärung – Epoche, Projekt und Forschungsaufgabe, in: dies. (Hg.), Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung, Göttingen 2013, S. 7–24; Horst Stuke, Aufklärung, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde. (in 9), Stuttgart 1972–1997, Bd. 1, S. 243–342; Daniel Fulda, Die Erfindung der Aufklärung. Eine Begriffs-, Bild- und Metapherngeschichte aus der ‚Sattelzeit‘ um 1700, in: Archiv für Begriffsgeschichte 64.1 (2022), S. 7–100.
Dan Edelstein, The Enlightenment. A Genealogy, Chicago / London 2010, S. 13.
Lambert Wiesing, Phänomene im Bild, München 2000, S. 10.
Vgl. Daniel Fulda, Neue periodische Schriftmedien, das Medium Bild und die Programmatik der Aufklärung, in: Liina Lukas [u. a.] (Hg.), Medien der Aufklärung – Aufklärung der Medien. Die baltische Aufklärung im europäischen Kontext, Berlin / Boston 2021, S. 21–47; ders., ‚Aufklärung‘ in den 1710/20er Jahren: theologischer Kampfbegriff vs. philosophisches Programmbild, in: Johannes Birgfeld / Stephanie Catani / Anne Conrad / Sophia Mehrbrey (Hg.), Aufklärungen. Strategien und Kontoversen vom 17. bis 21. Jahrhundert, Heidelberg 2022, S. 19–42.
Zu den beiden letzten Motiven vgl. den Beitrag von Martin Schieder.
Vgl. die Beiträge von Robert Fajen über idealisierend-allegorische bzw. kritisch-anklagende Bilder der ‚Rechtspflege‘ des 18. Jahrhunderts sowie von Alexander Košenina über Warnbilder von Geisterbeschwörung und Hexenverfolgung.
So geht der Beitrag von Etienne Jollet der malerischen Sichtbarmachung von Kausalitäten nach.
[https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/2f/Hunterw_table_12.jpg; https://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb40252632m].
Davon handelt Cecilia Hurleys Beitrag über die Illustrationen großer kunsthistorischer Werke.
Wie sich das Verständnis des Sehens im 18. Jahrhundert wandelte, verfolgen die Beiträge von Pascal Griener und Fokko Dijksterhuis; vgl. außerdem Evelyn Dueck: Die „krumme Bahn der Sinnlichkeit“. Sehen und Wahrnehmung in Optik, Naturforschung und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts, Paderborn 2022. Den Anteil des Betrachters an der Erzeugung des Erhabenen arbeitet der Beitrag von Johannes Grave heraus.
Wiesing, Phänomene im Bild, S. 18.
Denis Diderot, Salon de 1765, in: ders., Salon de 1765. Essais sur la peinture (Œuvres complètes, Bd. 14), hg. v. Else Marie Bukdahl / Annette Lorenceau / Gita May, Paris 1984, S. 21–332, hier S. 117. Daran anschließend vgl. Max Imdahl, Farbe. Kunsttheoretische Reflexionen in Frankreich [1987], München 32003, S. 74–86: Beobachtungsintensität und Aktbewußtsein des Sehens: Farbgebung und Aufklärung, sowie den Beitrag von Britta Hochkirchen zum vorliegenden Band.
Vgl. die Beiträge von Nathalie Ferrand über die Frontispize zu Rousseaus Werken, von Werner Telesko über den Medienverbund der josephinischen Publizistik sowie von Sandra Vlasta über Reiseberichtillustrationen.
Dies fragt Jürgen Overhoff in seinem Beitrag über die Illustrationen u. a. zu Basedows Elementarwerk.
Vgl. die Beiträge von Jana Kittelmann über Pflanzenbücher sowie von Daniel Fulda über eine Menschheitsgeschichte in zwölf Kalenderbildern.
Vgl. den Beitrag von Hui Luan Tran über Funktionalität und künstlerische Freiheit der Illustrationen in einem Lehrwerk der Vermessungskunst. Die didaktische Perspektive in einem politischen Sinne rückt Anett Lütteken in den Vordergrund, mit von der Zürcher Obrigkeit ausgegebenen Neujahrsblättern als Beispiel.
Vgl. die Beiträge von Hole Rößler über Gelehrtenporträts sowie von Christophe Martin über das Bildmotiv der Fackel bei Rousseau.
Tzvetan Todorov, La peinture des Lumières. De Watteau à Goya, Paris 2014, S. 189 schreibt: „Ils ne signifient pas, ils sont.“ Etwas abgeschwächt formuliert Todorov an anderer Stelle: „Les images ne signifient pas; comme l’oracle de Delphes, elles se contentent de suggérer“ (S. 12).
Vgl. Johannes Grave, Bild und Zeit. Eine Theorie des Bildbetrachtens, München 2022, S. 33.
Ein um ästhetische Wirkungsstrategien erweitertes Aufklärungsverständnis bringt zudem den Faktor Religion wieder neu ins Spiel, wie der Beitrag von Wolfgang Braungart zeigt.
Vgl. Antoine Lilti, L’héritage des Lumières. Ambivalences de la modernité, Paris 2019, S. 10–13, und auch schon Fania Oz-Salzberger, New Approaches towards a History of the Enlightenment – Can Disparate Perspectives Make a General Picture?, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 29 (2000), S. 171–182.
Vgl. Karl Eibl, Die Erfindung der Poesie, Frankfurt a. M. / Leipzig 1995.
Britta Hochkirchen, Bildkritik im Zeitalter der Aufklärung. Jean-Baptiste Greuzes Darstellungen der verlorenen Unschuld, Göttingen 2018, S. 348.
Vgl. Ritchie Robertson, The Enlightenment. The Pursuit of Happiness 1680–1790, London 2020, S. xvi f., 41.
Vgl. Kristel Smentek, Mariette and the Science of the Connoisseur in Eighteenth-Century Europe, Farnham 2014; Valérie Kobi, Dans l’œil du connoisseur. Pierre-Jean Mariette (1694–1774) et la construction des savoirs en histoire de l’art. Préface de Pascal Griener, Rennes 2017, zum besprochenen Stich vgl. ebd., S. 38.
So die Bildunterschrift; die beigegebene „explication de l’allégorie“ nennt die Figur „la connoissance“, also die Kennerschaft, vgl. [Pierre] F[rançois] Basan, Catalogue raisonné des différens objet de curiosités, dans les Sciences et Arts, qui composoient le Cabinet de feu Mr Mariette […], Paris 1775, S. j.
Dass es sich nicht umgekehrt verhält, stellt die „explication“ klar.
Pascal Griener, La République de l’œil. L’expérience de l’art au siècle des Lumières, Paris 2010, S. 188.
Vgl. Abb. 1 im Beitrag von Hui Luan Tran.