Abstract
Die sozialen Medien stellen das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit auf den Kopf. Die Grenze zwischen beiden Sphären war immer schon prekär und ihre Funktion sowie ihre Beschaffenheit Gegenstand vieler interdisziplinärer Debatten. Autor:innen, die ihre literarischen Texte in den sozialen Medien veröffentlichen, finden sich sowohl als private als auch als öffentliche Person dort adressiert, wo eigentlich ihre literarischen Figuren zu verorten sind. Anders gesagt: Die durchlässig werdende Membran zwischen öffentlichem und privatem Raum verändert die Funktion der Autor:innenschaft. Literarische Texte wie die von Sarah Berger verhandeln dieses Phänomen, indem sie die Funktion des Schreibens und der Schrift im Kontext neuer Technologien in den sozialen Medien und jenseits davon diskutieren.
Zu Beginn des Jahres 2020 hat wohl niemand geahnt, in wie viele private Räumlichkeiten all jene bald blicken würden, die ihrer Arbeit aufgrund der Pandemie in Online-Videomeetings nachgehen mussten und müssen.1 Noch ließ sich nicht einschätzen, wie viele Personen wir vor Bücherregalen, weißen Wänden, vor oder auf Betten und in Küchen vorfinden und wer uns den Blick über die Schulter in den dahinterliegenden Raum durch eingeblendete Landschaften, verschwommene Hintergründe oder projizierte Bücherregale verwehren würde. Statt Fotos von Reisen und Unternehmungen in der Ferne befanden sich in den Feeds sozialer Medien vor allem Bilder von Haustieren, handwerklichen Betätigungen und Bücherstapeln. Die wenigen Möglichkeiten, die eigene Wohnung, das Haus oder auch nur das Zimmer zu verlassen, ging bei vielen mit dem Einlassen unterschiedlichster Öffentlichkeiten in den privaten Raum einher. Während der Pandemie hat sich damit die Grenze zwischen dem privaten und öffentlichen Raum verschoben oder, genauer, erneut verschoben, denn wie soziologische,2 medientheoretische3 und philosophische Überlegungen4 zeigen, verändert sie sich permanent. Darauf weist zum Beispiel Hannah Arendt in Vita activa hin.
So entscheidet nach Arendt die Verschiebung der Grenze zwischen öffentlich und privat über die politische Handlungsfähigkeit. Zur Zeit der Polis, so Arendt, war das Private von Familie, Haushalt, Erhaltung der Gattung, ökonomischen Strukturen und Notwendigkeiten bestimmt, die nicht in die Öffentlichkeit reichten. Letztere konnte so ein Raum der Freiheit ohne Zwänge sein. Das Private war folglich von Unfreiheit und Ungleichheit gekennzeichnet, generierte so aber die Möglichkeit politischen Handelns.5 In der Neuzeit wird Arendt zufolge diese politische Öffentlichkeit von der Gesellschaft abgelöst,6 in der ein bloßes „Sich-Verhalten“ vorherrsche, da es konstitutiv für Gesellschaften sei, dass sie Einzelne normiere und folglich den Regeln des Konformismus gehorche.7 Arendt ist an der Analyse der Gefahren einer Gesellschaft interessiert, der das „Gleichmachen“ ihrer Mitglieder „unter allen Umständen eingeschrieben ist“.8 So thematisiert sie zwar den Ausschluss „große[r] Gruppen menschlicher Wesen wie Frauen, Sklaven, Kinder, Arbeiter, Einwohner“9 aus der antiken politischen Öffentlichkeit, problematisiert die Exklusivität selbst jedoch nicht grundlegend. Gleichzeitig erkennt Arendt, dass das Private im System der Polis „einen Zustand der Beraubung“ darstellt, da die Verweigerung des Zugangs zu einer gemeinsamen Öffentlichkeit auch heiße, „nicht eigentlich ein Mensch sein zu können“.10 Nach Arendt entsteht erst in der Öffentlichkeit „die Welt selbst“, „insofern sie uns das Gemeinsame ist und als solches sich von dem unterscheidet, was uns privat zu eigen ist“.11 Dass Arendt in ihrer Darstellung der Polis nicht nur Frauen per se der Sphäre des Privaten zuordnet, ohne daran Kritik zu üben,12 sondern gleichzeitig mit dem exklusiven System der politischen Öffentlichkeit der Polis sympathisiert, hat vor allem die feministische Theorie empört.13 Denn wenn erst dem Öffentlichen „in der Menschenwelt“ Wirklichkeit zukommt, dann sind Frauen, Sklaven, Kinder weder Menschen, noch kommt ihnen und ihrer Lebenswelt Wirklichkeit zu.14 So kann der Slogan des second-wave feminism „Das Private ist politisch“15 gewissermaßen mit und gegen Arendt als ‚Wirklichmachung‘ des Privaten gelesen werden. In der im Slogan erfolgenden chiastischen Verbindung der Gegenbegriffe privat/öffentlich einerseits und persönlich oder unpolitisch/politisch andererseits wird die binäre Konzeption der Sphären gleichsam durchkreuzt. Dabei vollzieht sich das Durchlässigwerden sicherlich auch, wie Seyla Benhabib im Anschluss an Arendt argumentiert, auf Kosten jener, die angesichts des „Publikmachens“ z.B. von Gewalterfahrungen im „Privaten“ statt rechtlicher Unterstützung nur Voyeurismus erfuhren.16
Arendts Analyse zufolge handelt es sich bei diesen Strukturen jedoch nicht mehr um das Private, denn das existiert nur so lange, wie es sich dabei um einen Ort handelt, der von der und durch die Öffentlichkeit gänzlich abgegrenzt ist:
Innerhalb des Öffentlichen erscheint das Private als ein Eingegrenztes und Eingezäuntes, und die Pflicht des öffentlichen Gemeinwesens ist es, diese Zäune und Grenzen zu wahren, welche das Eigentum und Eigenste eines Bürgers von dem seines Nachbarn trennt und gegen ihn sicherstellt.17
Da in der Moderne Strukturen der Öffentlichkeit, wie etwa veränderte Gesetze und bürokratische Vorgänge, in diesen Raum eingedrungen sind, wird nach Arendt auch die Unterscheidung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit hinfällig.18 Das Nichtvorhandensein des privaten Raumes wird nach Arendt also vielmehr von der Möglichkeit des Zugriffs durch andere bestimmt, denn durch ein tatsächliches Ausstellen des Privaten im öffentlichen Raum.19 Wenn Arendt vom „Nachbarn“ schreibt, von dem das Eigentum getrennt und vor dem es sichergestellt werden soll, dann steht „der Nachbar“ hier für jegliche Strukturen ein, welche die Besitzverhältnisse und das Private stören könnten. Mit anderen Worten: Der:die Nachbar:in ist seit der Moderne immer schon Teil der eigenen vier Wände. Sie:er wird zur virtuellen Figur, welche die Möglichkeit einer Anwesenheit der anderen markiert. Mit dieser Struktur der Nachbar:innenschaft lässt sich auch diejenige von Autor:innen im Digitalen und vor allem in sozialen Medien neu beschreiben.
