1 Hinführung
Sich mit dem frühen Kynismus auseinanderzusetzen ist aus unterschiedlichen Gründen nicht einfach: Erstens ist die Quellenlage skizzen- und lückenhaft.1 Zweitens zeichnen die wenigen Quellen kein einheitliches inhaltliches Bild über die philosophischen Zugänge der Kyniker – und vieles ist ausschließlich in aphoristischer oder in anekdotischer Form erhalten.2 Drittens ist es der Forschung bis heute nicht gelungen, dem Kynismus einen angemessenen Platz in der Geschichte der Philosophie zuzuordnen.3 Dennoch hat der frühe Kynismus eine – zumindest aus begrifflicher Perspektive – interessante philosophische Programmatik aufzuweisen, die für die weitere Geschichte der Philosophie im Allgemeinen und für die Philosophie im Hellenismus im Speziellen von großer (und unverkennbarer) Bedeutung gewesen ist.
In diesem Text steht die Auseinandersetzung mit einem zentralen und daher unverzichtbaren, jedoch bislang nicht deutlich genug hervorgehobenen Begriff des Kynismus im Zentrum, nämlich mit jenem der Autarkie, die zumeist als ‚Selbstgenügsamkeit’ in das Deutsche übertragen wird. Bei einer luzideren Betrachtungsweise lässt sich erkennen, dass die Autarkie im kynischen Kontext sich als ein multidimensionaler Begriff herausstellt. Diese Multidimensionalität impliziert, dass sich die Autarkie im Kynismus nicht allein auf das klassische Verständnis des körperlichen oder äußeren Güterverzichts beschränken lässt. Die These ist, dass dieses multidimensionale Verständnis der Autarkie als der konstitutive Dreh- und Angelpunkt in den praktisch-politischen Zugängen in den Anfängen des frühen Kynismus angesehen werden kann, der letztendlich in einen weiteren Begriff übergeht: nämlich in jenen der Enkratie, verstanden als die allumfassende Herrschaft des Menschen über sich selbst.
Zum ersten Punkt: Das kynische Autarkie-Konzept lässt sich in fünf Dimensionen einteilen, die – nach einer kurzen Hinführung in die sokratischen Anfänge des Kynismus – dargelegt werden: (i) Autarkie durch körperliche Güterreduktion, (ii) Autarkie durch äußerliche Güterreduktion, (iii) Autarkie durch sozio-kulturelle Güterrelativierung, (iv) Autarkie durch politische Relevanzrelativierung und letztendlich (v) Autarkie durch Bildungs- und Wissenschaftsrelativierung. In jeder dieser Dimensionen strebt der Kyniker nach umfassender Selbstgenügsamkeit, die auch als Emanzipation gegenüber physischen wie psychischen Gütern bezeichnet werden kann.
Zum zweiten Punkt: Diese Autarkie-Dimensionen stehen jedoch nicht für sich allein und stellen auch keinerlei Endzweck dar. Denn in den frühen kynischen Überlegungen scheint die Autarkie als das Mittel zur Enkratie verstanden worden zu sein, also zur Herrschaft des Menschen über sich selbst: über sein Leben, sein Handeln und sein Denken – und das in sämtlichen Lebenslagen und -belangen.
Die Systematik aller dieser Reduktionen bzw. Relativierungen lässt sich auf drei Formeln herunterbrechen: Erstens geht es um das ‚sich-selbst-genug-sein’ in diesen ausdifferenzierten Bereichen, das allerdings in keiner der genannten Dimensionen einen totalen Verzicht impliziert, sondern vielmehr auf einen gekonnten Umgang mit dem wenigen Unverzichtbaren und dem unmittelbar unkompliziert Vorhandenen abzielt. Zweitens ist es die Summe aller genannten Autarkie-Dimensionen, die zu einer Herrschaft des einzelnen Menschen über sich selbst führen soll. Drittens und die beiden zuvor genannten Bereiche miteinander in Verbindung gebracht – Autarkie und Enkratie als Weg zur Eudaimonie.
2 Die (sokratischen) Anfänge des Kynismus in Skizzen
Der Kynismus nimmt seinen Anfang in der Sokratik. Antisthenes von Athen, der zumeist – allerdings nicht unumstritten – als Begründer des Kynismus angesehen wird,4 war lange Zeit Freund und Schüler des Sokrates (vgl. Xen. Symp. 4, 44; dl vi 1, 2; Tymura 2018, 188). Antisthenes soll der Ansicht gewesen sein, die sokratischen Lehren deutlich besser verinnerlicht zu haben als andere, auch besser als Platon. Nach dem Tod des Sokrates dürfte zuerst Antisthenes der bekannteste Sokratiker Athens gewesen sein, bevor Platon diese Stelle später eingenommen hat (vgl. Döring 1998, 269–270).5 Vor allem die praktische Lebensführung des Sokrates diente den frühen Kynikern als Vorbild, aller (bekannter) gemeinschaftspolitischer Kritik an Sokrates zum Trotz (vgl. Xen. Mem. I 6, 2–3; Aristoph. Nub. 102–104). Was für ihn galt lässt sich auch auf die frühen Kyniker übertragen: Sie ernährten sich so einfach wie möglich, trugen einfache Kleidung, hatten wenig Ausstattung bzw. Besitz und sie provozierten und diskutierten – wiederum ähnlich wie Sokrates – nicht in Schulen, also weder in der Akademie noch im Lykeion, sondern an öffentlichen Plätzen innerhalb der Polis, ohne dafür Geld zu nehmen. Damit verbunden lassen sich erste Spuren der kynischen Autarkie aufnehmen, zumal Xenophon dem Sokrates die Aussage zuschreibt, dass es göttlich sei nichts zu benötigen, und dass der Mensch »dem Göttlichen am nächsten kommt, wenn man möglichst wenig benötigt« (Xen. Mem. I 6, 10).6 Die Verwirklichung dieser Lebenseinstellung konstatiert Xenophon dem Sokrates selbst, da dieser »bei bescheidensten Mitteln doch völlig ausreichend [Anm. auch verstanden als höchstzufrieden] leben konnte [αὐταρκέστατα ζῶντα]« (Xen. Mem. I 2, 14).7
Die Tugend, so führte er [Anm.: Antisthenes] aus, sei lehrbar. […]. Die Tugend sei ausreichend zur Glückseligkeit [αὐτάρκη δὲ τὴν ἀρετὴν πρὸς εὐδαιμονίαν] und bedürfe außerdem nichts als die Sokratische Willenskraft. Die Tugend bestehe im Handeln und bedürfe weder vieler Worte noch Lehren. Der Weise sei sich selbst genug [αὐτάρκη τε εἶναι τὸν σοφόν], denn alles, was andere hätten, habe er auch.
