Abstract
Wir fragen aus ärztlicher, philosophischer, ethischer und ökonomischer Sicht nach der Bestimmung der Stellung des Patientenwohls im Verhältnis zur Ökonomie und benennen mehrere Argumente, dass es zwischen evidenzbasierter Medizin und Mittelknappheit nicht um gleichgestellte Aspekte ärztlichen Handelns gehen kann, sondern unter anderem präzise zwischen Bedingung und Ursache unterscheiden werden muss. Darüber hinaus führen wir ein Beurteilungskriterium des Patientenwohls ein.
1 Einleitung
Patientenwohl als normatives Leitprinzip ist intuitiv plausibel und stellt eine universelle Norm in der Medizin dar. Es scheint sich um einen sehr weiten Begriff zu handeln. Einerseits was den Bezug auf den einzelnen Menschen und den zwischenmenschlichen Bereich ausmacht, man denke an die Behandlungszufriedenheit, Anerkennung und Respekt des Einzelnen. Andererseits kann er auf messbare Faktoren reduziert werden, wie zum Beispiel in der Versorgungsforschung, der Verfügbarkeit und Zugänglichkeit von Leistungen oder dem Qualitätsmanagement.
Zwischen diesen völlig unterschiedlichen Aspekten des Patientenwohls besteht ein ethisches Spannungsverhältnis. Heute besteht die Gefahr, dass es auf allen Ebenen der medizinisch-pflegerischen Patientenversorgung, nicht nur der untersten Ebene der unmittelbaren Begegnung zwischen Arzt bzw. Ärztin und Patienten, sondern auch auf der institutionellen und gesellschaftlichen Ebene als Leitnorm selbst aus dem Blickfeld gerät und so zu einer Art Leerformel wird.
Hintergrund dieser Entwicklung ist die Ökonomisierung der Medizin, welche dazu geführt hat, dass Denkweisen und Praktiken aus der Wirtschaft auf die Medizin übertragen worden sind und damit seit über 30 Jahren kulturelle Veränderungen bewirkt hat.1 Die Ökonomie nimmt in der Gesundheitsversorgung eine paradoxe Stellung ein: Einerseits dient sie dazu, eine gute medizinische Versorgung sowie einen gerechten Zugang zu Gesundheitsleistungen zu ermöglichen und Verschwendung durch ökonomisch rationale Verwendung von knappen Mitteln zu vermeiden. Andererseits ist für viele Ärzte der Eindruck entstanden, dass das Patientenwohl durch die vorrangige Fokussierung ihres Arbeitsumfelds auf ökonomische Ziele immer weiter in den Hintergrund getreten ist.
Ärztliches Handeln heißt medizinischen Regeln, wie wissenschaftlichen Leitlinien, evidenzbasierter Medizin, Empfehlungen etc., zu folgen. Im gegebenen Einzelfall des versorgungsbedürftigen Patienten muss der Arzt die Regel suchen, die für den Patienten den größten Nutzen verspricht. Im ärztlichen Handeln geht es im konkreten Fall neben Erfahrung um diese Regeln, deren Anwendung individuell zugeschnitten sein muss. Damit befindet sich der Arzt außerhalb dichotomer Entscheidungssituationen, da sein Abwägen stattfindet zwischen zum Teil äußerst differenten Aspekten einer problematischen Krankheitssituation (u.a. Zeitfragen, Lebenslauffragen, therapeutisches Geschehen und Prognose auch der zukünftig möglichen Lebensqualität), die konträr, ergänzend oder systemisch zueinanderstehen können.
Das bedeutet neben der ärztlichen Abwägungslogik, dass der naturwissenschaftliche Befund auch den individuellen Lebensverlauf und die Lebenssituation des Patienten berücksichtigen muss. Dann muss aber auch die medizinische Regel, die der Arzt im therapeutischen Geschehen befolgt, individuell zugeschnitten werden. Leitlinien oder Regeln sind inhaltlich bestimmt. Ganz anders verhält es sich beim medizinethischen Prinzip des Patientenwohls, mit dem wir uns im Weiteren auseinandersetzen möchten.
Die Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina zum Thema „Individualisierte Medizin – Voraussetzungen und Konsequenzen“ widmet sich den aktuellen Entwicklungen der modernen Medizin sowie den Herausforderungen und Rahmenbedingungen der individualisierten Medizin.2 Sie untersucht über die genannten Sachverhalte hinaus jedoch nicht die Stellung des Patientenwohls.
Es ist der Deutsche Ethikrat, der schon 2016 das Patientenwohl in seiner Stellungnahme Patientenwohl als ethischer Maßstab für das Krankenhaus gefährdet sah:
„Zwar liegt die Dichte der Krankenhäuser und die finanzielle Ausstattung des stationären Bereichs in Deutschland im internationalen Vergleich insgesamt auf einem hohen Niveau, jedoch sind durch eine vorrangige Fokussierung auf Ausgabenverringerung seitens der Krankenkassen und Ertragssteigerung auf der Seite der Anbieter Effekte entstanden, die im Hinblick auf das Patientenwohl als maßgeblicher normativer Maßstab Anlass zur Sorge geben.“3
Zwei Jahre später trat auch die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) in einer Stellungnahme4 für eine wissenschaftlich begründete, patientenzentrierte Medizin ein, die sowohl eine Unter-, Über- als auch eine Fehlversorgung entgegentritt und stellte fest: „Ökonomische Interessen dürfen jedoch medizinische Entscheidungen nicht unangemessen beeinflussen.“ Die AWMF äußerte ihre großen Sorgen aufgrund der das Patientenwohl gefährdenden Ökonomisierung der Medizin.5 Das Bestimmungsverhältnis von Medizin und Ökonomie und der Begriff des Patientenwohls wurden aber auch in dieser Stellungnahme nicht näher beleuchtet.