Wenngleich mit Arendt gegenwärtig weder das Private noch das Öffentliche als getrennte Sphären existieren, halten andere an dieser Struktur und Begrifflichkeit fest, reevaluieren sie aber vor allem hinsichtlich der veränderten medialen Umgebungen. Denn die Öffentlichkeit der sozialen Medien steht im Gegensatz zur antiken exklusiven Öffentlichkeit, wie Arendt sie beschreibt, da die sozialen Medien eine Teilhabe am öffentlichen und gesellschaftlichen Geschehen maximieren. Die sich immer wieder aufs Neue vollziehenden Strukturwandel der Öffentlichkeit sind nur Indizien dafür, dass die Öffentlichkeit der sozialen Medien mit derjenigen Arendts nur noch wenig zu tun hat.20 Die zentrale Rolle, die Medien in der Struktur der Distinktion privat/öffentlich einnehmen, war selten so deutlich wie jetzt, die Grenze zwischen den beiden Sphären selten so durchlässig. Doch nicht erst das Web 2.0 macht sie porös. Auch Vilém Flusser sah im Konzept des öffentlichen Raumes keine Funktion mehr, da er „unter dem immer dichter werdenden Netz von sichtbaren und unsichtbaren Kabeln verschwindet. Die Trennung zwischen privat und publik wird immer weniger sinnvoll, wenn die sogenannten Politiker durch Kabel hindurch in der Küche uneingeladen auftauchen können.‟21 Die erodierenden Grenzen zwischen dem Öffentlichen und Privaten werden immer wieder auf neue Kommunikationsmedien zurückgeführt.22 Die Kommunikationswissenschaften stehen folglich vor der Frage, was überhaupt als öffentlich bzw. öffentliche Kommunikation gelten kann. Oder anders: Gibt es ein Privates im Zeitalter von Big Data?23 Wenn Hans-Bernd Brosius einerseits argumentiert, dass im Internet jede Kommunikation „durch prinzipielle Beobachtbarkeit […] im eigentlichen Sinne öffentliche Kommunikation“24 ist, stellt sich andererseits die Frage, ob Kommunikation, um als öffentlich klassifiziert werden zu können, nicht auch eine gewisse öffentliche Relevanz haben müsse.25
Was als relevant gilt und was zur Sprache kommt, ist angesichts der besseren Möglichkeiten zur Partizipation durch soziale Medien jedenfalls diverser geworden, wodurch es auch Bedarf gibt, das Verhältnis von ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ begrifflich und strukturell hybrider und komplexer zu formulieren. Das zeigen zum einen Strukturen sozialer Plattformen, die es Nutzer:innen ermöglichen, privat öffentlich und öffentlich privat zu sein,26 sowie zum anderen Untersuchungen, welche die fließenden Übergänge zwischen den Sphären in den Blick nehmen27 oder etwa mit oxymorischen Beschreibungen wie der einer „intimisierten Öffentlichkeit“28 das veränderte Verhältnis zu fassen suchen.
1 Professionalität im Privaten
In den ersten Monaten der Pandemie ist neben der Neukonfiguration des Privaten und Öffentlichen eine andere Verschiebung deutlich geworden, auf die Berit Glanz und Johannes Franzen mit ihrem Artikel Arbeit in Unterhosen – die Ästhetik des Privaten in den Zeiten der Pandemie aufmerksam gemacht haben: diejenige zwischen Privatheit und Professionalität. Franzen und Glanz zeigen, dass so unterschiedliche Formate wie Late-Night-Shows, Nachrichtensendungen und Lesungen, die aufgrund der Pandemie aus Privaträumen gesendet wurden, die Lebenssituation der Protagonist:innen dadurch als authentisch auswiesen, dass diese sich möglichst privat und intim inszenierten. Stephen Colbert zum Beispiel hatte sich für eine Sendung seiner Late Show in seinem Homeoffice zu Beginn mit dem üblichen Outfit aus Jackett, Hemd und Krawatte präsentiert, zeigte dann aber, dass er keine Hose trug, da sein Unterkörper ohnehin weder von der Kamera noch von den Blicken von Studiogäst:innen erfasst werden würde.
Die Pointe [dieser Inszenierung, N. T.] beruht auf der selbstverständlich konstruierten, aber für die Funktionsweise moderner stark differenzierter Gesellschaften extrem wichtigen Unterscheidung von professionell und privat. Die plötzliche Überführung privater Komponenten in professionelle Kontexte, die zentral ist für die digitale Vernetzung der nun im Home-Office arbeitenden Kolleg*innen führt zu interessanten Formen von Selbstinszenierung und Überlegungen zu neuen Anforderungen an eine Berufsetikette.29
Mittlerweile gehört es fast zum guten Ton, die Schwierigkeiten mit den neuen Techniken im Livestream auszustellen. Betthaare und Schlafanzughose vor der Kamera machen deutlich, dass man im Homeoffice viel Zeit sparen kann und es ist kein Affront mehr, Lesungen in Badewannen und ungemachten Betten abzuhalten.30 Im Gegenteil: Aus jedem vollen Spülbecken und jedem Kind, das in den Fokus der Kamera gerät, kann je nach Kontext ein politisches Statement werden. Dabei hat das Jahr 2020 schnell gezeigt, dass v. a. in monogamen Heterobeziehungen mit Kindern überwiegend Frauen die Sorgearbeit leisteten. Aufgrund des unumgänglichen Einlassens von Kolleg:innen in das Homeoffice, fanden und finden folglich Beruf und Sorgearbeit häufig gleichzeitig und nicht selten unfreiwillig vor der Kamera statt. So obliegt es dann auch meist Müttern, das vermeintlich Private öffentlich und sichtbar und auf diese Weise, mit Arendts Worten, auch ‚wirklich‘ zu machen. Zum Programm wurde die politische Dimension literarischen Schreibens von Müttern bei der Konferenz des Kollektivs Writing with CARE/RAGE (2021). Teil der Konferenz war das Experiment Rhizom: Offene Worte – ein Kollektivtext. Hier konnten alle Teilnehmenden an einem Dokument arbeiten, in dem neben empowernden Texten auch die anonyme Struktur des Digitalen und der vergebliche Ruf nach Kontakt, Solidarität, Freundschaft in den digitalen öffentlichen Raum ausgestellt wurden. Letzterer findet seinen Ausdruck beispielsweise in der im Netz verhallenden Adressierung algorithmisch generierter Avatare und anonymer Personen:
Hallo, anonyme Gans. Hallo, liebes anonymes Erdhörnchen. Hallo anonymer Dumbo-Oktopus, Hallo anonymer Hamster, Hallo anonymer Ameisenbär, hallo anonymer Grizzly, hallo, anonyme Preisträgerin, hallo, anonyme Schriftsteller:in, hallo, anonyme Frau, die immer strahlt, hallo, anonyme Care-Arbeiterin, hallo, anonymes Opfer von häuslicher Gewalt. Hallo. Hallo! Hallo?31
Die bei Google Docs mit zufälligen Tiernamen angezeigten anonymen Nutzer:innen eines Dokuments tauchen hier im Text auf und werden so auch jenseits der Menüleiste des Browsers sichtbar. Die Antwort, die hauptsächlich ein Echo des eigenen Rufs ist, performiert den langen Hall und die permanente Wiederkehr der Ungleichheit: „ja, hallo, ich höre dich. hallo. hallo! hallo?‟32 Wie eingangs gezeigt, entsteht nach Arendt erst in der Öffentlichkeit „die Welt selbst“,33 indem sie als „Gebilde von Menschenhand“ in der Begegnung von Menschen allererst zum Vorschein kommt.34 Wie aber entsteht Welt, wenn der öffentliche Raum verschwindet oder das Private immer auch öffentlich ist? Welche Rolle spielt die Literatur an den Schnittstellen dieser Sphären? Und wie inszeniert oder schafft sie diese Räume? Mit anderen Worten: Welche Rolle spielt digitale Literatur bei der Konstituierung privater und öffentlicher Räume?