dl etc. vi 1, 118
Die Tugend sei also erstens lehrbar und erlernbar, zweitens – abseits der ‚Sokratischen Willenskraft’ – vollkommen ausreichend für die Glückseligkeit und sie sei drittens mehr Praxis als Theorie. Hinzugefügt werden kann, dass die Tugend viertens für Mann und Frau gleich sei (vgl. DL etc. vi 1, 12) und allen Menschen offenstehe. Und fünftens sei die Tugend nur in kurzer, d.h. in direkter Art und Weise zu verwirklichen, wohingegen die Schlechtigkeit schier endlose Wege führen würde (vgl. Luck 68/ G. V A.104).9 Und dennoch, trotz dem Vorbild Sokrates, sollen Antisthenes und andere der auf ihn folgenden Kyniker der Ansicht gewesen sein, dass es in Bezug auf die individuelle Lebensführung noch einfacher, noch reduzierter bzw. noch maßvoller und selbstgenügender gehen müsse und könne, als es das Vorbild Sokrates selbst vorgelebt haben soll.10 Es gilt somit festzuhalten, dass der Kynismus zwar auf sokratischen Grundlagen steht, jedoch nicht identisch mit der sokratischen Lebensform selbst ist (vgl. Prince 2006, 78).11
3 Die kynische Autarkie
Innerhalb der Forschung wurde das kynische Autarkie-Verständnis (soweit überschaubar), wenn überhaupt, dann zumeist in sehr allgemeiner Art und Weise angesprochen.12 Falls doch, dann großteils im Zuge überblicksartiger Auflistungen der thematischen Schwerpunkte: So hält Dobbin neben den Themen der parrhêsia („freedom of speech“),13 der askêsis („training“), weiters die autarkeia („self-sufficiency“) und – bemerkenswerterweise – die karteria („endurance/ self-control“) zumindest begrifflich fest, ohne jedoch in eine Spezifizierung zu gehen (Dobbin 2012, xvi-xxi).
Eine luzidere Themendarstellung hat zuvor Luck geleistet, der u.a. über die kynischen Lebensideale der euteleia („Anspruchslosigkeit“), der sôphrosynê („das richtige Maß“) oder der apatheia („völlige Leidenschaftslosigkeit“) spricht und dabei – allen Themen vorab – auch über die autarkeia, über das „Ideal der Selbstgenügsamkeit“ handelt sowie später ebenso wie Dobbin über die karteria („Ausdauer“) und enkrateia („Enthaltsamkeit“) (Luck 1997, 13–21). Bemerkenswert ist, dass Luck in Bezug auf die autarkeia aus einer erweiterten etymologischen Perspektive auf die ihr verwandten Begriffe autourgia („selbstständiges Wirken“) und autodiakonia („sein eigener Diener sein“) aufmerksam macht.
Niehues-Pröbsting hat in einer Studie eine längere Betrachtung der Autarkie vorgelegt. Darin lassen sich Ansätze ausfindig machen, die nahelegen, dass der Autarkie im kynischen Verständnis eine zentrale Bedeutung zugesprochen werden muss. Zwei Punkte als Belege: Erstens wird ausgeführt, dass die Autarkie im Kynismus eben nicht ausschließlich auf das klassische Verständnis einer körperlichen oder äußeren Güterreduktion allein beschränkt werden könne, sondern darüber hinausgehend als eine lebenstechnische „Selbstbehauptung“ des Kynikers gegenüber seiner Um- und Mitwelt verstanden werden müsse. Zweitens könne die autarkeia dabei nicht nur „als eine Eigenschaft der Tugend unter anderen und als Mittel zur Erreichung der eudaimonia“ angesehen werden, „sondern explizit als ethisches Telos“, nämlich „als Zustand des Weisen selbst“, worauf vereinzelte Hinweise aufmerksam machen würden (Niehues-Pröbsting 2016, 188; 190).
L.E. Navia gibt in einer seiner Studien über die Kyniker zumindest jene Richtung vor, die hier genauer untersucht werden soll, zumal er festhält, dass insbesondere in Bezug auf Antisthenes die Themen „self-control“ (egkrateia), „self-sufficiency“ (autarkeia) und „strength of character“ (karteria) zentral seien (Navia 2001, 5). Und in dem sokratischen Kontext übersetzt Navia die autarkeia – treffend – nicht mit ‚Selbstgenügsamkeit’, sondern als „literally self-governance“ (Navia 2001, 74; weiters Navia 1996, 28–29).
Ein Aufsatz von A.N.M. Rich muss ebenso Erwähnung finden, zumal dieser sich dezidiert der kynischen Autarkie zuwendet. Und bereits im ersten Satz wird festgehalten, dass der Begriff der Autarkie in fundamentaler Art und Weise mit dem Kynismus verbunden sei. Darüber hinaus deutet Rich an, dass die autarkeia sowohl eine „physical plane“ als auch einen „spiritual level“ beinhalte (Rich 1956, 23). Diese Differenzierung wird in den kommenden Überlegungen nochmals aufgegriffen. Vorerst ist festzuhalten, dass zusätzliche Ausdifferenzierungen des kynischen Autarkie-Verständnisses bei Rich wie auch bei Dobbin, Luck, Niehues-Pröbsting oder Navia fehlen.
3.1 Autarkie durch körperliche Güterreduktion
Sie predigen ein genügsames [Anm.: autarkes] Leben, begnügen sich mit Speisen, die unmittelbar den Hunger stillen, […]. Zuweilen leben sie nur von Kräutern und durchgehends nur von kaltem Wasser; ihr Unterkommen finden sie unter dem ersten besten Obdach, auch in Fässern, wie Diogenes, der zu sagen pflegte, es sei göttlich, nichts zu bedürfen, und gottähnlich, nur wenig nötig zu haben.
dl vi 9, 105
Auffällig ist die Parallele zwischen der Antwort des Sokrates auf Antiphon (wie bereits zitiert) und der Aussage des Diogenes von Sinope in Bezug auf Göttlichkeit und Gottähnlichkeit. Somit sind wohl beide der Ansicht gewesen, dass es eine gottähnliche Eigenschaft des Menschen wäre, wenn dieser für seine Lebensweise in Bezug auf die körperlichen Güter nicht viel nötig habe.
Die Becher, aus denen wir trinken, müssen irden sein, dünn und billig, und wir wollen Quellwasser trinken und Brot essen; unser Gewürz sei Salz oder Senf. Solches zu essen habe ich in der Schule des Antisthenes gelernt, nicht weil es minderwertig, sondern weil es allem anderen überlegen ist, und weil man so eher den Weg, der zum Glück führt, finden kann, den Weg, der höher zu schätzen ist als jeglicher Besitz.
luck 512/ G. V B.567
Man nannte ihn gewöhnlich »Hêmerobios«, »von der Hand in den Mund lebend«; er erbettelte von irgendwelchen, was er gerade brauchte, und ließ sich seine Nahrung geben. […]. Eine Zeit lang benützte er zum Trinken einen hölzernen Napf, doch als er einen Knaben sah, der aus der hohlen Hand trank, soll er sein Gefäß auf den Boden geschmissen und gesagt haben: »Ich wusste nicht, dass die Natur auch einen Becher hat.«
luck 284/ G. V B.17514
Es ziemt sich nicht für einen Philosophen, […] sich sizilianischen Tafelfreuden zu widmen, sondern er sollte im eigenen Land [leben und] nach Selbstgenügsamkeit [Anm.: Autarkie] streben.
luck 48/ G. V A.206
Dies ist das Grabmal des Diogenes, des weisen »Hundes« [σοφοῦ κυνός], der in männlicher Gesinnung ein hartes, bedürfnisloses Leben fristete. Er besaß nur einen Ranzen, eine gefaltete Kutte, und ein Knüttel begleitete ihn, die Waffe der Mäßigkeit, die sich selbst genügt [αὐτάρκους ὅπλα σαοφροσύνας].
luck 144/ G. V B.112
An anderer Stelle wird festgehalten, dass »Ranzen und Knüttel für Diogenes und Antisthenes das, was für Könige ihr Diadem, für Feldherren ihr Feldherrenmantel, für Priester ihr Käppchen, für Auguren ihr Krummstab« gewesen sei, und dass es sich bei dieser Grundausstattung gewissermaßen um »die Wahrzeichen der Kyniker« schlechthin handeln würde (Luck 277/ G. V B.152).