Rechtlich ist die normative Stellung des Patientenwohls eindeutig geschützt: Das Genfer Gelöbnis setzt es als ethische Leitnorm allen ärztlichen Handelns. Auch das Patientenrechtegesetz aus dem Jahr 2013 betonte schon die Stellung des Patientenwohls.6 Es ist jedoch bedenklich, wenn in der Praxis der Gegenwart der Begriff des Patientenwohls als Leitnorm im Verhältnis zu anderen Normen wie die der Ökonomie nicht mehr klar gefasst oder unbestimmt erscheint. Nach der Berufsordnung der Bundesärztekammer7 dürfen Ärzte hinsichtlich ihrer Entscheidungen keine Weisungen von Nicht-Ärzten entgegennehmen. Betriebswirtschaftliche Gründe dürfen in der ärztlichen Praxis medizinische Entscheidungen also nicht dahingehend beeinflussen, dass das Patientenwohl nicht das oberste Gebot darstellt.8 Patientenwohl ist damit zwar ethisch und standesrechtlich9 zentral gefordert, spielt meist aber in der Ausbildung von Ärzten oder in der beruflichen Praxis, beispielsweise bei der Abfassung von Arbeitsverträgen keine explizite Rolle.
Neben der eingangs genannten Praxis ist die Norm des Patientenwohls auch in der Theorie herausgefordert: Als Beispiel sei die Ansicht von Wiesing und Marckmann10 genannt. Die Autoren schildern die Konflikte, Ambivalenzen und divergierenden Kräfte zwischen einerseits den von der evidenzbasierten Medizin vorgegebenen Handlungskorridoren und dem Handlungsspielraum aufgrund der ärztlichen Freiheit, und andererseits der ökonomisch rationalen, in der Regel von den Einrichtungen vorgegebenen internen, rationierten Ressourcenverwendung im ärztlichen Versorgungsalltag aufgrund von Mittelknappheit. Sie machen deutlich, dass der Arzt damit Anwalt zweier Seiten wird, nämlich des Patientenwohls und der Wirtschaftlichkeit, jedenfalls mehr als früher. Diese Sicht auf das Patientenwohl scheint sich heute mehr oder weniger durchgesetzt zu haben und erfordert aus unserer Sicht eine Klärung.
Hintergrund ist, dass in Theorie und Praxis die Norm des Patientenwohls neben andere Normen, insbesondere denen der Ökonomie, gestellt wird und die präzise Bestimmung ihres Verhältnisses und der Begriff des Patientenwohls selbst nicht ausreichend gewürdigt werden. Das Verhältnis von Patientenwohl als Norm der Medizin zu den notwendigen Regeln und Nutzen der Ökonomie ist jedoch entscheidend, hier gründet das Konfliktpotential.
Wir fragen deswegen in Folge aus ärztlicher, philosophischer, ethischer und ökonomischer Sicht nach der Bestimmung der Stellung des Patientenwohls im Verhältnis zur Ökonomie, um die Bedeutung des Patientenwohls als Leitnorm der Medizin begrifflich präzise zu klären und um zusätzlich dadurch, dass wir den Begriff der obersten Norm selbst untersuchen und nicht als bloß gesetzt betrachten, einen konstruktiven Beitrag zur Diskussion zu leisten.
2 Hauptteil
In der gegenwärtigen Diskussion und der Stellungnahme des Deutschen Ethikrats fehlt etwas Entscheidendes: Im Genfer Gelöbnis wird gleich am Anfang ausdrücklich vom Patientenwohl als oberstes Ziel ärztlichen Handelns gesprochen:
„Die Gesundheit und das Wohlergehen meiner Patientin oder meines Patienten werden mein oberstes Anliegen sein.“11
Dieses Gelöbnis, das auf den Eid des Hippokrates vor 2500 Jahren zurückgeht, begründet und anerkennt die gesellschaftliche, soziale und institutionsbezogene Sonderstellung des Arztes als freien Beruf, weil das Patientenwohl die Leitnorm seines Handelns darstellt. Ärzte sind daher diesem Gelöbnis als einem Versprechen verpflichtet, auf das sich der Patient blind verlassen können muss. Es spielt eine regulative Rolle, ohne dass es hierzulande,in Deutschland, wirklich gesprochen wird, sondern vielmehr durch die jeweiligen Berufsordnungen der Landesärztekammern ersetzt beziehungsweise gestaltet wird. Dass Ärzte daneben viele andere Dinge, wie ökonomische, rechtliche, ökologische und private Aspekte ihres Tuns zu berücksichtigen haben, ist selbstredend. Allerdings werden ökonomische Aspekte im Genfer Gelöbnis bisher nicht benannt.12
Was bedeutet es nun, wenn wir vom Patientenwohl als Leitnorm des ärztlichen Handelns sprechen? Im Folgenden nennen wir zunächst vier Argumente, um die Stellung des Patientenwohls als Norm des ärztlichen Handelns im Verhältnis zur Ökonomie zu begründen, um dann im Anschluss vor diesem Hintergrund den Begriff des Patientenwohls weiter zu klären.