2 Autor:innenschaften und ihr Erzähl-Ich. Von einer Nachbarschaft
In einer dynamischen Verknüpfung mit den neueren Medien und feministischen Diskursen kommt dem:der Autor:in durch die Verschiebung der Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit eine veränderte Bedeutung zu. Bei einem Gespräch im Haus der Kulturen der Welt im November 2019 wurde Claudia Rankine gefragt, ob alle ihre Texte, auch die eigentlich unpolitischen, politisch seien, worauf sie antwortete, dass unpolitisches Schreiben nur dann möglich sei, wenn man glaube, man schreibe eine metaphysische Wahrheit, die sich jenseits von Individuen befinde. Jede Person, die von einem individuellen Standpunkt aus schreibe, verhalte sich automatisch politisch.35
Am Schnittpunkt von privat und öffentlich oder zwischen privat, öffentlich und professionell, wird auch jene Literatur verortet, die gern als ‚literarisches Selfie‘ bezeichnet wird.36 In ihr inszeniert sich ein Ich, ein:e Erzähler:in oder auch ein:e Autor:in aus nächster Nähe. Und in dieser Konjunktion, in dem „oder“ zwischen Erzähler:in und Autor:in, liegt der wunde Punkt. Denn was die Literaturwissenschaft gerne so vehement betont, wird von der Literatur in den sozialen Medien mitunter infrage gestellt: die Unterscheidung von Autor:in und Erzähler:in. Während bei konventionellen literarischen Formaten häufig bereits durch eine Gattungsbezeichnung mindestens angedeutet wird, wie sich Autor:in und Erzähler:in zueinander verhalten, folgt die Literatur der sozialen Medien solchen Konventionen nicht. Durch die Öffentlichkeit von sozialen Netzwerken und das gewöhnliche Nebeneinander von Freund:innen, Personen öffentlichen Lebens, Künstler:innen und Kunstfiguren wird trotz räumlicher Distanz zwischen den Personen eine Nähe zwischen Autor:innen und Lesenden erzeugt, die für Unruhe in der Unterscheidung von Autor:in und Erzähler:in sorgt. Selbst wenn Autor:innen für literarische Texte andere Accounts verwenden als für private oder aktivistische Posts, werden die literarischen Texte häufig als autobiografische gelesen. Die sozialen Medien als schriftliche Kommunikationsmedien sind keine Distanzmedien mehr, insofern sie die Zeit zwischen Senden und Empfangen minimieren und damit, um es mit einem Begriff zu sagen, den Christiane Frohmann in diesem Zusammenhang geprägt hat, ‚instantan‘ sind – oder ‚das Instantane‘ inszenieren.
„Präraffaelitische Girls, was ist eigentlich ‚das Instantane‘?‟ „Das Instantane ist der Unmittelbarkeits-Zeit-Raum, der sich in sozialen Medien mit chronologischer Timeline eröffnet, worin in Wirkungsschleifen Lesen, Schreiben, und Publizieren, Beobachten, Sichbeobachten und Beobachtetwerden, Monolog und Dialog, Leben und Dokumentation, Nähe und Ferne, Reiz und Reaktion, Erfahrung und Erinnerung, Kommunikation und Literatur, Symbolisches und Virtuelles sowie Autorin und Figur ineinanderfließen.‟37
Holger Schulze hat sowohl im Anschluss an Frohmanns Begriff des Instantanen als auch unter Rückgriff auf Anahid Kassabians Konzept der ubiquitous music38 die digitale Literatur als ubiquitäre Partikelpoetik konzeptualisiert.39 Teil der Partikularität der digitalen Literatur ist die enorme Präsenz von Ichs, die sich als körperliche und politische vorstellen und damit die Distanz zwischen Autor:innen und Erzählinstanzen zu überbrücken scheinen. Es ist zwar nicht erst die Allgegenwärtigkeit der sozialen Medien, die für ein verstärktes Auftreten des Ich sorgt – so hat etwa Maxim Biller 2011 die literarische Epoche der letzten 25 Jahre als „Ichzeit“ bezeichnet –,40 doch intensiviert das Web 2.0 diese Tendenz, denn, so Jia Tolentino, „the internet brings the I into everything“.41 Obwohl Tolentino mit dieser Aussage vor allem auf veränderte Solidarität verweist, die nicht mehr von einer Moral, sondern von der Empathie mit einem Ich abhängen würde, ist dieses Ich auch in vielen literarischen Texten zu finden, die in den sozialen Medien entstehen bzw. in partizipativen Strukturen, die mit dem Web 2.0 ermöglicht wurden. Gerade die permanente Narrativierung eines Ich im Web verkleinert die Differenz zwischen Autor:in und Erzähl-Ich, weil das Erzähl-Ich nicht als solches gelesen wird, sondern als Personalpronomen einer historischen Person, wie es so viele Ichs im Kontext der medialen Umgebung durchaus auch sind.42 Damit steht Autor:innenschaft wieder – oder immer noch – zur Disposition. Das Web 2.0, das noch vor einigen Jahrzehnten als Verwirklichung des Todes des Autors gefeiert wurde,43 bringt eben jene überwunden geglaubte Größe der Literaturwissenschaft zurück.44 Doch, so Martina Wagner-Egelhaaf, die wiedergekehrte Figur des Autors45 ist nicht mehr dieselbe, da sich das Wissen um den eigenen Tod in jede Autorschaft eingeschrieben hat.46 Auch auf Twitter wird gern auf die heikle Position von Autor:innenschaft angespielt:
@SophiePassmann: Wie wenig nimmt man seine Kunst eigentlich ernst, wenn man das, was man sagt, auf eine Kunstfigur schiebt.47
@fem_poet: mein schreiben ist nur insofern autobiographisch, dass es von den dingen erzählt, die ich gerne erlebt hätte48
@sasa_s: Wenn überhaupt, dann Werk, Autor っ◔◡◔) っ ♥𝕌𝕟𝕕 ♥ Twitter trennen.49