Der Kyniker Diogenes – darüber ist man sich einig – war von allen Menschen der Enthaltsamste, wenn es darum ging, Selbstbeherrschung und Selbstdisziplin [ἐγκρατείας τε καὶ καρτερίας] zu üben. Dennoch gab er sich auch dem Liebesgenuss hin, weil er die Beschwerden, die durch Zurückhaltung des Samens entstehen, vermeiden wollte, nicht etwa, weil das mit der Samenentleerung verbundene Lustgefühl ihm etwas Gutes schien. Es heißt, er habe sich einmal mit einer Hetäre verabredet und sie zu sich bestellt, und als sie sich verspätete, habe er die Hand ans Geschlechtsorgan geführt und durch Reiben den Samen entleert. Als sie dann endlich kam, schickte er sie fort und sagte: »Meine Hand hat das Hochzeitslied schon gesungen!«
luck 385/ G. V B.19716
Nicht nur Brot, Wasser, Strohsack, Kutte lehren Mäßigkeit und Ausdauer [σωφροσύνην καὶ καρτερίαν διδάσκουσιν], sondern auch, wenn ich das so ausdrücken soll, die »Hand des Hirten«
luck 517/ G. V B.574
3.2 Autarkie durch äußerliche Güterreduktion
Die zweite Dimension bezieht sich auf einen reduzierten Umgang mit äußeren Gütern, wie z.B. in den Bereichen des Geldes, aber auch gegenüber dem materiellen Überfluss, an den vielfach unnützen Gegenständen oder gegenüber prahlerisch-dekadenten Luxusgütern jeglicher Art. Grundsätzlich handelt es sich hierbei um ein bekanntes Narrativ der antiken griechischen Philosophie: Reichtum in allen seinen materiellen Facetten sei zum einen für ein tugendhaftes Leben mehr ab- als zuträglich,17 zumal es Charakter und Handlungen verderben könne,18 und sei zum anderen für die Erlangung der Eudaimonie letztendlich nicht von Bedeutung – sondern vielmehr hinderlich. Denn der wahre Reichtum des Menschen Iiege nicht in äußeren Gütern. Diesen Punkt hat Antisthenes in einem Dialog mit Sokrates wortreich ausgeführt, womit erneut offensichtlich wird, dass Sokratik und Kynismus viele Grundlagen teilen. Antisthenes scheint sich trotz seiner bescheidenen äußeren Verhältnisse sicher zu sein, dass er über eine gewisse Form von Reichtum verfügen würde, dabei allerdings über einen immateriellen (psychischen), nicht über einen materiellen (physischen) – nämlich in seiner Seele, also aufgrund seiner seelischen Güter (vgl. Xen. Symp. 4,34–35). Das permanente Streben vieler Menschen nach Geld scheint für ihn hingegen sinnlos zu sein.
Diese bedauere ich sehr wegen ihrer äußerst schweren Krankheit; denn ich glaube, dass es ihnen ähnlich geht wie jemandem, der reich ist und trotz vielen Essens nie satt wird. Ich habe meinerseits einen so großen Besitz, dass ich ihn selbst kaum finden kann. Indessen habe ich genug, um beim Essen satt zu werden, beim Trinken den Durst zu löschen und mich so zu kleiden, dass ich draußen nicht stärker friere als unser schwerreicher Kallias hier.
xen. Symp. 4,37
Zwei Themenkreise treten hier in den Vordergrund. Erstens das Bild des reichen, aber kranken Menschen, der an seiner materiellen Besitzsucht schwer zu leiden hat.19 Auf diese subjektive Diagnose des Antisthenes folgt ein objektives Therapiekonzept, dessen Grundrezeptur, auf eine einfache Formel gebracht, lautet: Reichtum verhaftet und belastet, Armut befreit und bereichert.20 Zweitens ist festzuhalten, dass Antisthenes in seinem wenigen Besitz sein völliges Auskommen und stetige Zufriedenheit zu finden scheint, zumal er sagt ‚mehr als genug’ zu haben und deshalb alle Grundbedürfnisse durch einfachste Mittel sowie ohne viel Aufwand abdecken könne. Und Antisthenes meint innerhalb seiner Selbstgenügsamkeit sogar über einen gewissen Luxus zu verfügen, dabei jedoch erneut nicht über einen materiellen, sondern über einen wertvolleren, immateriellen Luxus, den er aus seinen »seelischen Vorräten« (Xen. Symp. 4,41 in Luck 58/ G. V A.82) schöpfe. Und darin liege ihm zufolge der wahre Reichtum, der den Menschen frei mache würde (vgl. Xen. Symp. 4,43), zumal immer und überall auf diesen inneren Besitz zugegriffen werden könne.
Das Verhältnis von Freiheit durch Besitzlosigkeit findet sich auch bei Krates von Theben, der vor seinem szenenstarken Bekenntnis zum Kynismus den Überlieferungen zufolge durchaus vermögend gewesen sein soll. Und nach seinem Entschluss, der Lehre des Kynismus folgen zu wollen, dürfte es Krates ziemlich eilig gehabt haben, zumal er all seinen Besitz rasch veräußert und direkt anschließend vor einer größeren Menschenmenge ausgerufen haben soll: »Krates gibt Krates die Freiheit!« (Luck 525/ G. V H.5).21 Dieses Verständnis von Freiheit, das unmittelbar mit der kynischen Autarkie und der Enkratie zusammenhängt, ist innerhalb der Überlieferungen oftmals zu finden.22 So berichten auch andere Stellen, dass Krates immer wieder gesagt habe, dass »die Besitzlosigkeit der Anfang der Freiheit [ἐλευθερίας] sei« (Luck 527/ G. V H.16).
Zweifelsfrei ist der Verzicht auf Reichtum und auf sämtliche Formen des äußeren Luxus für den Kyniker die Konsequenz seiner ökonomischen wie materiellen Bescheidenheit. Dieser Verzicht wird in Bezug auf Diogenes als »der Weg zum Glück« oder in Bezug auf Krates eben als »der Weg zur Freiheit« betrachtet (Luck 278/ G. V B.153). So kann auch diese zweite Dimension in einem Satz komprimiert werden, der den sokratisch-kynischen Überlieferungen zugeordnet wird: »Wer ist reich unter den Menschen?« – »Der Selbstgenügsame« [ὁ αὐτάρκης] (Luck 321/ G. V B.241).