2.1 Unterscheidung von Bedingung und Ursache als entscheidendes Kriterium des ärztlichen Handelns
Von grundlegender Bedeutung ist zunächst die Betrachtungsweise des Konfliktfeldes Medizin und Ökonomie.
Wenn sich die Ärzteschaft nach wie vor im Genfer Gelöbnis eine berufsethische Identität gibt und ein Gelöbnis ablegt, in dem das Wohl des Patienten die oberste Priorität einnimmt, dann kann es zwischen evidenzbasierter Medizin und Mittelknappheit nicht um gleichgestellte Aspekte ärztlichen Handelns gehen. Es geht auch nicht einfach bloß um eine konfliktäre Situation und auch nicht um ein konträres Verhältnis13, wo beide Seiten gleichgestellt sind, wie bildlich gesprochen Nord- und Südpol. Es handelt sich auch nicht um einen Widerspruch (Kontradiktion), wie es viele Autoren, beispielsweise Wehkamp, nennen14, was bedeuten würde, dass nur eine Seite wahr oder falsch sein kann. Die genannten Autoren15 lassen damit wie der Deutsche Ethikrat die Präzisierung dieses Verhältnisses außen vor.
In der Philosophie wird seit dem Mittelalter sprachlich zwischen Bedingung und Ursache unterschieden. Dass die derzeit stark ausgeprägte Ökonomieabhängigkeit der Medizin zum Bereich der Bedingungen gehört und nicht der Ursache, ist der entscheidende Punkt. Das oberste Ziel steht nicht neben anderen, gleichrangigen Zielen, der Arzt ist eben nicht Doppelagent, wie es Marckmann behauptet16, er kann, wenn man dieses Argument ernst nimmt, nicht gleichrangig die Interessen der Patienten und der Ökonomie vertreten. Wenn er dies täte, würde in Folge das Vertrauensverhältnis auf der Arzt-Patientenebene aufgehoben: Welcher Patient würde seinem Arzt vertrauen, der nicht sein Wohl an erster Stelle setzen würde, sondern gleichrangig neben ökonomische Ziele? Und wie wäre es dann um die ärztliche Autonomie als Grundnorm des ärztlichen Handelns bestellt?
Offensichtlich sind die eingangs zitierten einander entgegenstehenden Zielsetzungen weder kontradiktorisch noch konträr (notwendig aufeinander verwiesen, also implizit zwingend zusammengehörig, was nämlich nur gelten würde unter uneingeschränkten Rahmenbedingungen einer freien Marktwirtschaft), und auch nicht antinomisch. In unserem Fall haben wir es mit historisch entstandenen, durch wirtschaftliche Rahmenbedingungen gegeneinanderstehenden Kräften und Zielsetzungen zu tun, die keinen begrifflichen Widerspruch darstellen, keinen konträren Gegensatz (es kann ja noch andere Zielsetzungen geben), keinen antinomischen (selbstwiderprüchlichen) Gegensatz oder dergleichen, sondern um einen anscheinend in der Sache liegenden Widerspruch im Gegensatz zu dem im Begriff liegenden (Immanuel Kant nennt dies eine Realrepugnanz), d.h. der Arzt dient in der Praxis dem Patientenwohl als Prinzip (lateinisch principium = Anfang, Ursprung, Zielsetzung) in seinem konkreten Tun und steht damit außerhalb der anderen Bedingungen seines Berufsstands, wie u.a. der Ökonomie bzw. ökonomischen Denkmustern.
Immer dann, wenn die Grundprinzipien nicht klar ausgesprochen, vor allem im Verlauf nicht explizit gemacht werden, kommen andere Gesichtspunkte wie Nebenbedingungen des ärztlichen Handelns in den Vordergrund. Wir können uns vor diesem Hintergrund weiter fragen, wie sich in Folge Medizin als eigene Korporation mit eigenen, vom Staat gewährten rechtlichen Regelungen, die für andere Gebiete nicht gelten, begründet. Auch dieser Punkt ist von grundlegender Bedeutung für die Frage nach der Stellung des Patientenwohls aus institutioneller und gesellschaftlicher Sicht. Wir sehen das deutlich an der historisch gewordenen Einrichtung des Arztberufs als eines freien Berufs. Um es konkret an einem Beispiel zu verdeutlichen: Arztpraxen in Deutschland unterliegen keiner Gewerbesteuer. Wie wollte man nun die Gewerbesteuerfreiheit von Arztpraxen weiter und in Zukunft begründen, wenn nicht eben in der Prioritätssetzung des Wohls des Patienten im ärztlichen Handeln?