Hin und wieder entwickeln sich, wie anhand des Tweets „Man muss zwischen Autor und Content trennen“ von @Johannes42 ganze Threads, die das Thema adressieren. Unter den Antworten finden sich Kommentare wie „Lieber zwischen Contenance und Autor trennen“, „Unfug“, „Man muss Autor und Content nicht trennen, sondern unterscheiden“, „Autor ist Content“, „Trennungen sind immer bitter. Wer bekommt die Katze? Wer kocht mir jetzt den Kaffee?‟, „trennen muss man zwischen content und content-creator“, „Lektion eins in der Literaturwissenschaft“, „Ich dachte, der Autor sei tot“ und „Man muss Auto und Werk trennen“.50 Zwischen Witz, Komik und Diskurs wird jedes Wort im initialen Satz auseinandergenommen: Der Autor wird zum Auto, der Content zur Contenance und zugleich fällt alles in sich zusammen, wenn der Autor sein Content wird. In der Performanz dieses Threads steckt, was Autor:innenschaft in den sozialen Medien ist: Sprachspiel, Missverständnis, Sentenz, Argwohn. Autor:innen sind nicht erreichbar und gleichzeitig ganz nah, sie sind ständig präsent, aber nie greifbar. Mit anderen Worten, die Begegnung mit Autor:innen erinnert strukturell an die Begegnung mit der Nachbarin,51 wie Luce deLire sie konzipiert:
Die Nachbarin ist das bevorzugte Objekt für Virtualitäten, Projektionen. Sie ist die nächste erreichbare unbekannte Variable. […] Nachbarschaft in diesem Sinne wird beispielsweise architektonisch in einem unzugänglichen Raum inszeniert: im Zimmer meiner Mitbewohnerin, im Garten meiner Nachbarin usw. Das soll nicht heißen, dass alle Personen in Nebenwohnungen in diesem Sinne virtualisiert, als Entzug auftauchen. Nicht jede angrenzende Wohnung, Nation oder Geschlechtsidentität ist in diesem Sinne eine ‚Nachbarin‘. Aber irgendjemand nervt immer, ist zu laut oder zu sensibel. […] Wichtig ist, dass sich etwas gerade so desintegriert, dass es sich unserer Unwissenheit notorisch widersetzt; aber gerade nicht genug, als dass es in eigenständiger Form erschiene.52
Wir stehen immer schon in einer Beziehung zur Nachbarin, erleben sie aber nur im Rückzug. Dabei ist die Nachbarin bzw. deren Virtualität auch die Begegnung mit der eigenen Virtualität:
Denn du warst schon immer in Langzeitbeziehungen – mit virtuellen Aspekten deiner selbst. Du erlebst deren Updates und Verkörperungen in anderen – Menschen, Dingen, etc. Du bestehst aus Clustern und Schwärmen von Aspekten von Schwärmen von Clustern usw. ad infinitum. Diese sind durchlässig mit und für … du bist eine totale Katastrophe, total problematisch von Anfang an: Ständig überschreitet dich etwas, du dich in dir selbst und in anderen. Dein Selbst formt tausend Schichten, tausend Wege. Du bist fragil, oder warst es mal. Vielleicht hast du dich stabilisiert.53
Während Flusser mit einem medientheoretischen Blick das Virtuelle als Teilchen versteht, „die noch nicht eigentlich wirklich sind“,54 ist das Virtuelle bei deLire mit Bezug zu Gilles Deleuze insofern wirklich, als es sich zwar entzieht, aber in diesem Entzug dennoch aufscheint. Die Nachbarin zeichnet sich dadurch aus, dass sie immer da ist (auch wenn sie das Haus verlassen hat) und außerhalb der eigenen Reichweite spürbar ist, aber nicht so, dass sie als eigenständige Existenz oder Entität vorstellbar wird – das ist ihre Virtualität, die wiederum zum Spiegel, zur Echokammer wird: „Wenn du etwas über virtuelle Realitäten (virtual realities, VR) oder Cyberspaces sagen wolltest, müsstest du eigentlich mit der Geschichte der Nachbarschaft beginnen.‟55 Wenn die Nachbarin in ihrer Virtualität sowohl da als auch Projektion ist, lässt sich mit den Worten der Präraffaelitischen Girls von Christiane Frohmann vielleicht zusammenfassend sagen: „Präraffaelitische Girls wussten: Eigentlich wollte man auch digital wieder nur allein, aber nicht einsam sein.‟56
Durch das Einlassen der sozialen Medien in die eigenen vier Wände verschiebt sich die Nachbar:innenschaft. In ihrer Virtualität zeigt sie sich nicht nur als Geräusch jenseits der Wand, des Treppenhauses, der Decke, sondern als Ton, Vibration, als Ankündigung eines neuen Posts, als Push-Nachricht, kurz: als anklopfende Öffentlichkeit. Der angrenzende (virtuelle) Raum ist dabei auch der angrenzende Denkraum, an den sich Nachbar:innenschaft anschließen kann. Denkräume sind, wie Simone Jung und Marlene Mader schreiben, durch Grenzziehungen entstanden: „Es wird eine Grenze gezogen, die einen Innenraum erzeugt, der wiederum einen zweiten Raum entstehen lässt. Grenzen schaffen Räume, in denen wir leben und arbeiten, denken und schreiben.‟57 Dieses „Schreiben erschöpft sich nicht in der Mitteilung von Sachverhalten,‟ so Sandro Zanetti in Schreiben als Kulturtechnik, „sondern Schreiben ist eine Geste, die zwischen Schreiben und potentiellen Lesern zunächst einmal eine Trennlinie zieht, bevor diese, für diejenigen, die sich als Adressaten gemeint fühlen könnten, überhaupt als potentielle Verbindungslinie lesbar wird.‟58 Oder mit Sarah Berger: „In der Art und Weise, wie das Schreiben die Autor_innen von den Menschen trennt, bringt der Text die Menschen zu den Autor_innen.‟59 Das Schreiben im Digitalen wird zu jener Grenze, welche die Virtualität der Nachbarin markiert und damit den:die Autor:in der Digitalität in den angrenzenden Raum einschreibt.60 In dieser Nachbar:innenschaft sind Autor:innen und Erzähler:innen virtuelle Aspekte eines Textes, der als Schrift und Grenze lesbar wird.