3.3 Autarkie durch sozio-kulturelle Güterrelativierung
Die dritte Dimension umfasst das Verständnis einer sozio-kulturellen Autarkie des Menschen, d.h. eines sozialen wie kulturellen sich-selbst-genug-seins, das sich an folgenden angestrebten Relativierungen des Kynikers festmachen lässt. Zum einen im sozialen bzw. soziologischen Verständnis, wo Geburt, Herkunft und Zugehörigkeit keinerlei Bedeutung haben. Zum anderen im kulturellen bzw. geopolitischen Verständnis, wo Kulturzugehörigkeit im Allgemeinen, das Griechentum im Speziellen und sämtlicher Kultus im Besonderen als irrelevant ausgewiesen werden. Als Beleg hierfür ein kurzer Blick auf Diogenes von Sinope: Er kritisiert u.a., dass den Griechen nichts genügen würde [πάντες ὄντες αὐτάρκεις], sie ruhmsüchtig sowie dazu auch noch uneinsichtig wären (vgl. Luck 506/ G. V B.558) und sozialer bzw. gesellschaftspolitischer Ruhm darüber hinaus einzig und allein das »Geschwätz von Irren« sei (Luck 187/ G. V B.265). So lebten die Kyniker nach Diogenes Laertius »unter Verachtung des Reichtums, des Ruhmes und der hohen Geburt« (dl vi 9, 105; ebenso vi 2, 72).
Erwartungsgemäß hielten die Kyniker ihre Sichtweise auf die sozialen Ordnungen sowie auf die kulturellen Gepflogenheiten nicht zurück, im Gegenteil. In bekannt kynischer Manier wurde allem und jedem der Spiegel vorgehalten. Und auch hierbei scheint es völlig gleichgültig gewesen zu sein, ob der Kyniker einem Bürger, einem Philosophen, einem Politiker oder einem Herrscher etc. gegenübergestanden hat (vgl. dazu z.B. dl vi 2, 43).23 Selbst im mythisch-theologischen Bereich übte Diogenes von Sinope Kritik, dabei an der religiösen Praxis zum einen und an der religiösen Grundeinstellung seiner Mitmenschen zum anderen (vgl. dl vi 2, 42; 45).
Doch die größte kynische sozio-kulturelle Perspektivenveränderung (und dabei die bedeutendste politische Errungenschaft des Kynismus überhaupt, die allerdings in erster Linie eine sozio-kulturelle und erst in zweiter Linie eine genuin politische Veränderung bedeutet hat) liegt in dem Gedanken der Kosmopolis, der die anthropologischen, ethischen und politischen Grenzen der Polis – langsam aber doch – zu überwinden begann. Neben den bislang thematisierten Ansätzen einer sozio-kulturellen Autarkie des Menschen macht der Kynismus also selbst vor dem lange umrungenen Selbstverständnis der antiken griechischen Polis keinen Halt.
Gefragt nach seinem Heimatort, antwortete er [Anm.: Diogenes von Sinope]: »Ich bin ein Weltbürger« [κοσμοπολίτης].
dl vi 2, 6324
Etymologisch lässt sich dieser Begriff eindeutig klären: Der kosmos steht für die Welt, im engeren Sinne auch für die Ordnung des Alls, und der politês steht für den Bürger. Zusammengesetzt ergibt das den ‚Bürger der Welt’. Doch die Antwort des Diogenes auf die Frage nach seinem Heimatort impliziert – in kynischer Tradition – eine zumindest dreifache Provokation, die allerdings bei genauerer Betrachtung mehr konstruktiv als dekonstruktiv aufgefasst werden kann.25
Erstens betrachtet sich Diogenes offensichtlich nicht als Teil einer realpolitischen Polis, weder von Sinope noch Athen und auch nicht von Korinth, was einem politischen Affront gleichzukommen scheint, zumal alle, Männer, Frauen, Kinder, Sklaven – also auch alle ohne politischen Rechten –, Teile der Polis, wenn auch großteils keine freien Bürger gewesen sind. Zweitens ersetzt Diogenes die realpolitische Polis-Zugehörigkeit durch die politisch-anthropologische Kosmopolis, deren Staatsbürgerschaft nicht durch das gesetzte Recht [νόμος] für einige wenige, sondern durch die Natur [φύσις] des Menschseins allen Menschen zugesprochen wird. Drittens bringt Diogenes mit dieser Aussage weiters zum Ausdruck, dass die Politik der Polis im Allgemeinen und die politische Gemeinschaft im Speziellen keine maßgebende Bedeutung für die Verwirklichung der kynischen Lebensprinzipien haben – woran auch die vierte Dimension, die Autarkie durch politische Relevanzrelativierung, direkt anknüpft.26
3.4 Autarkie durch politische Relevanzrelativierung
Die vierte Dimension spiegelt sich in der bewusst gesuchten und retrospektiv betrachtet deutlich erkennbaren Distanzeinnahme des Einzelnen zum Politischen im Allgemeinen und zur Politik der Polis im Speziellen, die sich im vorherigen Punkt, dabei allen voran in den Anfängen der kynischen kosmopolitischen Anthropologie, vorangekündigt hat, nämlich in der Autarkie des Kynikers gegenüber jeglichen sozio-kulturellen Determinismen, die sich nun auch gegen den Primat des Politischen in sämtlichen Variationen richtet. Hiermit beginnt schon im Kynismus also jene kritische Betrachtung der Bedeutung des Politischen für das individuelle Leben des Menschen, die später für die Philosophie im Hellenismus im Ganzen charakteristisch werden wird.
Diese Kritik des Politischen umfasst im frühen Kynismus hauptsächlich zwei Bereiche: Erstens geht es im Vergleich zum vorherigen Punkt darum, politischen Ruhm, politische Ehren und politische Macht in ihrer absoluten Bedeutungslosigkeit für das gute und gelingende Leben und somit auch für die Glückseligkeit auszuweisen. Zweitens geht es jedoch auch darum, zu zeigen, dass die (Macht-)Politik für die Verwirklichung dieses guten und gelingenden Lebens nach den kynischen Prinzipien letztendlich unverantwortlich ist, zumal die Hauptverantwortung und -kompetenz für die Umsetzung einer dieser Sache dienenden Lebensweise ausschließlich der einzelne Mensch inne hat.
Das prägnanteste Beispiel für die großflächige Bedeutungslosigkeit des Politischen für das kynische gute und gelingende Leben ist die – höchstwahrscheinlich fiktive – Begegnung zwischen Diogenes von Sinope und Alexander dem Großen in der Polis Korinth, die u.a. Diogenes Laertius, Plutarch und Cicero überliefern (vgl. dl vi 2, 38; Plut. Vit. Alex. 14; Cic. Tusc. 5, 92).