Es geht also um die oberste Funktion dieses Leitziels gegenüber anderen – auch zu berücksichtigenden – Zielen. Demgegenüber stehen andere Gesichtspunkte ärztlichen Handelns eben nicht gleichwertig, konträr oder als der Interessensausgleichung bedürftige Gesichtspunkte gegenüber. Wenn wir von Patientenwohl sprechen, dann geht es also um die Priorität des Handlungsziels und das über alle Ebenen und Aspekte des Patientenwohlbegriffs hinweg. Hierfür müssen Ärzte und die Gesellschaft eintreten. Andernfalls würde man unserer Ansicht nach konsequent die Stellung des Arztberufs als freier Beruf und die Institution von Klinika und Arztpraxen wie jedes andere Gewerbe behandeln und diese Sonderstellung in Frage stellen.
2.2 Sprachliche Analyse des Patientenwohls im systemischen Zusammenhang
„Patientenwohl/Patientenunwohl (oder -schaden)“ sind wie z. B. das Begriffspaar „gesund/krank“ sprachliche Gegensätze (konträr, unauflösbar aufeinander verwiesen, sich gegenseitig bedingend). Sachlich bezeichnen sie dabei eher ein „gradatives Feld“. Jeder von uns ist wohl mehr oder weniger gesund und krank zugleich, weil jeder Organismus ein homöostatisches System ist. Genau genommen ist niemand ausschließlich gesund oder krank. Der umgangssprachlich konträre Gegensatz betrifft eher auf der Skala des gesund/krank-Feldes die jeweilig stark ausgeprägten oberen bzw. unteren Felder.
Alle weiteren Kraftfelder, die auf dieses Verhältnis einwirken (z.B. ökonomische oder sonstige politische oder soziologische Zwänge und Gegebenheiten), sind dann anschließend an das erste Argument die Bedingungen des ärztlichen Handelns und gehören nicht zu den Prinzipien ärztlichen Handelns. Die Bedingungen sind immer historisch geworden, damit kontingent und änderbar z.B. durch gesundheits-, sozial- und gesellschaftspolitische Entscheidungen. Sie befinden sich nicht in einem - wie die Begriffe „gesund/krank“ und „wohl/unwohl“ – systemischen, d.h. einander notwendig implizierendem, explizierendem, aber auch konstituierendem Verhältnis zu den Prinzipien.
2.3 Psychologische und systemlogische Eigenschaften der Folgen der Ökonomisierung der Medizin
Was passiert psychologisch mit Ärztinnen und Ärzten, wenn die Denkmuster und Regeln der Ökonomie neben oder über die Norm des Patientenwohls als oberstes ärztliches Anliegen und Ziel gestellt werden? Die resultierende Sprechweise und das resultierende Menschenbild des homo oeconomicus schlagen auf sie selbst zurück17, sie werden zu Funktionen einer Gesundheitsindustrie. Dadurch gerät das Selbstbild von Ärzten und der in dem Gesundheitssektor Arbeitenden in Gefahr. Es kann in Folge zu einer Verantwortungsdiffusion kommen, wie klassische Studien der Soziologie und Psychologie gerade auch für den medizinischen Bereich belegt haben.18 Sie weisen nach, dass eine ökonomische Triggerung von Ärzten zu sozial inaktivem und sozial nicht sensitivem Verhalten führt.19
Dahinter steckt ein systematisches Dilemma: Die bereits oben genannten positiven Normen der Ökonomie sind auf das Allgemeine gerichtet, notwendig und wertvoll und müssen nun mit den sozialen Interaktionen der im Gesundheitssektor Tätigen auch theoretisch und praktisch in Einklang gebracht werden. Medizin muss in der Praxis jedoch auch immer individuell in der Patientenbeziehung verwirklicht werden und verlässt damit vom Konzept her eine rein ökonomische Betrachtungsweise.
Damit entsteht bereits vom Ansatz her ein grundsätzliches, nicht zur Deckung bringendes Spannungsverhältnis zwischen dem Allgemeinen und dem Individuum, dass primär anscheinend nicht aufgelöst werden kann, weil alles ärztliche Handeln immer eine konkrete Entscheidung in der Zeit erfordert. Die Aufgabe heute ist es, diesen theoretischen Konflikt überhaupt zu bemerken und die richtigen Konsequenzen daraus für das praktische Tun abzuleiten.