3 Eindringliches Berühren schreiben
Die Schrift der Literatur in sozialen Medien generiert Grenzen, an denen virtuelle Aspekte von Autor:innen und Erzähler:innen im Entzug aufscheinen. Durch das Instantane sozialer Medien wird die:der Autor:in zur Nachbarin:zum Nachbarn. Um es stilisiert darzustellen: Die Schrift befindet sich nicht mehr nur in einem klar bestimmten Raum, der durch zwei Buchdeckel markiert ist und in dem Anfang und Ende eines Textes festgelegt sind.61 Die Literatur der sozialen Medien dringt unkontrolliert in die private Lebenswelt und buchstäblich in den privaten Besitz – das Telefon, die Uhr, den Laptop – ein. Sie ist partikular und vernetzt sich. Damit soll keine ontologische Differenz zwischen digitaler Literatur und dem Buch behauptet werden. Vielmehr vollzieht sich durch die Virtualität der Nachbarin:des Nachbarn eine Verschiebung des angrenzenden Raumes, welche die Autor:innen aus ihrer Professionalität in das Private holt, das damit zugleich öffentlich wird. Bei der permanenten Anwesenheit von Autor:innen geht es folglich weniger darum, dass Literatur, Lesungen und literaturwissenschaftliche Diskussionen im Bett und in der Badewanne rezipiert werden können, sondern hier ist vor allem das in der Literatur der sozialen Medien so präsente Ich angesprochen, von dem sowohl das Schlagwort des ‚literarischen Selfies‘ als auch Tolentinos Analyse zeugen. Dieses Ich kann zum einen deswegen in die Räume der Lesenden eindringen, weil es, wie etwa bei Sarah Berger, dezentriert – in einzelnen Tweets, Kurznachrichten, Bildern – gewissermaßen in Partikeln ubiquitär und permanent lesbar wird und zum anderen, weil es nicht über ein geschlossenes Narrativ verfügt. So heißt es in Bergers bitte öffnet den Vorhang. @milch_honig 2019–2009: „Arbeitstitel des Romans, von dem ich behaupte, ich würde ihn schreiben, den ich aber nicht schreiben kann, weil mich langes Erzählen langweilt: Die abgeschnittene Person.‟62 Die durch die Affordanzen und Konventionen der sozialen Medien vorgegebene Kürze der Texte koinzidiert mit dem Ich insofern, als es sich in abgeschlossenen langen Narrativen nicht wiederfindet. Wie die Person des imaginierten Romantitels ist das Ich immer abgeschnitten und dringt als abgeschnittenes in das Private ein.
Folglich ist bitte öffnet den Vorhang statt eines geschlossenen Romans eine Sammlung von kurzen Texten, manchmal einzelnen Sätzen, die zuerst auf Social-Media-Plattformen veröffentlicht wurden, bevor sie als Buch erschienen. Die abgeschnittene Person wird hier durch scheinbar willkürlich irgendwo beginnende und irgendwo endende und damit einen Ausschnitt markierende rückläufige Nummerierung der Texte von 573 bis 411 evoziert. In dieser Chronologie findet das Ich jedoch kein Ruhe stiftendes Moment, die Ordnung ist vielmehr erzwungen und somit schmerzhaft: „Zusammenreißen ist ein brutales Wort. Die Gewalt, derer es bedarf, ein zerrissenes Ich zusammen zu halten.‟63 Die Nummerierungen sind folglich gleichermaßen der Zusammenhalt eines Ichs, das wiederum die kurzen Texte miteinander verknüpft, wie auch die Nummerierung vieler einzelner Ichs.
Von diesem Ich oder den Ichs im Plural gibt es keine Geschichte, kein Narrativ, dieses Ich erzählt, diese Ichs erzählen Anekdoten, senden Posts. In diesem Sinne erscheint sich das Ich selbst als Virtuelles, das heißt als Aspekte seiner selbst, in die es ebenso wenig übergehen kann, wie in ein Du:
Ich wollte vom Übergang schreiben, vom Übergehen: wie ich in dich übergehe. Vom Vermischen wollte ich schreiben, vom Vermischen unserer Teile, von den unendlichen Kombinationsmöglichkeiten unserer Teile wollte ich schreiben, weil du, DU behauptest, es gäbe unendliche Versionen unserer selbst, solange sich unsere Atome ein kleines bisschen anders anordnen: Die Ordnung macht aus uns Personen, Personen, die sich Vermischen und Kombinieren und ineinander übergehen, darüber wollte ich schreiben, vom Einführen, Gleiten, vom Berühren wollte ich schreiben, dass wir uns nur an unseren Körperöffnungen berühren können.64
Ingeborg Bachmann hat in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen argumentiert, dass sich das Ich eines Gedichtes oder Romans im Unterschied zu einem Tagebuch- oder Brief-Ich erst erschaffen muss. Folglich „verfügen [Roman und Gedicht, N.T.] über viele Ich-Möglichkeiten, Ich-Probleme. Und es tritt auch nur in diesen beiden Gattungen der Wunsch nach der Zerstörung oder Absetzung des Ich oder seiner Neukonzeption auf.‟65 Mit anderen Worten: Der Roman ist, indem er das Ich immer neu erfindet und schafft, weil es ihm nicht von selbst eingeschrieben ist, immer auch eine Verhandlung des Pronomens. Nun ist bitte öffnet den Vorhang weder Roman oder Gedicht noch Tagebuch oder Brief. Vielmehr versammelt der Band Texte, die über Plattformen wie Facebook, Instagram oder Twitter ihren Weg zu den Leser:innen fanden. Dennoch reflektiert er das Ich und konfrontiert es mit seiner Geschichte, die es lange an den aufgeladenen Begriff „Mensch“ gebunden hat: „Ich wollte nie Mensch sein. Figur reicht völlig“, schreibt Berger.66 Für Bachmann ist jedes veräußerte Ich – sei es ausgesprochen oder aufgeschrieben – ein „Ich ohne Gewähr“,67 es bezeichnet zugleich „Myriaden von Partikeln“ und scheint doch ein Nichts zu sein.68 Das Ich in der oben zitierten Passage aus bitte öffnet den Vorhang, das sich nicht in das Du einschreiben, nicht in es übergehen und mit ihm neue Kombination bilden kann, scheint mit der permanenten Wiederholung von „schreiben“ und der Betonung des „DU“ die eigene Auflösung in „Atome“ oder, mit Bachmann, in „Myriaden von Partikeln“ forcieren zu wollen.