Diogenes von Sinope stellt mit seinem Verhalten gegenüber Alexander dem Großen in unmissverständlicher Art und Weise die Relevanz von Macht, Herrschaft und Weltreichsgedanken für das gute und gelingende Leben des Einzelnen fundamental in Frage. Denn für ein an kynischen Werten orientiertes Leben ist kein politisches Engagement im Namen von Ruhm, Ehre und Anerkennung, geschweige denn eine Form von Weltpolitik, unmittelbar eine Notwendigkeit. Im Gegenteil: Vielmehr liege die konkrete Lebensführung und -gestaltung im Ermessen und in der Verantwortung des einzelnen Menschen, in dessen individueller Autarkie auf dem Weg zur Enkratie. Kurz gesagt: Das, was Diogenes für das Leben nach seinen individuellen Vorstellungen tatsächlich braucht, kann ihm kein politischer Herrscher geben. Und ein angehender Weltherrscher wie Alexander ist darüber hinaus vermutlich auch weder in Kenntnis noch im Besitz dessen, was ein solches (kynisches) Leben letztendlich ausmacht. Die Politik möge also dem Diogenes doch bitte aus den Augen treten – denn die Natur (in der Erzählung der Begegnung in dem Bild der Sonne, die Alexander der Große dem Diogenes von Sinope durch seine Präsenz verstellt), ist der einzig wahre Orientierungspunkt und die einzig wahre relevante Ordnung für das Leben des Kynikers innerhalb der Kosmopolis.27
»Wie soll man sich der Politik nähern?« »Es ist wie beim Feuer: geh’ nicht zu nahe, damit du nicht verbrennst, und bleib’ nicht zu weit weg davon, damit du nicht erfrierst.«
luck 35/ G. V A.7028
3.5 Autarkie durch Bildungs- und Wissenschaftsrelativierung
Die fünfte Dimension ist ein sich-selbst-genug-sein gegenüber dem klassischen Bildungskanon sowie gegenüber den Wissenschaften. Und das in zweierlei Hinsicht – zum einen gegenüber den Bildungs- und Wissenschaftsdisziplinen (die ihren Inhalten nach als unnütz, ablenkend und verstörend betrachtet werden) und zum anderen gegenüber Lehrern und den Gelehrten (und ihren verzogenen Betrachtungsweisen bzw. gegenüber deren Borniertheit) selbst.
Von Logik also und Physik wollen sie nichts wissen, […], ihr Absehen ist allein auf die Ethik gerichtet. Und was manche als besonders charakteristisch für Sokrates anführen, das legt Diokles dem Diogenes bei, indem er diesen sagen lässt, es gelte zu fragen »Was dir Böses und Gutes in deinem Hause geschehen sei«
dl vi 9, 103
Wer die Herrschaft über sich selbst gewonnen hat – so pflegte Antisthenes zu sagen –, der gibt sich nicht mit grammatischen Künsten ab, um nicht durch fremdartige Dinge abgezogen zu werden. Auch die Geometrie verwerfen sie und die Musik und alles dergleichen.
dl vi 9, 103
Auch sprach er [Anm.: Diogenes von Sinope] sein befremden aus über die Grammatiker, die des Odysseus Fehler aufspürten, die ihrigen aber unbeachtet ließen, und dass die Musiker zwar die Saiten der Leier zum Einklang stimmten, ihre eigene Seelenverfassung aber dem Missklang preisgäben. So schauten auch die Mathematiker nach Sonne und Mond, aber was ihnen vor den Füßen läge, das übersähen sie, und die Redner würden nicht müde, von dem zu sprechen, was recht sei, es aber zu tun, unterließen sie.
dl vi 2, 27
Als Endziel [τέλος] stellen sie hin ein tugendhaftes Leben [ἀρετὴν ζῆν], wie Antisthenes in seinem Herakles sagt, […]. Daher auch die Bezeichnung des Kynismus als eines kurzen Weges zur Tugend.
dl vi 9, 104
Dieser ‚kurze Weg zur Tugend’ (vgl. Emeljanow 1965, 182–184; Goulet-Cazé 2016, 52–57) trägt mehrere Aussageebenen. Erstens spiegelt sich darin das Verständnis wider, dass die Tugendhaftigkeit eine Praxis sei, die Erfahrung bzw. Lebenserfahrung verlange. Zweitens ist sie für die Verwirklichung der Eudaimonia allein ausreichend, weshalb die Tugend fokussiert werden soll. Drittens impliziert dieser ‚kurze Weg zur Tugend’ indirekt die in diesem Abschnitt im Mittelpunkt stehende Autarkie durch Bildungs- und Wissenschaftsrelativierung. Denn in diesem kurzen (oder auch direkten) kynischen Weg zur Tugend wird auch ausgedrückt, dass es hierfür weder viel an gängiger Bildung noch viel an aktueller Wissenschaftskenntnis tatsächlich brauchen würde, sondern das unmittelbare Handeln auf Basis der Tugendhaftigkeit. Und viertens wird in diesem Bild eine Tugendbestimmung angesprochen, die bereits an anderer Stelle festgehalten wurde, nämlich, dass sich die Tugend in ihren Erklärungen kurzfasse, wohingegen die Schlechtigkeit endlos sprechen würde. Und diese Kürze im Argument ist ebenso für den kurzen Weg der Tugend bedeutend.
Zusammengefasst: Ein Übermaß an Bildung und Wissenschaft, über etwaige notwendigen Kommunikations-, Wissens- und Reflexionsgrundlagen hinaus, sei der kynischen Lebensweise also eher ab- als zuträglich. Statt einem sinnleeren konformen Bilden und akribischen Studieren gehe es vielmehr um die ethische Reflexion über das tugendhafte Leben, das den Weg zum guten und gelingen Leben ebne.29 Wichtig ist allerdings unmissverständlich festzuhalten, dass es sich im Kynismus um eine Bildungs- und Wissenschaftsrelativierung handelt, keineswegs um eine kategorische Ablehnung sämtlicher Bildung oder Wissenschaften (wie es auch in keiner der anderen Autarkie-Dimensionen um Negierungen geht, sondern um Reduktionen oder um Relativierungen). Denn anzunehmen ist, dass die Grundlagen z.B. des Lesens oder Schreibens und vielleicht auch des Rechnens für die kynische Lebensweise in einem Grundausmaß doch von Bedeutung gewesen sind.30
4 Autarkie-Fazit – oder: Die kynische Enkratie
Der Kern kynischer Autarkie ist die absolute Kontrolle über das reduzierte wie relativierte Mindestmaß: ein Minimum an körperlichen Gütern wie Nahrung, Kleidung und Sexualität (in welchen Formen auch immer); ein Minimum an äußerer Ausstattung (Kutte, Tasche, Knüttel); ein Mindestmaß an sozio-kulturellen Gütern, wie z.B. die Sprache; ein reduzierter, aber dennoch nach wie vor vorhandener politischer Rahmen, das Bewusstsein über die kosmopolitische Anthropologie und eine gewisse Grundbildung (Lesen, Schreiben, Rechnen etc.) sind selbst für den Kyniker unveräußerliche Notwendigkeiten. Somit ist offensichtlich, dass es sich bei dieser individualethischen Autarkiekonzeption um ein offenes System handelt, das keine gänzliche Isolation des Individuums gegenüber Um- und Mitwelt anstrebt. Daher zeigt sich, dass ein kynisches Autarkie-Verständnis im Sinne einer „Unabhängigkeit gegenüber der Außenwelt“ (contra Goulet-Cazé 2016, 55) irreführend ist und die „Ausrottung der Leidenschaften“ (contra Luck 1998, 20) kein Hauptanliegen des Kynismus sein kann. Denn in keiner Autarkie-Dimension geht es darum, sich von körperlichen, äußeren oder inneren Leidenschaften zur Gänze loszusagen. Auch nicht in den sozio-kulturellen, nicht in den politischen und ebenso nicht in den bildungstechnischen Belangen.31
Bedeutend ist diese Perspektive insbesondere für das politische Verständnis der Kyniker. Es geht um Erlangung und Bewahrung eines absoluten politischen Minimums, das jedoch nicht unterboten werden kann – und für das ein Mindestmaß an gemeinschaftspolitischer Kooperation notwendig ist, oder anders: Ohne grundlegenden Gemeinschaftssinn keine individuelle Autarkie. Somit ist zu bestätigen – „there are limits to independence and self-sufficiency“, bzw. treffender: „dependency is part of self-sufficiency“ (Gardner 2022, 134–135). Der Kyniker „was as dependent on the social world as everybody else, except that his dependence was antithetical“ (Navia 2001, 105). Aufgrund dessen schlägt auch die erneute Kritik an der kynischen Autarkie – “ancient Cynicism was partly grounded on an impossible ideal […]. They profess self-sufficiency, yet are still partly dependent on others for alms and protection (Desmond 2008, 178)” – abermals ins Leere, wie auch schon zuvor konstatiert (vgl. fn 14).
