Wolfgang Künne ist einer der bedeutendsten Philosophen seiner Generation. Mit seinen viel beachteten Publikationen hat er die theoretische Philosophie der letzten vierzig Jahre maßgeblich geprägt. Im deutschen Sprachraum hat insbesondere sein Werk Abstrakte Gegenstände von 1983 (neu erschienen 2007) große Aufmerksamkeit erregt. Darin legt er eine sprachanalytische Rekonstruktion der ontologischen Debatte um die Existenz von Abstrakta vor, welche die Philosophie seit der Antike beschäftigt. International bekannt wurde er vor allem durch seine wegweisenden Arbeiten auf dem Gebiet der Wahrheitstheorie und für seine Bolzano- und Frege-Forschung. Exemplarisch sei sein umfassendes Werk Conceptions of Truth (2003) genannt, das heute den Status eines Referenzwerks zur philosophischen Wahrheitstheorie hat. Künne analysiert darin alle wichtigen Wahrheitstheorien der Philosophiegeschichte und stellt seinen eigenen Modest Account der Wahrheit vor. Wie schon diese wenigen Charakterisierungen zeigen, steht Wolfgang Künne sowohl für bedeutende systematische Beiträge zu aktuellen Kernfragen der analytischen Philosophie als auch für eine lebendige Auseinandersetzung mit klassischen Positionen und Argumenten aus der philosophischen Tradition. Schließlich ist Wolfgang Künne nicht nur ein herausragender Forscher, sondern auch ein engagierter Lehrer. Während seines Wirkens an der Universität Hamburg und darüber hinaus hat er viele Generationen von Studierenden für die Philosophie begeistert.
Der vorliegende Band dokumentiert eine Tagung, die vom 2. bis zum 4. November 2021 im Rahmen der Münsterschen Vorlesungen stattfand. Bei diesem Veranstaltungsformat erarbeiten Studierende der Universität Münster Vorträge zum Werk eines renommierten Philosophen oder einer renommierten Philosophin. Die Vorträge werden dann auf der Tagung in Anwesenheit des Gastes präsentiert und diskutiert. Die Veranstaltung mit Wolfgang Künne war in mehreren Hinsichten außergewöhnlich. Sie stand während der gesamten Planungsphase unter dem Zeichen der Corona-Beschränkungen. Nicht nur unsere beiden Vorbereitungsseminare zu Künnes Werk, sondern auch fast alle Gruppensitzungen, in denen die Vorträge erarbeitet wurden, fanden nur im digitalen Raum statt. Lange war unklar, ob die Tagung selbst in Präsenz stattfinden darf. Zu unserem großen Glück trafen wir nach zwei Terminverschiebungen im November 2021 genau das Zeitfenster, in dem uns eine Präsenztagung zwischen den Lockdowns erlaubt wurde. Alle Beteiligten haben es als ein Geschenk empfunden, dass wir Wolfgang Künnes Eröffnungsvortrag über die Ebenen des Verstehens vor Ort hören durften, dass wir gemeinsam im Festsaal des Münsterschen Schlosses sitzen und mit ihm seine Philosophie diskutieren konnten. Das Thema Verstehen war auch in diesen Diskussionen stets gegenwärtig. Denn die hohe Präzision von Künnes philosophischem Sprechen, seine konzisen Nachfragen und seine Erwiderungen auf Einwände sind immer auf das gegenseitige Verstehen gerichtet. Gerade nach den Erfahrungen des ersten Corona-Jahres führte uns dies beispielhaft vor Augen, wie sehr Philosophieren den klaren, persönlichen Austausch braucht, um fruchtbar zu sein. Bei der Herausgabe dieses Bandes war es uns ein besonderes Anliegen, die Atmosphäre der Tagung mit Wolfgang Künne im Gespräch erfahrbar zu machen.
Dass die Resultate der Tagung in der vorliegenden Form publiziert werden können, ist vielen Beteiligten zu verdanken. An erster Stelle gilt unser Dank Wolfgang Künne, der sich engagiert und dialogisch auf dieses Projekt eingelassen hat. Mit seinem Eröffnungsvortrag hat er ein Thema wiederaufgenommen, dem er schon seine Antrittsvorlesung an der Universität Hamburg widmete (erstmals 1981 publiziert). Seinen Vortrag hat er für diesen Band zu einem großen Aufsatz ausgearbeitet, in dem er den aktuellen Stand seiner Verstehenstheorie umfassend darstellt. Die studentischen Aufsätze kommentiert er in Texten, die über bloße Repliken weit hinausgehen. Sie gewähren einen detaillierten Einblick in sein gegenwärtiges Nachdenken über Kernthemen seines Werks. Die Hermeneutik seines akademischen Lehrers Hans-Georg Gadamer kommt dabei ebenso zur Sprache wie Bernard Bolzanos Reflexionen über Lug und Trug, Künnes Interpretation von Platons Ideenlehre, und – natürlich – systematische Diskussionen über Propositionen, über Fiktion und über Wahrheit. Der Band schließt mit dem Erstabdruck des Texts einer Rede über den Sinnspruch: „Die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit (veritas filia temporis)“. Wir danken Wolfgang Künne sehr dafür, dass er uns diesen Text für die Publikation in diesem Band zur Verfügung gestellt hat.
Der nächste Dank und unsere größte Anerkennung gebühren den fünfzehn studentischen Autor:innen. Mit Ausdauer und Begeisterung haben sie unser gemeinsames Projekt durch die gesamte Corona-Krise getragen. Gerade in Anbetracht der außergewöhnlichen Umstände verdient ihre Leistung besondere Beachtung. Unter erschwerten Bedingungen haben sie sich in Künnes lehrreiches Werk eingearbeitet. Jeder einzelne ihrer sorgfältig vorbereiteten Texte bildete den Ausgangspunkt für eine reichhaltige Diskussion während unserer Tagung. In ausgearbeiteter Form gestalten sie nun diesen Band.
Ein herzlicher Dank gilt außerdem dem Philosophischen Seminar der Universität Münster, das die Publikation dieses Bandes großzügig finanziell unterstützt hat. Ebenso herzlich danken wir Claudia Güstrau, Jacqueline Hohlmann, Lisa-Maria Meier und Niko Strobach für ihre editorische Unterstützung. Schließlich danken wir Stephan Kopsieker, der uns von Seiten des Verlages stets mit Rat und Tat zur Seite stand und die editorische Arbeit von der Fahnenerstellung bis zur Drucklegung betreut hat.
Martin Hoffmann und Tobias Martin
Münster, den 25. Oktober 2023