In Bergers Sex und Perspektive ändert das Ich einfach den Aggregatzustand und denkt die Geste des Eindringens und der Vermischung über das Flüssige: „Das Schmelzwasser unter den Sohlen verteilt sich langsam auf den Kacheln. Es ist grundsätzlich schwer, Flüssigkeiten zu trennen. Mit dem Mund geht es, wenn ich einfach die Lippen schließe. Ich bleibe verschlossen.‟69 Etwas weiter unten heißt es dann jedoch:
In pinken Schlieren läuft die frische Farbe in ihren Haaren über ihr Gesicht auf meinen Bauch und sammelt sich in meinem Bauchnabel […]. Ich will Ella den pinken Schweiß, die Farbe tief in die Haut reiben. Bis sie endlich eins sind, so lange würde ich reiben. Bis sie ganz sind …
mit dem Mund geht es,
einfach die Lippen schließen70
Die Dynamik des Einreibens und Eindringens geht über in die des Verschließens. Beide Bewegungen werden nicht vollendet. Denn auch wenn es heißt, dass sich Flüssigkeiten trennen ließen, indem der Mund geschlossen werde, scheint doch genau dieser Satz, wenn er zwei Seiten später nur wenig verändert erneut auftaucht, dem geschlossenen Mund wieder entwichen zu sein. Typografisch hebt er sich durch die Kursivsetzung ab, Auslassungspunkte am Schluss des vorhergehenden und am Anfang des folgenden Satzes weisen ihn als Fremdkörper aus, als etwas, das unwillkürlich entweicht bzw. erscheint.
Die in Bergers Texten dargestellte Verknüpfung von Farbe und Einreibung, von Flüssigkeiten und Worten, die aus dem Mund entweichen, sowie das Insistieren auf dem Schreiben des Übergehens und Übergangs generieren ihrerseits Gesten des Schreibens. Das Ich wird selbst Schreibendes, Autor:in, das – in Flussers Worten – mit dem Schreiben als „eindringliche[r], eindringende[r] Geste“71 in die Körper, in andere Ichs, in ihr Privates eindringen will, dabei aber die Räume, in die es eindringt, mit dem Schreiben zuallererst konstituiert. In dem Wunsch, die Farbe einzureiben, präsentiert sich das Ich als Autor:in in einer Schreib-Szene,72 in der es Farbe als Tinte in die Haut, in das Papier einreiben will. Dabei stellt sich auch die Schreib-Szene, so gelesen, als Entzug dar, ist sie doch nur Erinnerung an eine Schreibpraxis, in der einmal Papier und Tinte ihren Aufritt hatten, die jetzt vielmehr das Drücken von Tasten erfordert bzw. die Berührung einer Benutzer:innenoberfläche.
Während viele der einzelnen Textabschnitte in bitte öffnet den Vorhang auf Social-Media Plattformen erstveröffentlicht wurden, ist der Großteil von Sex und Perspektive nicht vorab im Digitalen erschienen. Das macht den Text jedoch nicht weniger digital. Vielmehr erinnert zum Beispiel die reibende Geste vor allem an das Schreiben auf Touchscreens. Diese Art der Berührung der glatten Oberfläche steht auch im Zentrum eines Abschnitts in Bergers früherem Buch Match Deleted. Tinder Shorts:
In den glatten Oberflächen der Devices sehen wir uns selbst. Hauptsache, es vibriert. Ein Push-up-Balken legt sich über meine Augen und ich wechsle den Fokus – ein Reiz, eine Nachricht, ein Mensch irgendwo auf meiner glatten Oberfläche. Einfach allen 257 Tindermatches: „Hey, wie geht’s dir denn?‟ schreiben. Warten. Und es ist egal, wem du da nachts Songs schickst, Hauptsache, es geht raus, aus Dir. Und noch ein Song. Und noch einer. Auf meiner glatten Oberfläche. Ich bin gestern wieder mit dem Smartphone in der Hand eingeschlafen. Du schläfst beim Lesen ein. Ja, ich lese immer zum Einschlafen und höre dann die Songs, die du mir und 256 anderen geschickt hast. Und wenn das Glas bricht, tauschen wir es einfach aus – mit unseren glatten Oberflächen.73
Der kurze Text thematisiert das neue Schreiben, indem er eine Schreib-Szene generiert, die gleichzeitig der in den neuen Medien so eng mit dem Schreiben verknüpfte Leseprozess ist. Ebenso wie sich hier die Stimmen zweier, dreier oder von 258 Personen vermischen, gehen die Oberflächen von Schreibenden, Empfangenden und Medien ineinander über („Ein Push-up-Balken legt sich über meine Augen“). Die glatten Oberflächen stehen dabei für sich, es gibt nichts hinter ihnen, kein Jenseits. Sie und ihre Bewegungen geraten selbst in den Fokus der Schreib-Szene. Die Vibration wird Teil des Leseprozesses, Texte, die einmal gesendet wurden, können instantan von einer Vielzahl an Leser:innen rezipiert werden, sie legen sich als Push-up-Balken über deren Augen, sind gleichermaßen private und öffentliche Nachrichten. Das Schreiben als Berühren der Oberfläche ist nicht mehr das Einschreiben und Einritzen in eine Oberfläche, was jedoch nicht bedeutet, dass Schreiben weniger gewaltvoll ist.74 Der Bruch des Glases zeugt davon, er ist der Glitch in der Haut des neuen Mediums.75 Durch ihn wird die Oberfläche durchlässig und porig, durch ihn kann Farbe durch sie dringen – oder der Atem, dem sich auch das Ich in Sex und Perspektive ausgesetzt sieht. Bei einer Lesung meint das Erzähl-Ich die Langeweile der Hörenden an ihrem Atmen wahrzunehmen:
Sie denken, ich bekomme das nicht mit, aber ich merke alles. Ich habe diese Sensibilität, bin dieses offenporige Gebilde, alles fließt in mich hinein, ich kann nichts und niemensch daran hindern, in mich einzudringen, permanent penetriert mich die Welt mit ihrem Gestöhne und ihrem lauten Atmen, ich liege sowieso schon am Boden, aber klar, atme ruhig noch mal laut aus …76
Das Ich ist hier selbst dem Eindringlichen in die Haut, in die Oberfläche, in das Private ausgesetzt. Der Atem dringt wie die ubiquitäre Poetik77 oder wie die Myriaden an Partikeln, die das Ich generieren,78 in das Ich ein, wodurch das Ich selbst von der Figur der Autorin:des Autors durchdrungen wird.
