Search Results
Abstract
Die Stadtgründung Sankt Petersburgs war ein bewusster Versuch, ein neues Narrativ über Russland zu stiften: Für die Russen wurde die Stadt zum Inbegriff einer prinzipiell neuen imperialen Werteskala, an der man sich auch in seinem Selbstverständnis orientierte; die Europäer sollten sich in der nach westlichen Mustern erbauten Stadt wiedererkennen können. Das Narrativ über Sankt Petersburg ist in der russischen Kultur weit mehr als ein bloßer Stadtdiskurs – schon früh wurde es zum Kernpunkt des imperialen Mythos, einer neuen „kulturellen Identität“ Russlands in seiner Sonderstellung zwischen Ost und West, dem quintessenziellen Ausdruck aller Höhen und Tiefen der russischen Geistesgeschichte.
Die Polysemie des Petersburg-Narrativs wurde auf vielen Ebenen des Kulturgedächtnisses thematisiert, insbesondere in den Werken der klassischen russischen Literatur (Puškin, Gogol’, Dostoevskij). Infolge dieser Fülle an Inhalten wird in der Forschung das Petersburg-Narrativ einem Modell gleichgesetzt, das bestimmte grundlegende Gesetzmäßigkeiten der russischen Kultur aufweist, dementsprechend könnte es zugleich auch Gemeinsamkeiten mit anderen semiotischen Systemen im Rahmen einer nationalen Kultur aufweisen.
Im vorliegenden Beitrag soll verdeutlicht werden, dass fundamentale ästhetische Grundsätze der russischen Avantgarde sich im Petersburg-Narrativ wiederfinden (solche wie der Drang nach Neuem und die Radikalität seiner Umsetzung, die Kunstgriffe der Verfremdung und Verschiebung sowie der Versuch einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Original bis zu seiner bewussten Ablehnung).