Die Autarkie-Dimensionen stehen nicht unabhängig nebeneinander, sondern bilden in ihrer Summe jenes Ziel, das sich in der Enkratie, in der umfassenden Herrschaft über sich selbst, zum Ausdruck bringen lässt, und die bei den Kynikern – wie gezeigt in Verbindung mit der Autarkie – immer wieder thematisiert wird.32 Überliefert ist, dass Diogenes von Sinope Vorträge über die Mäßigung und zur Herrschaft über sich selbst [σωφροσύνης καὶ ἐγκρατείας] gehalten haben soll (vgl. Luck 271/ G. V B.283). Und auch indirekte Darstellungen der Enkratie durch Autarkie – inklusive Umschreibungen des multidimensionalen Autarkie-Verständnisses – finden sich in den Überlieferungen viele. So werden Diogenes eine ganze Reihe ‚kynischer Befreiungen’33 nachgesagt, zumal ihm attestiert wird, sich von unterschiedlichen Fesseln selbst gelöst zu haben: so z.B. von der Willkür machtorientierter Politik, von einschränkendem Recht und von der Furcht gegenüber Herrschern, von dem Zwang politischer Partizipation, von den Belastungen einer Ehe und eigener Kinder, von den Belastungen der Erwerbsarbeit etc. (vgl. Luck 202/ G. V B.299). Befreiungen, die alle mit dem Ziel der autonomen Herrschaft über sich selbst verbunden sind und auf die kynische kosmopolitische Anthropologie verweisen, denn »unbeschwert von jeder drückenden Last, frei, sorglos, furchtlos, kummerlos machte er sich die ganze Welt zu eigen, als wäre sie ein einziges Haus, […]« (Luck 200/ G. V B.298).
Es kann festgehalten werden, dass diese Form der Herrschaft über sich selbst, die das Ergebnis umfassender Autarkie-Bestrebungen darstellt, für den Kynismus konstitutiv gewesen ist. Es handelt sich dabei um einen hohen Autarkie- und Freiheitsanspruch, der insbesondere gängige gemeinschaftspolitische Konventionen konterkariert und sozio-kulturelle Determinismen sämtlicher Art strikt zurückweist. Auf den Punkt gebracht: »Aristoteles frühstückt, wenn es Philipp passt, Diogenes, wenn es Diogenes passt« (Luck 168/ G. V B.30).34 In diesem Zugang, Enkratie durch Autarkie, findet der Kyniker seine Eudaimonie. Dieses Konzept ist ein hochpolitisches, und diese politischen Implikationen können in einem Gesamtbild des Kynismus nicht außen vorgelassen werden.35 Das Eudiamonie-Konzept, Enkratie durch Autarkie, ist zwar auf und für den Einzelnen angelegt, zumal das gute und gelingende, das glückselige Leben Angelegenheit und Verantwortung des Individuums ist, das jedoch allen Menschen offensteht.
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Diogenes Laertius (dl) bildet die zentrale Quelle zu den frühen Kynikern, wobei die Frage nach der Historizität virulent erscheint. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass manche Überlieferungen nicht den historischen Tatsachen entsprechen. Zur Quellenunsicherheit im Hellenismus vgl. Hossenfelder 1985, 41–43; Mansfeld 2002, 3. In Bezug auf den Kynismus vgl. Dobbin 2012, xv.
H. Niehues-Pröbsting bemerkt, dass die Anekdoten aus der Philosophie „wegkritisiert“ wurden, „ohne anderswo einen adäquaten wissenschaftlichen Aufbewahrungsort wiedergefunden zu haben“. Jedoch: „Sie sind vieldeutig; sie wandeln sich in neuen Zusammenhängen und werden sinnreicher, je häufiger sie in neue Kontexte gestellt und je mehr sie zur Illustration unterschiedlicher Gedanken und Sachverhalte zitiert werden“ (Niehues-Pröbsting 2016, 40).
Nach G. Luck stehen die Kyniker „am Rande der antiken Geistesgeschichte“, so „wie sie selber am Rande der Gesellschaft“ gelebt hätten (Luck 1997, xiii). M. Hossenfelder zeigt, dass bereits in der Antike dem Kynismus der „Charakter einer echten Philosophie abgesprochen“ wurde (Hossenfelder 2013, 2). H. Ottmann gelangt zu der Einschätzung: „Der Kynismus ist eher eine Lebensform als eine Theorie, eher eine Praktik als eine Doktrin“ (Ottmann 2001, 277). J.L. Moles hält hingegen fest, dass eine Gegenüberstellung Philosophie vs. Lebenspraxis im antiken Kontext gänzlich unzutreffend sei (Moles 2005, 420).
D.R. Dudley führt aus, dass bereits in der Antike bezweifelt wurde, ob Antisthenes tatsächlich als Begründer des Kynismus angesehen werden könne, und konstatiert, dass ein eindeutiger Beweis hierfür fehlen würde (vgl. Dudley 1937, 2), insbesondere für eine direkte Verbindung zwischen Antisthenes und Diogenes, die er für eine spätere Konstruktion hält (vgl. Dudley 1937, 3). Auch G. Giannantoni sieht Antisthenes nicht als Begründer des Kynismus (vgl. Giannantoni 1993, 34). Nach R. Dobbin ist allerdings klar: „Consequently, no complete history of Cynicism, or collection of Cynic sources, can be complete without Antisthenes“ (Dobbin 2012, xxii).
Grundsätzlich ist zu bemerken, dass Antisthenes innerhalb der Sokrates-Forschung im Vergleich zu Platon marginalisiert wird. Zu Unrecht, wie auch S. Prince ausführt: „Just as we now debate what is Socratic in Plato, so we should also debate what is Socratic in Antisthenes“ (Prince 2006, 76).