In der Unmöglichkeit, den Übergang zu schreiben oder den:die Autor:in als virtuelle:n Nachbarin:Nachbarn zu kontrollieren, in der Allgegenwärtigkeit, Unkontrollierbarkeit und Notwendigkeit des Atmens zeigt sich die permanente Anwesenheit der Nachbarin:des Nachbarn im Entzug. Der:die Autor:in in sozialen Medien lässt sich so strukturell als Nachbar:in lesen, die:der in ihrer:seiner virtuellen Präsenz nie ganz fassbar wird, sich aber immer bemerkbar macht. Autor:innenschaft stellt sich als Eindringen der Nachbarin:des Nachbarn in die angrenzenden Denkräume dar, die ohne die Schrift, welche die Räume erzeugt, nicht wahrnehmbar werden würden. Die Virtualität der Nachbarin:des Nachbarn ist die Virtualität der Autorin:des Autors digitaler Texte, deren Vernetzung und Partikularität immer öffentlich und gleichzeitig zu privat ist. Indem Bergers Texte die Dringlichkeit ausstellen, sich einzureiben, sich einzuschreiben, einzudringen, gleichzeitig aber die Unmöglichkeit dieser Bewegungen – ebenso wie die der Abgrenzung von ihnen – markieren, zeigt ihr Schreiben, dass das Private zwar öffentlich, aber immer noch nicht politisch genug ist. Bevor nicht dem letzten Ich, so könnte man sagen, der Zugang zur Öffentlichkeit gewährt ist, solange ist das Politische noch nicht privat genug.
Literaturverzeichnis
Arendt, Hannah (2002 [1967]): Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper.
Bachmann, Ingeborg (2011): Frankfurter Vorlesungen. Probleme zeitgenössischer Dichtung. München/Zürich: Piper.
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Zanetti, Sandro (2012): „Einleitung“, in: Zanetti, Sandro (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. Berlin: Suhrkamp, S. 7–34.
„Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder innerhalb des Exzellenzclusters Temporal Communities: Doing Literature in a Global Perspective – EXC 2020 – Projekt-ID 390608380.“
Siehe z.B. Seeliger/Sevignani (Hg.) (2021) und Habermas (2018).
Siehe z.B. Brosius (2016) und Lange (2019).
Siehe z.B. Arendt (2002 [1967]).
Vgl. dazu Thürmer-Rohr (2011) S. 303.
Der Begriff der Gesellschaft stellt in Arendts Vita activa einen „Gegenbegriff zum Politischen“ dar (Meints-Stender (2019), S. 82).
Arendt (2002 [1967]), S. 52 f.
Ebd., S. 52.
Vgl. Benhabib (1991), S. 148.
Ebd., S. 48; 73.
Arendt (2002 [1967]), S. 65.
Vgl. ebd., S. 40.
Vgl. dazu z.B. Benhabib (2000), S. 40.
Vgl. Arendt (2002 [1967]), S. 62.
Zu einer ideengeschichtlichen Betrachtung des Slogans und seiner Bedeutung zu Beginn des 21. Jahrhunderts vgl. Riescher (2003).
Vgl. Benhabib (2000), S. 41 und Benhabib (1993), S. 110.
Arendt (2002 [1967]), S. 78.
Vgl. ebd., S. 48; 78.
So zeigt z.B. Benhabib, dass auch ein Wohnzimmer bei Arendt zum öffentlichen Raum werden kann und sich das Private und Öffentliche potenziell überschneiden können, solange die Öffentlichkeit keinen Zugriff auf das Geschehen im Privaten hat (Benhabib (1991) S. 151). Laut Habermas ist die bürgerliche Öffentlichkeit zwar nicht im Wohnzimmer, aber im anliegenden Salon entstanden (Habermas (2018), S. 13).
Im Anschluss an Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit wird in neueren Untersuchungen zur Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter gerne vom „Strukturwandel der Öffentlichkeit 2.0, 3.0“ oder vom „digitalen Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (vgl. Eisenegger/Prinzig/Blum (2021)) gesprochen. Erst kürzlich ist der Sonderband Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit? mit einem Beitrag von Habermas erschienen (Seeliger/Sevignani (2021)); vgl. dazu auch den Beitrag von Johannes Franzen in diesem Heft.
Flusser (2006), S. 280.
Vgl. Weintraub und Kumar (1997), S. xi.
Vgl. dazu Armin Nassehi, der vor allem mit Foucault argumentiert, dass es eine „unbeobachtbare, authentische, autonome Privatheit“ so nie gegeben hat (Nassehi (2019), S. 76). Ähnlich auch Niklas Barth, der anhand einer vergleichenden Lektüre der empfindsamen Briefkultur und der Kommunikation auf Facebook argumentiert, dass Privatheit immer schon „mit Gesellschaft durchsetzt“ gewesen sei (Barth (2019), S. 111).
Brosius (2016), S. 366.
Vgl. Strippel/Bock/Katzenbach u.a. (2018), S. 14. Habermas geht noch einen Schritt weiter, wenn er meint, dass neben der Relevanz von Meinungen auch deren Effektivität zu begutachten wäre, die an der Aufmerksamkeit zu messen wäre, welche die Meinung bei „der breiten – wahlberechtigten – Bevölkerung“ wecke (Habermas (2018), S. 485). Hier wird deutlich, dass Habermas’ Ausführungen an einem Punkt ansetzen, an dem bereits Privilegien (wie das Wahlrecht) vorausgesetzt werden, die viele gar nicht erst haben, die jedoch neue Öffentlichkeiten nutzen, um genau das publik zu machen und anzuklagen.
Lange (2019) zeigt, inwiefern Plattformen wie YouTube es ermöglichen, mit unterschiedlichen Graden von Öffentlichkeit zu experimentieren und mit Konzepten des Privaten durch Offenlegung oder Verschleierung der Identität zu spielen. Online-Plattformen können so gewissermaßen zum Experimentierfeld der Disktinktion von Privatheit und Öffentlichkeit werden.
Vgl. Strippel/Bock/Katzenbach (2018), S. 14. Auch Arendt stellt durch die Analyse der Verschiebung von ‚Öffentlichkeit‘ zu ‚Gesellschaft‘, von ‚privat‘ zu ‚intim‘ die binäre Opposition öffentlich/privat zur Disposition (Arendt (2002 [1967]), S. 78).
Wagner versteht Social-Media-Sites wie Facebook als Orte, an denen sich nicht nur Netzwerke und Communities bilden, sondern auch Publika und damit spezifische Öffentlichkeiten (vgl. Wagner (2019) S. 9).