2.4 Humane Bedeutung der normativen Rolle des Patientenwohls
Eine wesentliche ethische normative Bedeutung des Patientenwohls neben der grundlegenden Verhinderung von Schaden (nil nocere) ist das Prinzip der Sorge (Care). Es geht nicht darum, den Patienten nur zu versorgen, sondern über alle Ebenen hinaus auch Sorge für ihn zu tragen.20 Es ist auch diese Bedeutung des Patientenwohls, die in Übereinstimmung mit der ärztlichen Berufsordnung ärztliche Humanität, Grundhaltung und in Folge die Sonderstellung des ärztlichen Berufes ausmacht. Aus Sicht der ärztlichen Normativität und Anthropologie resultiert hieraus eine besondere Wertschätzung des individuellen menschlichen Lebens in Bezug auf Hinfälligkeit und sein Leiden, was die in den letzten Jahren umfangreiche und angewachsenen Literatur zu diesem Thema eindrücklich belegt.21
Die Logik der Bedeutung des Patientenwohls umfasst alle Menschen und sozialen Gruppen, indem es das übergeordnete Charakteristikum des Humanum hervorhebt. Wenn man die Norm des Patientenwohls der Norm der Ökonomie untergeordnet oder nebenordnet, geraten Werte wie Empathie, Vertrauen, menschliche Zuwendung, die primär nicht messbar sind, in Gefahr und verlieren an Wert.22 Ökonomie der Medizin mit ihren Normen und die menschliche Zuwendung per se geraten dann jedoch nicht in einen Widerspruch zueinander, wenn die Aspekte der Ökonomie in Hinsicht auf das ärztliche Handeln nicht zwischen Arzt und Patienten treten und das Verhältnis zwischen Medizin und Ökonomie klar geregelt ist.
2.5 Einführung eines Beurteilungskriteriums des Patientenwohls als zusammenfassende Betrachtung
Wie kann man nun diese verschiedenen Bedeutungen des Begriffs des Patientenwohls im Sinne von Konsequenzen für den klinisch tätigen Arzt zusammenführen?
Um hier eine Antwort zu finden, fragen wir weiter, ob der Norm-Begriff in seinen verschiedenen Aspekten, die wir genannt haben, selbst einfach als bloß gesetzt zu sehen ist, wie das Genfer Ärztegelöbnis nahelegt. Wir denken, dass die Begründung des Patientenwohls – der sicherlich schwierigste Teil – weiter fundierbar ist. Hierzu möchten wir einen konkreten philosophischen Bezug herstellen und in den weiteren Diskurs einbringen: Alles ärztliche Handeln bedarf, wie wir gesehen haben, einer Handlungsmaxime, dies ist das Patientenwohl. Immanuel Kant, der Königsberger Philosoph der Aufklärung, beschäftigte sich ganz allgemein ausgehend von dem Gedanken des Handelns und der dazugehörigen Handlungsmaxime mit der obersten Handlungsmaxime (das Wort oberst kommt auch im oben zitierten ärztlichen Gelöbnis vor). Das erinnert bildlich gesprochen an einen hierarchischen oder pyramidalen Aufbau, als Abschlussstein eines gotischen Bogens, was es aber nicht ist: Die oberste Maxime, Kants berühmter kategorischer Imperativ (er liegt in drei, leicht geänderten Fassungen bei ihm vor) ist selbst – formal und vor allem material gesehen – selbst keine Handlungsmaxime, sondern die Aufforderung, die jeweils inhaltlich bestimmten Maximen insbesondere auf ihren moralischen Wert hin zu beurteilen.
Und genau dafür braucht er ein Kriterium. Alle drei Formulierungen des kategorischen Imperativs, der selbst also kein Imperativ ist, sind also so betrachtet Kriterien zur (moralischen) Beurteilung von Handlungsmaximen. Wir halten es für richtig, auch mit dem Wohl des Patienten so umzugehen und den Begriff nicht nur statisch und gesetzt zu sehen. Es ist die oberste Norm und insofern steht es nicht auf gleicher Stufe wie andere Aspekte und zusätzlichen Zielsetzungen der ärztlichen Tätigkeit, wie die Verfolgung ökonomischer Ziele. Hierfür kann es jedoch, genauso wenig wie bei Kants kategorischen Imperativ, exakte inhaltliche Anweisungen, wie z.B. Leitlinien, geben, weil diese zeit- und kontextgebunden sind und sich ändern können.
In Konsequenz zu unserer angedeuteten Position der Aufforderung, Maximen des Handelns unter ein Kriterium zur (moralischen) Beurteilung zu stellen, kann dies für das Patientenwohl nur im Ausschlussverfahren gelingen: Das Kriterium muss Maximen ausschließen, die gegen es verstoßen, kann aber nicht angeben, wie inhaltlich zu handeln ist. Gerade weil das Kriterium nicht definitorisch fixiert werden kann, folgt die notwendige Handlungsfreiheit, die für die kreative Tätigkeit des Arztes konstitutiv bleibt. Auf dieses allgemeine Prinzip des Patientenwohls für das ärztliche Handeln hin sind nun alle konkreten ärztlichen Tätigkeiten hin auszurichten, was dem Wesen der ärztlichen Autonomie und der besonderen Stellung bzw. Freiheit des Arztberufs entspricht. Kant spricht eher unauffällig an manchen Stellen von Richtschnur, auch für das ärztliche Handeln heute allgemein und im konkreten Einzelfall bedarf es dieser Richtschnur – und das ist das Patientenwohl.
Diese Richtschnur, das oberste Gebot ärztlichen Handelns, das sich auf das Patientenwohl richtet, kann jedoch selbst keine Meta-Regel sein, denn dann suggeriert man, dass eine Regel, die sich auf eine Vielheit von Regeln bezieht, gleichwohl selbst nur eine Regel ist.