Alle Übersetzungen aus diesem Text stammen von E. Stärk.
L.-A. Dorion hat sich dafür ausgesprochen, den xenophontischen gegenüber dem platonischen Sokrates nicht kategorisch auszuschließen. Sein Fazit (angeknüpft an F. Schleiermachers Kritik an Xenophon und an dessen vermeintlich mageren philosophischen Inhalten): „We can thus see how unfairly reductive it is to represent Xenophon as a poor imitator of Plato […]“ (Dorion 2006, 103).
Alle Übersetzungen aus diesem Text stammen von O. Apelt. A.A. Long hält in Bezug auf das Narrativ des Weisen fest, dass dieses vermutlich älter sei als die Philosophie selbst. Für die Philosophie im Hellenismus ist das Bild des Weisen ein wichtiger Bestandteil der philosophischen Positionen (vgl. Long 2022, 621). Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Kynismus an diesen Erzählungen angeknüpft hat, und, viel wichtiger, dass dieses Idealbild des Weisen mit der Autarkie in Verbindung gebracht wird.
Viele Quellen dieser Studie wurden aus dem Werk Die Weisheit der Hunde von Luck übernommen. Hinzugefügt wurden Verweise auf die Originalstellen nach der wichtigen Aufbereitung durch Giannantoni.
»Diogenes pflegte zu sagen: »Selbst Sokrates hat im Luxus gelebt, denn er schloss sich in seinem Häuschen ein, [ruhte] auf seinem Bettchen und trug gelegentlich elegante Halbschuhe«« (Luck 332/ G. V B.256).
Zweifellos gebe es zu diesen sokratisch-kynischen Konnotationen viel mehr zu sagen. Da der Fokus hier auf der kynischen Praxis liegt, werden die sokratischen Einflüsse – über gelegentliche verbindende Hinweise hinaus – nicht weiter verfolgt.
Auffallend ist, dass die antike Autarkie in der Forschung – unberechtigterweise – ein Randthema ist. So wird z.B. im Companion to Greek and Roman Political Thought die „self-sufficiency“ im Sachindex über Aristoteles und Augustinus hinaus nicht vermerkt (vgl. Balot 2013, 643).
Zur kynischen ‚Kommunikation’ (inklusive ‚Performance’) vgl. Sluiter 2005, 139–163. Zum literarischen Grundprinzip des Kynismus, das „spoudogeloion, die Vermischung von Ernst und Scherz“ siehe Niehues-Pröbsting 2004, 72. Im Gegensatz zu anderen sehe ich im kynischen Aktionismus zwar gemeinschaftspolitische Provokationen, allerdings keine „arrogance“ (contra Navia 2001, 82–83; Tymura 2018, 198–199). Zur παρρησία als zentrales Element der kynischen Rhetorik im Verständnis eines gesellschaftspolitischen Widerstands vgl. Kennedy 1999, 26–45; dabei besonders 34–36.
Ein aktueller Grund für die Vernachlässigung der kynischen Autarkie könnte in dem vermeintlichen Widerspruch von Bettelei und Autarkie liegen. R.B. Branham z.B. konstatiert, dass die Autarkie kein zentraler kynischer Wert sein könne, zumal niemand abhängiger sei als ein Bettler (vgl. Branham 1993, 463). Dieser Aspekt ist überbewertet, da sich – soweit ich es überblicke – keine Überlieferung finden lässt, in der das Betteln als zwingend kynisch ausgewiesen wird. Vielmehr scheint die Bettelei (speziell des Diogenes) zwei Botschaften zu enthalten. Erstens: ‚Sieh’ her, wie viel du hast, es reicht für mindestens zwei Menschen.’ Zweitens: ‚Sieh’ her, mit wie wenig ich selber mein Auskommen finde.’
Unverständlich das Urteil von Hossenfelder, nämlich dass die Kyniker auf dem Reflexionsstand eines Antisthenes stehen geblieben wären und diesen über Jahrhunderte hinweg konserviert hätten (vgl. Hossenfelder 1985, 183). Weiters fragwürdig: Der Kynismus gehöre „eher in eine Sitten- als in eine Philosophiegeschichte“ und dessen Lehren würden sich durch „Begründungsarmut“ und „Beliebigkeit“ auszeichnen. Der Kynismus wirke „im hellenistischen Kontext wie eine Art Stoa für „Bild“-Leser“ (Hossenfelder 1985, 184). Alle Einschätzungen scheinen bei einer genauen Betrachtung als nicht haltbar. Ungleich differenzierter M.-O. Goulet-Cazé: Selbst wenn der Kynismus „keine systematische Lehre bietet“, so kann dennoch „über die Jahrhunderte hinweg hinter den Anekdoten, den Bonmots oder den Slogans eine homogene moralische Inspiration“ wahrgenommen werden. Vielleicht sei es dennoch angebracht, statt „von dem Kynismus von Kynismen verschiedener Philosophen zu sprechen“ (Goulet-Cazé 2016, 15).
Vgl. dazu die ähnliche Erzählung in Luck 516/ G. V B.572. Die despektierliche Sichtweise auf Frauen ist bei Diogenes von Sinope unübersehbar (vgl. z.B. dl vi 2, 52; vi 2, 51). Auch wenn Aktionismus und Rhetorik für den Kynismus unverzichtbar sind, ist bemerkbar, dass hierbei gelegentlich die Grenze hin zu Verachtung und Herabwürdigung überschritten wird (siehe auch Borthwick 2001, 494). Allerdings: Nach Diogenes Laertius habe Antisthenes die Tugend für Frauen und für Männer als identisch ausgewiesen (vgl. dl vi 1, 12). Und Krates von Theben soll mit Hipparchia verheiratet gewesen sein, die sich für seine Lehre sehr interessiert und deswegen seine Nähe gesucht und mit ihm die kynische Praxis gelebt haben soll. Diogenes Laertius widmet ihr ein eigenes Kapitel und nennt sie »eine Philosophin« [τῆς φιλοσόφου] (dl vi 7, 98).
»Die Habsucht nannte er [Anm.: Diogenes von Sinope] die Mutterstadt alles Übels« (dl vi 2, 50).
So z.B.: »Die Tugend kann weder in einem reichen Staat noch in einem [reichen] Haus wohnen« (Luck 306/ G. V B.221). Oder: »Keiner, der am Geld hängt, ist gut, gleichgültig, ob er ein König oder ein einfacher Bürger ist« (Luck 56/ G. V A.80).
In anderen Worten: »Der Geldgierige ist wie einer, der Wassersucht hat. Er ist voll von Wasser und will doch immer trinken. Der Geldgierige ist voll von Geld und will immer mehr. Je mehr man sich von dem verschafft, was man begehrt, umso heftiger wird die Sucht« (Luck 311/ G. V B.229).
Die sprachliche Diktion von Krankheit, Diagnose und Therapie ist im Kontext des kynischen Selbstverständnisses als Seelenärzte (vgl. Kudlien 1974, 309) durchaus angebracht (vgl. dl vi 1, 4; 6; Luck 120/ G. V B.80; Luck 269/ G. V B.281; Luck 515/ G. V B.570).