Franzen/Glanz (2020).
Vor allem die Zeitschrift Glitter hat nach den ersten Schließungen kultureller Institutionen während der Pandemie recht schnell regelmäßig auf Facebook Lesungen gestreamt, für die es sich die Autor:innen und Zuhörer:innen gern gemütlich gemacht haben bzw. auf Räume ausgewichen sind, in denen sie überhaupt die Möglichkeit hatten, von anderen Mitbewohner:innen ungestört die Lesung zu inszenieren oder ihr zu folgen.
Writing with CARE/RAGE (2021):
Ebd.
Arendt (2002 [1967]), S. 65.
Ebd., S. 65 f.
Vgl. Rankine (2019).
Vgl. z.B. Haas (2018).
Frohmann (2018), Abschn. 136. Vgl. zum Instantanen auch Frohmann (2015).
Kassabian (2013).
Vgl. Schulze (2020), zum Instantanen v.a. S. 138–142, zur Musikalität v.a. S. 151–166.
Biller (2011).
Tolentino (2020), S. 26.
So wurde z.B. Sarah Berger aufgrund ihres Buches Match Deleted immer wieder auf ihr Tindern angesprochen (siehe z.B. Berger (2017b)), obwohl das Buch mit den Worten „Hier ist alles fiktional, / außer das, was Realität ist, / das ist grundsätzlich / nicht wahr“ (Berger (2017a)) eingeleitet wird. Dass solche Fragen durchaus auch auf sexistische Strukturen im Literaturbetrieb zurückzuführen sind, weil sie zeigen, dass weiblich gelesenen Autor:innen nicht zugetraut wird, über mehr als sich selbst zu schreiben, hat Nicole Seifert sehr eindrücklich gezeigt (Seifert (2021)).
Vgl. vor allem George P. Landow, der angesichts des Hypertextes den Autor vom „wreader“, also dem gleichzeitigen Schreibenden und Lesenden verdrängt sieht (Landow (2006), S. 125–143).
Zu dieser Diskussion siehe z.B. den Sammelband zur Rückkehr des Autors (Jannidis u.a. (1999)) oder auch Schulze: „Tot ist die Autorin nicht. Die Autorinnen und Autoren vervielfältigen sich, in explosivem Ausmaß, zusehends und unaufhörlich“ (Schulze (2020), S. 103).
Inwiefern Geschlechtlichkeit in dem Postulat des Todes des Autors eine Rolle spielt, haben bereits in den 80er und 90er Jahren Peggy Kamuf und Nancy K. Miller diskutiert. Zu einem Überblick dieser Theoriedebatte, die auch eine Debatte über die Dekonstruktion ist, vgl. Moi (2008).
Vgl. Wagner-Egelhaaf (2013), S. 13.
Twitter, 13.08.2020 12:07. Da der Twitter-Account von feminismus & poetry @fem_poet Anfang 2021 gehackt und alle Tweets gelöscht wurden, kann hier kein Link angegeben werden.
Da deLire in der deutschen Version nur von der Nachbarin spricht, wird dort, wo ich mich auf deLire beziehe, auch ausschließlich das Femininum verwendet.
deLire (2018).
Ebd.
Flusser (2006), S. 280.
deLire (2018). Vor dem Hintergrund dieser Wirklichkeit der Virtualität erschließt sich auch, dass deLire an anderer Stelle schreibt, digitale Identitäten seien rein „konzeptuell“ verschieden vom Offline-Leben, wodurch zum Beispiel digitale Formen von Gewalt durchaus real sind (vgl. deLire (2021), S. 48 f.).
Frohmann (2018), Abschn. 140.
Jung/Mader (2020), S. 11.
Zanetti (2012), S. 8.
Berger (2020a), S. 11.
Der Begriff „Digitalität“ wird hier in Anlehnung an Stalder verwendet, der unter „Kultur der Digitalität“ die Unmöglichkeit versteht, sich jenseits des Digitalen zu situieren: „Denn erst heute, da die Faszination für die Technologie abgeflaut ist und ihre Versprechungen hohl klingen, werden Kultur und Gesellschaft in einem umfassenden Sinne durch Digitalität geprägt. Vorher galt dies nur für bestimmte, abgrenzbare Bereiche. Diese Hybridisierung und Verfestigung des Digitalen, die Präsenz der Digitalität jenseits der digitalen Medien, verleiht der Kultur der Digitalität ihre Dominanz.‟ (Stalder (2016), S. 20). So wie die „Kultur der Digitalität“ alle Lebensbereiche erfasst hat, ist auch keine Autor:innenschaft jenseits des Digitalen mehr denkbar.
Thomas Pettitt hat unter anderem die vermeintliche Abschließbarkeit von Narrativen, die von Buchdeckeln suggeriert wird, als „Gutenberg parathensis“ bezeichnet (Pettitt 2013).
Berger (2020a), S. 58.
Ebd., S. 40. Bei Claudia Rankine ist es ausgerechnet das Pronomen „I“, das mal mehr und mal weniger erfolgreich versucht etwas zusammenzuhalten: „Sometimes ‚I‘ is supposed to hold what is not there until it is. Then what is comes apart the closer you are to it. / This makes the first person a symbol for something. / The pronoun barely holding the person together. / Someone claimed we should use our skin as wallpaper knowing we couldn’t win. / You said ‚I‘ has so much power; it’s insane. / And you would look past me, all gloved up, in a big coat, with fancy fur around the collar, and record a self saying, you should be scared, the first person can’t pull you together.‟ (Rankine (2015), S. 71). Konsequenterweise spielt Rankine in einigen Texten mit den Pronomen, indem sie sie zum Beispiel anhäuft: „I they he she we you were too concluded yesterday […].‟ (ebd., S. 146).
Berger (2020a), S. 9 f.
Bachmann (2011), S. 62. Vgl. zu Bachmann und den pluralisierten Ichs der Gegenwartsliteratur auch Tolksdorf (2021).
Berger (2020a), S. 122.
Bachmann (2011), S. 54.
Ebd.
Berger (2020b), S. 7.
Ebd., S. 9.
Flusser (2012), S. 261.
Die Schreibweise der „Schreib-Szene“ geht auf Campe und die poetologische Inszenierung des Schreibens zurück (Campe (2015); vgl. auch Stingelin (2004)).
Berger (2017a), S. 101.
Vgl. Ruf (2014), S. 71.
Zur Oberfläche von Touchscreens als Haut vgl. Russell (2020), S. 99–108.
Berger (2020b), S. 22.
Vgl. Schulze (2020).
Vgl. Bachmann (2011), S. 64.