Die Formulierung der Norm des Patientenwohls ist sprachlich vielmehr eine Aufforderung, die Handlungsmaximen (Regeln) nach einem Kriterium zu beurteilen. Es gibt damit also zwei unterschiedliche Aspekte in der Formulierung: ein Aufforderungscharakter und ein Aspekt der Beurteilung und damit der Kriteriologie. Dies gilt es zu differenzieren. Zur Beurteilung von Handlungsmaximen (Handlungsregeln) benötigen Ärzte daher notwendig ein Urteilskriterium, ein Unterscheidungskriterium. Das Kriterium zur moralischen Beurteilung von ärztlichen Handlungen (Anwendungen von Regeln) hat also den Charakter des Sortierens. Es geht nicht inhaltlich auf die einzelnen Handlungsmaximen (Regeln) ein und es kann und darf auch nicht inhaltlich auf die einzelnen Handlungsmaximen eingehen, sofern es seinen kriteriologischen Charakter nicht aufgeben soll. Da die oberste Maxime nichts Inhaltliches gebietet, außer dass sie fordert, die jeweiligen Handlungsmaximen nach dem Kriterium der Verallgemeinerbarkeit zu prüfen und zu beurteilen, kann es prinzipiell viele moralisch durchaus legitime Handlungsmaximen in einem konkreten Fall geben. Das Kriterium schließt nur manche Maximen aus, die eben nicht verallgemeinerbar sind.
Wenn das oberste Prinzip ärztlichen Handelns, das Patientenwohl, als Prinzip allen konkreten ärztlichen Handelns angesetzt wird, muss auch gezeigt werden, weshalb dieses Prinzip als oberste Norm angesetzt wird.
Damit kommen wir zu dem intrikaten Begriff des Patientenwohls. Intrikat erscheint der Begriff, als er zunächst einen subjektiven und einen davon zu unterscheidenden objektiven (Außen-)Aspekt betrifft, die verschiedenen Dimensionen des Patientenwohls zeigen. So beurteilt der Patient selbst (und kann darin irren), was sein „Wohl“ ist. Und ebenso beurteilt der Arzt als Außenstehender (und kann auch darin irren), was er als das „Wohl“ des Patienten ansieht. So werden sich beide im Einzelfall also über das intendierte Wohl verständigen (mit sachlichem Aufklärungswissen seitens des Arztes und leitender Autonomie des Patienten).
Es geht in Folge um eine Grundlegung dessen, was man mit Fug und Recht als Grundprinzip ärztlichen Handelns ansetzen kann. Patientenwohl setzt ein Selbstverhältnis des Patienten voraus. Wir können sicher sagen, dass in allem Handeln und Tun, wie immer es sich im Einzelnen inhaltlich gestaltet, dieses Selbstverhältnis eine unabdingbare Voraussetzung ist. Die Sicht des Arztes kommt in das Spiel, weil der Arzt wie sein Patient auch Person ist und daher einen hermeneutischen Zugang zum Zustand des Patienten hat und beanspruchen kann und muss. Das Genfer Gelöbnis, das Patientenwohl als das oberste Prinzip ärztlichen Handelns ansetzend, unterstellt also die Ansicht des Arztes nicht einfach unter das subjektive Dafürhalten des Patienten, sondern fordert von ihm, gemeinsam mit dem Patienten dessen Wohl zu suchen. Das Wohl des Patienten ist also auch eine Aufgabe, – und bleibt prinzipiell Aufgabe, dem sich Patient und Arzt anzunähern suchen.
3 Diskussion
Auch wenn es aufgrund der bereits genannten Gründe unzutreffend ist, die Norm des Patientenwohls den Regeln der Ökonomie neben- oder unterzuordnen, besitzt die Ökonomie dennoch eine bedeutende und wertvolle Rolle, indem sie z. B. eine Verschwendung von Ressourcen vermeiden hilft und damit das Ziel unterstützt, ein finanzierbares Gesundheitssystem für eine möglichst große Anzahl von Menschen bereitzustellen. Eine Medizin ohne Ökonomie kann es also nicht geben, Medizin (ver-)braucht finanzielle Mittel und generiert ebensolche. Diese Mittel sind begrenzt und aus diesem Zwang der Knappheitsbewältigung resultiert die Rolle der Ökonomie. Daher müssen die Ziele wie die Zuständigkeiten wie die Verantwortungsbereiche von Medizin und Ökonomie klar festgelegt sein. Genau dies ist heute durch die Ökonomisierung und Kommerzialisierung der Medizin nicht mehr der Fall.23
Patientenwohl kann weder allein ökonomisch, gesundheitspolitisch noch soziologisch am Krankenbett noch systemtheoretisch verstanden werden, am wenigsten anhand einer Unterordnung oder Nebenordnung zur Ökonomie. Wie keine andere Disziplin hat es die Medizin in der Frage nach dem Patientenwohl mit dem ganzen Menschen als ihr Ziel zu tun. Es wäre daher ein Reduktionismus, zu versuchen, das Patientenwohl auf eine Dimension einzuengen.
Kritisch wird es daher, wenn eine Art der Erklärung in ihrer Ausschließlichkeit zur Definition des Patientenwohls gewählt wird und nicht mehr klar ist, dass dies nur eine Art von Erkenntnis ist. Wenn also zum Beispiel der Patient als Objekt oder Fall einer rein ökonomischen Herangehensweise unterworfen wird und nicht mehr klar ist, dass jedes Individuum ein Patientenwohl hat.