Vgl. zu dieser Erzählung auch Luck 550/ G. V H.46.
F. Sayre hat in seiner – teilweise überpointierten – Überblicksdarstellung diese zwei Charakteristika benannt, zum einen die „chief characteristic of the early Cynics“, nämlich deren „conception of freedom“, sowie zum anderen „the virture which they esteemed most“, die καρτερία (Sayre 1945, 114; 118).
Zur Philosophie des Diogenes von Sinope als ‚Revolution’ vgl. Navia 2005, 137.
M. Nussbaum dazu: „Von diesem Moment, so fiktiv er auch sein mag, könnte man sagen, er habe in der Philosophie des Abendlandes eine lange Tradition des kosmopolitischen Denkens eingeleitet“ (Nussbaum 2020, 7). Unscharf hingegen die Interpretation von S. Benhabib, nach der der Kosmopolit im antiken kynischen Verständnis „ein Nomade ohne Zuhause“ sei, worauf eine „negative Konnotation des Begriffs“ wie „etwa der heimatlose Kosmopolitismus“ zurückgehen würde (Benhabib 2016, 24). Auch O. Höffe erkennt den kynischen Gedanken „einer weltumspannenden Ordnung“, die „sich mindestens bis zum Kyniker Diogenes von Sinope zurückverfolgen“ ließe (Höffe 2004, 157).
Auch Moles hat sich dafür ausgesprochen, das kynische kosmopolitische Denken nicht ausschließlich als einen dekonstruktiven Ansatz zu interpretieren (vgl. Moles 1996, 106–107). Zum kynischen Kosmopolitismus als „big Cynic claim“ siehe weiters Moles 2005, 423–428.
Der Diogenes-Schüler Krates hat die kosmopolitische Anthropologie bereits verinnerlicht: »Mein Vaterland umfasst weit mehr als einen Turm und eine Hütte. Jede Burg und jedes Haus des ganzen Erdenrundes nimmt uns willig auf« (dl vi 7, 98).
Auch Krates wird eine Begegnung mit Alexander nachgesagt: »Als Alexander ihn [Anm.: Krates] fragte, ob er seine Heimatstadt [Anm.: die Polis Theben] wieder aufgebaut zu sehen wünsche, sagt er: »Wozu das? Denn wer weiß, bald wird wieder ein anderer Alexander kommen und sie zerstören«« (dl vi 5, 93).
Auch bei Diogenes von Sinope: »»Welche Politik soll man betreiben, wenn man ein Amt hat?« – »Es ist wie beim Feuer: nicht zu nah, damit du dich nicht verbrennst, und nicht zu weit, damit du nicht frierst.«« (Luck 182/ G. V B.357). Insbesondere dieser Aspekt macht deutlich, dass die Kyniker nicht pauschal als „anti-social“ (Rich 1956, 27) und deren Lebensform keineswegs als „pre-social existence“ (Bosman 2017, 46) betrachtet werden können. Denn der Kyniker verlässt die politische Gemeinschaft nicht zur Gänze, da auch er innerhalb der Gemeinschaft, allerdings auf seine Art und Weise, lebt und agiert.
Unverzichtbar hierfür ist die Askese (vgl. Dobbin 2012, xviii-xix); d.h. Einübung und Training in das physische wie psychische sich selbst genügende Leben. Deutlich erkennbar bei Diogenes von Sinope: »Die Übung [τὴν ἄσκησιν], lehrte er, ist eine doppelte, einerseits eine geistige [τὴν μὲν ψυχικήν], andererseits jene körperliche [τὴν δὲ σωματικήν], bei deren regelmäßigem Betrieb sich eine Denkweise bildet, die dem tugendhaften Handeln Vorschub leistet« (dl vi 2, 70). Denn: »Nichts, sagte er, gerate wohl im Leben ohne Übung; diese sei imstande, alle Hindernisse zu überwinden« (dl vi 2, 71).
Unbestreitbar ist, dass die frühen Kyniker gebildet waren und geschrieben haben: Von Antisthenes sollen zehn Bände zu unterschiedlichsten philosophischen Themen im Umlauf gewesen sein (vgl. dl vi 1, 15–18). Diogenes werden Buchtitel wie „Staat“, „Sittenkunst“ oder „Vom Reichtum“ zugeschrieben sowie sieben Tragödien (vgl. dl vi 2, 80). Krates soll Tagebuch geführt und sich durch „poetische Spielerei“ ausgezeichnet haben (vgl. dl vi 5, 85–86).
Die von Rich vorgelegte – allerdings nicht weiter spezifizierte – Differenzierung der Autarkie in „physical plane“ und „spiritual level“ (vgl. Rich 1956, 23) kann nun konkretisiert werden: Die Autarkie-Dimensionen eins und zwei lassen sich als Formen einer physischen Autarkie bezeichnen, wohingegen die Autarkie-Dimensionen drei, vier und fünf als Formen einer psychischen Autarkie (unpassend ‚spiritual level’) aufgefasst werden können.
Vielfach wird die kynische Enkratie eindimensional mit ‚Enthaltsamkeit’ übersetzt. Im Greek-English Lexicon wird die ἐγκράτεια jedoch im Sinne des hier vorgelegten Konzepts, nämlich mit „mastery over“ bzw. „self-control“, übertragen, nicht mit „abstinence“ oder „endurance“ (Liddell/Scott 1996, 473 s.v. ἐγκράτεια). In der Verbform finden sich die Bedeutungen „in seiner Gewalt haltend“, „Gebieter über etwas“ und „sich der Herrschaft bemächtigen“ (Gemoll/Vretska 2006, 251 s.v. ἐγκρατής). Auch bei Aristoteles ist die Enkratie unmissverständlich als eine Form der ‚Beherrschtheit’ [ἐγκράτεια] des Menschen aufzufassen, dessen Antonym die ‚Unbeherrschtheit’ [ἀκρασία] darstellt (vgl. Arist. Eth. Nic. vii 1).
Auch anhand von Epiktets Diatribe Vom Kynismus, die sich durch ihre Geschlossenheit hervorhebt (vgl. Billerbeck 1978, 5), lässt sich zeigen, dass die Herrschaft über sich selbst im kynischen Verständnis zentral gewesen ist. Dabei insbesondere in Bezug auf Antisthenes und Diogenes, die in direkte philosophische Verbindungen gebracht werden (vgl. Luck 347/ G. V B.290). Weiters Luck 348/ G. V B.293.
Z.B. ist bei Long bemerkbar, dass das kynische politische Argument unzureichend thematisiert wird. Den Aphorismen werden schwarzer Humor, Paradoxie, dabei jedoch auch „ethical seriousness“ attestiert, wobei keine genuin politische Ebene ausgewiesen wird. In der von ihm erstellten Auflistung der „systematic philosophical foundations“ des Kynismus in sieben Punkten werden viele Aspekte umsichtig angesprochen, dabei u.a. auch das zentrale Thema der „self-mastery“ (und das gleich in zwei der sieben Punkte), jedoch alles ohne eine politische Etikettierung (Long 2002, 624–626). Zum kynischen Humor als „proto-critical theory“ vgl. Turner 2019, 43.