Die Reduktion der Motive des Homo oeconomicus auf pure Interessen und Eigennutz als rational-choice-Modell stellt eine spekulative Reduktion und damit Interpretation der im letzten Drittel des vorherigen Jahrhunderts entstandenen Verhaltensökonomie dar24, die nicht überprüft worden ist und keinen adäquaten Erklärungs- und Vorhersagewert beinhaltet.25 Kahneman26 hat als Ökonom mit heuristischen Studien zur kognitiven Verhaltensforschung, für die er im Jahr 2002 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten hat, in einem breiten Spektrum von Studien nachgewiesen, dass der prädiktive Wert und die Voraussagen der ökonomischen Verhaltenstheorie nicht ausreichen, um menschliche Motive und Handeln zu erklären. Hierfür bestehen auch völlig andere Motive, die im Gegensatz zu dem Motiv des Eigennutzes bedeutsam sind und valide von Seite der Psychologie auch nachgewiesen wurden, wie zum Beispiel Altruismus und Empathie27, Gerechtigkeit28 und soziale und ethische Verantwortung.29 Diese Werte sind jedoch für die Medizin grundlegend.30
Der Deutsche Ethikrat stellt das Patientenwohl als maßgebliches ethisches Leitprinzip in den Mittelpunkt, indem er drei spezifische besonders relevante Dimensionen genauer untersucht, und zwar die Selbstbestimmung, die Behandlungsqualität und die Verteilungsgerechtigkeit.31 In der Publikation des Deutschen Ethikrats ist der Fokus auf die „selbstbestimmungsermöglichende Sorge“ des Patienten gerichtet. Eine logische und erkenntnistheoretische Einordnung des Prinzips des Patientenwohls in Relation zu anderen Normen findet sich jedoch nicht. Das Patientenwohl stellt jedoch als Norm des ärztlichen Handelns durch die oben ausgeführten Begründungen eine Leitnorm dar, die dazu dient, andere Normen und Kriterien in ihrer Beziehung zur Medizin zu beurteilen. Wesen einer Leitnorm ist es, Kriterien zur Beurteilung von Verhältnissen und in Folge Maßnahmen und Urteilen benennen zu können, ohne eine für jede Situation eindeutige Handlungsanleitung geben zu können.
Ärzte und Ärztinnen bleiben also dem Genfer Gelöbnis verpflichtet, das als oberstes Leitziel seines Handelns das Wohl des Patienten setzt. Es ist damit ihre oberste Pflicht, Zielvorgabe ihres Handels, dem nicht andere Ziele nebengeordnet, wie zum Beispiel auch der Einsatz von Digitaltechnologien in der Gesundheitsversorgung oder eine ökonomisch ausgerichtete Rationalisierung des ärztlichen Tuns, werden können. Rückhalt für ärztliches Handeln diesbezüglich bietet der Ärztekodex Medizin vor Ökonomie, der 2017 von der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin veröffentlicht worden ist.32
Wir führen in unserer Arbeit ein grundlegendes Argument zur Beurteilung des Patientenwohls ein, indem wir es mit allen seinen verschiedenen Bedeutungen nicht einfach nur als oberste Norm gesetzt sehen, sondern weiter formal und vor allem material gesehen für die ärztliche Tätigkeit selbst fundieren: Patientenwohl ist selbst keine abstrakte Handlungsmaxime, sondern die Aufforderung, die jeweils inhaltlich bestimmten Maximen insbesondere auf ihren (moralischen) Wert hin im Ausschlussverfahren für die ärztliche Praxis zu beurteilen – auch und gerade die Ökonomisierung der Medizin. Eine Unterordnung des Patientenwohls unter die Normen und Interessen der Ökonomie ist daher mit dem ärztlichen Menschenbild in der Medizin und der ärztlichen Autonomie nicht vereinbar und folglich auch in letzter Konsequenz nicht mit der hier nicht weiter ausgeführten Thematik der Menschenwürde des Patienten, des Arztes sowie der in der Medizin Tätigen, auch der Ökonomen.
Aus dem bisher Gesagtem resultiert eine entsprechende Forderung: Ethisch fundiertes Handeln in der Medizin beruht darauf, dass Ärztinnen und Ärzte allgemeingültigen Regeln wie auch der Ökonomie in der Medizin nicht ohne eigenes Nachdenken folgen sollten. Um jedoch das Patientenwohl für die Zukunft zu sichern, sollte immer wieder daran erinnert und die Leitnorm des ärztlichen Handelns über die bisherigen Regelungen der Landesärztekammern hinaus juristisch noch weiter implementiert werden, so zum Beispiel in Arbeitsverträgen mit ärztlichen Führungskräften oder Kooperationsverträgen zwischen klinischen Versorgungsanbietern.
Nach vielfältigen Skandalen mit Milliardenverlusten großer internationaler Konzerne in verschiedenen Wirtschaftsbranchen reagieren viele Unternehmen heute mit organisationsethisch orientierten Konzepten wie corporate social responsibility-Ansätzen. Unternehmen, die ein solches Konzept der gesellschaftlichen, bzw. sozialen Verantwortung wahrnehmen und damit eine Orientierung am Gemeinwohl als bedeutsam anerkennen, erfahren einen Nutzenzuwachs.33 Diesem allgemeinen Prinzip der zeitgenössischen Ökonomie auf der Organisationsebene entsprechen auf der individuellen Ebene das ärztliche Gewissen und Berufsethos, die Verantwortung gegenüber dem einzelnen Menschen zur Patientenwohl zur Norm erheben.
4 Zusammenfassung und Fazit
Wenn die Stellung des Patientenwohls im Verhältnis zur Ökonomie nicht klar definiert ist, dann wird ein systematisches Problem, das Verhältnis von Prinzip und Bedingung des ärztlichen Handelns infolge eines Kategorienfehlers nivelliert. Prinzipien und Bedingungen des ärztlichen Handelns können nicht in einem – im strikten Sinne – Widerspruch zueinanderstehen, weder in einem konträren (geschweige kontradiktorischen) noch in einem antinomischen Verhältnis. Die Bedingungen können also nur – sei es positiv oder negativ – auf das ärztliche Handeln und das Patientenwohl real einwirken. Und diese Bedingungen, unter denen ärztliches Handeln und das Patientenwohl stehen, können nicht angeben, worin denn eigentlich ärztliches Handeln und das Patientenwohl bestehen. Die Autonomie des ärztlichen Handelns kann sich nur und genau darauf beziehen, dem Wohl des Patienten im konkreten klinischen Vollzug zu dienen. Hier stehen Ärzte gerade im Zentrum der Bedingungen ihres Berufsfeldes. Dies bedingt ihre Autonomie und begründet ihre Entscheidungsfreiheit gegenüber allen anderen Aspekten und Faktoren ihres Handelns. Es gibt für ärztliche Entscheidungen in gewissen Situationen auch ökonomische Vorgaben, aber die Konkretion, da jeder Patient ein Einzelfall ist, bedeutet, dass das Ärztliche seinem Wesen nach individualisierend sein muss. Es kann keinen kontinuierlichen Übergang zu Einzelfallentscheidungen geben. In diese individualisierende Handlungsentscheidung kann und darf ein Ökonom vor dem Hintergrund ethischer Abwägungen nicht hineinreden.
Das Patientenwohl ist also unserer Ansicht nach keine bloße abstrakte Handlungsmaxime, sondern konkret die Aufforderung, die jeweils inhaltlich bestimmten Maximen und Normen, insbesondere auf ihren moralischen Wert hin zu beurteilen. Dies betrifft in unserer Gegenwart vor allem die Ökonomisierung. Damit verbunden ist es die Aufgabe von Ärzten, Kriterien zur (moralischen) Beurteilung von Handlungsmaximen zu identifizieren und in den Kontext ihrer praktischen Tätigkeit einzubetten. Konkret muss die Norm des Patientenwohls, insbesondere, da der Begriff wie eingangs ausgeführt, so vielschichtig ist, in der Praxis Maximen ausschließen, die gegen es verstoßen, kann aber nicht angeben, wie inhaltlich zu handeln ist, weil das einen Freiheitsverlust im Handeln und Verlust der Autonomie des Patienten bedeuten würde. Das Ausrichten auf das Patientenwohl bedingt die Autonomie, Handlungsfreiheit und die kreative Tätigkeit des Arztberufs und darf ihm nicht genommen werden.
Wir tragen damit eine große Verantwortung für unsere Theorien wie für die Klassifizierung des Bestimmungsverhältnisses von Medizin und Ökonomie und die logische, inhaltliche und materiale Bestimmung des Patientenwohls, da es genau dieses Patientenwohl ist, das die ärztliche Praxis und Autonomie ausmacht.
Daraus resultiert deswegen heute die Notwendigkeit, eine öffentliche Diskussion anzuregen über das rechte Verhältnis von Patientenwohl und Ökonomie. Die große Kunst der Humanmedizin besteht infolge darin, die völlig verschiedenen Ebenen und Dimensionen des Patientenwohls in der Medizin in ihren Ansprüchen – Ökonomie der Medizin und Hinwendung zum einzelnen Subjekt, dem Patienten – sinnvoll miteinander zu verknüpfen und die Praxis der Humanmedizin entsprechend fruchtbar zu gestalten.
Wir wenden uns klar gegen die Aufweichung des obersten Prinzips durch eine Nebeneinanderordnung von Patientenwohl und Ökonomie. Nur so können Ärzte noch einen klar konturierten Begriff ihrer eigenen Tätigkeit haben. Und das bedingt schließlich das Selbstverständnis von Mediziner.
Das Wohl des Patienten ist eine Aufgabe, und bleibt prinzipiell Aufgabe, dem sich Patient und Arzt anzunähern suchen. Auf dieses Wohl hin verpflichtet das Genfer Gelöbnis das ärztliche Handeln. Hiervon können Ärzte und Ärztinnen unter Wahrung ihrer Autonomie und die Adressaten unserer modernen Medizin auch in Zukunft nur profitieren: Unsere Patientinnen und Patienten.
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